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Für Mutter, Gay und Nana wegen der Geschichten
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Karin Dufner
ISBN 978-3-492-99067-7
© Hillary Jordan 2008
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Mudbound«, Algonquin Books, Chapel Hill 2008
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München 2017
Covergestaltung: U1berlin / Patrizia Di Stefano unter Verwendung des Originaldesigns von Suzanne Dean.
Covermotiv: Alice Stevenson
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe
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Wenn ich könnte, ich würde hier überhaupt nichts schreiben. Ich würde fotografieren; der Rest bestünde aus Stofffetzen, Wattebäuschen, Erdklumpen, Aufnahmen von Reden, Holzstücken, Eisenspänen, Röhrchen voller Gerüche, Tellern mit Essen und Exkrementen …
Ein an den Wurzeln ausgerissenes Körperteil würde es besser auf den Punkt bringen.
Henry und ich gruben ein gut zwei Meter tiefes Loch. Wäre es flacher gewesen, wäre die Leiche wahrscheinlich durch die nächste starke Überschwemmung nach oben gespült worden: Hallo, Leute! Da bin ich wieder. Diese Vorstellung ließ uns weitergraben, obwohl die Blasen an unseren Handflächen aufplatzten, neu entstanden und sich wieder öffneten. Jede Schaufel voll war eine Qual – der alte Mann wischte uns zum letzten Mal eins aus. Trotzdem machten mich die Schmerzen froh. Sie vertrieben Gedanken und Erinnerungen.
Als das Loch so tief war, dass unsere Schaufeln nicht mehr bis zum Grund reichten, kletterte ich hinunter und grub weiter, während Henry hin und her lief und den Himmel betrachtete. Nach dem vielen Regen war die Erde so aufgeweicht, dass es war, als bohre man sich in rohes Fleisch. Ich fluchte, weil ich sie mit den Händen von der Schaufel abkratzen musste, und das kostete Zeit. Zum ersten Mal seit drei Tagen hatte der Regen eine Pause eingelegt. Das war vielleicht für die nächste Zeit unsere letzte Chance, die Leiche unter die Erde zu bringen.
»Beeilung«, sagte Henry.
Ich schaute nach oben. Der Himmel hatte zwar die Farbe von Asche, doch aus dem Norden näherte sich bereits eine gewaltige schwarze Wolkenmasse. Und zwar schnell.
»Wir schaffen es nicht«, erwiderte ich.
»Und ob«, entgegnete er.
Das war typisch Henry: stets absolut überzeugt davon, dass sein Wille auch in Erfüllung gehen würde. Wir würden die Leiche begraben, bevor das Unwetter losbrach. Es würde rechtzeitig trocken werden, damit wir die Baumwolle neu aussäen konnten. Das nächste Jahr würde besser werden. Sein kleiner Bruder würde ihn nie verraten.
Ich grub schneller und verzog bei jedem Spatenstich das Gesicht. Mir war klar, dass ich jederzeit aufhören konnte. Dann würde Henry übernehmen, ohne sich zu beklagen, obwohl er fast fünfzig Jahre auf dem Buckel hatte und ich erst neunundzwanzig. Doch aus Stolz oder Sturheit, vielleicht auch aus beidem, grub ich weiter. Als er »Okay, ich bin dran« sagte, brannten meine Muskeln wie Feuer, und ich keuchte wie ein falsch betankter Motor. Er zog mich aus dem Loch heraus, und ich biss die Zähne zusammen, um nicht vor Schmerz zu schreien. Wegen der vielen Tritte und Schläge tat mir noch immer jeder Knochen im Leibe weh, aber davon ahnte Henry nichts.
Henry durfte niemals davon erfahren.
Ich kniete am Rand des Lochs und sah ihm beim Graben zu. Sein Gesicht und seine Hände waren so mit Schlamm verkrustet, dass ein Außenstehender ihn für einen Schwarzen hätte halten können. Zweifellos war ich genauso schmutzig, doch mich hätten meine roten Haare verraten. Die Haare meines Vaters wie fein gesponnenes Kupfer, sodass es Frauen in den Fingern juckte, es zu berühren. Ich hatte meine Haare schon immer gehasst. Genauso gut hätte ich einen lodernden Scheiterhaufen auf dem Kopf herumtragen können, der der Welt zurief, dass mein Vater ein Teil von mir war. Bei jedem Blick in den Spiegel schrie er es mir entgegen.
In etwa eins zwanzig Tiefe stieß Henrys Schaufel auf etwas Hartes.
»Was ist das?«, fragte ich.
»Wahrscheinlich ein Gesteinsbrocken.«
Aber es war kein Stein, sondern Knochen, ein menschlicher Schädel. Am Hinterkopf klaffte ein großes Loch. »Verdammt«, sagte Henry und hielt ihn ins Licht.
»Was machen wir jetzt?«
»Keinen blassen Schimmer.«
Wir blickten beide nach Norden. Das Schwarz rückte näher und verschlang den Himmel.
»Wir können nicht von vorne anfangen«, stellte ich fest. »Es könnte Tage dauern, bis es wieder aufhört zu regnen.«
»Mir gefällt das nicht«, widersprach Henry. »Es ist nicht richtig.«
Er grub trotzdem weiter, mit den Händen, und reichte die Knochen, auf die er stieß, zu mir hinauf: Rippen, Arme, Becken. Als er bei den Unterschenkeln angelangt war, klapperte Metall. Er streckte mir einen Wadenknochen entgegen, und ich bemerkte das grob geschmiedete, verrostete Fußeisen, das ihn umschloss. Eine zerrissene Kette baumelte daran.
»Gütiger Himmel«, stöhnte Henry. »Das ist das Grab eines Sklaven.«
»Woher willst du das wissen?«
Er griff nach dem zerschmetterten Schädel. »Siehst du? Ihm wurde in den Kopf geschossen. Wahrscheinlich wollte er fliehen.« Henry schüttelte den Kopf. »Damit wäre die Sache erledigt.«
»Was ist erledigt?«
»Wir können unseren Vater nicht in ein Niggergrab stecken«, antwortete Henry. »Das wäre für ihn die schlimmste Strafe. Und jetzt hilf mir raus.« Er streckte mir eine schlammige Hand entgegen.
»Es könnte auch ein geflohener Häftling sein«, wandte ich ein. »Ein Weißer.« Das war zwar durchaus möglich, doch ich hätte jede Wette abgeschlossen, dass es nicht zutraf. Henry zögerte. »Wie weit ist es bis zur Strafanstalt? Neun oder zehn Kilometer?«, fügte ich hinzu.
»Eher fünfzehn«, entgegnete er, ließ jedoch die Hand sinken.
»Komm«, sagte ich und hielt ihm nun meine Hand hin. »Leg eine Pause ein. Ich grabe ein bisschen weiter.« Als er sie umfasste, musste ich mir ein Lächeln verkneifen. Henry hatte recht: Unser Vater hätte getobt.
Während Henry wieder mit Graben beschäftigt war, sah ich Laura auf uns zukommen. Einen Eimer in jeder Hand, watete sie durch die überfluteten Felder. Ich kramte ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte mir damit einen Teil des Schlamms vom Gesicht. Eitelkeit war auch etwas, das ich von meinem Vater geerbt hatte.
