Privatdetektiv Tony Cantrell Sammelband #7 - Fünf Krimis in einem Band
Published by Cassiopeiapress/Alfredbooks, 2017.
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Privatdetektiv Tony Cantrell – 5 Krimis in einem Band
Copyright
Willkommen im Jenseits
Die Hauptpersonen des Romans:
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Ein Job für Todgeweihte
Die Hauptpersonen des Romans:
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Beisetzung im schönen Monat Mai
Die Hauptpersonen des Romans:
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Die Himmelfahrtsweste
Die Hauptpersonen des Romans:
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Ein stummer Mann macht keine Mätzchen
Die Hauptpersonen des Romans:
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Further Reading: 10 hammerharte Strand-Krimis
Also By A. F. Morland
Also By Earl Warren
About the Publisher
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Band 7
Der Umfang dieses Buchs entspricht 601 Taschenbuchseiten.
Tony Cantrell, ein Privatdetektiv und Rechtsanwalt aus Chicago, wird mit seinem Ermittler-Team oft in den besonders heiklen Fällen engagiert. Gemeinsam mit dem Capital Crime Department machen sich Cantrell und seine Mitarbeiter an die Ermittlungsarbeit. Es gilt Serienmörder, Bankräuber und Erpresser zu überführen...
Dieses Buch enthält folgende fünf Tony Cantrell Krimis:
A. F. Morland: Willkommen im Jenseits
Earl Warren: Ein Job für Todgeweihte
Earl Warren: Beisetzung im schönen Monat Mai
Earl Warren: Die Himmelfahrtsweste
Earl Warren: Ein stummer Mann macht keine Mätzchen
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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker.
© by Author
© dieser Ausgabe 2017 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen in Arrangement mit der Edition Bärenklau, herausgegeben von Jörg Martin Munsonius.
Alle Rechte vorbehalten.
www.AlfredBekker.de
postmaster@alfredbekker.de
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Privatdetektiv Tony Cantrell #31
von A. F. Morland
Der Millionär Quincy Danenberg engagiert seinen alten Freund und Boxkamerad Jack „Butch“ O'Reilly, der zum Cantrell-Team gehört, das von dem bekannten Anwalt und Privatdetektiv Tony Cantrell geleitet wird. In Danenbergs Apartmenthaus wurde ein Mord verübt. Das Opfer ist Alex Sossier, der – wie sich herausstellt – ein Doppelleben führte. Lieutenant Harry Rollins, Leiter der Chicagoer Mordkommission, ist froh, Unterstützung vom Cantrell-Team zu erhalten, das bald schon eine heiße Spur hat, die zur Mafia führt ...
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Sam Wooster — Ein eiskalter Mafia-Mann.
Andrew Smith/Alex Sossier — Er führte ein geheimnisvolles Doppelleben, bis eines Tages ein Killer zu ihm kam und ihm beide Leben mit einer einzigen Kugel nahm.
Frederick Kennison — Er hatte gute Gründe, Sossier zu ermorden. Aber er bestritt energisch, die Tat begangen zu haben.
Quincy Danenberg — Ihm gehören die Bellevue-Apartments, in denen der kaltblütige Mord verübt wurde.
June Sossier — Eine Witwe, die keinen Grund hat, um ihren Mann zu trauern, denn als er ermordet wurde, war er für sie lange schon tot.
... und das Cantrell-Team.
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Der Killer schloss die Tür auf, als wäre er hier zu Hause. Er betrat das Apartment und war nicht aufgeregt. Es konnte nichts schiefgehen. Alle Vorzeichen standen günstig für ihn. Ein Durch-und-durch-Profi war hier am Werk. Er angelte den Ballermann aus dem Schulterholster. Das Apartment strahlte in Festbeleuchtung. Jedes Lämpchen brannte. Frank Sinatra sang Songs aus dem Musical „South Pacific“. Dazu rauschte zwar nicht das Meer, aber die Dusche.
Das Opfer reinigte sich noch vor seinem Tod.
Mit einem oft geübten Griff schraubte der Killer den Schalldämpfer auf die Pistole. Er gelangte ins Wohnzimmer. Und er fühlte sich in die Zeit des Sonnenkönigs versetzt. Schnörkel hier, Plüsch und Seide da. Vergoldete Bilderrahmen dort. Alles nobel. Und wäre es nicht von Könnerhand arrangiert worden, hätte es kitschig gewirkt. Der Mann mit der Pistole grinste. Ein hübscher Platz zum Sterben, dachte er.
Das uralte Messingtelefon fing zu rasseln an.
Der Killer huschte hinter eine mit Versailles-Motiven bemalte spanische Wand. Die Dusche hörte zu rauschen auf. Daraufhin verlor Sinatra die Lust am singen. Er gab das Mikrophon für seinen Whiskyfreund Dean Martin frei. Und während Dean von irgendeinem Kissen sang, das er geschickt haben wollte, erschien das Opfer im Livingroom. Ein großer, schlanker, gut aussehender Mann. Schwarze Schmachtlocken. Scharf geschnittene Züge. Ein Frauentyp schlechthin. Er trug einen goldfarbenen Frotteemantel. Fünf Schritte hatte er bis zum Telefon. Er machte die ersten beiden. Das Rasseln hörte auf. Der Mann blieb stehen und ließ einen Fluch hören, der nicht in diese vornehme Umgebung passte.
Da trat sein Mörder hinter dem Paravent hervor.
Dem Opfer stockte der Atem. Sein Gesicht wurde zu einer ängstlichen Fratze. Er riss den Mund auf und wollte um Hilfe schreien. Aber die Kugel des Killers war schneller ...
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„Ein piekfeiner Stall“, sagte Sergeant Retcliff zu seinem Vorgesetzten, Lieutenant Rollins.
„Jeder Raum ist anders eingerichtet. ’ne richtige Wucht, Chef.“ Retcliff war fünfundfünfzig Jahre alt, ein vierschrötiger Kerl, unbedingt zuverlässig und gutmütig, solange es niemanden gab, der ihn reizte. Er stand mit dem Lieutenant im Sonnenkönig-Zimmer. Die Männer der Spurensicherung waren bei der Arbeit. Sie schnüffelten mit einem kleinen Staubsauger in jeden Winkel. Sie besprühten Türgriffe und Möbel mit einem feinen weißen Pulver, um Fingerabdrücke sichtbar zu machen. Der Polizeifotograf fotografierte das Zimmer und alle Nebenräume. Er bannte den Toten von allen Seiten auf Platte. Er machte Aufnahmen von der spanischen Wand. Irgendjemand hatte ihm gesagt, dass der Killer mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den tödlichen Schuss von da abgegeben hatte.
Doc Hunter, sechzig Jahre, klein, mit Kneifer und Spitzbauch, ein Ass auf dem Gebiete der forensischen Medizin, untersuchte den Toten.
„Wie lange ist er schon tot?“, fragte Rollins den Arzt.
Hunter war an diesem Morgen mal wieder mit dem linken Bein aufgestanden. Er war schon an anderen Tagen kaum zu genießen. Aber diesmal hätte er einiges darum gegeben, wenn er sich selbst hätte in den Hintern beißen können.
Er blickte Harry Rollins wie einen persönlichen Feind an und knurrte: „Kann ich nicht so genau sagen, Lieutenant.“
„Das weiß ich“, sagte Rollins.
