Vorwort Der Mythos lebt
Der Master und sein Baby
Kapitän Christopher Wells und sein Spagat zwischen Nautik und Rampensau
„Der Hafen, die Schiffe und das Meer“
Wie die Hamburger Waltraut Barthel und Werner Meyer-Barthel der See verfallen sind
Nur gucken, nicht anfassen
Wie pensionierte IT-Experten und Bankmanager als Eintänzer und Gigolos einer alten Tradition wieder auf die Beine helfen
Nancy und das gespaltene Wasser
Vom (Bord)Leben eines philippinischen Zimmermädchens mit fünf Kindern
„Keiner muss mich nach dem Wetter fragen“
Von diskretem Charme und Bambule – wenn Rheinländer Stück für Stück um die Welt segeln
„Da springen die Fliegenden Fische ganz anders“
Marion und Ulrich Pragers Geschichte von Abschied und neuer Liebe
Eine Küche in Schweden
Wie Hinano Yeo aus Singapur die Risiken des Lebens umschifft und neue Ufer ansteuert
Eine Prinzessin im Bermuda-Dreieck
Wenn auf hoher See der Bund fürs Leben besiegelt wird
„The ship is my choice“
Alter schützt vor Weltreisen nicht: warum die britische Lehrerin Dennie Farmer nicht totzukriegen ist
„Ganz schön mutig“
Manfred Thoma ist schwerstbehindert und zum ersten Mal auf Weltreise – geht das überhaupt?
Vorne fit, hinten fett
Der bulgarische Trainer Ventsislav Vasilev und sein Kampf gegen Kreuzfahrtpfunde
„In der eigenen Stadt, aber am falschen Platz“
Wie eine Chilenin vom südlichsten Punkt der Erde die Welt und das Glück erobert
„Wellen des Lebens“
Die Hamburgerin Jessica Kirsten über ihren Alltag zwischen Decksplanken und Straßenpflaster
„Kochen ist Arbeit am offenen Herzen“
Küchenchef Nicholas Oldroyd über den Job, der sein Leben ist – und das seines Bruders
„Hat sie jetzt einen?“
Warum allein reisende Frauen sich auf See durchaus wohlfühlen können
„Für Romantik bleibt wenig Zeit“
Warum es sie trotzdem gibt – die Liebe der Matrosen und das große Glück an Bord
„So will ich nicht aufhören“
Warum für Brigitte und Theo Marx Ankommen wichtiger als Reisen ist
Der Wow-Effekt
Warum die Showbühne an Bord ein gutes künstlerisches Sprungbrett sein kann
„Wie ein Astronaut übers Wasser schweben“
Wenn ein Mädchen aus den Tiroler Bergen die Ozeane liebt
Bridge ist die Welt
Warum ein simples Kartenspiel einen Australier um den Globus treibt
Vom Stolz, ein Ausländer zu sein
Wie der Inder Stanley Williams seine Familie glücklich macht
Auf der Flucht vor Dracula und seinen Erben
Die englischen Pädagogen Yvonne und Brian Benford über Sucht und Sehnsucht
„Das Leben ist zu kurz“
Von der Suche nach der Zukunft und dem großen Glück mit Schweinen
Claire und die Maori
Autor Manfred Ertel über das „königliche“ Leben auf einer Weltreise – eine Art Tagebuch
Epilog
Als die QUEEN MARY 2 zum ersten Mal ihren schlanken Bug vor Blankenese langsam aus dem Morgendunst in Richtung Hamburger Hafen schiebt, sind die Ufer der Elbe schwarz vor Menschen. Es ist der 19. Juli 2004, als Hunderttausende Neugierige der QUEEN bei ihrer Deutschland-Premiere einen „königlichen“ Empfang bereiten. Schon an der Elbmündung bei Cuxhaven war der neu erbauten Königin der Meere von zahllosen Zuschauern die Ehre erwiesen worden, da war es bereits weit nach Mitternacht. In Stade knapp 100 Kilometer elbauf säumten die Sehleute in langen Menschenketten die Deiche, die Polizei berichtete von Verkehrsbehinderungen auf den Zufahrtsstraßen.
