www.lenos.ch
Unter diesen Linden
Die Übersetzung aus dem Französischen wurde von der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia unterstützt.
Der Lenos Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.
Titel der französischen Originalausgabe:
Vivre près des tilleuls. Par Esther Montandon
Copyright © 2016 by Editions Flammarion, Paris
E-Book-Ausgabe 2017
Copyright © der deutschen Übersetzung
2017 by Lenos Verlag, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Neeser & Müller, Basel
Coverillustration: Neubau Welt Archive. © Neubau, Berlin
eISBN 978 3 85787 960 9
www.lenos.ch
Das Kollektiv AJAR
Das Kollektiv AJAR (Association de jeunes auteur-e-s romandes et romands) gründete sich im Januar 2012. Seine Mitglieder teilen dieselbe Leidenschaft: die Möglichkeiten auszuloten, wie in einer Gruppe Literatur entstehen kann. Unter diesen Linden ist der erste Roman des Kollektivs. Er wurde mit der Ehrengabe zum Gottfried Keller-Preis ausgezeichnet. www.jeunesauteurs.ch.
Die Übersetzerin und der Übersetzer
HILDE FIEGUTH, geboren 1944 in Schwabach, lebt seit 1983 in Freiburg i. Ü. Langjährige Beschäftigung mit meist literaturbezogener Malerei. Seit 2000 freie Literaturübersetzerin; sie hat vor allem Werke von S. Corinna Bille und, zusammen mit Rolf Fieguth, von Maurice Chappaz und Nicolas Bouvier ins Deutsche übertragen; für den Lenos Verlag übersetzte sie zudem Jean-François Haas und Mahi Binebine. ROLF FIEGUTH, geboren 1941 in Berlin. Studium der Slavistik und der osteuropäischen Geschichte in Berlin und München. 1983–2007 Professor für slavische Sprachen und Literaturen an der Universität Freiburg i. Ü. Wissenschaftliche und literarische Übersetzungen aus dem Russischen, Polnischen und Französischen. www.fieguth.ch.
Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Fiktion ist nicht das Gegenteil des Wirklichen
Als Esther Montandon mir 1997 ihr Archiv anvertraute, sah ich mich einer grossen Anzahl unterschiedlichster Dokumente gegenüber: Postkarten, amtliche Schriftstücke, Briefe, Zeitungsausschnitte … Dazu all das, was unsereinem bei jedem Schriftsteller das Herz höherschlagen lässt: einzelne hingekritzelte Entwürfe, Typoskripte mit oder ohne handschriftliche Anmerkungen, drei Notizhefte.
Ich war dankbar für diesen Vertrauensbeweis und übernahm die Aufgabe mit Begeisterung, die allerdings angesichts der Fülle des Materials mehr und mehr dahinschwand. Der Tod der Autorin im Jahr darauf belebte zwar eine Zeitlang das Interesse des Publikums an ihrem Werk, aber dann geriet es allmählich in Vergessenheit.
Manch einer hielt ihr anspruchsvolles Œuvre für zu schmal – Esther Montandon hat zu Lebzeiten nur vier Bücher veröffentlicht. Oft wird sie im Übrigen auf Klavier im Dunkeln (1953) reduziert, ihren ersten und bekanntesten Text. Damit unterschätzt man aber den Reichtum der drei anderen Bände. Man muss nur Die Kraftprobe (1959) wieder lesen, das bissige und jubelnde Porträt einer zwischen Tradition und Moderne schwankenden Schweiz, oder Drei grosse Affen (1970), Novellen, in denen die Autorin mit ihrer schonungslosen Schilderung einer patriarchalischen Gesellschaft ihr feministisches Engagement bekundet. Und schliesslich bieten ihre Kindheitserinnerungen, in den Fragmenten der Unverlierbaren (1980) wunderbar zu einem Strauss gebunden, in puristischem Stil einen poetischen, dokumentarischen Blick auf das Ruanda und die Schweiz der 1930er Jahre. Mehr gibt es nicht.
Der gesamte Nachlass Esther Montandon enthält nur Material ab dem Beginn der 1960er Jahre. Alles Vorherige – Hefte, Entwürfe, Manuskripte, laufende Projekte, die in ihrer Korrespondenz bezeugt sind – fiel dem Autodafé nach dem Unfalltod ihrer Tochter Louise am 3. April 1960 zum Opfer. Von dieser Tragödie, nach der die Autorin zehn Jahre lang keine Veröffentlichung mehr vorlegte, findet sich in Drei grosse Affen und auch in den Unverlierbaren keine Spur. Nie hat Esther Montandon über den Verlust ihrer Tochter geschrieben. Das war jedenfalls lange die Meinung.