Er behandelte den Polizeiarzt an Tagen wie diesem wie einen gefährlichen Idioten. Kein hartes Wort. Ganz weiche Welle. Doc Hunter war trotz allem ein unentbehrlicher Mann. Wäre er das nicht gewesen, hätte Rollins bestimmt schon alles unternommen, um Hunter mit großem Geschick ein Bein zu stellen. „Ich will es ja nicht auf die Minute genau wissen, Doc“, schmunzelte Harry. Er war fünfunddreißig.
Die Tatsache, dass er heute schon Leiter der Chicagoer Mordkommission war, bewies, dass er auf dem Gebiete der Kriminalistik einiges auf dem Kasten hatte. Dass er gute Beziehungen nach oben hatte, war ihm bei seiner beispiellosen Karriere natürlich sehr zustatten gekommen. Harry Rollins war ein hochgewachsener Mann, schlank, blond und blauäugig.
Hunter kratzte sich am Hinterkopf, als hätte er dicke Läuse im grauen Pelz. Er verzog das Gesicht, glotzte durch den Kneifer den Toten an und meinte schließlich: „Zehn, zwölf Stunden ist der tot. Genau kann ich es Ihnen erst sagen, wenn ich ihn auseinandergenommen habe, Lieutenant.“
„Ich kriege Ihren Bericht noch heute?“, fragte Harry sanft.
Beinahe ein Satz zu viel. Doc Hunters Kopf ruckte herum. Jetzt glotzte er den Lieutenant an. „Sie kriegen meinen Bericht, sobald ich fertig bin!“, sagte er schnippisch.
Harry nickte mit einem entwaffnenden Lächeln. „Ich bin sicher, dass das heute sein wird.“
Hunter machte: „Ach!“, drehte sich um und stelzte davon.
Retcliff wiegte den Kopf. „Teufel, bei dem muss man jedes Wort auf die Waage legen. Meinen Sie nicht, Lieutenant, es wäre gut, mal mit McConnors über Hunter zu plaudern?“
Rollins hob erstaunt den Blick. „Sind wir denn in der Schule, Cliff? Bei uns wird niemand verpetzt. Solche Sachen machen wir untereinander aus. Dazu brauchen wir doch keinen Polizeichef.“
„Ich dachte ja nur ... Ich meine, es würde Doc Hunter gewiss nicht schaden, wenn man seine wilden Triebe ein bisschen zurückstutzen würde.“ Rollins winkte mit zusammengezogenen Brauen ab. „Blödsinn, Cliff. So schlimm ist der alte Hunter doch gar nicht.“
Der Sergeant drehte die Augen zur Decke, seufzte und meinte: „Mir reicht’s, Chef.“ Retcliff leckte sich über die Lippen. „Äh ... Eigentlich wollte ich Ihnen was zeigen, Lieutenant.“
Rollins grinste. „Keinen Einwand.“
Sie begaben sich in einen kleinen Raum, der keine rechte Funktion zu haben schien. Ein Stuhl ein Tisch standen hier drinnen. Sonst nichts. Ein glatter Stilbruch zu den übrigen Räumen des Apartments. Retcliff gab Zeichen mit seinem dicken Daumen. Er wies auf eine Glaswand. „Einwegspiegel!“, sagte er.
Rollins trat vor die Wand. Er blickte in ein Schlafzimmer, das erst im Jahr 2000 im Warenhauskatalog angeboten werden würde. Eine Wasserliege, schilfgrün, die einen sanft in den Schlaf schaukelte, vorausgesetzt, man wurde vorher nicht seekrank. Ausmaße: drei mal drei Meter. Ein Plätzchen, auf dem man sich allein verloren vorkam. Sämtliche Möbel hatten futuristischen Charakter, und trotzdem auch Niveau.
„Eines muss man dem Mann lassen: Er hatte Geschmack“, sagte Rollins.
„Wie man sieht, kann man von Geschmack allein nicht leben“, sagte Retcliff.
„Lass den Sarkasmus, Cliff“, brummte der Lieutenant.
„Wissen Sie, woran ich immer zuerst denke, wenn ich einen Einwegspiegel sehe, durch den man in ein Schlafzimmer oder Bad gucken kann, Chef?“
„Hm?“
„An einen Voyeur.“ Retcliff bestätigte seine Worte mit einem festen Kopfnicken.
„Du meinst, er hat bei ganz bestimmten Spielchen von hier aus zugesehen?“, sagte Rollins erstaunt.
„Entweder er hat zugesehen, oder er hat zusehen lassen“, war Retcliffs Meinung. „Ich denke, das sollten wir für die nächste Zeit im Auge behalten. Der Tote war ein attraktiver Mann in den aktivsten Jahren. Dem gaben bestimmt eine Menge Mädchen ohne Zögern die erwünschte Landeerlaubnis. Ich könnte mir vorstellen, dass unser toter Freund daraus ein lukratives Geschäft machte. Es gibt genug Männer, denen es genügt, bloß mal ein bisschen zuzusehen. Wenn es nicht so wäre, würde es nicht so viele Sexfilme geben. Durch diesen Einwegspiegel war nun die einmalige Gelegenheit geboten, so etwas nicht gespielt, sondern live geboten zu kriegen. Das ist gewissen Gentlemen bestimmt ein paar nette Bucks wert.“
Rollins nickte. „Tatsächlich eine Theorie, die man nicht so ohne Weiteres unter den Teppich kehren sollte, Cliff.“
Der Sergeant grinste. „Wie Sie sehen, hat auch ein Sergeant ab und zu mal recht helle Momente.“
Sie kehrten in den Livingroom zurück.
Die Raumkosmetikerin - in manchen Kreisen auch Putzfrau genannt - hatte den Toten entdeckt. Leichen sind nicht jedermanns Sache. Und schon gar nicht so knapp nach dem Frühstück. Die Frau hatte einen kapitalen Nervenzusammenbruch erlitten. Mit allem, was dazugehört. Zuerst hatte sie wie am Spieß geschrien. Dann war sie in Ohnmacht gefallen. Jetzt befand sie sich im Hospital. Und keiner durfte zu ihr. Jede weitere Aufregung hätte ihr entweder den Verstand vollends geraubt - oder ihr Herz zum Stillstand gebracht. Da Rollins die Dame nicht umbringen wollte, hatte er freiwillig darauf verzichtet, sie einzuvernehmen.
Rollins betrachtete den blassen Toten.
„Andrew Smith“, sagte Retcliff neben ihm.
Der Lieutenant brannte sich eine Zigarette an. Er wusste nicht, wohin mit dem Streichholz. Retcliff nahm es ihm fürsorglich aus der Hand und warf es zum Fenster hinaus.
Smith hatte ein Loch genau in der Mitte der Stirn.
„Ein Präzisionsschuss“, sagte Retcliff, als er vom Fenster zurückkehrte. „Das muss einer getan haben, der mit ’ner Kanone umgehen kann wie der Zauberer mit dem Zylinder.“
Ein Schuss auf eine Entfernung von fünf Metern, schätzte Rollins. Und er sagte zu Retcliff: „Ich habe nicht behauptet, dass das die Arbeit eines Anfängers ist ... Was ist mit dem Nachtportier?“
„Der Mann hält sich nach wie vor zu unserer Verfügung“, sagte der Sergeant.
„Ich möchte mit ihm reden“, meinte Rollins.
„Soll ich ihn holen, Chef?“
„Ich kann ja versuchen, ihn per Telepathie heraufzuholen“, knurrte der Lieutenant,
Retcliff zuckte die knöchernen Achseln. „War ja nur ’ne Frage!“, brummte er in seinen imaginären Bart und stampfte aus dem Apartment.
