Ricarda Junge
Kein fremdes Land
Roman
FISCHER E-Books

Ricarda Junge 1979 in Wiesbaden geboren, ist Absolventin des Deutschen Literaturinstituts Leipzig. Anschließend studierte sie evangelische Theologie in Frankfurt am Main. Für ihr Debüt »Silberfaden« wurde sie 2003 mit dem Grimmelshausen-Förderpreis ausgezeichnet. 2005 erschien ihr Roman »Kein fremdes Land«, für den sie den George-Konell-Preis erhielt, 2008 »Eine schöne Geschichte«, 2010 der Roman »Die komische Frau« und 2014 der Roman »Die letzten warmen Tage«. 2013 erhielt sie den Robert-Gernhardt-Preis. Ricarda Junge lebt mit ihrer Familie in Berlin und Frankfurt am Main.
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Das Leben ist ein Spiel aus Nähe und Kälte, Sehnsucht und Angst. Aber manchmal, mit etwas Glück, gelingt es, dem anderen nahe zu kommen, so weit er auch entfernt zu sein scheint.
Tom ist in Deutschland aufgewachsen und lebt seit einigen Jahren in den USA. Er arbeitet für die Philadelphia Daily News und muss über eine Reihe unerklärlicher Selbstmorde schreiben. Seine Freundin Teresa ist Lehrerin an einer Highschool und kämpft mit den Folgen eines Attentats. Der Umzug in einen beschaulichen Vorort Philadelphias soll für beide ein Neuanfang sein. Aber die Idylle trügt – was anfangs nur ein Gefühl der Unsicherheit ist, wird bald zu einer realen Bedrohung.
Ricarda Junge erzählt die Geschichte einer Suche, die so typisch wie untypisch, so altbekannt wie modern ist – das Leben ist ein Spiel aus Nähe und Kälte, Sehnsucht und Angst.
Erschienen bei FISCHER E-Books 2017
© 2005 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Nicole Lange, Darmstadt
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490710-9
Daniel-Dylan gewidmet
Fürchte dich nicht.
Ich habe dich bei deinem Namen gerufen.
Du bist mein.
Wer ist diese Frau? Redet ihr immer so miteinander? Von Fenster zu Fenster? Was will sie von dir?
Terrys Mutter ist gerade gestorben, sagte ich.
Maria wuchtete ihren Koffer aufs Bett.
Na und? Was hast du damit zu tun, Tom?
Sie begann, ihre Kleider in meinen Schrank zu räumen. Es klopfte wieder ans Fenster. Maria fuhr herum: Sie soll das lassen. Sag ihr, dass sie das lassen soll.
Im September war Terrys Foto auf der Titelseite der Philadelphia Daily News gewesen. Aber daran hatte ich mich erst später erinnert.
Wir lebten in einem Apartmenthaus an der Pennsylvania Avenue, beide im elften Stockwerk, ich im mittleren Gebäude, Terry im Südflügel. Von meinem Küchenfenster aus konnte ich in ihr Wohnzimmer schauen.
Einmal hatte sie mit nacktem Hintern und nur einem Unterhemd bekleidet vor dem Fernseher gestanden und im Sekundentakt durch die Programme geschaltet. Nervös war sie von einem Fuß auf den anderen getreten, hatte sich ihr langes, hellblondes Haar mit einer hektischen Handbewegung aus dem Gesicht gestrichen und immer wieder zur Tür geschaut, als erwartete sie jemanden. Dann hatte sich ihr Körper angespannt, ihre Pobacken waren fest und weiß gewesen. Auf dem Bildschirm eine Nachrichtensendung. Terry streckte den Finger aus, zeigte auf etwas im Fernsehen, drehte sich plötzlich um, ich zog den Kopf zurück, stieß mich am Fensterrahmen. Terry ließ sofort die Jalousien herunter.
Als ich etwas später wieder aus dem Küchenfenster schaute, gingen die Jalousien hoch. Terry schob das Fenster auf und lehnte sich hinaus.
Ja, ich bin’s, sagte sie. Du irrst dich nicht, du hast mich im Fernsehen gesehen. Oder in der Zeitung. Lässt du mich jetzt in Ruhe?
Bist du Schauspielerin?, fragte ich.
Nein. Hör auf, mich anzustarren.
Was hast du dann im Fernsehen gemacht?
Ihre Hand hatte gezuckt, sich leicht auf eine Stelle oberhalb der linken Brust gelegt. Ich bin verletzt.
Verletzt? Was soll das heißen?, fragte Maria.
Ich gab ihr die Kopie des Zeitungsartikels, die ich mir besorgt hatte. Sie überflog ihn nur kurz.
Soll ich jetzt Mitleid haben? Wahrscheinlich hat sie ihn irgendwie provoziert. Ich konnte meine Lehrer auch nie leiden.
Wie lang kennst du sie schon?
Vielleicht zwei, drei Monate.