»Da ist Laura«, meldete ich.
»Zieh mich hoch«, sagte Henry.
Ich packte ihn an den Händen und zerrte ihn, ächzend vor Anstrengung, über den Rand des Grabes. Schwer atmend stemmte er sich auf die Knie. Als er den Kopf senkte, fiel sein Hut herunter und gab eine große rosafarbene kahle Stelle frei. Der Anblick versetzte mir einen unerwarteten Stich. Er wird alt, dachte ich. Ich werde ihn nicht für immer um mich haben.
Er hob den Kopf und hielt Ausschau nach Laura. Als er sie sah, malten sich so intime Gefühle in seinen Augen, dass es mir peinlich war, Zeuge geworden zu sein: Sehnsucht, Hoffnung und ein Anflug von Sorge. »Ich mache besser weiter«, meinte ich, wandte mich ab und griff nach der Schaufel. Halb sprang, halb rutschte ich in das Loch hinab. Inzwischen war es ziemlich tief, sodass ich nicht mehr über den Rand spähen konnte. Besser so.
»Wie geht es voran?«, fragte Laura. Wie immer durchströmte mich ihre Stimme wie kaltes, klares Wasser. Es war eine Stimme, die eigentlich einer übersinnlichen Gestalt hätte gehören sollen. Einer Sirene oder einem Engel, nicht einer Farmersfrau mittleren Alters aus Mississippi.
»Wir sind fast fertig«, erwiderte Henry. »Noch ein halber Meter oder so, dann haben wir es.«
»Ich habe euch Essen und Wasser mitgebracht«, sagte sie.
»Wasser!« Henry lachte spöttisch auf. »Genau das brauchen wir jetzt. Noch mehr Wasser.« Ich hörte, wie die Schöpfkelle an den Eimer stieß und wie Henry schluckte. Im nächsten Moment ragte Lauras Kopf über den Rand des Lochs. Sie reichte mir die Schöpfkelle.
»Hier. Trink etwas.«
Ich stürzte das Wasser hinunter, obwohl mir ein Whiskey lieber gewesen wäre. Vor drei Tagen, kurz bevor die Brücke überflutet wurde und wir von der Stadt abgeschnitten waren, war mir der Alkohol ausgegangen. Meiner Schätzung nach war der Flusspegel inzwischen so weit gesunken, dass ich es ans andere Ufer hätte schaffen können – wenn ich nicht in diesem verdammten Loch festgesteckt hätte.
Ich bedankte mich und gab ihr die Schöpfkelle zurück. Allerdings schaute Laura nicht mich an, sondern starrte auf die andere Seite des Grabes, wo wir die Knochen abgelegt hatten.
»Mein Gott, sind die von einem Menschen?«, fragte sie.
»Wir konnten nichts tun«, erklärte Henry. »Wir hatten schon fast anderthalb Meter geschafft, als wir sie gefunden haben.«
Ich bemerkte, dass ihre Lippen zuckten, als ihr die Fußeisen und Ketten auffielen. Sie schlug die Hand vor den Mund und wandte sich an Henry. »Vergiss nicht, sie wegzuräumen, damit die Kinder sie nicht sehen«, sagte sie.
Als sich der Rand des Grabes fast einen halben Meter über meinem Kopf befand, hörte ich auf zu graben. »Komm und schau es dir an!«, rief ich. »Ich glaube, es ist tief genug.«
Henrys Gesicht erschien verkehrt herum über mir. Er nickte. »Ja. Das müsste reichen.« Ich gab ihm die Schaufel. Doch als er mich hochziehen wollte, klappte es nicht. Ich war zu tief unten, und unsere Hände und die Wände des Lochs waren zu glitschig.
»Ich hole die Leiter«, meinte er.
»Beeil dich.«
Ich wartete in dem Loch, um mich herum nichts als stinkender, schleimiger Schlamm. Über mir sah ich ein graues, sich verdunkelndes Rechteck. Den Kopf in den Nacken gelegt, stand ich da, wartete auf das Schmatzen von Henrys Stiefeln und fragte mich, warum er, verdammt noch mal, so lange brauchte. Falls ihm und Laura etwas zustoßen würde, dachte ich, wüsste niemand, dass ich hier bin. Ich krallte mich an den Rand des Grabes und versuchte, allein hinauszuklettern, aber meine Finger rutschten nur durch den Morast.
Dann spürte ich die ersten Regentropfen. »Henry!«, schrie ich.
Noch nieselte es nur, doch bald würde der Himmel seine Schleusen öffnen. Das Loch würde sich mit Wasser füllen. Ich würde spüren, wie es mir an den Beinen entlang bis zu den Oberschenkeln hinaufkroch. Dann bis zur Brust. Zum Hals. »Henry! Laura!«
Wie ein waidwunder Bär, der in eine Grube gefallen ist, warf ich mich gegen die Wände des Grabes. Ein Teil von mir stand daneben und schüttelte den Kopf über meine eigene Dummheit. Allerdings reichte das nicht, um den Bären zu beruhigen. Es lag nicht an der Enge. Schließlich hatte ich Hunderte von Stunden in Cockpits verbracht. Es lag am Wasser. Im Krieg hatte ich es möglichst vermieden, über das offene Meer zu fliegen, selbst wenn ich dabei riskierte, vom Boden aus mit Flakgeschützen beschossen zu werden. So war ich zu meinen vielen Tapferkeitsmedaillen gekommen: Indem ich aus lauter Angst vor der gewaltigen und hungrigen blauen Fläche mitten ins Feuer der Deutschen hineingeflogen war.
Ich schrie so laut, dass ich Henry erst hörte, als er direkt über mir stand. »Ich bin hier, Jamie! Ich bin hier!«, rief er.
Er senkte die Leiter ins Loch hinab, und ich kletterte nach oben. Als er nach meinem Arm griff, schüttelte ich ihn ab. Die Hände auf die Knie gestützt, beugte ich mich vor und versuchte, das wilde Pochen meines Herzens zu beruhigen.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte er sich.
Ich sah ihn nicht an, aber das war auch nicht nötig. Ich wusste, dass er die Stirn runzelte und die Lippen schürzte. Dieser Gesichtsausdruck besagte: »Mein Bruder ist ein Spinner.«
»Ich dachte, du könntest vielleicht beschlossen haben, mich da unten zu vergessen«, stieß ich mit einem gezwungenen Lachen hervor.
»Warum sollte ich?«
»Das war nur ein Witz, Henry.« Ich zog die Leiter hoch und klemmte sie unter den Arm. »Komm, bringen wir es hinter uns.«
Wir hasteten über die Felder, wuschen uns an der Pumpe den Schlamm von Gesichtern und Händen und gingen danach in die Scheune, um den Sarg zu holen. Er war aus nicht zusammenpassenden Holzresten zusammengeschustert und sah erbärmlich aus, aber besser hatten wir es mit den Materialien, die uns zur Verfügung standen, nicht hingekriegt. Henry verzog das Gesicht, als er das eine Ende anhob. »Ein verdammter Jammer, dass wir nicht in die Stadt können«, meinte er.
