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2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2017
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ISBN 978-3-17-026848-7
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Anfang der 1940er Jahre schreibt Leo Kanner (1943): »The outstanding, ›pathognomonic‹ fundamental disorder is the children’s inability to relate themselves in the ordinary way to people and situations from the beginning of life.« Damit erfasste er eines der wesentlichen Probleme von Menschen mit autistischen Störungen.
Ein Jahr später, 1944, publiziert Hans Asperger seine Habilitationsschrift und stellt fest: »Längst ist die Frage entschieden, dass auch psychopathologische Zustände konstitutionell verankert und darum auch vererbbar sind, freilich auch, dass es eine eitle Hoffnung ist, einen klaren einfachen Erbgang aufzuweisen: diese Zustände sind ja zweifellos polymer, also an mehrere Erbeinheiten gebunden.« Er postuliert somit die heute unumstrittene neurobiologisch-genetische Pathogenese der Störung.
Heutzutage werden Autismus-Spektrum-Störungen in der neuesten Auflage des Diagnostical and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) in der übergreifenden Kategorie »neurobiologische Entwicklungsstörungen« klassifiziert. Die Unterteilung in Subkategorien wie frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom oder atypischer Autismus wird aufgehoben. Neben den Autismus-Spektrum-Störungen werden in dieser Metakategorie u. a. auch die intellektuelle Beeinträchtigung, die Sprachstörungen und die Aufmerksamkeits-und Aktivitätsstörungen klassifiziert. Zwischen diesen verschiedenen Störungsbildern besteht eine große phänomenologische Überlappung. Sie sind wesentliche komorbid auftretende Störungen bei Menschen mit einer autistischen Störung.
Die langjährige Arbeit mit Menschen mit autistischen Störungen und ihren Familien bildet die Basis für die in diesem Buch zusammengefassten Erkenntnisse. Bewusst haben wir versucht, die Brücke zu schlagen zwischen den Erfahrungen von Kollegen aus dem Bereich der Entwicklungsneurologie und -psychologie, der Neuropädiatrie, der Sonderpädagogik, der Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Erwachsenenpsychiatrie. So hoffen wir, mithilfe des entstandenen Werkes dazu beizutragen, dass wir weiter voneinander lernen und im gegenseitigen Austausch zu einem komplexeren Verständnis für diagnostische und therapeutische Vorgehensweisen zu Gunsten von Menschen mit autistischen Störungen beitragen können.
Ein solches Buch ist auf kritische Leser und Leserinnen angewiesen. Für Ergänzungen und Hinweise, die dem Buch in Zukunft konzeptionell zugutekommen können, sind wir dankbar.
Wir danken allen Autorinnen und Autoren für die verlässliche, sorgfältige, umfassende und kompetente Erarbeitung ihrer Themenbereiche. Es ist uns ein besonderes Bedürfnis, uns an dieser Stelle ganz herzlich bei allen Betroffenen und deren Familien zu bedanken, die uns stets Vertrauen entgegengebracht und es dadurch ermöglicht haben, dieses Buch auch mit Bildern ihrer Kinder zu illustrieren.
Dass es gelungen ist, trotz der beruflichen Belastung ein Buch zu planen und fertigzustellen, ist dem Verständnis und der Unterstützung unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und im Besonderen der Toleranz unserer Partner und Familien zu verdanken.
Dem Kohlhammer Verlag danken wir für das Verlegen des Buches und seinen Lektorinnen, Frau Döring und Frau Bach, für die kompetente Unterstützung bei der Gestaltung und Fertigstellung des Werkes.
Juni 2017 |
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Michele Noterdaeme |
Karolin Ullrich |
Angelika Enders |
Typischerweise wird in einem historischen Rückblick zum autistischen Syndrom damit begonnen, dass Kanner 1943 den »early infantile autism» und Asperger 1944 »die autistische Psychopathie» unabhängig voneinander zum ersten Mal beschrieben haben. Da Kanner in den USA lebte und Asperger in Wien, ging man davon aus, dass sie während des Zweiten Weltkrieges keine Kenntnis von der Publikation des anderen hatten und somit unabhängig voneinander die Kindergruppe beschrieben und mit dem Namen »autistisch« bezeichnet haben, im Rückgriff auf Bleuler, der diesen Begriff für ein Symptom der Schizophrenie geprägt hatte. In Übersicht 1.1 und 1.2 sind die wesentlichen Symptome, die von Asperger bzw. Kanner beschrieben wurden, zusammengestellt.