Ein schmaler Assistent mit dicken Gläsern vor den wasserhellen Augen baute sich vor Rollins auf. „Sir ... Chef ... Lieutenant!“
„Was gibt’s. Mortimer?“
„Hm ... Wie soll ich’s sagen?“
„Immer frei von der Leber weg“, sagte Rollins.
„Hm ... Smith ist uns im Weg, Chef.“
Rollins erwiderte mit schmalen Augen. „Möchten Sie, dass ich ihn mir auf den Rücken binde?“
„Oh nein, Sir. Nein. Ich wollte nur den Vorschlag machen ... Ich meine, wenn Sie nichts dagegen haben ... Also wenn Sie die Leiche nicht mehr brauchen, könnten wir sie doch eigentlich aus dem Apartment schaffen.“
„Wohin wollen Sie denn mit ihr?“, fragte Rollins lauernd.
„Wir könnten den Toten auf den Korridor legen ...“
„Damit sich die anderen Hausbewohner vor ihm gruseln?“
„Aber nein, Sir ...“ Der Assistent hob unbeholfen die Schultern.
Rollins sagte: „Der Wagen vom Leichenschauhaus trifft in spätestens zehn Minuten hier ein, Mortimer. Können Sie so lange noch warten?“
„Klar, Lieutenant.“
„Fein, Mortimer.“
Der Assistent machte zackig auf den Hacken kehrt, wie er es auf der Polizeischule gelernt hatte, und begab sich wieder an die Arbeit. Rollins wusste, warum der Mann ihm diesen Vorschlag gemacht hatte. Tote Leute schlugen sich auf Mortimers Magen. Dabei hatte sich Mortimer freiwillig zur Mordkommission gemeldet. Was hatte er hier erwartet? Filmleichen? Ketchup statt Blut? Tote, die wieder quicklebendig wurden, wenn der Take „im Kasten“ war?
Schön wär’s, dachte Rollins seufzend. Er machte den letzten Zug von seiner Zigarette. Die Kippe warf er - wie Retcliff zuvor das Streichholz - zum Fenster hinaus. Aber er passte auf, dass sie keiner Passantin ins Dekolleté fiel.
Retcliff brachte den Nachtportier.
Der Mann sah aus wie die sieben mageren Jahre. Sein Gesicht stammte aus der Plisseeanstalt - lauter Falten. Er litt an chronischem Asthma und pfiff mit der Luftröhre schrille Lieder. Oder waren es die Bronchien? Der Mann hieß Hank Marple. Und damit man ihm auf Anhieb ansah, dass er ein Portier war, trug er die Uniform eines solchen. Sein Blick drückte Besorgnis aus. Möglicherweise hatte er einen Tipp bekommen, dass die Welt nicht mehr lange existieren würde. Klar, dass ein solches Wissen belastet.
Scheu schaute er nach dem Toten.
„Stört er Sie?“, fragte Rollins. Marple musste zuerst mal schlucken, um eine klare Antwort geben zu können. „Ein bisschen“, sagte er dann.
„Möchten Sie nach nebenan gehen?“, erkundigte sich Lieutenant Rollins.
„Nach nebenan?“
„Ins Schlafzimmer“, sagte Harry.
„Wenn Sie meinen ...“
„Es liegt bei Ihnen.“
„Gut. Schlafzimmer“, nickte der magere Nachtportier.
Retcliff kam mit.
Marple nahm auf dem Wasserbett Platz. Scheu wie ein Reh. Und als das Ding zu schaukeln anfing, wollte der Mann erschrocken aufspringen. Rollins legte ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter. „Kein Grund, sich aufzuregen, Mr. Marple. Versuchen Sie sich zu beruhigen.“
Der Nachtportier starrte auf die geschlossene Schlafzimmertür. „Das ist leichter gesagt als getan, Lieutenant. Möchten Sie hören, was in mir vorgeht?“
Rollins hob die Schultern. „Wenn Sie’s gern loswerden möchten.“
„Ich muss immerzu daran denken, dass der Mord passiert ist, während ich Dienst hatte. Theoretisch müsste der Killer an mir vorbeigekommen sein.“
„Theoretisch ja“, sagte Rollins. „Deshalb habe ich gebeten, dass Sie sich zu unserer Verfügung halten.“
„Es kam aber kein Fremder an mir vorüber!“, sagte Hank Marple aufgeregt. Seine nervösen Finger verhedderten sich ineinander. Retcliff lehnte sich an die Schlafzimmertür. Im Vertrauen, niemand würde sie in den nächsten fünfzehn Minuten aufmachen, sonst machte er eine saubere Rolle rückwärts. Rollins angelte sich mit dem rechten Bein einen Nylonflauschhocker herbei und setzte sich darauf.
„Es muss nicht unbedingt ein Fremder den Mord begangen haben“, sagte der Lieutenant.
Marple riss erschrocken die Augen auf. „Sir ...“
Harry Rollins winkte ab. „Wenn wir schon bei der Theorie bleiben wollen: Theoretisch könnte es auch einer der Hausbewohner gewesen sein.“
Marples Asthma wurde sofort schlimmer. „Lieutenant, das ist doch nicht Ihr Ernst, was Sie da sagen.“ Er pfiff jetzt ganz laut.
„Sie halten das für ausgeschlossen?“, fragte Rollins.
„Für ganz und gar ausgeschlossen!“, rief Hank Marple heiser.
„Ihrer Meinung nach wohnen in diesem Apartment ausschließlich saubere Leute.“
„Das will ich meinen.“
„Was halten Sie von Andrew Smith?“
„Auch ein Ehrenmann, denke ich.“
„Haben Sie eine Ahnung, warum man ihn umgebracht hat?“
„Nein, Lieutenant. Mr. Smith war ein netter, freundlicher Mensch.“
„Waren Sie schon mal in diesem Apartment?“, fragte Rollins weiter.
„Nein, Sir.“
„Haben Sie sich oft mit Mr. Smith unterhalten?“, wollte Harry wissen.
„Nein, Sir.“
„Aber Sie behaupten, Mr. Smith wäre ein netter, freundlicher Mensch gewesen.“
„So etwas sieht man einem doch an, Lieutenant.“
„Ihrer Meinung nach lag also kein Grund vor, Smith zu ermorden.“
„Absolut kein Grund, Lieutenant.“
„Und doch ist er tot.“
„Ich stehe vor einem Rätsel.“
Rollins presste die Kiefer zusammen. Er knurrte: „Sie stehen da nicht allein, Mr. Marple. Der Sergeant und ich leisten Ihnen dabei Gesellschaft. Angenommen, der Mörder ist keiner der Hausbewohner. Wir werden das natürlich noch überprüfen. Angenommen, der Killer kam auch nicht an Ihnen vorbei. Ich baue doch darauf, dass Sie in der vergangenen Nacht auf Ihrem Posten waren, Mr. Marple!“
Der Nachtportier wurde um eine Nuance bleicher. „Lieutenant, was Sie mir da offenbar zu unterstellen versuchen ...“
Rollins winkte ab. „Geschenkt, Mr. Marple. Sie müssen mich verstehen. Ich kenne Sie nicht. Ich kenne Ihre Dienstauffassung nicht. Und ich muss mir eine Basis schaffen, von der aus ich operieren kann. Also Sie waren die ganze Nacht in Ihrer Portiersloge.“
„Ja.“ Das kam knapp, aber bestimmt. Marple legte größten Wert darauf, dass der Lieutenant ihm das glaubte.