»Finde ich auch«, sagte ich und dachte dabei an den Whiskey.
Wir schleppten den Sarg auf die Veranda. »Wollt ihr heißen Kaffee und euch umziehen, bevor wir ihn begraben?«, rief Laura, als wir am offenen Fenster vorbeikamen.
»Nein«, antwortete Henry. »Keine Zeit. Das Unwetter ist im Anmarsch.«
Wir brachten den Sarg in den Schuppen und stellten ihn auf dem splittrigen Bretterboden ab. Henry hob das Laken an, um das Gesicht unseres Vaters ein letztes Mal zu betrachten. Pappys Miene war friedlich. Nichts wies darauf hin, dass sein Tod etwas anderes gewesen war als das zeitlich angemessene natürliche Dahinscheiden eines alten Mannes.
Ich nahm die Füße, Henry den Kopf. »Vorsichtig«, mahnte er.
»Na klar«, entgegnete ich. »Wir wollen ihm ja nicht wehtun.«
»Darum geht es nicht«, zischte Henry.
»Entschuldige, Bruderherz. Bin bloß müde.«
Lächerlich behutsam legten wir die Leiche in den Sarg. Henry griff nach dem Deckel. »Ich erledige das«, sagte er. »Du gehst schauen, ob Laura und die Mädchen fertig sind.«
»Wird gemacht.«
Als ich ins Haus trat, hörte ich, wie der Hammer auf den ersten Nagel traf, ein wundervoll endgültiges Geräusch. Die Kinder zuckten zusammen.
»Was ist das für ein Krach, Mama?«, fragte Amanda Leigh.
»Dein Daddy nagelt Pappys Sarg zu«, erklärte Laura.
»Wird er da nicht sauer?«, flüsterte Bella ängstlich.
Laura warf mir rasch einen warnenden Blick zu. »Nein, Schatz«, erwiderte sie. »Pappy ist tot. Er kann nie wieder auf jemanden sauer werden. Und jetzt zieht euch Mäntel und Stiefel an. Wir wollen euren Großvater zur letzten Ruhe betten.«
Ich war froh, dass Henry nicht mitbekam, mit welcher Genugtuung sie das sagte.
Wenn ich an die Farm denke, denke ich an Schlamm. Er fing sich unter den Fingernägeln meines Mannes, verkrustete die Knie und Haare der Kinder und saugte an meinen Füßen wie ein gieriges Neugeborenes an der Brust. In Gestalt von stiefelförmigen Abdrücken marschierte er über die Holzböden im Haus. Man kam nicht gegen ihn an. Der Schlamm bedeckte alles. Ich träumte in Braun.
Wenn es, wie so oft, regnete, verwandelte sich der Hof in einen zähflüssigen Eintopf, in dem das Haus schwamm wie ein aufgeweichter Kracker. Regnete es heftiger, stieg der Fluss an und verschluckte die Brücke, den einzigen Weg ans andere Ufer. Jenseits dieser Brücke befand sich die Welt. Die Welt der Glühbirnen und Teerstraßen und der Hemden, die weiß blieben. Bei Hochwasser war diese Welt für uns verloren und wir für sie.
Ein Tag glitt in den nächsten über. Meine Hände erledigten das Notwendige: pumpen, buttern, scheuern, wischen. Und kochen, immer nur kochen. Bohnen brechen und Hühnern den Hals umdrehen. Teig kneten, Mais enthülsen und die Augen aus den Kartoffeln schneiden. Kaum war das Frühstück vorbei und alles wieder sauber, war es schon Zeit für das Mittagessen. Danach kam das Abendessen, und am nächsten Morgen war wieder das Frühstück dran.
Bei Morgengrauen aufstehen. Raus auf die Toilette. Das Geschäft verrichten, zitternd im Winter und schwitzend im Sommer. Das ganze Jahr über mit offenem Mund atmend. Den Hühnern die Eier wegnehmen. Holz vom Stapel hereinschleppen und den Herd anzünden. Speck schneiden und ihn mit Eiern und Maisgrütze braten. Meine Töchter aus dem Bett holen, ihnen die Zähne putzen, Arme in Ärmel und Füße in Socken und Stiefel stecken. Mit der Jüngsten auf die Veranda gehen und sie hochheben, damit sie die Glocke läuten kann, die meinen Mann von den Feldern nach Hause ruft und dessen widerwärtigen Vater in seinem Schuppen weckt. Alle, auch mich selbst, verpflegen. Tag für Tag die Eisenpfanne und die Gesichter der Kinder schrubben und den Schlamm von den Fußböden wegputzen, während der alte Mann dasitzt und mich beobachtet. »Du solltest das Gemüse umrühren, Mädchen. Am besten fegst du jetzt die Böden. Bring den Gören Manieren bei. Wasch ihre Kleider. Fütter die Hühner. Hol mir meinen Stock.« Seine Stimme belegt vom Rauchen. Seine tückischen hellen Augen mit ihren harten schwarzen Pupillen stets auf mich gerichtet.
Er machte den Kindern Angst, vor allem meiner Jüngsten, die ein bisschen pummelig war.
»Komm her, kleines Schweinchen«, sagte er zu ihr.
Sie spähte hinter meinen Beinen hervor und betrachtete ihn. Seine langen gelben Zähne. Seine knochigen gelben Finger mit den gebogenen dicken Nägeln, die wie uralte Hörner aussahen.
»Komm her und setz dich auf meinen Schoß.«
Dabei hatte er gar keine Lust, sie oder überhaupt ein Kind auf den Schoß zu nehmen. Es gefiel ihm einfach, dass sie sich vor ihm fürchtete. Wenn sie nicht gehorchte, meinte er, sie sei sowieso zu dick, um auf seinem Schoß zu sitzen, und würde ihm noch die Knochen brechen. Sie fing an zu weinen, und ich stellte mir diesen alten Mann in einem Sarg vor. Ich malte mir aus, wie sich der Deckel über seinem Gesicht schloss und wie der Sarg ins Loch hinabgelassen wurde. Wie die Erde auf das Holz prasselte.
»Pappy«, fragte ich mit einem zuckersüßen Lächeln. »Was hältst du von einer schönen Tasse Kaffee?«
Aber ich muss am Anfang beginnen, wenn ich ihn überhaupt noch finde. Anfänge sind etwas Flüchtiges. Immer, wenn man glaubt, dass man einen zu fassen gekriegt hat, stößt man auf etwas, das noch früher geschehen ist. Selbst wenn man bei »Kapitel eins: Meine Geburt« einsetzt, bleibt das Problem der Vorgeschichte, das von Ursache und Wirkung. Warum ist der kleine David vaterlos? Weil, wie Dickens uns berichtet, sein Vater aufgrund seiner zarten Gesundheit starb. Aber woher kam diese fatale zarte Gesundheit? Da Dickens uns das nicht verrät, können wir nur Mutmaßungen anstellen. Ein Gendefekt vielleicht, geerbt von seiner Mutter, deren Mutter wiederum unter ihrem Stand geheiratet hatte, um ihrem grausamen Vater eins auszuwischen. Dieser wurde als Kind von einer Kinderfrau geschlagen, die ihren Dienst gezwungenermaßen ausübte, nachdem ihr Mann sie wegen einer Frau verlassen hatte, der er zufällig begegnet war, als ein Rad ihrer Kutsche vor dem Laden eines Hutmachers zerbrach, wo sie gerade ihren Hut neu dekorieren lassen wollte. Wenn wir dort anfangen, ist der kleine David vaterlos, weil die zukünftige Geliebte des Mannes der Kinderfrau seines Ururgroßvaters unzufrieden mit ihrem Hut war.