Vor den Veröffentlichungen von Kanner 1943 und Asperger 1944 gab es bereits Beschreibungen von Kindern, die heute die Diagnose einer autistischen Störung rechtfertigen (Wing 1997). Insbesondere die Artikel von Ssucharewa (1926) und von Asperger (1938) machen deutlich, dass der Begriff »autistisch« auf kindliche Störungen angewandt wurde (Schirmer 2002; Lyons & Fitzgerald 2007).
Im Jahr 1926 beschrieb Ssucharewa von der psychoneurologischen Kinderklinik in Moskau in einem Artikel der Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie sechs Jungen im Alter von zehn bis 13 Jahren mit der Diagnose »schizoide Psychopathie« im Rahmen einer Auseinandersetzung mit dem Begriff des »Schizoiden« von Kretschmer. Die ausführliche Beschreibung der Fälle erlaubt eine gewisse diagnostische Einordnung. Fälle 1, 3, 4, 5 und 6 klingen wie Beschreibungen von Kindern mit einem Asperger-Syndrom. Als typisch wird eine motorische Ungeschicklichkeit bei den Kindern beschrieben. Alle Kinder sind intellektuell durchschnittlich oder überdurchschnittlich begabt, zeigen wenig oder gar kein Interesse am Spiel mit anderen Kindern, können sich schlecht in die Gruppe einordnen und zeigen wenig Interesse an anderen Menschen. Die Kinder sind musikalisch. Als ein Symptom aller Kinder wird eine »autistische Einstellung« beschrieben. »Alle Kinder dieser Gruppe halten sich abseits in dem Kindermilieu, passen sich nur schwer an dieses Milieu an und gehen in ihm niemals vollständig auf« (Ssucharewa 1926, S. 255; Manouilenko & Bejerot 2015).
Asperger beschrieb in einem Artikel von 1938 mit dem Titel »Das psychisch abnorme Kind« einen Jungen im Alter von siebeneinhalb Jahren. Zur diagnostischen Einordnung sagte er: »Innerhalb dieser wohl charakterisierten Gruppe von Kindern, die wir wegen der Einengung ihrer Beziehungen zur Umwelt, wegen der Beschränkung auf das eigene Selbst (autos) ›autistische Psychopathen‹ nennen, gibt es nun freilich wieder recht verschiedene, auch recht verschieden zu bewertende Menschen« (Asperger 1938, S. 1316). Man muss annehmen, dass dieser Artikel Kanner bekannt war, der die deutschsprachige Literatur kannte.
In seiner Habilitationsschrift, die 1944 veröffentlicht wurde, beschrieb Asperger dann eine Reihe von Kindern im Alter von sechs bis elf Jahren, deren gemeinsames Merkmal in einer erheblichen Störung der Beziehung zu anderen Menschen und im sozialen Kontakt besteht. Es seien fast ausschließlich Jungen betroffen, die meist normal oder hochbegabt seien, einige haben zudem eine Sonderbegabung. Asperger beschreibt das Auftreten von auffälligen Persönlichkeiten in den Familien. Er geht von einer Vererbung aus. »Längst ist die Frage entschieden, dass auch psychopathologische Zustände konstitutionell verankert und darum auch vererbbar sind, freilich auch, dass es eine eitle Hoffnung ist, einen klaren einfachen Erbgang aufzuweisen: diese Zustände sind ja zweifellos polymer, also an mehrere Erbeinheiten gebunden« (Asperger 1944, S. 128).