Ach, zum Teufel. Dann geh eben auf die Beerdigung ihrer Mutter. Aber denk nicht, dass ich hier auf dich warte.
Ich zog ihre Hand an meine Lippen und küsste ihre Fingerspitzen.
Du bist doch gerade erst angekommen, sagte ich.
Terry gehörte ein silberfarbener VW-Kombi. Sie bat mich zu fahren, saß ruhig neben mir auf dem Beifahrersitz, die Hände im Schoß gefaltet, den Kopf gegen die Scheibe gelehnt. Sie trug einen knielangen, schwarzen Rock und einen dünnen, schwarzen Rollkragenpullover, von dem sich ihr blondes Haar leuchtend abhob. Als wir den Delaware River überquert hatten, setzte sie sich auf, stützte die Hände auf ihre Knie und sagte in einem sehr förmlichen Ton: Mein Vater wird mich auf meine gescheiterte Ehe ansprechen wollen. Ich werde dich ihm als meinen neuen Freund präsentieren. Wenn du dabei bist, traut er sich nicht.
Terry lehnte sich wieder zurück. Außerdem soll er nicht glauben, ich wäre verlassen worden.
Bist du?, fragte ich.
Sie schwieg.
Auf der Beerdigung waren außer uns und Terrys Vater nur noch der Pfarrer. Wir warfen Blumen ins Grab, Rosen, Terrys Vater eine weiße Lilie. Danach schüttelte er mir die Hand, begrüßte mich herzlich und schien sich nicht sicher zu sein, ob wir uns schon einmal begegnet waren. Dann wandte er sich Terry zu: Ich habe es in der Zeitung gelesen. Schreckliche Geschichte. Wie lang warst du im Krankenhaus? Ich habe dir immer gesagt, du sollst nicht an so einer Schule arbeiten. In so einer Gegend. Mit solchen Kindern. Ist deine Mutter damit einverstanden gewesen? Geht es dir wieder besser?
Du hättest anrufen können, sagte Terry.
Leider stimmt deine Nummer nicht mehr.
Konnte mein Mann dir meine neue nicht geben?
Ich dachte, du würdest dich melden, wenn du etwas brauchst.
Hattest du mit deiner Mutter noch einmal gesprochen?
Nicht, seit sie sich auf meiner Hochzeit wie eine Irre aufgeführt hat.
Und was machst du mit ihrem Haus?
Terry legte einen Arm um mich. Wir wollen es behalten.
Ich bin eben dran vorbeigefahren, sagte der Vater. Du weißt, wie es aussieht, oder?
Was ist denn damit?, fragte Terry.
Er sah auf die Uhr. Ich muss los. Mittagessen mit der Familie. Ihr könnt uns ja mal besuchen kommen. Ich würde mich freuen.
Er strich Terry über die Schulter und schüttelte mir die Hand.
Viel Glück.
Das Erste, was wir sahen, war ein Urwald.
Hier?, fragte ich ungläubig.
Das kann doch nicht wahr sein, sagte Terry.
Ich stieg aus dem Wagen und zündete mir eine Zigarette an. Von der Straße aus war das Haus nicht zu sehen, und als wir die fast völlig zugewachsene Auffahrt hinaufgingen, bemerkten wir, dass man es durch die Haustür nicht betreten konnte, weil es keinen Weg mehr gab, der dorthin führte.
Hintenrum, sagte Terry und bahnte uns einen Weg durch die schulterhohen Büsche und Sträucher. Einen Moment lang kam ich mir vor wie in einem Kindheitstraum – ein zugewachsenes Haus, ein geheimer Eingang –, aber als wir durch die Terrassentür in die Küche traten, roch ich, dass ich mich irrte. In keinem meiner Träume hätte es jemals so stinken können. Am Anfang wussten wir nicht, woher der Geruch kam. Alles wirkte gepflegt. Über dem Gasherd hingen polierte Kupfertöpfe, die Spülmaschine war neu, das Geschirr darin sauber. Terry öffnete den Kühlschrank, der noch aus den sechziger Jahren stammte. Bis auf zwei Kanister mit Milch war er leer. Wonach stinkt es hier so?, fragte Terry und atmete hörbar durch den Mund ein.
Keine Ahnung.
Von der Küche gingen drei Räume ab, links und rechts Wohn- und Fernsehzimmer, geradedurch lag ein kleines Esszimmer, aus dem eine steile Holztreppe in den ersten Stock führte. Alles war sehr zweckmäßig eingerichtet, unpersönlich, nur das schwarz lackierte Klavier im Wohnzimmer und das Kruzifix über dem Fernseher ließen auf die Persönlichkeit der Frau schließen, die hier gelebt hatte.
Da hat sie mich rangezwungen, sagte Terry, klappte den Deckel des Klaviers auf und fuhr einmal mit der Hand über die Tasten.
Hat sie selbst auch gespielt?
Was weiß ich. Mit dem Kreuz da hätte ich sie manchmal am liebsten erschlagen.