Nach dieser Logik wurde mein Schwiegervater ermordet, weil ich schon von Geburt an eher unscheinbar als hübsch bin. Das wäre ein möglicher Anfang. Es gibt auch noch andere: Weil Henry Jamie bei der großen Mississippi-Flut im Jahr 1927 vor dem Ertrinken gerettet hat. Weil Pappy das Land verkauft hat, das eigentlich für Henry bestimmt war. Weil Jamie im Krieg zu viele Einsätze geflogen ist. Weil ein Schwarzer namens Ronsel Jackson sich nicht ducken wollte. Weil ein Mann seine Frau vernachlässigt, ein Vater seinen Sohn betrogen und eine Mutter Rache geübt hat. Wahrscheinlich hängt der Anfang einer Geschichte davon ab, wer sie erzählt. Jeder würde sicher an einer anderen Stelle beginnen. Doch zu guter Letzt landen sie alle am selben Punkt.
Es ist verführerisch, die Ereignisse auf der Farm für unausweichlich zu halten. Ja, zu meinen, sämtliche Vorkommnisse in unserem Leben wären so vorherbestimmt wie die Züge in einer Partie Drei gewinnt: Wenn man in der Mitte anfängt, gewinnt keiner. Beginnt man in einer der Ecken, hat man den Sieg in der Tasche. Und wenn man gar nicht anfängt, sondern dem Gegner den Vortritt lässt? Dann verliert man, so einfach ist das.
Mit der Wahrheit verhält sich das nicht so. Der Tod mag unvermeidlich sein, die Liebe ist es allerdings nicht. Für die Liebe muss man sich entscheiden.
Also fange ich damit an. Mit der Liebe.
In der Bibel ist viel von »anhängen« die Rede. Männer und Frauen hängen Gott an. Ehemänner ihren Frauen. Knochen der Haut. Wir sollen dem entnehmen, dass »anhängen« etwas Gutes ist. Die Rechtschaffenen hängen an, die Bösen nicht.
An meinem Hochzeitstag riet mir meine Mutter – in einem schüchternen Versuch, mich auf die Zumutungen des Ehebetts vorzubereiten –, Henry anzuhängen, ganz gleich, was auch geschehen möge. »Anfangs tut es weh«, sagte sie, während sie mir die Perlenkette umlegte. »Aber mit der Zeit wird es leichter.«
Mutter hatte nur zur Hälfte recht.
Als ich Henry McAllan im Frühjahr 1939 begegnete, war ich eine einunddreißigjährige alte Jungfer und kurz davor zu vertrocknen. Meine Welt war klein, und ich kannte alles darin. Ich lebte mit meinen Eltern in meinem Geburtshaus. Ich schlief im ehemaligen Kinderzimmer, das ich früher mit meinen Schwestern geteilt hatte und das nun mir allein gehörte. Ich unterrichtete Englisch an einer Privatschule für Knaben, sang im Chor der Calvary Episcopal Church und hütete meine Nichten und Neffen. Jeden Montagabend spielte ich mit meinen verheirateten Freundinnen Bridge.
Ich war nie so schön wie meine Schwestern. Fanny und Etta haben die zierliche Figur der Fairbairns geerbt, der Familie meiner Mutter. Ich hingegen bin vom Scheitel bis zur Sohle eine Chappell: klein, dunkelhaarig, mit markanten gallischen Gesichtszügen und einer kurvigen Figur, die für die Charleston-Kleider meiner Jugend nicht gerade vorteilhaft war. Wenn Freundinnen meiner Mutter zu Besuch kamen, lobten sie meine hübschen Hände, meine Locken und meine fröhliche Art. Ich gehörte eben zu dieser Sorte junger Mädchen. Und dann, eines Tages – es traf mich völlig überraschend –, war ich nicht mehr jung. Am Abend meines dreißigsten Geburtstags weinte meine Mutter, nachdem das Geschirr von der Familienfeier weggeräumt war und meine Brüder und Schwestern samt Ehepartnern und Kindern mich geküsst und sich auf den Heimweg gemacht hatten. Ihr Schluchzen, vielleicht gedämpft von einem Kissen oder der Schulter meines Vaters, wehte den Flur entlang bis in mein Zimmer, wo ich wach lag und den Gesprächen der Nachtschwalben, Zikaden und Frühlingspfeifer lauschte. Ich bin! Ich bin!, schienen sie zu sagen.
»Ich bin«, flüsterte ich. Die Worte klangen hohl in meinen Ohren. So sinnlos wie das panische Zappeln eines Grashüpfers in einer Streichholzschachtel. Erst Stunden später konnte ich einschlafen.
Doch als ich am nächsten Morgen aufwachte, fühlte ich mich seltsam erleichtert. Jetzt war ich nicht länger nur unverheiratet, sondern offiziell nicht mehr vermittelbar. Die Leute konnten aufhören zu hoffen, ihre Aufmerksamkeit einem anderen, wichtigeren Ziel zuwenden und mich einfach mein Leben weiterführen lassen. Ich war eine angesehene Lehrerin, eine geliebte Tochter, Schwester, Nichte und Tante. Damit würde ich mich zufriedengeben.
Ich frage mich, ob mir das wirklich gelungen wäre. Hätte ich im Buch des Lebens wirklich an den schmalen, leeren Seitenrändern neben den eigentlichen Geschichten mein Glück gefunden? Dort, wo sich altjüngferliche Tanten und kinderlose Lehrerinnen tummeln? Ich kann es nicht beantworten, denn ein gutes Jahr später trat Henry in mein Leben und zog mich im Nu in die Mitte der Seite.