In Hamburg sind es schließlich 400.000 Menschen, die so frühmorgens aus einem einzigen Grund aufgestanden und runter zur Elbe und zum Hafen gepilgert sind: das weltgrößte Kreuzfahrtschiff, das wenige Monate zuvor getauft und in Dienst gestellt worden war, in Empfang zu nehmen. Im Jahr darauf werden es im Rahmen des Hamburger Hafengeburtstages sogar 500.000 sein. Alle wollen das Schiff der Superlative sehen. Höher als die Freiheitsstatue in New York, länger, als der Eiffelturm oder das Empire State Building hoch sind, mit der größten schwimmenden Bibliothek, dem ersten Planetarium an Bord eines Schiffes und einem fast hymnisch beschriebenen neuen Maßstab für Luxus und Komfort: mit aufwendigem Art-déco-Design und kostbarem Teak, einer Kunstgalerie, Gourmetrestaurants und dem größten schwimmenden Ballsaal.
Der Sommermorgen 2004 ist der Anfang einer Erfolgsstory, die immer neue Kapitel schreibt. Inzwischen ist der Besuch der QM2 fester Bestandteil im Hamburger Hafen geworden. 59 Mal hat sie bis Ende 2017 dort festgemacht, Touristen aus ganz Deutschland reisen dafür eigens an. Ein halbes Dutzend Mal war sie zu Reparaturarbeiten in Hamburg im Dock. Im Sommer 2016 wurde sie für 100 Millionen Euro bei Blohm+Voss modernisiert und runderneuert. 35 neue Balkonkabinen vorn auf dem Oberdeck verändern leicht die optische Schiffslinie. Neue Farben und Teppiche, neue Restaurants, neues Design und Innenleben – die QUEEN hat sich aufgehübscht.
Es gibt mittlerweile neuere Kreuzfahrtriesen, einige (wenige) größere Schiffe, manche mit bemerkenswerten Attraktionen. Aber die Begeisterung für das Flaggschiff der internationalen Kreuzfahrtflotte ist ungebrochen. Noch immer stehen Zehntausende an den Kais und Küsten, wenn die QUEEN ein- oder ausläuft. Und zwar nur dann. Und träumen dem Schiff hinterher.
Die QM2 ist mehr als ein Kreuzfahrtschiff, mehr als eine dieser schwimmenden Luxusherbergen, die auf den Weltmeeren kreuzen und in den vergangenen Jahren für einen wahren Tourismusboom gesorgt haben.
Die QUEEN MARY 2 ist ein Oceanliner. Der weltweit einzige, der regelmäßig den Nordatlantik quert und Europa mit den USA verbindet. Und der Letzte seiner Art. Der eine große Tradition am Leben hält, seit die Cunard Line 1840 die Geschichte der Transatlantikroute für Passagierschiffe begründete.
Von Southampton und mehrfach im Jahr auch von Hamburg nach New York oder zurück – die QM2 ist die zeitgenössische Reminiszenz an eine lange und an Ereignissen reiche Geschichte der Nordatlantikpassagen mit Passagierdampfern. Mit der legendären und eigentlich unsinkbaren TITANIC, die gleich auf ihrer Jungfernfahrt 1912 an einem Eisberg scheiterte, fand die ihren tragischen Tiefpunkt. Und mit der QUEEN MARY 2 erlebt sie einen neuen Höhepunkt.
Der Weg ist das Ziel – in einer Zeit, in der es immer schneller, dynamischer und hektischer zugeht, ist die Transatlantikquerung ein Hort der Entschleunigung. Acht beziehungsweise knapp zehn Tage lang Nordatlantik und Nordsee so weit das Auge reicht, Wellen und Dünung, Sturm und steife Brisen, Gischt und Schaumkronen. Zeit und Muße zum Träumen und Loslassen, Zeit zum Genießen. Und Zeit für Begegnungen. Es gibt wohl kaum einen Ort auf der Welt, wo man so viele und so unterschiedliche Menschen verschiedenster Nationen und Kulturen treffen und kennenlernen kann – wenn man will. Und alles ganz ohne Facebook.