Was Terry sagte, war mir unangenehm, und ich ging in den nächsten Raum weiter. Die Wände schienen mit einer Art Ölfarbe gestrichen zu sein, es sah aus, als würden sie schwitzen.
Ich strich darüber. Feucht.
Verfault?, fragte Terry.
Kann ich nicht sagen. Vielleicht.
Ich kotz gleich.
Mach ein Fenster auf.
Ich stieg die Treppe in den ersten Stock hoch. Der Gestank wurde schwächer. Der schmale Flur hatte vier Türen, neben einer hing ein Wandteppich, ein Hungertuch mit biblischen Motiven in verblichenen Farben. Ich öffnete eine Tür nach der anderen. Schlafzimmer, Bad, ein Schrank, Handtücher und Bettwäsche darin. Ein leeres Zimmer. Ich trat ein. Es war dunkel, hinter den Wänden raschelte es, und ich dachte wieder an die Märchen, die mein Vater mir als Kind vorgelesen hatte, an ein verwunschenes Schloss, an ein Hexenhaus, an meine Mutter, der die Märchen zu grausam gewesen waren. Ich schaltete das Licht ein, gleichzeitig begann sich ein mit bunten Blumen beklebter Deckenventilator zu drehen.
Total verzogen, rief Terry von unten. Ich krieg die Fenster nicht auf.
Der Raum war klein, quadratisch. Auf dem Holzfußboden Abdrücke von vier Bettpfosten. Über der Tür ein kleines Kruzifix. Rosafarbene Gardinen. Ein leerer Bilderrahmen auf der Fensterbank.
Unten knallte eine Tür.
Ratten!
Terry rannte durch die Küche und stürzte in den Garten hinaus. Ich hörte, wie sie sich übergab.
Ob Vater mein Kinderzimmer in Deutschland ausgeräumt hatte? Oder war alles so geblieben, wie ich es verlassen hatte? Ich sah mich noch einmal in dem leeren Zimmer um, dann schloss ich die Tür und ging in die Küche hinunter.
Ich hielt den Atem an. Aufgeplatzte Müllsäcke türmten sich die Kellertreppe hoch, der ganze Keller musste damit gefüllt sein. Aus einer Tüte quoll ein dunkler Brei, in dem sich Maden bewegten.
Terry hockte auf der Terrasse, hielt sich mit beiden Händen das Haar aus dem Gesicht.
O Gott, jammerte sie. O mein Gott.
Ich nahm ein Glas aus dem Küchenschrank, füllte es mit Wasser und brachte es ihr.
Das trinke ich nicht. Das kommt aus der Leitung. Was meinst du, wie die hier aussehen.
Sie wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.
Da ist noch Milch im Kühlschrank, sagte ich. Willst du …
Sie übergab sich wieder.
Ich schau mal, ob noch etwas anderes da ist.
Ich ging zurück in die Küche, schob einen Wandschrank auf. Dahinter standen eine Waschmaschine und ein Trockner, auf dem alte Zeitungen lagen, eine Ausgabe der Philadelphia Daily News ganz zuoberst. Auf einem Foto sah man die Schule, an der Terry unterrichtet hatte, daneben war ihr Bild, eine Porträtaufnahme mit blauem Studiohintergrund.
Wo hatten sie das Foto her?, fragte ich.
Was für ein Foto?
Ich hielt die Zeitung hoch. Terry wandte sich ab.
Von meiner Mutter. Ich hatte es ihr zum Geburtstag geschickt. Sie hat es an deine Scheißzeitung weitergegeben. Tolle Kollegen hast du.
Wir nehmen, was wir kriegen.
So sieht es aus.
Sie stand auf, schwankte ein wenig. Komm. Komm, weg hier.
Ich brauche etwas zu trinken.
Wir fuhren in den nächsten Supermarkt. Als wir den klimatisierten Raum betraten, merkte ich, dass wir stanken. Wir kauften Wasser, und ich zwang Terry, etwas zu essen. Sie wollte zurück zum Haus. Ich blieb im Auto sitzen und rauchte, während sie die Auffahrt hinaufging und verschwand.
Als ich anfing, Maria davon zu erzählen, stand sie vom Bett auf und ging ins Bad. Durch die offene Tür sah ich, wie sie sich auf den Wannenrand setzte und sich eine Zigarette anzündete.
Red ruhig weiter. So kann ich dir besser zuhören.
So?, fragte ich. Wenn du im Bad bist?
Aus einem anderen Zimmer. Woran ist ihre Mutter gestorben?
Ich schloss die Augen.
War sie verwirrt?
Nein, sagte ich. Ganz gelassen. Beinahe kühl. Nur am Grab hat sie einmal geweint.
Ich meine die Mutter. Wegen des Mülls. Oder konnte sie ihn nicht mehr rausbringen?
Ich weiß es nicht.
War sie allein?, fragte Maria.