Wie soll ich also meine Gefühle beschreiben, als ich an einem Wintermorgen im Jahr 2013 das mir anvertraute Material in Schachteln einordnete und dabei den Inhalt eines Umschlags mit der Aufschrift »Rechnungen« entdeckte, eines Umschlags, den ich hundertmal in der Hand gehabt haben muss, ohne ihn zu öffnen – und darin befand sich ein kleines Bündel Manuskriptseiten.
Und auf einmal ist alles da, wunderbarerweise bewahrt.
Es ist kein Roman, auch kein abgeschlossenes Werk, sondern eine Sammlung von Eindrücken, Geschehnissen, Gedanken und Erinnerungen. Eine kleine Soziologie der Trauer. Dass dieses Manuskript nicht vernichtet wurde, lässt Deutungen zu. Wollte Esther Montandon, dass ihre so persönlichen Texte jemandem in die Hände fallen?
Wie dem auch sei, eine genauere Betrachtung der Fragmente ergibt, dass sie sich wahrscheinlich über den Zeitraum zwischen Anfang 1956 (Louise wurde am 4. Oktober geboren) und den zwei Jahren nach Louises Tod am 3. April 1960 verteilen. Die Blätter sind weder nummeriert noch datiert, für die vorliegende Ausgabe wurden sie sorgfältig geordnet, um die Lektüre zu erleichtern. Bemerkungen in eckigen Klammern stammen selbstverständlich nicht von der Autorin.
In Unter diesen Linden – den Titel hat nicht Esther Montandon gewählt, aber er bezieht sich auf eine Schlüsselstelle – oszilliert die Erzählung zwischen Vergangenheit und Gegenwart; man kann nicht mit Gewissheit feststellen, welche Episoden im Zeitpunkt ihres Erlebens und welche im Nachhinein aufgeschrieben wurden. Aber die genaue Chronologie spielt kaum eine Rolle. Esther scheint sich vielmehr wie im Nebel durch diese Momente zu tasten, sie bahnt sich einen Weg durch ein Labyrinth aus intimen Reflexionen und gesellschaftlichen Anforderungen.
Kann man sich überhaupt um jemand anderen kümmern als um sich selbst bei einem solch unwiederbringlichen Verlust? Esthers Beziehung zu ihrem Mann Jacques war schon von der Schwierigkeit, ein Kind zu bekommen, geprägt, sie wird durch das Drama weiter zermürbt. Trotz aller Differenzen (das Paar trennt sich in den 1970er Jahren) kommt es nie zur Scheidung. Respekt war an die Stelle der Liebe getreten.
Nichts blieb der Autorin erspart. Das heisst aber nicht, dass nicht auch Glücksmomente auf diesen Seiten vorkommen. Esther Montandon bleibt sich treu und gestaltet trotz ihrer Verwundung geduldig und hartnäckig einen Schmerz, der nur ihr gehört. Die Erinnerung an Louise, für immer tragisch und auf ewig glücklich und im Schreiben verklärt, ist nun ganz und gar Literatur geworden.
Vincent König,
Verwalter des Archivs Esther Montandon
Es brauchte fast zehn Jahre. Fast zehn Jahre lang hing mein Menstruationskalender mit allen Daten im Schlafzimmer. Zehn Jahre lang warteten wir beklommen den kompetenten Bescheid erst des Arztes, dann eines grossen Spezialisten ab, dem wir die Entscheidung über das Daseinsrecht unseres Kindes übertragen hatten. Zehn Jahre, in denen wir regelmässig eine neue Grossmutterbehandlung auf uns nahmen, an die wir selbst nicht glaubten. Schon seit Monaten wurde das Thema dann überhaupt nicht mehr zur Sprache gebracht. Jacques hatte verstanden, dass dies unweigerlich einen Sturm ausgelöst hätte. Je länger es nicht klappte, desto weiter entfernten wir uns voneinander. Schliesslich gab ich es auf, liess los, fing an, um dieses Kind zu trauern, das nicht geboren werden sollte. Der Arzt sagte mir später, dieser Verzicht habe das Wunder sicherlich erleichtert.