„Gut“, sagte Harry. „Der Killer kam also nicht an Ihnen vorbei. Dass er aber im Haus war, können wir nicht wegleugnen. Also: Wie kam er hier rein, ohne von Ihnen gesehen zu werden?“
„Feuertreppe“, sagte Hank Marple sofort. „Er kann nur über die Feuertreppe gekommen sein.“
„Ist die frei zugänglich?“, erkundigte sich Rollins.
„Natürlich nicht. Sämtliche Türen sind abgeschlossen, Aber, im Vertrauen gesagt, die Schlösser bringt jeder Ganove im Handumdrehen auf.“
Rollins zog die Brauen zusammen. „Auf der einen Seite ein Portier, der darauf achtet, dass nur Leute in dieses Haus reinkommen, die hier drinnen was zu suchen haben. Auf der anderen Seite Schlösser, die aufspringen, wenn man kräftig hustet.“
„’ne sogenannte Achillesferse“, warf Sergeant Retcliff ein.
„War Mr. Smith oft zu Hause?“, wollte Harry Rollins wissen.
Der Nachtportier schüttelte den Kopf. „Nein, Sir. Also ich tippe darauf, dass Mr. Smith auch noch anderswo eine Wohnung oder ein Haus hatte. Manchmal war er eine ganze Woche lang nicht hier.“
„Was für einen Beruf hatte er?“, fragte Rollins.
„Keine Ahnung. Aber er war immer gut angezogen. Also muss er einen Job gehabt haben, der ihm was einbrachte.“
„Wenn er hier war, hatte er dann oft Besuch?“, erkundigte sich Rollins.
„Er brachte hin und wieder junge hübsche Mädchen mit“, erwiderte der Nachtportier. Er lächelte. „Mr. Smith hat die Girls immer vor mir versteckt.“
„Warum glauben Sie, hat er das getan?“, fragte Harry.
Marple zuckte die schmalen Achseln. „Vielleicht waren es verheiratete Frauen. Was weiß man.“ Marple legte beide Hände auf die Brust. „Ich wäre bestimmt der Letzte gewesen, der Mr. Smith deswegen Schwierigkeiten gemacht hätte.“
„Vielleicht hatte Smith kein Vertrauen zu Ihnen, weil er das nicht wusste“, meinte Rollins.
„Scheint so“, nickte Marple.
„Wenn er nun diese Mädchen hierher in seine Liebeslaube brachte“, setzte Rollins die instruktive Einvernahme fort, „kam dann auch hin und wieder mal ein Mann mit?“
Marple hob erstaunt den Kopf. „Noch ein Mann? Sir, Sie denken doch nicht etwa, dass die dann zu dritt ...“
Rollins wies auf den riesigen Spiegel. „Wie würden Sie zu diesem Ding sagen, Mr. Marple?“
Der Nachtportier blickte Harry an, als hätte dieser den Verstand verloren. „Das ist ein Spiegel, Sir.“
„Sehen Sie, und diese Antwort ist nur bedingt richtig, Mr. Marple.“
Der Nachtportier schaute Sergeant Retcliff an. „Ist es etwa kein Spiegel?“
„Doch“, sagte Retcliff. „Es ist einer. Aber nur von dieser Seite. Von der anderen Seite kann man durch ihn hindurchschauen. Einwegspiegel nennt man das. Wir nehmen an, dass sich Mr. Smith hier auf diesem Bett mit dem Mädchen vergnügte, während hinter diesem Spiegel jemand stand, der sich an diesem Spielchen delektierte.“
Marple schüttelte heftig den Kopf. „Also nein, meine Herren. Nein, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen.“
„Eines hat sich bei unserem Gespräch aber doch herauskristallisiert: Dieses Apartment diente Smith als Liebesnest“, fasste Rollins zusammen. „Smith brachte junge, hübsche Mädchen hierher. Das waren doch Ihre Worte, Mr. Marple, oder?“
„Na ja ...“
Harry ließ keine Einwände zu. Er fiel dem Nachtportier ins Wort: „Wie ist’s mit gestern, Mr. Marple?“
„Mit gestern, Lieutenant?“
„Wen brachte Smith gestern mit?“, fragte Harry Rollins.
„Gestern? Niemanden. Gestern kam Mr. Smith allein hierher.“
„Kam das öfter mal vor?“
„Aber ja.“
Harry erhob sich. „Vielen Dank, Mr. Marple. Nennen Sie dem Sergeant noch Ihre Adresse. Dann können Sie gehen.“
Retcliff schrieb auf, was Marple ihm sagte. Der Nachtportier empfahl sich. Er lächelte unsicher. Rollins sah ihm an, dass er sich freute, die Einvernahme hinter sich zu haben.
Er verließ das Apartment fast fluchtartig. Und um den toten Mr. Smith machte er den größtmöglichen Bogen.
Rollins wies auf den Leichnam. „Was war er für ein Mensch, Cliff?“ Die Männer vom Leichenschauhaus kamen. Kräftige Kerle, denen der Anblick von Toten nichts ausmachte. Sie rochen nach Schnaps. Das Parfüm dieser Leute. Nicht immer sahen die Leichen, die sie abholten, so gut aus wie Andrew Smith. Manchmal kamen sie an einen Tatort, wo Dynamit oder ein paar Handgranaten ein makabres Puzzlespiel aus dem Opfer gemacht hatten. Wer dann keinen Schnaps braucht, der hat keine Seele in der Brust.
„Man soll über Tote nicht schlecht reden“, sagte Retcliff. „Aber Smith war ein Weiberheld, wie man so schön sagt, Chef.“
Rollins lächelte matt. „Ist das denn schlecht über ihn geredet? Vielleicht hätte er es als Kompliment aufgefasst. Weißt du, was mich an ihm stört, Cliff?“
„Das Loch in seiner Stirn.“
„Das auch“, sagte Rollins. „Und sein Name.“
„Das Chicagoer Telefonbuch ist seitenweise voll von Smiths, Lieutenant.“
„Eben. Und wie nennt sich jemand, der seinen wirklichen Namen nicht preisgeben will? Miller. Brown. Jones. Oder: Smith! Sieh zu, dass du seine Prints kriegst, bevor ihn die Leichenmänner fortschaffen. Kann sein, dass uns das eine kleine Überraschung bringt.“
Retcliff nickte und wollte starten. Rollins hielt ihn am Arm zurück. Der Sergeant schaute ihn fragend an. „Sag mal, hast du herausgekriegt, wem dieses Apartment gehört, Cliff?“
„Nicht nur dieses Apartment, das ganze Haus gehört einem einzigen Mann. Er nennt das Gebäude Bellevue-Apartments, weil man einen so herrlichen Blick auf den Michigansee hat.“
„Wie ist sein Name?“, wollte Rollins wissen.
„Quincy Danenberg“, antwortete Sergeant Retcliff. Dann ging er zu Smith, um sich dessen Prints zu holen.
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Das Haus war eine teure Angelegenheit. Allein das Darumherum musste ein Vermögen gekostet haben. Tennisplatz, Swimmingpool, Reitparcours, 18-Loch-Golfplatz. Es war alles vorhanden, was Herr Neureich für sein tägliches Trimm-dich-Programm benötigte. Sogar einen automatischen Schießstand gab es. Elektronische Trefferanzeige. Automatische Tontaubenschleuder. Nur schießen musste man selbst. Das alles gehörte Quincy Danenberg. Fünfunddreißig Jahre alt. Junggeselle. Es war ein heißer Julitag. Über den Natursteinen der Terrasse flirrte die Hitze. Im Haus drinnen zauberte die Air-Condition-Anlage eine erträgliche Temperatur in sämtliche Räume.