Ich öffnete die Augen. Wenn du dich mit mir unterhalten willst, musst du herkommen.
Maria stand auf und aschte ins Waschbecken. Was, glaubst du, ist das Haus wert?
Nichts. Aber für das Grundstück würde sie schon etwas bekommen.
Wie viel?
Keine Ahnung. Zweihundert-, dreihunderttausend?
Dollar? Dann muss sie verkaufen.
Jetzt komm her.
Wenn mir dreihunderttausend in den Schoß fielen, sagte Maria, nähme ich sie. Das kannst du mir glauben. Was will sie mit einem Haus? Nur Ballast. Schade, dass du nichts von deiner Mutter gekriegt hast. Gefällt dir Terry besser als ich?
Komm aus dem Bad. Ich rede nicht um drei Ecken mit dir.
Ein bisschen verliebt in sie?
Nein.
Warum verlierst du dann einen Tag mit mir, nur um mit ihr durch heruntergekommene Häuser zu streifen?
Wenn du hier neben mir und nicht im Bad wärst, würdest du sehen, dass ich todmüde bin und dich vermisst habe und nur mit dir zusammen sein möchte.
Würde ich alles sehen, ja?, fragte Maria und lehnte lächelnd im Türrahmen. Ich verstehe euch nicht. Ein Haus braucht man nur, wenn man bleiben will.
Und? Willst du nicht bleiben?
Mit dreihunderttausend würde ich ganz schön weit kommen, sagte Maria.
Sie hatte mich angerufen. Mitten in der Nacht.
Weißt du, wer hier ist?
Maria.
Sehr gut. Liebst du mich noch?
Wie bitte?
Sag einfach ja oder nein.
Ich weiß nicht einmal mehr, wie du aussiehst.
Dann solltest du mich sehen.
Du willst kommen?
Wir haben uns getrennt. Er hat mich verlassen. Ich muss raus hier.
Wer? Wer hat dich verlassen?
Außerdem bist du mir noch die Sonnenblumen schuldig.
Die Sonnenblumen?
Kannst du dich nicht mehr erinnern?
Es war kurz vor den Sommerferien gewesen. Im Bus. Auf dem Weg zur Schule. Wir waren vierzehn, fünfzehn Jahre alt. Maria hatte sich neben mich gesetzt und gefragt, ob wir Freunde wären.
Wenn du willst.
Mit dem Schnitzer bin ich eigentlich auch befreundet, sagte sie. Er weiß meine Freundschaft nur manchmal nicht richtig zu schätzen.
Wenn du meinst.
Ich sah sie an, ihre blauen Augen, die scharf hervorspringende Nase, die vollen Lippen. Das schwarze Haar hatte sie im Nacken zu einem festen Knoten zusammengedreht.
Fliegst du in den Ferien wieder zu deinen Großeltern?, fragte sie.
Ich nickte.
Nimmst du mich mit?
Ich war so überrascht, dass ich nicht gleich ablehnte, sondern versprach, meine Eltern zu fragen.
Du bist wohl nicht mehr bei Trost, sagte meine Mutter. Maria willst du mitnehmen? Maria Bartels? Die jedem die Hände leckt, der nicht nach ihr tritt? Diesen räudigen kleinen Köter würde ich nicht mal in meinen Vorgarten lassen. Mag ja sein, dass sie eine schreckliche Kindheit gehabt hat, gut möglich, dass ihre Eltern sie schlecht behandeln, aber ich bin nicht die Wohlfahrt. Wenn einer das Jugendamt informieren will, bitte. Ihre Schwester können die dann auch gleich mitnehmen, diese kleine Hure, aber die Pflegefamilie spielen wir nicht. Wie kommst du überhaupt auf die Idee, ich würde ein wildfremdes Mädchen mit nach Amerika nehmen? Was, glaubst du, würden Grandma und Grandpa denken, wenn wir ihnen so ein Hundskind mit ins Haus schleppen würden? Du bist ja von allen guten Geistern verlassen.
Mama, sagte ich.
Nein. Auf gar keinen Fall.
Am nächsten Morgen trödelte ich so lange rum, dass ich den Bus verpasste und meine Mutter mich zur Schule fahren musste. Ich wollte Maria nicht begegnen. Als ich in der Pause versuchte, im Klassenraum zu bleiben, entdeckte mich eine Lehrerin und schickte mich auf den Hof.
Leon und Schnitzer standen am Tor und rauchten. Als ich auf sie zuging, ließ der Schnitzer seine Zigarette fallen.
Dass du dich noch herwagst, sagte er.
Wieso?
Wie hast du es geschafft?
Was?
Ich sah Leon an. Er spielte mit seinem Zigarettenpäckchen.
Was geschafft?, fragte ich.
Er will wissen, wie du deine Eltern überredet hast, sagte Leon.
Er versucht, seine seit Wochen rumzukriegen, aber sie wollen Maria nicht mitnehmen.