Gäste aus 40 Nationen oder mehr sind auf Weltreisen der QUEEN oder auf Teilstrecken davon keine Ausnahme, sie sind die Regel. Und die Mannschaft der „Königin“ ist ihr internationales Ebenbild, eine Weltgemeinschaft „en miniature“. Sie alle kreieren einen Mix aus Kulturen, Sprachen und Temperamenten, der spannend ist, Spaß macht und immer neue Erfahrungen ermöglicht, wie sonst wohl kaum irgendwo.
„Man kann keine neuen Ozeane entdecken, hat man nicht den Mut, die Küsten aus den Augen zu verlieren“, hat der französische Literaturnobelpreisträger André Gide einmal gesagt. Das gilt nicht nur für die Seefahrt, sondern auch für neue Kulturen, neue Freundschaften, neue Begegnungen. Die QUEEN MARY 2 ist im wahrsten Sinne des Wortes ein besonderer Teil davon. Sie lässt Menschen die Zeit vergessen. Und Menschen zusammenkommen. Von denen wird in diesem Buch die Rede sein.
Manfred Ertel, im Sommer 2017
Kapitän Christopher Wells und sein Spagat zwischen Nautik und Rampensau
Manchmal, wenn er direkt danach gefragt wird, kommt Christopher Wells dann doch ein wenig ins Grübeln, wie das in seinem Leben alles so kommen konnte, wie es gekommen ist.
Vielleicht lag es ja an diesem Besuch in Southampton. Er war noch ein kleiner Junge, keine sechs Jahre alt, als sein Vater ihn und die zwei Geschwister ins Auto packte, um sich die legendäre QUEEN MARY dort anzusehen. Das muss Anfang der Sechzigerjahre gewesen sein. Der betagte Passagierdampfer aus den Dreißigerjahren mit den drei markanten schwarz-roten Schornsteinen, Schauplatz vieler Filmklassiker, lag im Hafen der südenglischen Stadt und wartete auf neue Passagiere. Aber eine eigene Erinnerung an den Besuch hat Wells nicht, nur noch an ein Schiffsmodell, das er später irgendwann besaß. „Ich war da, aber es ist nichts hängen geblieben“, sagt er, und das hört sich fast ein bisschen traurig an.
Vielleicht war es auch die Reise nach Südafrika. Als er zwölf war, siedelte sein Vater mit der ganzen Familie für ein Jahr ans Kap. Zur Überfahrt nahmen sie das Schiff. „Für einen Zwölfjährigen ist das schon eine wichtige Erfahrung im Leben, 12.000 Meilen über den Ozean zu fahren, vielleicht hat mich das beeinflusst“, überlegt Wells heute.
Vielleicht war es aber auch nur seine Abneigung gegen die Schule. Die hatte ihn bis zum 18. Lebensjahr so entsetzlich gelangweilt, dass er nach dem Abschluss nur noch eines wollte: auf keinen Fall auf die Universität. Er entschied sich für etwas Praktisches, und was lag da näher als die See? Zumindest, wenn man wie Christopher in der malerischen Hafenstadt Poole westlich von Bournemouth an der englischen Südküste aufgewachsen und groß geworden war. Also bewarb er sich 1974 auf eine Zeitungsanzeige hin als Schiffstechniker bei einem großen Mineralölkonzern zur Ausbildung auf einem Gastanker.
Inzwischen ist Christopher Wells bereits über 60 Jahre alt und Schiffskapitän auf großer Fahrt. Aber nicht irgendeiner, sondern „Master“ der QUEEN MARY 2, und Superlative begleiten seinen Weg. Er war der jüngste Schiffsführer der Cunard Line, der ein so großes Schiff kommandieren durfte; er steuert das Flaggschiff der Cunard-Flotte und der internationalen Kreuzfahrtschifffahrt; er hat bereits alle drei „Königinnen“ befehligt, die MARY, die ELIZABETH und die VICTORIA; und er kennt die QUEEN MARY 2 wie wohl kaum ein anderer. Manchmal nennt er sie fast liebevoll „mein Baby“.