Jack O'Reilly schlürfte an seinem Highball. Ein permanentes Grinsen lag auf seinem Gesicht. Er trug Polaroid-Sonnenbrillen. Jetzt nahm er sie ab. Er legte sie vor sich auf den weißen Marmortisch. Die Platte kam aus Carrara. Für Quincy war eben nichts teuer genug.
„Das halt ich im Kopf nicht aus!“, tönte der schwergewichtige O'Reilly. Er war ein blonder Hüne, zwei Meter groß, ein Ex-Boxchampion von unbändiger Kraft. Und Quincy Danenberg hatte von allem noch eine Spur mehr: Von der Größe, vom Muskelumfang, von der Kraft. „Ich kann’s nicht fassen“, sagte Jack kopfschüttelnd. „Mein guter alter Kumpel Quincy, ein Millionär! Sag mir, wie du das geschafft hast! Als wir beide in derselben Boxstaffel fighteten, da warst du doch noch so arm wie ’ne Kirchenmaus.“
Danenberg lachte. „Ein Glück, dass das kein Dauerzustand blieb. Als du damals aus Glendale, Arizona, weggingst, machte ich einen Trip nach Los Angeles. Da schlug ich erst mal die gesamten Lokalgrößen zusammen. Das imponierte einem cleveren Manager. Er nahm mich unter Vertrag und brachte mich groß raus.“
O'Reilly nickte. „Ich habe ein paar Fights von dir im Fernsehen miterlebt. Du warst große Klasse.“
„Das fand seinen Niederschlag in der Börse“, erklärte Danenberg. „Du kennst mich. Ich bin von Natur aus sparsam, legte Cent auf Cent ... Und so brachte ich es mit ein bisschen Glück zu meiner ersten Million.“ Butch - wie O'Reilly wegen seiner Vorliebe für Fleischspeisen von seinen Freunden genannt wurde - riss verblüfft die Augen auf.
„Soll das heißen, dass du bei der ersten Million nicht Halt gemacht hast?“
Danenberg grinste. „Schwierig ist immer nur die erste Million. Von da an fängt die Mechanik an. Wo Tauben sind, fliegen Tauben zu. Ein gutes, und ein wahres Sprichwort“, sagte O'Reillys Freund. „Ich will nicht protzen, deshalb sage ich bloß: Ich bin zufrieden. Kennst du die Bellevue-Apartments?“
„Der mächtige Prahlbau am Michigansee?“
„Der.“
„Was ist damit?“
„Gehört mir“, sagte Danenberg.
Butch schüttelte grimmig den Kopf. „Verdammt noch mal, was habe ich falsch gemacht?“
Danenberg lachte. „Vielleicht hättest du nicht nach Chicago gehen sollen.“
„Warum erkennt man erst immer, wenn’s zu spät ist, was man für Fehler gemacht hat?“, seufzte Butch.
„Demnächst werde ich eine Nerzfarm auf die Beine stellen“, sagte Danenberg.
„Wie Max Schmeling“, sagte O'Reilly.
„Nur größer.“
„Ist ja klar“, brummte Butch.
„Ich freue mich, dass du auf meinen Anruf so prompt reagiert hast, Jack.“
„War doch selbstverständlich. Ich dachte, dich gibt’s nicht mehr. Dein Anruf traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel.“
Danenberg schob die Unterlippe über die Oberlippe. Seine braunen Augen bohrten sich in den Spannteppich. Butch nahm an, dass sein Freund für jeden Quadratmeter des Teppichs einen Goldbarren hingelegt hatte. Jetzt zogen Wolken in Quincys Gesicht auf. „Ich wollte, mein Anruf hätte bloß einen einzigen Grund gehabt, Jack: dich wiederzusehen. Mal so richtig einen draufmachen. Von alten Zeiten reden. Eine Freundschaft, die niemals ganz zu Ende gegangen war, wieder neu aufleben lassen. Aber ich hab dich nicht nur deswegen angerufen. Tut mir leid, dass es nicht so ist.“
Butch sagte spontan: „Du hast Kummer, wie? Wenn ich dir helfen kann ... Ich meine, unsere Freundschaft wäre ein beschissenes Ding, wenn der eine dem anderen nicht auch mal unter die Arme greifen würde, wenn's nötig ist.“
„Ich habe erfahren, dass du als Privatdetektiv tätig bist“, sagte Danenberg.
Butch grinste. „So was spricht sich in einschlägigen Kreisen schnell rum. Vor meinen Fäusten hat die Unterwelt ’nen gewaltigen Bammel. Was meinst du, wie viele Birnen ich schon weichgedroschen habe. Und es macht mir immer wieder aufs neue Spaß.“
„Ich möchte, dass du einen Fall für mich übernimmst, Jack.“
„Tu mir einen Gefallen, sag Butch zu mir. Ich bin das von meinen Freunden so gewöhnt, okay?“
„Okay, Butch.“
„So ist’s fein. Und nun lass mal den dicken Hund von der Leine. Worum geht’s denn?“
„Um Mord!“, sagte Danenberg.
Darauf brauchte O'Reilly einen kräftigen Schluck. „Darf ich mehr erfahren?“, fragte er anschließend. Er drehte das Highball-Glas zwischen den Handflächen hin und her, während er Danenberg gespannt anstarrte. Und Quincy Danenberg begann zu erzählen. Er sprach von Andrew Smith, von seinem rätselhaften Ende, von Lieutenant Rollins und dessen Besuch hier bei ihm ... Butch war ein ausgezeichneter Zuhörer. Und Danenberg war ein guter Erzähler. Seine Story war so perfekt, dass Butch hinterher keine einzige Frage zu stellen brauchte. Er kannte sich aus.
Danenbergs Augen wurden zu großen Fragezeichen. „Wirst du den Fall übernehmen, Butch?“
O'Reilly leerte sein Glas und stellte es auf den Carrara-Marmor. „Du hast erfahren, dass ich als Privatdetektiv tätig bin“, sagte er und erhob sich.
„Ja.“ Danenberg nickte.
„Dann hast du auch erfahren, dass ich kaum mal allein arbeite. Ich bin ein Viertel eines recht schlagkräftigen Teams ...“
„Ich dachte ... Ich wollte, dass du das Honorar allein kriegst.“
O'Reilly schmunzelte. „Nett, dass du daran gedacht hast. Was die Finanzen angeht, scheinst du wirklich an alles zu denken. Aber ich bin nicht so scharf aufs Geld. Vermutlich ist das mein Fehler. Es macht mir nichts aus, mit den anderen zu teilen. Wenn du mich allein engagierst, engagierst du lediglich ein Viertel unserer gemeinsamen Schlagkraft. Du bist besser dran, wenn du das ganze Team für dich arbeiten lässt. Komm. Ich bring dich zu Tony Cantrell. Du wirst sehen, der Mann ist ein patenter Kerl.“
O'Reilly bestand darauf, dass sich Danenberg zu ihm auf die Münch TTS setzte.
Er drehte mal kräftig am Gasgriff. Und ab ging die gelbe Post, in Richtung Western Springs.