Eines Sonntags brachte mein Bruder Teddy ihn zum Abendessen mit. Teddy arbeitete als ziviler Landvermesser beim Army Corps of Engineers. Henry war sein neuer Vorgesetzter. Er war ein wundersames Geschöpf, wie man es nur selten antraf: ein Junggeselle von einundvierzig Jahren. Er sah so alt aus, wie er war, was hauptsächlich an seinem schlohweißen Haar lag. Besonders groß war er nicht, dafür aber kräftig gebaut. Außerdem hinkte er stark, was, wie ich später erfuhr, von einer Kriegsverletzung herrührte. Doch das tat seiner selbstbewussten Ausstrahlung keinen Abbruch. Er bewegte sich langsam und bedächtig, als wären seine Gliedmaßen durch Gewichte beschwert und als wäre es von äußerster Wichtigkeit, wie er sie platzierte. Seine Hände waren stark und wohlgeformt, nur seine Nägel mussten geschnitten werden. Mir fiel auf, wie ruhig seine Hände waren. Selbst wenn er über Politik redete, lagen sie reglos und verschränkt auf seinem Schoß oder zu beiden Seiten seines Tellers. Er sprach mit dem reizenden gedehnten Akzent aus dem Delta, so als hätte er den Mund voll mit einer üppigen, köstlichen Nachspeise. Obwohl er die meisten seiner Bemerkungen an Teddy und meine Eltern richtete, spürte ich während des ganzen Abendessens den Blick aus seinen grauen Augen auf mir. Immer wieder huschte er in meine Richtung, wandte sich ab und kehrte wieder zurück. Ich weiß noch, dass meine Haut unter dem Stoff meines Kleides ganz heiß und feucht wurde und zu prickeln anfing. Als ich nach dem Wasserglas griff, zitterte meine Hand leicht.
Meine Mutter, die ein feines Näschen für den Duft männlicher Bewunderung hatte, begann mit nervenzehrender Häufigkeit meine weiblichen Tugenden ins Tischgespräch einfließen zu lassen. »Ach, Sie waren auf dem College, Mr McAllan? Laura hat auch studiert und ihren Abschluss als Lehrerin an der West Tennessee State gemacht. Ja, Mr McAllan, wir spielen alle Klavier, aber Laura ist bei Weitem die Begabteste. Sie singt auch wunderschön, nicht wahr, Teddy? Und Sie sollten einmal ihren Pfirsich-Käsekuchen kosten.« So ging es immer weiter. Die meiste Zeit starrte ich auf meinen Teller. Sobald ich versuchte, aus irgendeinem Grund in die Küche zu flüchten, bestand Mutter darauf, es selbst zu erledigen, oder sie schickte Teddys Frau Eliza, die mir, während sie gehorchte, mitfühlende Blicke zuwarf. Teddys Augen funkelten, und als die Mahlzeit zu Ende war, erstickte er fast vor Lachen. Ich war kurz davor, ihn und meine Mutter zu erwürgen.
Als Henry sich verabschiedete, lud Mutter ihn für den folgenden Sonntag ein. Bevor er zusagte, musterte er mich forschend. Ich zwang mich zu einem höflichen Lächeln.
In der kommenden Woche sprach meine Mutter über kaum etwas anderes als den charmanten Mr McAllan: Wie zurückhaltend er sei. Was für ein Gentleman – das höchste Lob aus ihrem Mund. Dass er zum Essen keinen Wein trinke. Daddy möge ihn auch. Das war allerdings nicht verwunderlich, da Henry ja einen Collegeabschluss vorweisen konnte. Für meinen Vater, einen emeritierten Geschichtsprofessor, gab es keinen besseren Beweis für den Wert eines Menschen als ein Collegestudium. Und wenn ihm Jesus Christus persönlich in all seiner Pracht erschienen wäre, hätte er ohne Diplom keine Gnade vor seinen Augen gefunden.
Die Beharrlichkeit meiner Eltern machte mir schwer zu schaffen. Sie drohte nämlich Hoffnungen in mir zu wecken, die ich mir nicht gestatten durfte. Ich sagte mir, Henry McAllan mit seinem guten Benehmen und seiner hohen Bildung ginge mich nichts an. Er war neu in Memphis und hatte keine Bekannten, und das war der einzige Grund, warum er Mutters Einladung angenommen hatte.
Wie lächerlich doch meine Abwehrhaltung war und auf was für tönernen Füßen sie stand! Bereits am folgenden Sonntag geriet sie ins Wanken, als Henry nicht nur meiner Mutter, sondern auch mir einen Strauß Lilien mitbrachte. Nach dem Essen schlug er mir vor, einen Spaziergang zu machen. Ich ging mit ihm in den Overton Park, wo der Hartriegel blühte. Während wir unter den Bäumen dahinschlenderten, ließ der Wind Wolken aus weißen Blüten auf uns niederregnen. Es war wie eine Filmszene, in der ich als unwahrscheinliche Heldin auftrat. Henry pflückte mir eine Blüte aus dem Haar, wobei sein Finger leicht meine Wange streifte.
»Sie sind hübsch, nicht?«, sagte er.
»Schon, aber traurig.«
»Warum traurig?«
»Weil sie uns an das Leiden Christi erinnern.«
Henrys Augenbrauen zogen sich zusammen, bis eine tiefe senkrechte Falte zwischen ihnen entstand. Ich merkte ihm an, wie sehr es ihn störte, etwas nicht zu wissen. Und mir gefiel es, dass er diese Unwissenheit zugab, anstatt wie viele andere Männer so zu tun als ob. Ich zeigte ihm die an blutige Nagellöcher erinnernden Flecken auf jedem der vier Blütenblätter.
»Aha«, erwiderte er und nahm meine Hand.
Er hielt sie, bis wir zu Hause waren, und als wir ankamen, fragte er mich, ob ich ihn am nächsten Samstag zu einer Aufführung von Der Pralinésoldat im Freilichttheater von Memphis begleiten wolle.
Die weiblichen Mitglieder meiner Familie setzten Himmel und Erde in Bewegung, um mich für diesen Anlass herauszuputzen. Mutter ging mit mir ins Kaufhaus Lowenstein und kaufte mir ein neues Kleid mit weißem Rüschenkragen und Puffärmeln. Am Samstagmorgen stürmten meine Schwestern mit Farbtiegeln für Wangen und Lider und Lippenstiften in sämtlichen Rot- und Rosatönen das Haus. Mit der unbeirrten Selbstgewissheit von Küchenchefs, die eine Soße abschmecken, probierten sie alles an mir aus. Nachdem ich zu ihrer Zufriedenheit gezupft, bemalt und gepudert war, hielten sie mir einen Spiegel vors Gesicht, als wollten sie mir mein neues Ich wie ein Geschenk präsentieren. Ich erkannte mich selbst nicht mehr und sagte das auch.
»Warte nur, bis Henry dich sieht«, meinte Fanny lachend.
Als Henry mich abholen kam, merkte er lediglich an, ich sähe hübsch aus. Doch später an diesem Tag küsste er mich zum ersten Mal. Er umfasste mein Gesicht so selbstverständlich und vertraut mit beiden Händen, als sei es ein Lieblingshut oder eine Rasierschale, die er schon seit Jahren besäße. Noch nie zuvor hatte ein Mann mich so geküsst, besitzergreifend und sich seiner selbst und meiner bewusst. Ich war begeistert.
Henry besaß all die Selbstgewissheit, die mir fehlte. Er war von einer erstaunlichen Anzahl von Dingen überzeugt: Der Packard ist das beste Auto aus amerikanischer Herstellung. Fleisch sollte man nicht halb roh verzehren. God Bless America von Irving Berlin sollte The Star-Spangled Banner als Nationalhymne ablösen, weil Letzteres zu schwierig zu singen ist. Die Yankees werden die World Series gewinnen. Es wird zu einem weiteren großen Krieg in Europa kommen, und die Vereinigten Staaten täten gut daran, sich rauszuhalten. Blau ist deine Farbe, Laura.