Dich hat sie auch gefragt, Schnitzer?
Wenn sie mit einem von uns in den Urlaub fährt, sagte er, dann mit mir.
Wovon redest du überhaupt?, fragte ich.
Sie gehört mir, sagte der Schnitzer.
Seid ihr zusammen?
Amerika, Disney World, Universal Studios, was hast du ihr nicht alles versprochen, nur damit sie mitkommt!
Ich hab ihr gar nichts versprochen. Maria fliegt nicht mit uns. Meine Mutter ist total ausgerastet, als ich sie gefragt hab.
Und das kann ich Maria so sagen?, fragte der Schnitzer.
Ja. Klar.
In der nächsten Stunde wurde ich von der Direktorin aus dem Unterricht geholt. Sie war eine große, grauhaarige Frau in Jeans und Jackett. Um den Hals trug sie ein blaues, von Goldfäden durchwirktes Fransentuch.
Wie ihr in eurer Freizeit miteinander umgeht und was ihr zu Hause macht, sagte sie, ist mir völlig egal. Aber an dieser Schule gibt es einige wenige Regeln, und eine davon besagt, dass man niemanden grundlos demütigen darf.
Sie brachte mich zu den Mädchentoiletten. Auf den Spiegel über dem Waschbecken hatte jemand ›Schnitzer‹ geschrieben. Sein Name war mit fettigen Lippenstiftküssen eingekreist.
Komm, sagte die Direktorin und deutete in eine Kabine. Schau dir das an.
Maria kauerte zwischen Kabinenwand und Kloschüssel gezwängt auf dem Boden und heulte. Im ersten Moment erinnerte sie mich an eine dieser Zigeunerinnen, die, mit Kindern im Arm, in der Fußgängerzone hockten und bettelten.
Was hat das zu bedeuten?, fragte die Direktorin.
Ich zuckte mit den Schultern.
Erklär’s mir.
Maria ist eine Lügnerin, sagte ich. Sie hat überall rumerzählt, ich würde sie mit nach Amerika nehmen.
Aber das wolltest du doch!, schrie Maria, warf den Kopf in den Nacken und riss die Augen weit auf.
Ich habe gesagt, ich frage mal. Nicht, dass ich dich mitnehme. Außerdem bist du doch zu mir nur gekommen, weil du beim Schnitzer nicht mitdarfst.
Ich will nach Amerika.
Du hättest nicht mal das Geld für den Flug.
Doch.
Sie richtete sich halb auf und zog ein Bündel Dollarscheine aus der Tasche ihrer verwaschenen Jeans. Die Scheine wurden von einem rosafarbenen Haargummi zusammengehalten.
Gib das deinen Eltern. Frag sie noch mal.
Widerstrebend streckte ich die Hand danach aus. Die Direktorin kam mir zuvor, zog das Gummi ab und blätterte durch die Scheine. Es waren nicht einmal zwanzig Dollar. Trotzdem klang die Stimme der Direktorin misstrauisch, als sie fragte, wo Maria das Geld herhabe.
Von Angelika.
Pfui Teufel, sagte die Direktorin und ließ die Scheine auf den Boden fallen. Gib es deiner Schwester zurück und sag ihr, sie soll ihr Geld lieber mit den Kerlen ausgeben, von denen sie es kriegt, anstatt dir Flausen in den Kopf zu setzen.
Maria drückte die Stirn auf die angezogenen Knie. Auf einmal tat sie mir Leid. Ich ging in die Hocke, sammelte die Dollarnoten auf und fasste sie mit dem Haargummi zusammen. Wir können dich wirklich nicht mitnehmen. Nicht, weil wir nicht wollen, sondern weil kein Platz mehr im Flugzeug ist. Das nächste Mal vielleicht. Okay?
Maria hob den Kopf nur so weit an, dass sie nicken konnte.
Ist jetzt alles geklärt?, fragte die Direktorin. Ihr müsst zurück in den Unterricht, und ich möchte auch weitermachen.
Maria sah mich an.
Hier ist das Geld, sagte ich. Vielleicht kannst du es nächstes Jahr brauchen.
Behalt es. Bitte.
Das kann ich nicht.
Bring mir etwas mit. Bitte. Bringst du mir etwas mit?
Können wir jetzt?, fragte die Direktorin.
Ja, sagte ich und stand auf.
Erinnerst du dich?
Ja. Ich habe dir einen Schlüsselanhänger gekauft.
Darauf die Sonnenblumen, sagte Maria.
Die hängen hier im Museum. Wenn ich ans Fenster gehe, kann ich es sehen.
Wirst du sie mir zeigen?
Zwei Tage nach ihrem Anruf holte ich sie vom Flughafen ab. Es war ungewöhnlich warm für November. Ein schwitzender Polizist durchsuchte mein Auto nach Sprengstoff, bevor ich es auf dem Parkplatz abstellen durfte. Der Flughafen war renoviert worden, aber immer noch genauso unübersichtlich wie früher. Ich war seit Jahren nicht hier gewesen.