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Harry Rollins zeichnete kleine Männchen aufs Papier. Er hatte den Telefonhörer zwischen Schulter und Ohr geklemmt. Ein unerfreuliches Gespräch mit dem Staatsanwalt. Richard Snyder. Er wusste schon wieder mal alles besser. Rollins fing an, einen Galgen zu zeichnen. Und das Männchen, das er darunterkritzelte, hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Snyder. Das gefiel Harry. Er grinste. Das Telefonat fiel ziemlich einseitig aus. Als der District Attorney schließlich doch noch zu einem Ende gekommen war, legte Harry auf und murmelte irgendetwas von „kreuzweise“.
Die Tür ging auf. Retcliff trat ein. Sein Blick fiel auf das Papier, das vor Rollins lag. „Sieht aus wie Snyder, der da am Galgen hängt, Chef.“
„Ist auch Snyder“, grinste Harry Rollins. Er knüllte das Blatt Papier zusammen und warf es in den Papierkorb.
„Gibt’s was Neues?“, wollte Rollins wissen.
„Es wird langsam, Chef.“ Retcliff rieb sich die Hände, als wäre ihm kalt. Bevor er weitersprach, ging er zum Wasserspender. Er zupfte einen Papierbecher unten raus und füllte ihn randvoll mit Wasser. Das konnte nicht gut gehen. Er verschüttete ein Viertel davon auf sein Jackett. Das war keine Eintagsfliege. Rollins war das von Retcliff gewohnt. Auch der Fluch, der darauf folgte, war immer derselbe. Der ganze Sergeant, von Kopf bis Fuß - ein Standard-Mann. Der Papierbecher landete da, wo die Männchen lagen.
„Nun?“, sagte Rollins.
„Sie hatten recht, Chef.“
„Womit?“
„Andrew Smith heißt in Wirklichkeit Alex Sossier.“
„Beide Male dieselben Initialen“, stellte Rollins fest. „A. S.“
Retcliff nickte. „Und mit diesem A. S. ist das so eine Sache.“
„Ist er mal straffällig geworden?“, fragte Rollins.
„Nein, Chef, das nicht.“
„Woher hast du seinen richtigen Namen?“, fragte Rollins.
„Er war beim Militär. Infanterie. Da jeder Mann, der eingezogen wird, seine Prints ...“
Rollins hob ärgerlich den Kopf. „Willst du mir jetzt etwa vorkauen, was ohnedies jeder weiß?“
„Also Sossier hat ein Doppelleben geführt“, sagte Retcliff. Jetzt war er beleidigt, und deshalb nur noch amtlich. „In den Bellevue-Apartments war er der Junggeselle Smith. Ein Don Juan ... Die Sache mit dem Einwegspiegel bleibt vorläufig noch ein Rätsel. Als Alex Sossier war er verheiratet. Seine Frau heißt June. Wir hatten noch nicht die Zeit, uns um sie zu kümmern.“
„Was war Sossier von Beruf?“, erkundigte sich Harry Rollins.
„Chefdekorateur der Pamberton-Warenhäuser.“
„Daher der große Geschmack beim Einrichten des Apartments.“ Rollins erhob sich. Eines der Telefone schlug an. Harry hoffte, dass es nicht wieder der übel gelaunte Snyder sein würde. Schnell nahm er den Hörer aus der Gabel. „Rollins!“
„Hallo, Harry. Hier Sinclair.“ Das war der Chef der ballistischen Abteilung.
„Ja, Sine?“
„Wir haben uns die Kugel angesehen, die den Mann im Apartment umgeschmissen hat.“
„Und?“
„Wurde vermutlich von einem 38er Smith & Wesson abgefeuert. Schriftlicher Bericht kommt umgehend.“
„Vielen Dank, Sine.“
„Keine Ursache“, sagte Sinclair. Er und Rollins legten gleichzeitig auf.
Rollins sagte zu seinem Assistenten: „Sossier wurde vermutlich mit einem 38er Smith & Wesson umgelegt.“
Retcliff nahm das mit einem kurzen Kopfnicken zur Kenntnis.
Rollins kniff nachdenklich die Augen zusammen. Seine Backenmuskel arbeiteten. „Was hat sich in diesem Bellevue-Apartment abgespielt, Cliff?“
Der Sergeant hob überfragt die Schultern. Zu sagen, auf Sossier wäre geschossen worden, wäre zu billig gewesen. Außerdem hätte eine solche Bemerkung den Lieutenant auf die Palme gebracht. Und Lieutenants auf Palmen gehören zu der gefährlichsten Sorte von Vorgesetzten.
„Ein Eifersuchtsdrama?“, fragte Rollins. Eigentlich dachte er bloß laut. Retcliff hätte nicht schon wieder mit den Schultern seine Unwissenheit dokumentieren müssen. Harry murmelte: „Ein Casanova. Er bringt laufend neue Mädchen in sein Liebesnest. Einmal, als er gerade so etwas wie einen freien Tag einlegt, kommt jemand über die Feuertreppe zu ihm und legt ihn um. Ein Könner. Einer, der einer Fliege den Rüssel abschießen könnte. Möglicherweise sogar im Flug. Warum passiert das? Warum gerade gestern?“ Von irgendwoher kam Rollins’ Blick in die Realität zurück. Der Lieutenant schaute Retcliff durchdringend an. „Hätte zu gern gewusst, was June Sossier zu alldem sagt. Du vergisst doch hoffentlich nicht, sie nach ihrem Alibi zu fragen.“
Retcliff ließ die Mundwinkel hängen. „Das ist überhaupt das Erste, wonach ich sie fragen werde!“, knurrte er. Als er sich umwandte, klopfte es. Er blieb stehen. Rollins rief; „Ja?“ Die Tür ging auf. Ein eleganter schlanker Mann mit getönter Brille trat ein. Er hatte breite Schultern und ging wie ein Raubtier, wenn es auf der Jagd ist. Seine Gesichtshaut war von der Sonne stark gebräunt. Der Maßanzug war ein einmaliges Modell von Jacques Dubois, San Francisco. Darunter ein blitzsauberes Craven-Hemd. Tony Cantrell - Rechtsanwalt und Privatdetektiv. Und ein guter Freund von Harry Rollins. Der Lieutenant streckte Cantrell erfreut die Hand entgegen.
Der Anwalt ergriff sie lächelnd. „Guten Tag, Harry.“
„Tony.“
Cantrell wandte sich an Retcliff. „Sergeant. Wie geht’s immer? Kommen Sie mit Harry aus?“
Retcliff wollte sich nicht in die Nesseln setzen, deshalb schürzte er die Lippen und meinte: „Es geht ... äh .. ich meine: Ich kann nicht klagen.“
Rollins setzte sich hinter den Schreibtisch. Cantrell nahm davor Platz. „Siehst aus, als könntest du ein paar Tage Urlaub gebrauchen, Harry.“
„Dafür siehst du so aus, als kämst du gerade von den Bahamas.“
„Wie geht’s zu Hause? Alles in Ordnung?“
Rollins lachte. „Aber ja. Helen streitet mit Sally.“ Sally war Rollins’ kleine Tochter. Helen war seine Frau. „Und wenn ich nach Hause komme, schickt Helen Sally ins Bett und streitet mit mir. Wie’s eben so in ’ner richtig glücklichen Familie zugeht.“
Cantrell wusste, dass Harry übertrieb. Rollins’ Ehe war harmonisch, geradezu mustergültig.
„Was führt dich zu uns in die Roosevelt Road, Tony?“, fragte der Lieutenant.