Übersicht 1.1: Diagnostische Kriterien der autistischen Psychopathie nach Asperger 1944
• Starke Störung der sozialen Anpassung
• Schwierigkeiten, einfache praktische Fähigkeiten im Alltag zu erlernen
• Auffälliges Blickverhalten
• Wenig Mimik und Gestik
• Stereotype Bewegungen
• Sonderinteressen
• Auffällige Sprache und Intonation
• Störung der aktiven Aufmerksamkeit
• Prinzenhaftes Aussehen
• Motorische Ungeschicklichkeit
• Konstanz der Symptomatik ab dem 2. Lebensjahr
• Auffällige Persönlichkeiten in den Familien
1906 |
Geboren in Hausbrunn bei Wien |
1925–1930 |
Studium der Medizin in Wien |
1931 |
Promotion |
1932 |
Leiter der heilpädagogischen Abteilung der Universitätskinderklinik in Wien |
1938 |
Erster Artikel über ein Kind mit einer autistischen Psychopathie |
1944 |
Habilitation mit der Arbeit über die autistische Psychopathie |
1957 |
Vorstand der Universitätskinderklinik in Innsbruck |
1962–1977 |
Professor für Pädiatrie und Leiter der Kinderklinik in Wien |
1980 |
Verstorben im Alter von 75 Jahren in Wien |
Trotz einer englischsprachigen Zusammenfassung der Beschreibungen Aspergers von van Krevelen und Kuipers 1962 wurde das Asperger-Syndrom erst allgemein bekannt, als Lorna Wing 1981 eine Zusammenfassung seiner Befunde in einer englischsprachigen Zeitschrift veröffentlichte. 1991 veröffentlichte Uta Frith in ihrem Buch »Autism and Asperger Syndrom« eine englische Übersetzung des Originaltextes.
Kanner, ein Kinderpsychiater aus Baltimore, beschrieb 1943 eine Gruppe von Kindern mit Auffälligkeiten im Kontakt mit anderen Menschen. »The outstanding, ›pathognomonic‹ fundamental disorder is the children’s inability to relate themselves in the ordinary way to people and situations from the beginning of life« (Kanner 1943, S. 242). Es handelte sich um eine Gruppe von elf Kindern (acht Jungen und drei Mädchen) im Alter bis zu elf Jahren. Er beschreibt die bis heute für die Diagnose wesentlichen Symptome: veränderte soziale Interaktion, auffällige Kommunikation, Stereotypien, eingeschränkte Interessen und Bestehen auf Gleichheit.
Übersicht 1.2: Diagnostische Kriterien des frühkindlichen Autismus nach Kanner 1943
• Unfähigkeit, soziale Beziehungen aufzunehmen
• Ausgeprägter sozialer Rückzug
• Sprache wird nicht kommunikativ eingesetzt
• Echolalie
• Pronominale Umkehr
• Bestehen auf Gleichheit
• Zwanghaftigkeit
• Monotone repetitive Handlungen
• Gute Intelligenz
• Gutes Gedächtnis
• Intelligentes Aussehen
• Symptomatik beginnt im ersten Lebensjahr
• Aus Familien mit hohem Bildungsgrad
1894 |
Geboren in Klekotow, Galizien, damals Österreich-Ungarn |
1906 |
Kam er nach Berlin |
1913 |
Begann er sein Studium der Medizin in Berlin an der Charité. Während des 1. Weltkrieges war er Soldat in der österreichisch-ungarischen Armee und setzte nach dem Krieg sein Studium fort |
1919 |
Promotion in Berlin mit einer Arbeit über das Elektrokardiogramm |
1920 |
Assistenzart an der 2. medizinischen Klinik der Charité |
1924 |
Emigrierte er in die USA und arbeitete an einem Psychiatrischen Landeskrankenhaus. Dort hatte er viel Zeit zum Lesen und befasste sich intensiv mit der Literatur zu kinderpsychiatrischen Fragen |
1928 |
Beginn einer Ausbildung bei dem berühmten Psychiater Adolf Meyer in Baltimore |
1931 |
Eröffnete er dort die erste kinderpsychiatrische Abteilung in einer Kinderklinik der USA |
1935 |
Erschien von ihm das erste Lehrbuch der Kinderpsychiatrie |
1943 |
Beschrieb er elf Kinder mit frühkindlichem Autismus |
1957 |
Wurde er zum Direktor für Kinderpsychiatrie ernannt |
1959 |
Wurde er emeritiert, blieb aber weiter sehr aktiv im Fachgebiet tätig |
1971 |
Gründung der Zeitschrift »Journal of Autism and Childhood Schizophrenia« |
1981 |
Verstorben in Sykesville/Maryland im Alter von 86 Jahren |
(Eisenberg 1981; Neumärker 2003)
Als Ursache geht er in dieser Arbeit davon aus, dass es sich um eine angeborene Störung im Bereich des affektiven Kontaktes handelt.
»We must, then, assume that these children have come into the world with innate inability to form the usual, biologically provided affective contact with people, just as other children come into the world with innate physical or intellectual handicaps. If this assumption is correct, a further study of our children may help to furnish concrete criteria regarding the still diffuse notions about the constitutional components of emotional reactivity. For here we seem to have pure-culture examples of inborn autistic disturbances of affective contact« (Kanner 1943, S. 250).