Also trug ich Blau. Im Laufe der nächsten Monate breitete ich langsam mein Leben vor ihm aus. Ich erzählte ihm von meinen Lieblingsschülern, von meinem Sommerjob als Aufsichtsperson im Ferienlager am Myrtle Beach und von meiner Familie bis hin zu Cousins zweiten oder dritten Grades. Ich sprach über meine Zeit am College, davon, wie sehr ich Dickens und die Brontë-Schwestern verehrte und dass ich Melville und Mathematik verabscheute. Henry lauschte ernst und aufmerksam allem, was ich ihm mitzuteilen beschloss, und nickte hin und wieder, um seine Zustimmung auszudrücken. Bald ertappte ich mich dabei, dass ich auf dieses Nicken wartete und mir merkte, wann es gewährt und wann es mir vorenthalten wurde. Stets zeigte ich ihm die Seite an mir, die mir aller Wahrscheinlichkeit eines einbringen würde. Dabei wendete ich nicht absichtlich weibliche List an. Ich war männliche Aufmerksamkeit einfach nicht gewohnt und wusste nur, dass ich mehr davon wollte. Von allem das, was damit einherging.
Und es waren der Vorteile nicht wenige. Einen Verehrer zu haben – ein Ausdruck meiner Mutter, den sie bei jeder möglichen Gelegenheit verwendete – verlieh mir einen bislang unbekannten Status unter meinen Freundinnen und Verwandten. Plötzlich war ich hübscher und interessanter und hatte mir auf unerklärliche Weise alles Gute und Schöne verdient.
Wie reizend du heute aussiehst, meine Liebe, sagten sie. Und: Ich muss feststellen, dass du richtiggehend strahlst! Und: Komm, Laura, setz dich nun zu mir und erzähl mir alles über deinen Mr McAllan.
Obwohl ich bezweifelte, dass er wirklich mein Mr MacAllan war, ließen Henrys Aufmerksamkeiten nicht nach, als der Frühling in den Sommer überging. Also gestattete ich mir die Hoffnung, dass es sich tatsächlich so verhalten könnte. Er lud mich in Restaurants und ins Kino ein, und wir unternahmen Spaziergänge am Ufer des Mississippi und Tagesausflüge aufs Land, wo er mich auf Eigenschaften der Landschaft und der Farmen hinwies, an denen wir vorbeikamen. Er kannte sich ausgezeichnet mit Ackerbau, Viehzucht und allem anderen aus. Als ich ihn darauf ansprach, erwiderte er, er sei auf einer Farm aufgewachsen.
»Wohnen deine Eltern noch dort?«, erkundigte ich mich.
»Nein. Sie haben nach der Überschwemmung 1927 alles verkauft.«
Ich hörte zwar eine gewisse Wehmut aus seinem Tonfall heraus, erklärte es mir jedoch mit nostalgischen Gefühlen. Ihn zu fragen, ob er eines Tages seine eigene Farm bestellen wolle, kam mir nicht in den Sinn. Henry war Collegeabsolvent, ein erfolgreicher Ingenieur mit einer Stelle, die es ihm erlaubte, in Memphis zu leben – dem Zentrum der Zivilisation. Weshalb, um alles in der Welt, sollte er sich also als Farmer abmühen wollen?
»Mein Bruder kommt an diesem Wochenende aus Oxford«, verkündete Henry eines Tages im Juli. »Ich möchte dich ihm gerne vorstellen.«
Mich ihm vorstellen. Mein Herz pochte. Jamie war Henrys Lieblingsbruder. Er sprach oft von ihm, und zwar mit einer Mischung aus Zuneigung und Ungeduld, die mich zum Schmunzeln brachte. Jamie studierte Bildende Kunst an der Ole Miss (»Ein Fach ohne jeglichen praktischen Nutzen«) und führte nebenbei Herrenmode vor (»Eine würdelose Betätigung für einen Mann«). Er wollte Schauspieler werden (»Wie soll er davon eine Familie ernähren?«) und verbrachte seine gesamte Freizeit damit, in Theaterinszenierungen mitzuwirken (»Er steht eben gern im Mittelpunkt«). Doch trotz dieser Seitenhiebe hatte Henry seinen kleinen Bruder offenbar sehr gern. Sobald er über Jamie redete, leuchteten seine Augen, und seine sonst so reglosen Hände beschrieben ausladende Gesten in der Luft. Dass er mich Jamie vorstellen wollte, konnte nur eines bedeuten: Er zog eine dauerhaftere Verbindung zwischen uns in Erwägung. Aus alter Gewohnheit versuchte ich, diesen Gedanken beiseitezuschieben, aber er setzte sich hartnäckig in meinem Kopf fest. Als ich an jenem Abend die Kartoffeln fürs Abendessen schälte, malte ich mir Henrys Heiratsantrag aus. Ich stellte mir vor, wie er mit ernster und leicht besorgter Miene im Wohnzimmer vor mir auf die Knie sank – doch was, wenn ich ihm einen Korb gab?
Während ich am nächsten Morgen mein schmales Bett machte, sah ich mich die bestickte weiße Überdecke eines Doppelbetts glatt streichen, dessen Kissen noch die Abdrücke zweier Köpfe aufwiesen. Als ich im Unterricht meine Schüler zum Thema Relativsatz prüfte, dachte ich an ein Kind mit Henrys grauen Augen, das aus einer Korbwiege zu mir hinaufblickte. Diese Luftschlösser nisteten sich in meinem Denken ein wie exotische üppige und farbenprächtige Blumen, die meine jahrelangen Bemühungen, meine Sehnsüchte zu beschneiden, zunichtemachten.
An dem Samstag, an dem ich Jamie kennenlernen sollte, wählte ich meine Kleidung besonders sorgfältig aus. Ich entschied mich für das marineblaue Leinenkostüm, das Henry so mochte, und saß geduldig da, während meine Mutter mein störrisches Haar zu einer Aufsteckfrisur bändigte, die einer Zeitschriftenreklame entstiegen zu sein schien. Henry holte mich ab, und wir fuhren mit dem Auto zum Bahnhof, um auf Jamies Zug zu warten. Als wir inmitten der aussteigenden Passagiere standen, suchte ich die Menge nach einer jüngeren Ausgabe von Henry ab. Doch der junge Mann, der auf uns zulief, ähnelte ihm nicht im Geringsten. Ich beobachtete, wie die beiden sich umarmten: der eine wettergegerbt und massiv, der andere hochgewachsen, hellhäutig und schlaksig. Sein Haar hatte die Farbe einer frisch geprägten Penny-Münze. Nach einer Weile klopften sie einander auf den Rücken, wie Männer es immer tun, um die Vertrautheit eines Augenblicks zu durchbrechen. Dann trennten sie sich und musterten einander.