„Quincy Danenberg hat mich gefragt, ob ich mithelfen möchte, den Mord an Andrew Smith aufzuklären. Danenberg ist ein guter Freund von Butch, deshalb habe ich ihn nicht zur Konkurrenz geschickt. Eigentlich hatte ich vor, mit Carol für ein paar Tage in die Berge zu fahren.“
Rollins lachte schrill. „Machst du Witze? Ich sagte doch vorhin schon, dass du aussiehst, als würdest du von den Bahamas zurückkommen.“
„Carol und ich waren tatsächlich auf den Bahamas, Harry. Aber nicht zum Vergnügen“, erwiderte der Anwalt. „Wir waren beruflich da. Und wir hatten eine heiße, harte Zeit auf den Inseln. Keine Minute Urlaub. Wir waren hinter dem Chef eines Falschgeldringes her.“
„Habt ihr ihn erwischt?“, fragte Rollins.
„Leider nein. Die Haie waren schneller als wir. Er kenterte mit dem Boot. Wir konnten ihm nicht mehr helfen.“
„Und kaum heimgekehrt, wartet bereits das nächste Abenteuer auf dich..
Cantrell lächelte. „Ich will hoffen, dass wir die Sache gemeinsam so schnell wie möglich hinter uns bringen. Carol ist ein wenig abgeschlafft. Die macht mir schlapp, wenn ich ihr den wohlverdienten Urlaub noch ein paar Tage vorenthalte.“
Harry ließ die Augenbrauen nach oben schnappen. „Ich hab eine prima Idee, Tony. Warum setzen wir Carol, Helen und Sally nicht einfach in einen Wagen und schicken sie irgendwohin raus aufs Land?“
Cantrell schüttelte den Kopf. „Da würde Carol nicht mitspielen. Sie hat zwar nichts gegen Helen und Sally. Du kennst sie. Aber sie will dabei sein, wenn wo was los ist. Auch dann, wenn sie schon knapp am Umkippen ist.“
Rollins nickte. ,Ach ja. Was red ich denn. Helen würde ja auch nicht ohne mich wegfahren, Womit haben wir solche Frauen verdient, Tony.“
„Ich bin mit der meinen zufrieden.“
Rollins seufzte. „Komisch. Ich mit der meinen auch. Es liegt wohl an uns, dass sie so sind, wie sie sind.“
„Vermutlich. Darf ich jetzt mal hören, was ihr im Fall Smith bisher rausgekriegt habt?“
Der Lieutenant grinste. „Würde dem Attorney aber ganz und gar nicht gefallen, wenn er erfährt, an wen wir unser Wissen weitergeben.“
Cantrell winkte schmunzelnd ab. „Snyder ist ein Studienfreund von mir. Da kann nichts passieren. Außerdem arbeiten wir in diesem Fall nicht gegeneinander, sondern miteinander. Wenn man’s genau betrachtet, kriegst du ab sofort vier weitere Mitarbeiter zur Verfügung gestellt. Ist das nichts?“
Harry verschränkte die Arme vor der Brust, lehnte sich zurück und sagte: „Hier die Facts, die wir bisher ausgegraben haben: Erstens, Smith hieß nicht Smith, sondern Sossier. Alex Sossier. Beruf: Chefdekorateur der Pamberton-Warenhäuser ...“
Rollins ließ nichts unter den Tisch fallen. Alles, was er wusste, bekam Tony Cantrell auf Silber serviert. Der Anwalt aus Western Springs versprach, sich bei Gelegenheit für die wertvollen Hinweise zu revanchieren. Dann verließ er das Police Headquarters und begab sich unverzüglich an die Arbeit. Sobald er in seinem schwarzen Buick Electra 225 saß, griff er nach dem Hörer des Autotelefons. Er fuhr die Roosevelt Road entlang. Das Polizeigebäude blieb hinter ihm. Trotz der getönten Brille, die er trug, stach ihm die Sonne in seine lichtempfindlichen Augen, mit denen er sogar nachts wie ein Falke sehen konnte. Cantrell war nachtsichtig. Es hatte da mal ein Säureattentat auf ihn gegeben. Er war vorübergehend blind gewesen. Ein junger Augenspezialist hatte die gefährliche Netzhauttransplantation gewagt. Die Operation war ein voller Erfolg gewesen. Seither konnte Cantrell auch nachts sehen. Ein feiner Kranz weißer Narben erinnert heute noch an jenes folgenschwere Attentat.
Zwei Straßen lagen zwischen dem Buick und dem Police Headquarters Building, als sich Carol Cantrell im Bungalow in Western Springs meldete. „Ich hätte auf meinen Vater hören und diesen Ingenieur aus Philadelphia heiraten sollen“, seufzte die junge Frau des Anwalts, nachdem Cantrell ihr eröffnet hatte, dass sie bereits alle mitten in der neuen Arbeit steckten.
Cantrell schmunzelte. In Situationen wie dieser holte Carol immer diesen Schlappschwanz aus Philadelphia aus der untersten Schublade raus, um ihn ihm vor die Nase zu halten.
Der Anwalt gab lachend zurück: „Als ich das letzte Mal von deinem Ingenieur hörte, war er gerade dabei, mit Pauken und Trompeten bankrott zu machen, Darling.“
„Er wäre mit mir in die Berge gefahren!“
„Mit welchem Geld denn? Und was glaubst du, wie schön es in den Bergen ist, wenn hinter jedem Felsen ein Gläubiger lauert. Sind Butch und Silk da?“
„Butch fängt gerade an, sich zu betrinken, Silk steht unter der Dusche.“
„Sag Butch, er soll auf Milch umsteigen. Er wird heute noch gebraucht. Kann ich ihn mal haben?“
„Aber gern.“ Carols Stimme verschwamm. Vermutlich hielt sie Jack jetzt den Hörer hin. Cantrell zwang seinem Buick einen südwestlichen Kurs auf. Er lenkte das Fahrzeug mit einer Hand. Mit der anderen telefonierte er. Butch kam. Er räusperte sich in Cantrells Ohr. „Ja, Chef?“, meldete er sich dann. Der Anwalt brannte sogleich ein Auftrags-Feuerwerk ab. Jack O'Reilly und Morton Philby - den sie wegen seines Seidenticks Silk nannten - sollten sich an Alex Sossiers Arbeitsplatz mal umsehen und umhören ... Plötzlich ein Lkw von links. Cantrell musste blitzschnell auf die Bremse latschen und das Lenkrad kräftig nach rechts herumreißen. Er benötigte dafür beide Hände. Der Telefonhörer klapperte auf den Wagenboden. Cantrell presste die Zähne zusammen, als der Buick auszubrechen drohte. Mit viel Geschick verhinderte er ein Schleudern und damit eine große Katastrophe, denn es waren eine Menge Fahrzeuge unterwegs. Mindestens eines davon hätte er frontal gerammt, wenn er nicht so blitzartig reagiert hätte. Der Fahrer des Lkw verwechselte Gas mit Bremse. Dazu hupte er.