Kanner betont, dass die Kinder aus intellektuellen Familien kommen. Zusätzlich habe er in vielen Familien beobachtet, dass die emotionalen Beziehungen sehr kühl seien. »The question arises whether or to what extent this fact has contributed to the condition of the children. The children’s aloneness from the beginning of life makes it difficult to attribute the whole picture exclusively to the type of early parental relations with our children« (Kanner 1943, S. 250).
Sowohl Ssucharewa als auch Kanner und Asperger beschrieben die Störung als ein eigenes Krankheitsbild, das sich klar von der kindlichen Schizophrenie abhebt. Trotzdem wurde über längere Zeit der Begriff »Childhood Schizophrenia« z. B. von Lauretta Bender (1958) verwendet und ein Zusammenhang mit der Schizophrenie angenommen. In der neunten Revision der Klassifikation der Krankheiten (ICD-9) der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die bis 1999 in Deutschland gültig war, wurde der frühkindliche Autismus erstmals aufgenommen und noch unter den »Anderen Psychosen« zusammen mit den »Schizophrenien« und den »Affektiven Psychosen« klassifiziert. Erst in der ICD-10 (Dilling et al. 1991), sind die autistischen Störungen als »Tiefgreifende Entwicklungsstörungen« mit den »Spezifischen Entwicklungsstörungen« zusammen als eigene Gruppe aufgeführt (Ousley & Cermak 2014).
Wie im Zitat von Kanner gezeigt wurde, nahm er eine angeborene Störung im affektiven Bereich als Ursache des frühkindlichen Autismus an. Sein Hinweis auf einen möglichen Einfluss des Umfeldes auf die Entwicklung des Kindes wurde von anderen Autoren dahin verändert, dass jetzt die alleinige Ursache der Störung in der gestörten Mutter-Kind-Interaktion gesehen wurde (Bettelheim 1967).
Seit den 1970er Jahren geht man wieder von biologischen Ursachen der Störung aus. Untersuchungen an Geschwistern, der Vergleich eineiiger und zweieiiger Zwillinge und molekulargenetische Untersuchungen in den letzten 30 Jahren sprechen für einen erheblichen Einfluss genetischer Faktoren auf die Ausbildung der Störung.
Seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts werden neuropsychologische Untersuchungen durchgeführt, um Funktionsstörungen zu beschreiben, die einerseits das auffällige Verhalten der Patienten erklären und andererseits spezifisch für den Autismus sind. Wesentliche Korrelate autistischen Verhaltens werden in Besonderheiten der Intelligenzstruktur, Störungen der Theory of Mind sowie einer schwachen zentralen Kohärenz gesehen (Poustka et al. 2004; Remschmidt 2008).
Neben dem frühkindlichen Autismus, den Kanner beschrieb, und der autistischen Psychopathie von Asperger, wurden zwei weitere Untergruppen zunächst dem Autismus zugerechnet, weil sie viele Gemeinsamkeiten im Verhalten zeigen: die »Heller’sche Demenz« und das »Rett-Syndrom«. Theodor Heller, ein Pädagoge aus Wien, beschrieb 1908 eine Gruppe von Kindern, die nach einer bis dahin unauffälligen Entwicklung plötzlich Fähigkeiten in der Sprache, aber auch in vielen anderen Bereichen verloren, ohne dass eine organische Ursache gefunden werden konnte. Nach der Regression zeigen die Kinder Verhaltensstörungen wie Kinder mit einem frühkindlichen Autismus. Das Syndrom wurde als »Desintegrative Störung des Kindesalters« unter den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen in ICD-10 und DSM-IV eingeordnet. In der ICD-11 bleibt die desintegrative Störung des Kindesalters eine Diagnose in der Gruppe der »Entwicklungsstörungen des Nervensystems«, im Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen in der 5. Revision (DSM-5; Falkai & Wittchen 2015) wird diese Störung nicht mehr aufgeführt.
Im Jahr 1966 veröffentlichte der Wiener Sozialmediziner und Heilpädagoge Rett eine Beschreibung von 22 Mädchen, die sich zunächst unauffällig entwickelt hatten, dann aber durch Verlust der Sprache, autistische Verhaltensweisen, wringende Handbewegungen vor dem Körper, z. T. durch Hyperventilation, epileptische Anfälle und Gangstörungen auffielen. Das Syndrom wurde bekannter, nachdem eine schwedische Gruppe (Hagberg et al. 1983) das Störungsbild in englischer Sprache beschrieb. Inzwischen ist eine sporadische Genmutation auf dem X-Chromosom als Ursache nachgewiesen. In ICD-10 und DSM-IV bildet es eine Untergruppe der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen. In der ICD-11 wird es unter den Syndromen mit einer Störung der Intelligenzentwicklung als wesentliches klinisches Symptom eingeordnet. Im DSM-5 soll es unter den molekulargenetischen Störungen eingeordnet werden.