Das hat einen guten Grund. Wells war Zweiter Mann auf der Brücke des inzwischen längst außer Dienst gestellten Kreuzfahrtschiffes QUEEN ELIZABETH 2, als er 2002 für einen ganz besonderen Auftrag an Land abkommandiert wurde. Er sollte auf der französischen Werft in Saint-Nazaire den Bau des neuen Flaggschiffs beaufsichtigen. Die QUEEN MARY 2 hatte schon während der Planungen und Bauvorbereitungen für mächtig Wirbel gesorgt. Größer, schneller, edler als alles bisher Dagewesene sollte der Dampfer werden, der künftig die Tradition der Atlantikpassagen fortsetzen und zugleich wiederbeleben sollte. Dazu entsendete die Reederei eigens vier hochrangige Schiffsoffiziere zu den französischen Schiffbauern, 18 Monate lang, sicher ist sicher. Einen Chefmaschinisten und einen Chef-Elektriker für die Technik, einen Logistik-Manager für die Lade- und Stausysteme. Und eben ihn.
Wells hatte die Aufgabe, anhand des Kaufvertrages und der Baupläne in nahezu wöchentlichen Schiffsinspektionen jeden einzelnen Bauschritt zu kontrollieren, die Stahl- und Rumpfarbeiten zu beaufsichtigen, die Ausstattung zu überprüfen und nebenbei auch noch die computergesteuerten Sicherheitssysteme zu checken. „Das war eine große Ehre und etwas ganz Besonderes“, sagt Wells heute. Denn normalerweise entsendeten die Reedereien ihre Aufseher höchstens für die letzten sechs Monate Bauzeit zu den Werften. Aber die QM2 sollte eben einzigartig werden, unverwechselbar.
Die neue QUEEN war größer, höher, breiter und schwerer, und sie hatte deutlich mehr Tiefgang als alle anderen vorher. Mit ihren Abmessungen passte sie nicht mehr durch den Panamakanal, anders als die anderen Queens. Die Planungen waren auch konsequent, denn die neue MARY ist als Oceanliner konzipiert, nicht als Kreuzfahrer. Das bedeutet, sie muss schwer genug sein, um auch in schlimmsten Monsterwellen des Atlantiks zu bestehen und nicht von Riesenbrechern „herumgeschubst zu werden“, wie es Wells nennt. Und sie muss mit außergewöhnlichen Maschinenstärken auch in schwerster See die Fahrpläne pünktlich einhalten können.
Als die QM2 kurz vor Weihnachten 2003 die Werft verließ und am 8. Januar 2004 von der echten Majestät, Königin Elisabeth II., getauft wurde, war der Brite als Staff Captain an Bord, damals noch der Zweite Mann auf der Brücke, zumindest in der Hierarchie. Als Kapitän war er dem Schiffskommandeur nautisch durchaus gleichgestellt. Seitdem hat er die Schiffe der Cunard-Flotte mehrfach gewechselt, bis er 2015 wieder zu seinem Baby zurückkam. „Ich sah die MARY erwachsen werden, und das war eine unglaubliche Erfahrung“, sagt Wells, „aber Hand aufs Herz: Jetzt als Master zurückzukehren und das Kommando zu übernehmen, das war fantastisch und macht mich stolz.“