Cantrells Buick verfehlte er. Aber den nachkommenden Chrysler erwischte er dafür voll. Ein gewaltiger Aufprall. Die Chryslertüren. sprangen auf. Der Beifahrer flog in hohem Bogen aus dem Fahrzeug. Der Fahrer wäre wahrscheinlich auch davongeflogen, wenn ihn das Blech nicht eingeklemmt hätte. Der Lkw schob den Chrysler fünf Meter vor sich her. Dann stoppte er. Als der Laster stehen geblieben war, sprang dessen Fahrer heraus. Der Mann hatte ein rotes Schnapsgesicht und stand unsicher auf den Beinen. Aufgebrachte Leute kamen von allen Seiten angerannt. Sie fielen über den Mann her und wollten ihn lynchen. Cantrell hielt den Buick an. Möglicherweise brauchte der Lkw-Fahrer jetzt Hilfe. Aber da schrillten schon Polizeipfeifen. Zwei Cops kamen gelaufen. Sie warfen sich mit einer wahren Todesverachtung in die wabernde Menschenmenge, wühlten sich durch die Leiber hindurch, bis zum Kern des Ärgernisses vor. Der Lkw-Fahrer war bereits übel zugerichtet. Aber es ging ihm noch besser, als es ihm in fünf Minuten gegangen wäre. Den Cops fiel die undankbare Aufgabe zu, den unverantwortlichen Lkw Fahrer vor den wütenden Leuten in Schutz zu nehmen. Cantrell setzte seine Fahrt fort. Ein Streifenwagen wimmerte heran. Und dann flog ein Rettungsauto durch die Straße, dem Unfallort entgegen.
Cantrell angelte den Hörer des Autotelefons wieder hoch. Butch war nicht mehr dran. Der Anwalt tippte noch einmal die Rufnummer seines Bungalows in den Apparat. Butch war augenblicklich wieder da. „Was war denn auf einmal los, Chef?“
„Ein Lkw wollte mich als Kühlerverzierung haben“, sagte Cantrell trocken. „Betrunkener Fahrer ...“
„So ein Schwein!“, ereiferte sich O'Reilly.
„Er hat bereits gekriegt, was er verdiente“, erwiderte Cantrell. „Du weißt Bescheid. Sobald Silk unter der Dusche hervorkommt, macht ihr euch auf die Socken.“
„Okay, Chef.“
„Gib mir jetzt Carol.“
„Hier ist sie schon“, sagte Butch.
„Ja, Tony?“
„Du kennst doch die Bellevue-Apartments.“
„Natürlich.“
„Setz dich in deinen VW und fahr da mal hin. Unterhalte dich ein wenig mit dem Tagportier. Steck ihm Geld zu. Das macht solche Leute in der Regel sehr gesprächig.“
„Was will ich von ihm wissen?“, fragte Carol.
„Lass dir alle Mädchen beschreiben, die Alex Sossier in letzter Zeit angeschleppt hat. Vielleicht ist ein Girl dabei, das wir durch Zufall kennen. Während du den Tagportier anzapfst, mache ich dasselbe beim Nachtportier. Jeder Hinweis kann wichtig sein. Selbst der kleinste.“
„Ich weiß, worauf es ankommt“, sagte Carol.
„Umso besser. Also dann, Darling. An die Arbeit.“
Die Pamberton-Warenhäuser hatten eine zentrale Verkaufsförderungsabteilung. In der Praxis hieß das, dass die Schaufenstergestaltung an einem einzigen Ort entworfen, die Dekorationen für sämtliche Schaufenster zentral angefertigt und später an alle Pamberton-Häuser ausgeliefert wurden. Das sparte Zeit, Geld und Nerven. Und es gab die Garantie, dass sämtliche Pamberton-Auslagen überall in Chicago wie ein Ei dem anderen glichen. Hermitage Street 2635. Das war die Anschrift der Zentrale.
Ein schlanker Bau aus Glas und Beton. Die Fenster waren nicht zu öffnen. Die Luft, die die Klimaanlage erzeugte, war weit besser als die, die von draußen reingekommen wäre. Eine Luft, mit Ionen aufgeladen, mit Ozonen angereichert. Eine Luft wie in den Rocky Mountains, ziemlich hoch oben, weit über der Baumgrenze. Ideale Arbeitsbedingungen also. Drei Geschosse dieses Hauses gehörten Pamberton. Hier saß die Nervenzentrale der Verkaufsförderungsabteilung, Hier wurde in nächtelangen Sitzungen entschieden, wie die Schaufenster zu Ostern, Pfingsten, Weihnachten und dazwischen auszusehen hatten. Und Alex Sossier hatte hier das große Zepter geschwungen. Bis gestern. Heute saß er vermutlich auf Wolke sieben und dachte darüber nach, was er falsch gemacht hatte.
Butch und Silk falteten sich aus dem schwarzen Chevrolet Chevelle Malibu Coupe. Philby - er sah aus wie ein sensibler Künstler, hatte aber brettharte Handkanten - richtete die elegante Krawatte. Blau mit weißen Tupfen. Ein gleichfarbiges Stecktuch in der Brusttasche des gut geschnittenen Sommeranzugs.
O'Reilly war die adrette Aufmachung seines Freundes ein Dorn im Auge. Er selbst trug Jeans und ein T-Shirt, das seinen Muskelpaketen kaum Herr wurde. Grinsend stichelte er: „Bist ja schon schön genug, Kleiner. Und die Krawatte hat sich seit unserer Abfahrt von Western Springs um keinen Millimeter verschoben. Also was soll die dämliche Herumfummelei?“
Morton Philby warf dem Freund einen ärgerlichen Blick zu. „Hör auf, an mir herumzunörgeln. Jeder soll auf seine Art glücklich werden. Habe ich mit einem Wort erwähnt, dass du aussiehst wie ein Penner?“
Butch blieb stehen. Er ließ die Faust wie einen Hammer auf und ab wippen. „Den Penner nimmst du jetzt auf der Stelle zurück!“
„Aber ja“, sagte der drahtige Detektiv. Er grinste. „Die Wahrheit ist eben nicht jedermanns Sache.“
Silk ging weiter. Butch folgte ihm wie ein Straßenräuber. „Dir gewöhne ich dein loses Mundwerk auch noch mal ab!“, schnaubte der blonde Hüne.
„Ich hab mich nur verteidigt“, erwiderte Philby. Sie erreichten den gläsernen Eingang des Glas-Beton-Hauses. Ein Portier mit Holzbein plusterte sich vor ihnen auf und zeigte ihnen, dass er sein Gehalt nicht umsonst bekam. Sie wiesen ihre Detektivlizenzen vor, sprachen von Sossier und dass sie gern mit einigen seiner Kollegen reden würden. Der Portier nickte gnädig und gab ihnen einen Leitfaden mit auf den Weg.
Im Erdgeschoss befanden sich die Werkstätten. Hier wurden die entworfenen Dekorationselemente angefertigt.
Im ersten Stock gab es Probekojen, die Schaufenstergröße hatten. Hier wurde sozusagen der Dekorationsprototyp aufgebaut. Wenn die Leute mit der Arbeit fertig waren, kam Mr. Pamberton höchstpersönlich hierher. Und er sagte dann entweder: „Gut!“ oder: „Scheiße!“. Im ersten Fall breitete sich die Dekoration binnen 48 Stunden dann in Chicago wie eine Seuche aus. Im zweiten Fall gab es Ratlosigkeit unter den Angestellten, heiße Köpfe, hitzige Debatten, neue Vorschläge und andere Entwürfe sowie Überstunden bis in die späte Nacht hinein, damit die Termine nicht über den Haufen geschmissen wurden, denn das hätte ein mächtiges Chaos ausgelöst. Aber dazu war es in all den Jahren, in denen diese Verkaufsförderungsabteilung hier schon tätig war, noch kein einziges Mal gekommen. Und darauf waren die Angestellten mit Recht stolz.