1979 führten Wing und Gould eine epidemiologische Untersuchung durch, in der sie Kinder erfassten, die ein auffälliges Sozialverhalten zeigten. Sie beschrieben eine Gruppe von Kindern, die nicht dem typischen frühkindlichen Autismus zugerechnet werden konnten, die aber klinisch so auffällig waren, dass eine psychiatrische Diagnose gerechtfertigt erschien. Sie sprachen von einem autistischen Spektrum. Dies führte in den Klassifikationen zu der Untergruppe des atypischen Autismus in der ICD-10 und zum »Pervasive Developmental Disorder Not Otherwise Specified« (PDDNOS) in der 4. Revision der amerikanischen Klassifikation der psychischen Störungen, DSM-IV (Saß et al. 1996).
In der neuesten Klassifikation der amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft, DSM-5 (Falkai & Wittchen 2014) von 2013, gibt es keine Unterteilung der Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) mehr. Die Störung wird unter die Entwicklungsstörungen des Nervensystems eingereiht. Ebenso wird es in der ICD-11 der WHO die Untergruppen frühkindlicher Autismus, Asperger-Syndrom u. a. nicht mehr geben (Ousley & Cermak 2014).
Von Anfang an wurde die Therapie des frühkindlichen Autismus diskutiert. Die analytische, tiefenpsychologisch orientierte Psychotherapie, die aufgrund der Vorstellung einer Verursachung durch die Ablehnung des Kindes insbesondere durch die Mutter viel eingesetzt wurde, erwies sich schon früh als wenig Erfolg versprechend (Kanner & Eisenberg 1955; Rutter 1966).
Neben medikamentösen Behandlungen z. B. mit Haloperidol in geringer Dosierung, die systematisch untersucht wurden, wurden verhaltenstherapeutische Methoden seit dem Beginn der sechziger Jahre eingesetzt. Lovaas und Kollegen beschrieben 1973 Erfolge mit der Verhaltenstherapie bei 20 Kindern. In den Jahren ab 1980 wurden die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie in die Behandlung einbezogen und neue Therapien auch auf verhaltenstherapeutischer Basis wurden entwickelt, die diese Erkenntnisse berücksichtigen (Schreibman et al. 2015). Inzwischen wird die Verhaltenstherapie als ein entscheidender Bestandteil der Behandlung von Kindern mit ASS angesehen.
Zunehmend wurde versucht, die Probleme im sozialen Bereich therapeutisch anzugehen. Es wurden Einzel- und Gruppentrainings entwickelt, in denen es darum geht, die Wahrnehmung sozialer Situationen zu verbessern und angemessene Verhaltensweisen einzuüben. Die neuropsychologischen Befunde, insbesondere die Auffälligkeiten in der Entwicklung der Theory of Mind, führten zu Trainingsprogrammen, die darauf ausgerichtet sind, dass die Patienten Gefühlszustände anderer erschließen und dadurch angemessener im sozialen Bereich reagieren können. Diese Trainingsprogramme wurden für Patienten mit höheren kognitiven Fähigkeiten entwickelt.
»Treatment and Education of Autistic and Communication Handicapped Children« (TEACCH) ist ein Förder- und Behandlungsprogramm, das seit 1966 von Schoppler an der Universität von South Carolina entwickelt wurde und inzwischen weltweit eingesetzt wird. In diesem Programm geht es darum, die Situationen und Anweisungen so anzupassen, dass die Person mit einer Autismus-Spektrum-Störung möglichst selbstständig agieren kann. So werden z. B. viele visuelle Hilfen eingesetzt und die Aufgaben in kleine Schritte unterteilt, um eingeübt und zu größeren Einheiten zusammengefasst, selbstständig ausgeführt werden zu können.
In Deutschland beschäftigte sich die kinder- und jugendpsychiatrische Klinik an der Universität Marburg unter Prof. Stutte als erste mit Kindern mit frühkindlichem Autismus. Dort betreute Prof. Doris Weber Kinder mit autistischen Störungen aus vielen Teilen Deutschlands.