Maria schien sich kaum verändert zu haben. Sie stand mit einem Lächeln und leicht hochgezogener Schulter in der Ankunftshalle. Es kam mir vor, als wären ihre Lippen röter geworden. Die Narben unter ihren Brüsten sah ich erst später.
Mein Gott, hast du abgenommen, sagte Maria anstelle einer Begrüßung. Und wie gut du riechst.
Habe ich früher gestunken?
Nicht direkt. Aber wenn einer so dick ist, denkt man doch immer gleich an Frittierfett und Pommes.
Als wir meine Wohnung betraten, blieb Maria einen Augenblick lang im Flur stehen, neigte den Kopf, schloss die Augen und lauschte.
Das ist der Fluss, sagte ich. Kannst du ihn hören?
Die Klimaanlage, sagte sie, ging in die Hocke und schob einen Finger in die Rille zwischen zwei Holzdielen.
Schlecht verarbeitet.
Sie stand auf, strich über die Wand, tastete sich an ihr entlang ins Wohnzimmer, befühlte Steckdosen, Heizkörper, Fensterbretter. Ihr schwarzes Haar hatte sie im Nacken zu einem wirren Knoten zusammengefasst.
Und?, fragte ich.
Schrott.
Die Wände?
Klingen solide. Sehen nicht so aus. Hier müsste man einiges machen. Ich bin Tischlerin, habe ich dir das erzählt?
Gar nichts, sagte ich. Nur, dass dich jemand verlassen hat.
Sie schob das Fenster hoch, drückte ihr Gesicht ins Moskitonetz. Da ist der Fluss. Und das Museum. Sie wandte sich mir zu. Die Sonnenblumen?
Ich nickte. Sie schloss das Fenster, ging weiter. Was ist das für ein Zimmer?
Da hat meine Mutter geschlafen.
Wo ist sie?
Verreist.
Leon hat gesagt, sie sei tot.
Hat er dich verlassen?, fragte ich.
Nein. Der Schnitzer. Was jetzt, verreist oder tot?
Maria betrat mein Zimmer, schaltete das Licht an, den Ventilator.
Leon hat mir deine Nummer gegeben. Er sagt, ihr sprecht manchmal noch miteinander.
Er hat nicht erzählt, dass du mit dem Schnitzer zusammen warst, sagte ich.
Du weißt doch, dass sie sich nicht mögen.
Ich habe euch jahrelang nicht gesehen.
Es gibt kein ›euch‹.
Willst du deine Jacke nicht ausziehen?
Ich habe nichts drunter. Ich dachte, es wäre lustig, wenn ich am Flughafen durch den Sicherheitscheck muss und sie ausziehen soll.
Und?
Sie haben mich durchgewinkt.
Dann zieh sie doch jetzt aus.
Maria lachte.
Weshalb habt ihr euch getrennt?, fragte ich.
Ich wollte mir zwei Rippen entfernen lassen.
Wie bitte?
Damit ich eine schönere Taille bekomme. Hast du keine Bücher? Keine Bilder? Was hast du aus Deutschland mitgebracht?
Einen Koffer Klamotten.
Kein Bild von mir?
Doch.
Zerrissen? Verbrannt?
Warum hätte ich das tun sollen? Schau unters Bett.
Sie schlug die Tagesdecke zurück, zog den Bettkasten auf und nahm mein Highschool-Jahrbuch heraus.
Leg es weg, sagte ich. Da bist du nicht drin.
Sie blätterte es einmal schnell durch, dann langsam, Seite für Seite.
Leg es weg.
Nein. Hast du nichts zu trinken?
Was?
Wein wäre gut.
Bier?
Hast du keinen Wein?
Ich kann welchen holen.
Dann Bier.
Als ich aus der Küche zurückkam, tippte Maria auf ein kleines Schwarz-Weiß-Foto. Darauf trug ich Jackett und Fliege. Mein Haar war streng in der Mitte gescheitelt.
Du siehst traurig aus, sagte Maria und fuhr mit dem Finger über das Foto, meine Boxernase, meine Wangen, mein rundes Kinn entlang.
Albern trifft es wohl eher.
Es ist das einzige Foto von dir. Alle anderen sind dutzendfach abgebildet.
Sie blätterte noch einmal durch die Seiten. Du bist in keinem Sportteam, keinem Club, auf keinem Fest.
Das stimmt nicht.
Ich ging neben ihr in die Hocke, stellte die Bierflaschen auf den Boden und schlug das Buch in der Mitte auf.
Das ist mein Jahrgang. Da bin ich mit drauf.
Sie sah mich an. Lebst du gerne hier?
Ja.
Vermisst du dein Zuhause nicht manchmal?
Ich bin hier zu Hause.