»Du siehst gut aus, Bruderherz«, meinte Jamie. »Die Luft in Tennessee scheint dir zu bekommen. Oder steckt etwas anderes dahinter?«
Mit einem breiten Grinsen drehte er sich zu mir um. Er war ein schöner Mann, anders konnte man es nicht ausdrücken. Seine Gesichtszüge waren ebenmäßig und markant, und seine Haut war so zart, dass ich die feinen Venen an seinen Schläfen erkennen konnte. Seine Augen, so hellgrün wie Berylle, schienen von innen zu leuchten. Damals war er erst zweiundzwanzig, neun Jahre jünger als ich und neunzehn Jahre jünger als Henry.
»Das ist Miss Chappell«, sagte Henry. »Mein Bruder Jamie.«
»Nett, Sie kennenzulernen«, stieß ich hervor.
»Die Freude ist ganz auf meiner Seite«, erwiderte er, nahm die Hand, die ich ihm hinhielt, und küsste sie übertrieben galant.
Henry verdrehte die Augen. »Mein Bruder hält sich für eine Figur aus einem seiner Theaterstücke.«
»Ach, und aus welchem?« Jamie reckte einen Zeigefinger in die Luft. »Hamlet? Faust? Heinrich V.? Worauf tippen Sie, Miss Chappell?«
Ich platzte mit dem Ersten heraus, das mir einfiel: »Offen gestanden erinnern Sie mich eher an Puck.«
Ich wurde mit einem strahlenden Lächeln belohnt. »Werte Dame, gut gesprochen, ich bin der fröhliche Wanderer der Nacht.«
»Wer ist Puck?«, fragte Henry.
In gespielter Verzweiflung schüttelte Jamie den Kopf. »Oh, Herr, wie närrisch doch die Menschen sind.«
Ich bemerkte, dass Henrys Lippen sich anspannten, und bekam plötzlich Mitleid mit ihm, weil er im Schatten seines Bruders stand. »Puck ist eine Art boshafter Geist«, erklärte ich. »Jemand, der Ärger macht.«
»Ein Kobold«, ergänzte Jamie reumütig. »Verzeih mir, Bruderherz. Ich versuche nur, Eindruck bei ihr zu schinden.«
Henry legte den Arm um mich. »Laura lässt sich nicht so leicht beeindrucken.«
»Ihr Glück!«, meinte Jamie. »Warum zeigt ihr beiden mir jetzt nicht eure schöne Stadt?«
Wir gingen mit ihm ins Peabody Hotel, das über das beste Restaurant in Memphis verfügte. Außerdem trat dort am Wochenende eine Swingband auf. Weil Jamie darauf bestand, bestellten wir eine Flasche Champagner. Ich hatte erst ein Mal welchen getrunken, und zwar auf der Hochzeit meines Bruders Pearce, weshalb ich schon nach einem Glas beschwipst war. Als die Band zu spielen begann, fragte James Henry, ob er mit mir tanzen dürfe (weil er hinkte, tanzte Henry grundsätzlich nicht). Zu den Klängen von Duke Ellington, Benny Goodman und Tommy Dorsey wirbelten wir herum. Ich kannte diese Musik nur aus dem Radio, ich hatte im Wohnzimmer mit meinen Brüdern und kleinen Neffen dazu getanzt. Doch das hier war so anders und sehr berauschend. Ich spürte, dass Henry mich beobachtete. Er war nicht der Einzige. Auch die neidischen Blicke von Frauen folgten mir. Für mich war das ein völlig neues Gefühl, und ich konnte nicht anders, als es zu genießen. Jamie begleitete mich zurück an unseren Tisch und entschuldigte sich. Erhitzt und atemlos nahm ich Platz.
»Du siehst heute Abend ganz besonders hübsch aus«, sagte Henry.
»Danke.«
»Jamie hat diese Wirkung auf Mädchen. Sie strahlen für ihn.« Seiner Miene war keine Gefühlsregung zu entnehmen, und sein Tonfall war sachlich. Falls er eifersüchtig auf seinen Bruder war, konnte ich zumindest keine Anzeichen dafür entdecken. »Er mag dich, das merke ich«, fügte er hinzu.
»Ich bin mir sicher, dass er alle Menschen mag.«
»Insbesondere, wenn sie einen Rock tragen«, erwiderte Henry mit einem spöttischen Lächeln. »Schau.« Als er auf die Tanzfläche wies, entdeckte ich Jamie mit einer gertenschlanken Brünetten in seinen Armen. Sie trug ein Satinkleid mit tiefem Rückenausschnitt. Jamies Hand ruhte auf ihrer nackten Haut. Als sie ihm mühelos durch eine Reihe komplizierter Drehungen und Figuren folgte, wurde mir klar, was für eine unbeholfene Tanzpartnerin ich gewesen sein musste. Am liebsten hätte ich mein Gesicht hinter den Händen versteckt. Ich wusste, dass Henry mir alle meine Gefühle ansah. Meinen Neid. Meine Verlegenheit. Meine alberne Sehnsucht.
Ich stand auf. Ich habe keine Ahnung, was ich gesagt hätte, wenn er sich nicht ebenfalls erhoben und nach meiner Hand gegriffen hätte. »Es ist spät«, meinte er. »Und ich weiß, dass du morgen früh in die Kirche musst. Komm, ich bringe dich nach Hause.«
Er war so einfühlsam und gütig, dass ich von Scham überwältigt wurde. Doch als ich später schlaflos im Bett lag, wurde mir klar, dass die Gefühle, die ich Henry so offen gezeigt hatte, sicher nicht neu für ihn waren. Gewiss hatte er sie in Jamies Gegenwart schon Hunderte von Malen miterlebt, und gewiss hatte er sie auch schon selbst empfunden: die Sehnsucht nach einer Strahlkraft, die er niemals besitzen würde.
Jamie kehrte nach Oxford zurück, und ich verbannte ihn aus meinen Gedanken. Schließlich war ich nicht auf den Kopf gefallen. Ich wusste, dass ein Mann wie er niemals eine Frau wie mich begehren würde. Es grenzte ja bereits an ein Wunder, dass Henry mich begehrte. Ich kann nicht sagen, ob ich damals wirklich in ihn verliebt war, denn meine Dankbarkeit ihm gegenüber war so groß, dass sie alles andere in den Schatten stellte. Er war mein Retter aus der Welt der Randbemerkungen und vor dem Mitleid, der Verachtung und der geheuchelten Freundlichkeit, mit denen eine alte Jungfer sich begnügen muss. Genau genommen war er mein potenzieller Retter. Ich war mir seiner nämlich nicht sicher, und das aus gutem Grund.
Als ich eines Abends bei der Chorprobe vom Gesangsbuch aufblickte, bemerkte ich, dass er mich von einer der hinteren Reihen aus beobachtete. Seine Miene wirkte ernst und entschlossen. Jetzt ist es so weit, dachte ich. Er wird mir einen Antrag machen.