Mitte der 1960er Jahre begann ein Projekt der Kinderabteilung (Leiterin Dr. G. Bleek) des Max-Planck-Institutes für Psychiatrie in München (Leiter Prof. Ploog) zum Einsatz der Verhaltenstherapie bei Kindern mit frühkindlichem Autismus in Anlehnung an das Vorgehen von Lovaas. Federführend war Dr. Gottwald, der bei Lovaas gearbeitet hatte.
1970 wurde von E. Crummenerl in Lüdenscheidt die Elternvereinigung »Hilfe für das autistische Kind« (jetzt Autismus Deutschland e. V.) gegründet, die inzwischen 49 Regionalverbände hat. Durch den Ausbau von Autismusambulanzen in verschiedenen Regionalverbänden, spezielle Wohneinrichtungen und ihre politische Arbeit hat die Elternvereinigung die Situation der Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung in Deutschland deutlich verbessert (Eckert 2007). Auch für die Betreuung und Beschulung autistischer Kinder in Deutschland war der Einsatz der Elternvereinigung entscheidend. Mit dem in Bremen von Cordes begonnenen Schulversuch für autistische Kinder konnte gezeigt werden, dass die Kinder in kleinen Gruppen, mit zusätzlicher Einzelförderung und einer verhaltenstherapeutisch ausgerichteten Methodik erhebliche Fortschritte im Lernen machen können (Cordes 1980).
2008 wurde in Frankfurt die Wissenschaftliche Gesellschaft Autismus-Spektrum (WGAS) gegründet mit dem Ziel, die Forschung in diesem Bereich zu fördern.
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Die Klassifikation psychischer Störungen erfolgt nach zwei Systemen. Die »Internationale Klassifikation der Krankheiten (ICD)« wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben und umfasst alle medizinischen Fachbereiche. Die psychischen und Verhaltensstörungen werden im Kapitel V unter F00–F99 zusammengefasst (Dilling et al. 1999). Einflüsse und Vorstellungen aus der ganzen Welt mit ihren unterschiedlichen Kulturen müssen berücksichtigt werden. Die jeweils aktuelle ICD, zurzeit die ICD-10, ist in der ganzen Welt die offizielle Klassifikation für alle krankheitsbezogenen Dokumentationen.
Das »Diagnostische und Statistische Manual psychischer Störungen (DSM)«, herausgegeben von der amerikanischen Gesellschaft für Psychiatrie (APA), beinhaltet nur psychische Störungen. DSM spiegelt wesentlich die amerikanische Sichtweise und die englischsprachige Forschungsliteratur wider (Falkai & Wittchen 2015). Auch in den USA ist die ICD die offizielle Klassifikation. Das DSM wird in vielen Ländern für die Forschung verwendet. Damit werden Studien besser vergleichbar. Zudem werden in amerikanischen wissenschaftlichen Zeitschriften im psychiatrischen Bereich nur Arbeiten angenommen, die DSM-Diagnosen verwenden.
Bei jeder Revision der Klassifikationen gibt es eine Arbeitsgruppe, die die Aufgabe hat, unnötige Unterschiede zwischen den Klassifikationen zu vermeiden. Es bestehen aber unterschiedliche Prinzipien zwischen WHO und APA bezüglich der »Beeinträchtigung (Impairment)«, die im DSM-5 gefordert, in der ICD aber unabhängig von der Diagnose kodiert wird. Auch der Umgang mit Komorbidität ist unterschiedlich. Zusätzlich ist Rutter (2011b) der Meinung, dass eine zu große Angleichung der beiden Klassifikationen aus finanziellen Gründen nicht erwünscht sei. Während die WHO die Klassifikationen unentgeltlich zur Verfügung stellt, verdient die APA damit sehr viel Geld.
Ergänzend zur ICD hat die WHO die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen herausgegeben (Hollenweger & Kraus de Camargo 2011). Sie dient zur Kodierung der Funktionsfähigkeit und Behinderung bei Problemen, die mit der Gesundheit zusammenhängen.
Die 10. Revision der ICD (ICD-10) ist erstmals 1991 (Dilling et al. 1991) erschienen. Sie enthält neben dem Manual für den klinischen Gebrauch ein Manual mit Forschungskriterien. Diese Forschungskriterien sind enger gefasst als die Klinikkriterien, beschreiben die Symptome genauer und legen die Anzahl der Symptome fest, die erfüllt werden müssen, um die Diagnose stellen zu können. Eine Einteilung in Achsen gibt es nicht (Dilling et al. 1999).