Wells lebt für sein Schiff und die Seefahrt nicht nur mit Worten, sondern mit allen Fasern seines Körpers. Zwei Monate an Bord, zwei zu Hause, das ist meist sein Rhythmus. Wenn er an Bord ist, dann ist er nur für sein Schiff da, ohne Wenn und Aber. Dabei zeichnet sein Bordalltag ein eher überraschendes Bild von den zahllosen Herausforderungen, denen sich ein Kapitän der QM2 zu stellen hat. Trauungen gehören dazu und Gottesdienste, repräsentative Aufgaben mit Honoratioren an Land und Banketts an Bord, die mittäglichen Borddurchsagen für die Passagiere, eine Art Wetter- und Lagebericht, lässt er sich nicht nehmen, und auf Cocktailempfängen muss er manchmal 800 Hände schütteln und für viele Gäste auch noch ein nettes Wort finden. Sein Schiff zu navigieren, gehört dagegen eher nicht dazu. „Meine Rolle ist es, die nächste Generation auszubilden und zu schulen“, sagt Wells, „die Schiffsführung und die Hafenmanöver überlasse ich meistens meinem Zweiten Kapitän.“
Er selbst verbringt die meiste Zeit am Computer, beantwortet Mitteilungen der Reederei und E-Mails, er muss sich um viele administrative Aufgaben kümmern und meistert eben, so gut es geht, die anderen Anforderungen. „Jeder Tag ist eine neue Herausforderung, jeder Tag ist anders. Den einen Tag fragt mich ein Journalist eine Unmenge Fragen, den anderen muss ich etwas mit der Immigrationsbehörde in Japan oder im Maschinenraum unter Deck klären. Es kommt nie Langeweile auf.“ Und wenn er das sagt, blitzen seine Augen, als freue er sich über den ironischen Zwischenton ebenso wie jeden Tag wieder über seinen Job, als wär’s das erste Mal: „Dazu haben wir jeden Tag irgendein Wetter und immer neue Häfen. Das macht meinen Beruf auf See so viel interessanter, als im Büro vor einem Stapel Papieren zu sitzen.“ Da ist er wieder, der britische Humor, mit dem er auf seinem Schiff fast alles angeht.
Man nimmt es dem eher schmächtigen, aber drahtigen Kapitän mit den buschigen Augenbrauen einfach ab, wenn er gut gelaunt oder mit viel Ironie von seiner Arbeit erzählt. Das wirkt immer authentisch, nie arrogant. Und wenn er über die Decks läuft, kommt er eher unprätentiös daher. Kein unnahbarer Schiffsoffizier, der eitel seine Uniform spazieren führt – bei warmem Wetter übrigens in Weiß, an kühleren Tagen in Dunkelblau. Im Gegenteil. Wenn er die Brücke verlässt und auf den Gängen unterwegs ist, ist er immer ansprechbar: „Ich rede mit jedem“, sagt er, „das wird mir nie zu viel.“
Der Nautiker lebt zwei Leben, sagt er gern. „Wenn ich an Bord bin, dann bin ich nur für das Schiff da, sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag. Wenn ich an Land bin, dann bin ich nur für die Familie da.“ Dann kommt der Satz, der vielleicht am meisten aussagt über die Art und Weise, wie er sein Schiffskommando versteht. „Das Schiff ist das Ziel.“ Nicht irgendein Hafen oder ein bestimmter Törn, das Schiff!
Dafür gibt Wells alles. Er scherzt und witzelt, wenn er beim Kapitänsempfang seine Schiffsoffiziere oder Stammgäste vorstellt, die fast schon zum Inventar gehören. Er zelebriert sehr ernsthaft die Sonntagsandachten, manchmal sogar auf Deutsch, und scheut sich nicht, sein Lieblingslied, „Nun danket alle Gott“, laut mitzusingen. 1997 wurde das auf seiner Hochzeit in Husum gespielt. Er empfängt auch schon mal Neugierige, eine besondere Ehre, auf der Brücke, bittet Ehrengäste zum Kapitänsdinner und hat für alle ein nettes Wort. Er ist unter Kapitänen das, was man auf der Rockbühne gern eine Rampensau nennt.