Irgendwie überstand ich den Rest der Probe, auch wenn der Chorleiter mich zweimal tadelte, weil ich meinen Einsatz verpasst hatte. Danach knöpfte ich in dem kleinen Zimmer, das wir als Umkleideraum nutzten, mit steifen Fingern mein Chorgewand auf. Plötzlich hatte ich das Bild vor Augen, wie Henrys Hände in unserer Hochzeitsnacht die Knöpfe meines Nachthemds öffneten. Ich fragte mich, wie es wohl sein mochte, bei ihm zu liegen und zuzulassen, dass er meinen Körper auf so intime Art berührte, als wäre es sein eigener. Meine Schwester Etta, eine examinierte Krankenschwester, hatte mir den Geschlechtsakt erklärt, als ich einundzwanzig geworden war. Ihre Erläuterungen waren rein sachlich. Nie spielte sie auf ihre eigene Beziehung mit ihrem Mann Jack an. Allerdings schloss ich damals aus ihrem verschmitzten Lächeln, dass das Ehebett gar kein so unangenehmer Ort sein musste.
Henry erwartete mich vor der Kirche. Er lehnte an seinem Auto und trug wie immer ein weißes Hemd, eine graue Hose und einen grauen Filzhut. Er zog nie etwas anderes an. Kleidung kümmerte ihn nicht, und deshalb saßen seine Sachen auch häufig schlecht. Die Hosen waren an der Taille zu weit, Säume schleiften im Dreck, Ärmel waren zu lang oder zu kurz. Inzwischen lache ich, wenn ich daran denke, welche Gefühle seine Garderobe in mir auslöste. Ich bebte praktisch vor Sehnsucht danach, für ihn zu nähen.
»Hallo, Liebes«, sagte er. Und dann: »Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden.«
Verabschieden. Das Wort schwebte zwischen uns in der Luft, bevor es sich in weichen schwarzen Falten auf mich herabsenkte.
»In Alabama wird ein neuer Flughafen gebaut, und ich soll das Projekt leiten. Ich werde einige Monate, vielleicht sogar länger fort sein.«
»Ich verstehe«, antwortete ich.
Ich wartete darauf, dass er etwas hinzufügte: Wie sehr er mich vermissen und dass er mir schreiben würde. Dass er hoffe, ich würde bei seiner Rückkehr für ihn da sein. Doch er schwieg, und je länger sich dieses Schweigen hinzog, desto mehr steigerte sich mein Selbsthass. Ich war einfach nicht für die Ehe, Kinder und alles andere geschaffen. Diese Dinge waren mir nicht bestimmt, und das war schon immer so gewesen. Wie dumm von mir, mir etwas anderes vorzumachen.
Ich spürte, wie ich mich von ihm und auch von mir selbst zurückzog. Die Bilder, die ich mir von unserem gemeinsamen Leben ausgemalt hatte, schrumpften vor meinem geistigen Auge. Ich hörte, wie er sich erbot, mich nach Hause zu fahren. Hörte, wie ich höflich ablehnte: Ich bräuchte frische Luft. Dann wünschte ich ihm viel Glück in Alabama. Ich sah, wie er sich zu mir hinüberbeugte. Sah, wie ich den Kopf wegdrehte, sodass sein Kuss meine Wange, nicht meine Lippen traf. Beobachtete, wie ich davonging, mein Rücken so gerade, wie mein Stolz es gebot.
Meine Mutter stürzte sich auf mich, sobald ich das Haus betrat. »Henry war vorhin hier«, verkündete sie. »Hat er dich in der Kirche angetroffen?«
Ich nickte.
»Offenbar wollte er dich dringend sprechen.«
Es fiel mir schwer, ihr ins Gesicht zu schauen, wo hinter ihrem strahlenden Lächeln die Hoffnung bebte. »Henry geht fort«, erwiderte ich. »Er weiß nicht, für wie lange.«
»Hat er sonst nichts gesagt?«
»Nein, nichts.« Ich stieg die Treppe zu meinem Zimmer hinauf.
»Er kommt wieder!«, rief sie mir nach. »Da bin ich ganz sicher.«
Ich drehte mich um und blickte zu ihr hinunter. In ihrer Bestürzung sah sie so reizend aus. Eine blasse, schlanke Hand lag auf dem Geländer, die andere knüllte den Stoff ihres Rockes zusammen.
»Oh, Laura«, seufzte sie mit einem verräterischen Zittern in der Stimme.
»Wage es bloß nicht zu weinen, Mutter.«
Sie tat es nicht, was sie übermenschliche Kräfte gekostet haben musste. Meine Mutter weint nämlich ständig. Wegen eines toten Schmetterlings genauso wie wegen einer missratenen Soße. »Es tut mir so leid, Liebes«, sagte sie.
Plötzlich fühlten sich meine Beine an, als hätten sie keine Knochen mehr. Ich sank auf die oberste Stufe und stützte den Kopf auf die Knie. Ich hörte das Knarzen ihrer Schritte und spürte, dass sie sich neben mich setzte. Sie legte den Arm um mich, und ihre Lippen berührten mein Haar. »Wir wollen nicht mehr über ihn sprechen«, flüsterte sie. »Wir erwähnen nie wieder seinen Namen.«
Sie hielt Wort, und offenbar hatte sie auch den Rest der Familie instruiert, denn keiner, nicht einmal meine Schwestern, redete über Henry. Allerdings verhielten sich alle übertrieben freundlich, machten mir mehr Komplimente, als ich verdiente, und dachten sich alles Mögliche aus, um mich zu beschäftigen. Ich war als Gast zum Abendessen, als Bridgepartnerin und Begleiterin beim Einkaufsbummel sehr gefragt. Da ich mich nach außen hin fröhlich gab, wurde ich nach einer Weile wieder behandelt wie gewöhnlich, weil man glaubte, ich wäre darüber hinweg. Das stimmte nicht. Ich war ja so wütend – auf mich selbst, auf Henry und auf die grausame Laune der Natur, die dafür gesorgt hatte, dass ich auf Männer nicht anziehend wirkte und mich dennoch ohne Mann unvollständig fühlte. Ich erkannte, dass meine Zufriedenheit von früher eine Lüge gewesen war. Das hier war die Wahrheit, tief im Innersten meines Seins. Eine klaffende Leere, nur halb verborgen hinter Zorn. Und zwar schon immer. Henry hatte es mir lediglich vor Augen geführt.
Fast zwei Monate lang hörte ich nichts von ihm. Dann, eines Tages, kam ich nach Hause, wo mich meine Mutter aufgeregt in der Vorhalle erwartete. »Henry McAllan ist zurück«, sagte sie. »Er ist im Wohnzimmer. Dein Haar ist ja ganz zerzaust, warte, ich richte es dir.«
»Ich empfange ihn so, wie ich bin«, entgegnete ich und reckte das Kinn.
Ich bereute diesen Anflug von Trotz, sobald mein Blick auf ihn fiel. Henry war sonnengebräunt, kraftstrotzend und sah besser aus als je zuvor. Warum hatte ich nicht wenigstens Lippenstift benutzt? Nein, das war albern. Dieser Mann hatte mich getäuscht und verlassen. In all den Wochen hatte ich nicht einmal eine Postkarte von ihm erhalten. Weshalb also sollte ich mich für ihn hübsch machen?
»Laura, es ist schön, dich zu sehen«, begann er. »Wie ist es dir ergangen?«
»Ausgezeichnet. Und dir?«
»Ich habe dich vermisst«, erwiderte er.