In der ICD-10 werden die Störungen des autistischen Spektrums (ASS) unter dem Begriff »Tiefgreifende Entwicklungsstörungen (F84)« bzw. »Pervasive Developmental Disorders« in die Gruppe der Entwicklungsstörungen im Kapitel F8 eingeordnet, zusammen mit den umschriebenen Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache, den umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten und der umschriebenen Entwicklungsstörung motorischer Funktionen. Die ICD-10 beschreibt die tiefgreifenden Entwicklungsstörungen folgendermaßen:
»Diese Gruppe von Störungen ist durch qualitative Beeinträchtigungen in gegenseitigen sozialen Interaktionen und Kommunikationsmustern sowie durch ein eingeschränktes, stereotypes, sich wiederholendes Repertoire von Interessen und Aktivitäten charakterisiert. Diese qualitativen Abweichungen sind in allen Situationen ein grundlegendes Funktionsmerkmal der betroffenen Person, variieren jedoch im Ausprägungsgrad« (Remschmidt et al. 2006, S. 21).
Wie aus der Definition zu ersehen ist, wird die Diagnose aufgrund des auffälligen Verhaltens gestellt. Bisher gibt es keine anderen Kriterien.
Für die Kinder- und Jugendpsychiatrie wurde ein Multiaxiales Klassifikationssystem (MAS) von Remschmidt und Kollegen (2012, 6. Aufl.) auf der Grundlage der ICD-10 herausgegeben. Im MAS erfolgt eine Aufteilung in sechs Achsen:
• Achse I: Klinisch-psychiatrisches Syndrom
• Achse II: Umschriebene Entwicklungsstörungen
• Achse III: Intelligenzniveau
• Achse IV: Körperliche Symptomatik
• Achse V: Assoziierte aktuelle abnorme psychosoziale Umstände
• Achse VI: Globalbeurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus
Im multiaxialen Klassifikationsschema (MAS) werden die tiefgreifenden Entwicklungsstörungen auf der Achse I kodiert. Die Intelligenz wird auf der Achse 3 kodiert, während eine Kodierung der Sprachentwicklungsstörung auf der Achse 2 nicht erlaubt ist. Der Umgang mit komorbiden Störungen wie einer gleichzeitigen Störung von Aktivität und Aufmerksamkeit oder einer Depression ist nicht klar geregelt. In der ICD-10 sind sie grundsätzlich möglich, sind aber nicht erwünscht und werden bei anderen Störungen, z. B. der hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens, durch eine kombinierte Diagnose ersetzt. Für die ASS gibt es solche Kombinationen nicht. Da es aber sehr wichtig ist, die komorbiden Störungen zu dokumentieren, da sie z. B. zu einer medikamentösen Behandlung führen können, muss man zu Haupt- und Nebendiagnosen greifen (Remschmidt & Kamp-Becker 2006).
Für die Diagnose müssen Auffälligkeiten in drei Bereichen ( Tab. 2.1) vorliegen, dabei kann das Ausmaß der Störungen von Untergruppe zu Untergruppe verschieden ausgeprägt sein. Neben den Verhaltensauffälligkeiten ist eine Voraussetzung für die Diagnose einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung der Beginn in der Kindheit.
Tab. 2.1: ICD-10-Kriterien für die Autismus- Spektrum-Störungen
Die Einteilung der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen in Untergruppen in der ICD-10 ist in Tabelle 2.2 dargestellt.
Tab. 2.2: Unterteilung der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen in der ICD-10
Die Forschungskriterien der ICD-10 legen fest, wie viele Symptome aus jedem der drei vorher beschriebenen Bereiche vorhanden sein müssen, um die Diagnose stellen zu können. Die Klinikkriterien der ICD-10 und MAS geben eine Beschreibung der Symptome, legen aber die Anzahl der Symptome nicht fest.