Wer seinen unermüdlichen Einsatz und Kontaktsinn verstehen will, muss seine Vita aus den Anfängen kennen. Vor allem seine Zeit auf den Gastankern, auf denen die Crew nur aus einer Handvoll Leuten und ständigem Schichtdienst bestand, prägte ihn nachhaltig. Monatelang einsame Schiffswachen, Kollegen traf er nur bei der Wachablösung. Niemanden zum Reden, keine Abwechslung – das hat Spuren hinterlassen: „Du sprichst mit niemandem, du wirst zum Einsiedler, du lebst wie ein Eremit.“ Es bricht beinahe aus ihm heraus, wenn er von diesen Erfahrungen spricht. „Das ist der große Unterschied.“ Sein Lächeln im Gesicht gefriert sogar jetzt noch ein bisschen, wenn er davon erzählt.
Doch das dauert nur einen kurzen Moment, dann ist er wieder ganz der Alte. Die QUEEN MARY ist sein Baby, die Seefahrt sein Leben. An Bord lernte er seine Frau Hedda kennen, eine Deutsche aus Husum. Das war 1992, da fuhr Wells als Zweiter Offizier auf der QUEEN ELIZABETH 2, und Hedda servierte dort als Kellnerin. Einem Offizier geht es auf dem Schiff nicht anders als im wahren Leben, wenn man auf engem Raum zusammenarbeitet, er verguckte sich in die Deutsche. Bis zu ihrem ersten Date dauerte es allerdings fast noch ein Jahr, bis zur Hochzeit über fünf. Dazwischen lag sogar eine berufsbedingte Trennung, weil Hedda durchs Mittelmeer kreuzte und Christopher auf einem anderen Schiff in der Karibik. Aber die Liebe hielt, auch während ihres Studiums in Heidelberg, 1997 folgte dann die Hochzeit in Husum, und Christopher Wells sang deutsche Kirchenlieder.
Zwölf Jahre blieb Wells der ELIZABETH treu, auf dem Helikopterdeck machte ihr gemeinsamer Sohn mit 13 Monaten seine ersten Schritte. Über 40 Jahre fährt er inzwischen zur See, seit 2008 als Kapitän, aber die Begeisterung hat er bis heute nicht verloren – vor allem nicht die über spektakuläre Häfen. New York zählt für ihn zu den „dramatischsten Erlebnissen“. Wenn er vor der gigantischen Silhouette auf Manhattan zusteuert und hinter den Wolkenkratzern die Sonne aufgeht, das macht ihn „immer wieder sprachlos“, sagt er. „Ein Jammer, das wir nicht mehr in Manhattan anlegen, mitten in der Stadt, sondern gegenüber in Brooklyn.“
Sydney sei „fantastisch“, wegen der tollen Sicht auf die Stadt und des Liegeplatzes gegenüber der weltberühmten Oper, Hongkong sei „toll“ und La Valletta auf Malta „gewaltig“, wenn man praktisch mitten in die Festungsanlagen hineinsteuert. Und dann ist da natürlich noch Hamburg. „Das ist harte Arbeit, dort einzulaufen“, sagt Wells, sieben bis acht Stunden die Elbe rauf von der Nordsee bis in den Hafen. Wegen ihres Tiefgangs von über zehn Metern muss die QUEEN dann auch noch den höchsten Punkt des Hochwassers zwischen den Gezeiten erwischen, um ohne Grundberührung bis zu den Landungsbrücken zu kommen, wo sie „von den vielen Tausend Menschen am Ufer begrüßt wird, jedes Mal wieder“. Wenn der Kapitän von der Verbindung zwischen Hamburg und der QM2 spricht, wird er fast schon sentimental: „Es ist wie eine Liebesbeziehung, ich weiß nicht warum, aber es begeistert mich jedes Mal wieder.“
Einige Male wird er dieses Gefühl wohl noch erleben können, dann wird sein schönstes Hobby auch für ihn zu Ende gehen. „65 ist ein gutes Alter, um in Rente zu gehen“, sagt er. Dann will er seinen ganz privaten Heimathafen anlaufen, bei Frau und Familie in Barnham, einem kleinen Kaff an der Südküste nicht weit östlich von Southampton. Und auch mit dieser für den nächsten Lebensabschnitt durchaus folgenschweren Entscheidung scheint er völlig im Reinen.