Der Teufel soll dich holen, schrie sie. Der Teufel! Ach, was sage ich. Er hat dich schon, er sitzt dir auf der Schulter und flüstert dir ins Ohr. Du elender Mistkerl, Dreckskerl, aber eins kannst du mir glauben, du kannst vom Dach springen oder dir in den Kopf schießen, du wirst nichts ändern damit, die Welt dreht sich weiter, Menschen verlieben sich, sie werden wunderbare Sachen erfinden, denk an die Mikrowelle, ans Telefon, denk daran, wie verrückt es ist, dass Flugzeuge fliegen können, Menschen werden auf dem Mond leben und Witze erzählen, die du noch nicht kennst, aber du wirst sie nicht hören, du kriegst davon nichts mehr mit, du schmorst in der Hölle, jetzt gib mir deine Hand und komm da runter.
Einmal sollte mich jemand rufen, einmal nur wollte ich gerettet werden. Eine Mund-zu-Mund-Beatmung, ein Schlag auf den Brustkorb, Elektroschocks, eine Hand, die sich nach mir ausstreckte und ich würde schreien: Komm nicht näher, sonst spring ich. Die Hand würde nach mir greifen und mich vom Abgrund zurückreißen. Einmal nur, einmal wollte ich wissen, wie es sich anfühlte, aufzugeben oder ob man wirklich noch einmal von vorne anfangen konnte.
Es war still. Niemand schrie. Ich stand auf dem höchsten Gebäude im Viertel, einem zehn Stockwerke hohen Sozialbau in Nordphiladelphia. Das Dach war flach, quadratisch und von einer kniehohen, mit Teerpappe verklebten Mauer umgeben. In der Mitte befand sich ein kastenförmiger Aufbau, durch den man ins Haus gelangte. Vorsichtig drehte ich mich einmal im Kreis. In der Ferne leuchtete die Skyline der Stadt. Der Himmel war lilafarben. Kein Verkehrsrauschen, nur der Wind, der mir in Böen unter die Kleider fuhr und die Jacke aufblähte. Mein Handy piepte. Es war Mandze Turner, die Lokalredakteurin der Philadelphia Daily News.
Was ist jetzt, Tom? Bist du da? Wie sieht’s aus?
Nichts, sagte ich. Absolut nichts.
Hast du noch mal mit der Polizei gesprochen?
Unverändert. Es sieht nicht so aus, als habe sie jemand gestoßen.
Mist. Das hab ich befürchtet. Was ist mit ihren Eltern?
Da bin ich noch nicht gewesen.
Lass es gut sein. Du kannst nach Hause gehen. Wir machen hier auch Schluss.
Ganz schön hoch hier. Ich könnte das nicht.
Was? Was könntest du nicht? Tom, bist du noch da?
Kannst du den Wind hören?
Alles in Ordnung mit dir?
Keine Angst.
Nicht um dich. Fahr nach Hause. Maria wartet sicher schon.
Maria war gesprungen. Als Kind. Im Schwimmbad. Ich hatte mich nicht getraut und die Leute, die hinter mir Schlange standen, vorbeigelassen. Warum sollte man sich freiwillig von einem zehn Meter hohen Betonturm ins Chlorwasser stürzen? Maria kam wieder hoch, band sich das nasse Haar neu zusammen, zog sich das Bikinihöschen zurecht.
Jetzt mach schon, sagte sie. Trau dich. Es ist toll. Wenn du hier stehst und nur zuschaust, denkst du, es geht alles ganz schnell. Du springst, und schon bist du untergetaucht. Aber in Wirklichkeit schwebst du. Fliegst. Mit offenen Augen. Du kannst alles sehen.
Wir standen nebeneinander an der Betonkante, schauten zehn Meter tief hinunter ins Becken.
Spring einfach.
Ich zählte bis drei, trat zurück, zählte bis zehn, wollte wieder zurück. Maria gab mir einen Stoß, und ich flog mit ausgestreckten Armen, hörte sie lachen und mich schreien, knallte aufs Wasser und tauchte unter. Meine Arme wurden grün und blau. Tagelang hatte ich Schmerzen.
Maria tat es nicht Leid. Ihr Vater hatte sie, nachdem er zwei Tage vergeblich versucht hatte, ihr Schwimmen beizubringen, einfach ins Wasser gestoßen und beinahe ertrinken lassen. Nur wer Angst hat, lernt etwas dazu. Wenn wir keine Angst hätten, würden wir uns einfach in eine Hängematte legen und das Leben verschlafen.
Von meinen Eltern wäre ich niemals ins Wasser geschmissen worden. Selbst in der Badewanne hätten sie mir am liebsten Schwimmflügel umgebunden. Noch mit fünfzehn durfte ich die Badezimmertür nicht abschließen, weil meine Eltern fürchteten, ich könne in der Dusche verunglücken und sie müssten mir erste Hilfe leisten. Lange Zeit hatte ich das Gefühl gehabt, ständig von einem großen, gemeinsamen Elternauge beobachtet zu werden. Dabei war der Blick meiner Mutter immer nur auf Amerika gerichtet gewesen, und mein Vater hatte sich alle Mühe gegeben, darüber hinwegzusehen. Er hatte niemals vorgehabt, mit meiner Mutter in die USA zu ziehen.