Für die Diagnose der Untergruppe frühkindlicher Autismus bedeutet dies, dass ein charakteristisches Muster von Verhaltensauffälligkeiten in der sozialen Interaktion und in der Kommunikation vorhanden sein muss. Zusätzlich müssen stereotype Verhaltensmuster, eingeschränkte, sich wiederholende Interessen und Aktivitäten und Auffälligkeiten im Spiel bestehen. Entscheidend ist, dass sich die veränderte Entwicklung vor dem dritten Lebensjahr manifestiert. Die Bezeichnung »frühkindlich« bezieht sich auf diesen frühen Beginn. Die Diagnose »frühkindlicher Autismus« wird auch bei Erwachsenen gestellt, wenn sie die aufgeführten Kriterien erfüllen. Eine eindeutige Störung der Sprachentwicklung wird nicht gefordert, sondern eine Störung in der Kommunikation. Die Forschungskriterien der ICD-10 für den frühkindlichen Autismus sind in Übersicht 2.1 zusammengefasst.
Übersicht 2.1: Forschungskriterien für den frühkindlichen Autismus (F84.0) (nach Remschmidt et al. 2006)
Neben den für die Diagnose entscheidenden Kernsymptomen bestehen bei den Patienten zusätzlich oft vielfältige Störungen wie Ess- und Schlafstörungen, Hypo- und Hypersensibilität in sensiblen Bereichen, Wutausbrüche, Aggressionen, Selbstverletzungen und Ängste.
Das Asperger-Syndrom ist wie der frühkindliche Autismus durch qualitative Veränderungen in der gegenseitigen sozialen Interaktion und durch eingeschränkte, stereotype, repetitive Verhaltensmuster, Ideen und Aktionen gekennzeichnet. Im Unterschied zum frühkindlichen Autismus wird gefordert, dass die kognitive Entwicklung altersgemäß ist und die frühe Sprachentwicklung altersgemäß war, d. h. dass das Kind mit zwei Jahren einzelne Worte und mit drei Jahren kommunikative Sätze gesprochen hat. Weiter sollen die Neugierde und die lebenspraktischen Fähigkeiten in den ersten drei Lebensjahren einer normalen kognitiven Entwicklung entsprochen haben. Die Meilensteine der motorischen Entwicklung können verzögert gewesen sein. Die Forschungskriterien der ICD-10 für das Asperger-Syndrom (F84.5) sind in Übersicht 2.2 zusammengefasst.
Übersicht 2.2: Die Forschungskriterien für das Asperger-Syndrom (F84.5) (nach Remschmidt et al. 2006)
Die Kriterien von ICD-10 und DSM-IV entsprechen nicht den ursprünglichen Beschreibungen von Hans Asperger für die, wie er es nannte, »Autistische Psychopathie«. Daher haben einige Autoren für das Syndrom stärker an der Originalarbeit orientierte Kriterien erarbeitet (Mattila et al. 2007; Gillberg & Gillberg 1989; Szatmari et al. 1989). Dies hat dazu geführt, dass unterschiedliche Definitionen für das Asperger-Syndrom aufgestellt wurden, die den Vergleich von Studien zum Asperger-Syndrom erschwert.
Die Diagnose atypischer Autismus nach ICD-10 wird gestellt, wenn nicht alle Kriterien für den frühkindlichen Autismus erfüllt sind. Insbesondere geht es um den Beginn der Störung, der nicht vor dem dritten Lebensjahr liegt, oder Störungen in der Interaktion und Kommunikation zwar vorhanden sind, aber nicht in allen Bereichen die für den frühkindlichen Autismus erforderliche Anzahl von Symptomen erreicht wird. Die diagnostische Zuordnung ist oft nicht sicher zu treffen (Mahoney et al. 1998).
Beim Rett-Syndrom, das fast ausschließlich bei Mädchen auftritt, handelt es sich um eine inzwischen bei 80% der Erkrankten nachweisbare genetische Störung auf dem X-Chromosom. Es kommt zu einem Stillstand der bis dahin normalen Entwicklung zwischen dem 7. und 24. Lebensmonat und danach zu zunehmendem Verlust des Handgebrauchs, der Sprache und der Lokomotion. Die Kinder zeichnen sich durch charakteristische wringende Handbewegungen und eine Hyperventilation aus.
Die anderen desintegrativen Störungen des Kindesalters sind gekennzeichnet durch eine Phase einer eindeutig normalen Entwicklung bis zum dritten Lebensjahr, gefolgt von einem Abbau der erworbenen Fähigkeiten in der Sprache, im Spiel, im sozialen Kontakt und in lebenspraktischen Fertigkeiten innerhalb weniger Monate. Das klinische Bild ähnelt später dem des frühkindlichen Autismus in Kombination mit einer schweren geistigen Behinderung.