Herausforderungen im Alter? „Keine. Meine Ziele sind dann, im Liegestuhl zu sitzen und dem Rasen beim Graswachsen zuzuschauen.“ Achtung, Ironie, doch er grinst dabei, als könnte er daran durchaus ernsthaft Gefallen finden. Wenn ihn nicht Hedda aus Husum in die Realität zurückholen würde. „Meine Frau sagt, sie will nicht mit drei Teenagern und einem Rentner unter einem Dach leben, ich darf deshalb nicht in Pension gehen, bevor ein oder zwei der Kinder ausgezogen sind.“
Und was Ehefrau Hedda sagt, hat für Wells offenbar auch nach 20 Jahren Ehe noch Gewicht. „An Land ist meine Frau der Kapitän“, sagt er, „da bin ich nur noch Gärtner und Daddy-Chauffeur für die Kinder.“
Wie die Hamburger Waltraut Barthel und Werner Meyer-Barthel der See verfallen sind
Als sie sich entschieden, ihr Haus in einer bürgerlichen Villengegend im Hamburger Osten zu verkaufen und auf die andere Seite der Elbe zu ziehen, in einen Stadtteil, der lange als etwas vernachlässigt galt, waren etliche ihrer Freunde ziemlich überrascht.
Als sie ihr Auto abschafften und sich fortan nur noch per Bus und U-Bahn fortbewegten und nur, wenn unbedingt nötig, zum Beispiel zur Ernte ihres eigenen Apfelbaums vor den Toren der Stadt, einen Leihwagen mieteten, waren viele Freunde einfach nur bass erstaunt.
Als sie anfingen, zur See zu fahren und größere Teile ihres Lebens an Bord von Kreuzfahrtschiffen zu verbringen, wunderte sich in ihrem privaten Umfeld niemand mehr. „Unsere Freunde haben sich daran gewöhnt, dass wir manchmal ein bisschen komisch sind“, sagt Waltraut Barthel. Dabei schmunzelt sie spitzbübisch, als würde ihr das eine zusätzliche Freude bereiten. Denn komisch ist an ihrem neuen Leben eigentlich gar nichts. Sie haben einfach nur die Liebe zur See entdeckt. Und wie das so ist mit großen Lieben: Sie genießen sie. Das ist sofort zu spüren, wenn man sie trifft.
Seit etlichen Jahren fährt Waltraut mit ihrem Mann Werner Meyer-Barthel inzwischen gemeinsam aufs Meer, und sie können davon kaum genug bekommen. Das überrascht die beiden Mitsechziger manchmal selbst am meisten. Die Eheleute kommen aus Hamburg. Waltraut Barthel hat dort ein halbes Leben Mathematik und Russisch unterrichtet, ihr Mann war Versicherungsmathematiker. Die professionelle Berufsbezeichnung für seine Tätigkeit, bei der er zum Beispiel Versicherungsrisiken berechnete, ist Aktuar, aber daran würden bei Günther Jauch ohne guten Telefonjoker wohl die meisten Kandidaten scheitern.
Schon bald nach der Schiffstaufe der QUEEN MARY 2 Anfang 2004 gingen sie das erste Mal an Bord. Ihre Reise von New York nach Hamburg hatten sie bereits gebucht, da war das Schiff noch mitten im Fertigungsprozess. Doch Werner Meyer-Barthel war im wahrsten Sinne des Wortes gut im Bild, er war der Antreiber für ihre Entscheidung. Als frischgebackener Rentner mit viel Zeit für alles und jedes hatte er viel über den neuen Ozeanriesen gelesen und gesehen. Und dabei seine alte Liebe neu aufpoliert. Wenn er darüber spricht, hört sich das an, wie von Lale Andersen millionenfach besungen: „der Hafen, die Schiffe und das Meer“.
Hinzu „kam der Hype um die neue QUEEN MARY