Die Fahrstühle waren außer Betrieb. Im Treppenhaus kam mir eine Frau entgegen, die zwei kleine Kinder und eine Einkaufstüte heraufschleppte. Sie sah mich nicht an.
Als ich vor die Tür trat, schien es mit einem Schlag Nacht geworden zu sein. Hinter keinem Fenster brannte Licht, und nur am Ende der Straße schaukelte eine Laterne im Wind. Als ob hier niemand lebte. Plötzlich bebte die Erde, eine U-Bahn fuhr unter der Straße hindurch. Im Haus gegenüber begann ein Baby zu schreien. Schnell ging ich die Straße hinauf. Der silberne VW-Kombi, den ich mir von Terry geliehen hatte, stand vor einem Geschäft, dessen Schaufenster mit Packpapier verklebt war. Im Laden brannte Licht. Ein Radio lief. Ich umrundete den Wagen. Nichts fehlte, nichts war kaputt. Als ich die Tür öffnete, wehte mir Terrys Parfum entgegen.
Ich ließ den Motor an. Die Türen verriegelten sich automatisch. Ich gab Gas. An keiner Kreuzung halten. Rote Ampeln einfach überfahren. Und wenn sich dir jemand vors Auto schmeißt, bleib in keinem Fall stehen. Das hatte mir Mandze geraten. Ich steckte das Handy in die Freisprechvorrichtung und rief zu Hause an. Maria nahm nicht ab. Vielleicht war sie mit Leon essen gegangen. Er hatte vor zwei Tagen plötzlich vor meiner Tür gestanden, und ich hatte mir Mühe gegeben, mich darüber zu freuen.
Maria ging nie alleine nach draußen. Sie mochte Philadelphia nicht.
Die Stadt ist hässlich, heruntergekommen, versifft. So habe ich mir Amerika nicht vorgestellt. Lass uns reisen, Tom, lass uns irgendwo anders hingehen.
Kurz vor Weihnachten war ich mit ihr für einen Tag nach New York gefahren. Für ein Hotel hatte mein Geld nicht gereicht. Ich will hier nicht weg, hatte Maria gesagt. Ich will nicht zurück. Ich hasse Philadelphia.
Sie war jetzt beinahe drei Monate hier, hatte sich in meiner Wohnung ausgebreitet, die Fenster geputzt, den Boden gereinigt, die Wände mit Bildern aus Illustrierten beklebt und sie wieder heruntergerissen. Als mir für zwei Tage der Strom abgestellt worden war, hatte Maria einen Wutanfall bekommen.
Ruf sofort deinen Vater an, Tom, wenn du es nicht tust, mache ich es. Er soll dir Geld schicken.
Ich hatte mir welches von Terry geliehen und Mandze um Aufträge gebeten.
Warum sprichst du nicht einfach mit deinem Vater?, hatte Maria weitergebohrt. Er würde dir sicher helfen, wenn er wüsste, in was für Schwierigkeiten du steckst.
Wenn du nicht jeden Tag nach Deutschland telefonieren würdest, hätte ich keine Probleme. Wen rufst du da eigentlich immer an? Doch nicht etwa den Schnitzer?
Du kannst mich mal, hatte Maria gesagt.
Wieder roch ich Terrys Parfum. Ob der Duft stark genug war, den Rauchgeruch zu überdecken, wenn ich mir jetzt eine Zigarette anzündete? Vermutlich nicht.
Ich bog in die Broad Street ein, fuhr aufs Rathaus zu, ein schneeweißes Schloss mit einem schlanken Turm. Auf seiner Spitze, von den glitzernden Hochhäusern überragt, der Stadtvater William Penn. Die Menschen auf den Gehwegen bewegten sich wie in Zeitlupe, ihre Gesichter leuchteten auf, wenn die Scheinwerfer meines Wagens sie streiften. In Hauseingängen standen Leute und rauchten. Die Imbissbuden auf den Bürgersteigen hatten geschlossen, silberne Würfel am Straßenrand. Eingeschaltete Warnblinkanlagen, Autos in zweiter Reihe geparkt, Taxis schlängelten sich wie Aale durch den Verkehr, und ich dachte an die Postkarten, Stadt bei Nacht, auf denen man die Autos nicht sieht, sondern nur ihre Lichter. Eine Frau trug einen Daunenmantel, der so dick und so lang war, dass es aussah, als hätte man etwas Zerbrechliches in Wabenpapier gepackt. Obwohl es kalt war, konnte ich die Frau nicht atmen sehen, keine weiße Wolke vor ihrem Mund. Eine Puppe, dachte ich. Schaufensterpuppen. Liebevoll bis ins Detail gestaltet, aber leblos.