Wo um alles in der Welt war nur ihr Slip? Nicht, dass Amelia nicht ohne ihn gehen konnte oder der Verlust ihrer Unterwäsche sie schmerzen würde, aber hier wollte sie ihn nun wirklich nicht lassen. Amelia kniete sich hin und suchte unter dem Bett. Nichts. Abgesehen von den zwei benutzten Kondomen. Unschön, aber das Risiko, Marcus mit einer ausgeweiteten Suchaktion aufzuwecken, wollte sie definitiv nicht eingehen. Leise sammelte sie ihre übrigen Kleidungsstücke ein und schlich auf Zehenspitzen zur Tür. Sollte das lautlose Verlassen von Zimmern irgendwann einmal eine olympische Disziplin werden, dann wäre Amelia eine Medaille sicher. Sie blickte auf ihre Uhr und schlüpfte eilig in ihre Sachen.
Als Amelia auf die Straße trat, umwehte sie ein Hauch kalter Morgenluft. Sie schüttelte sich. Vor Kälte und wegen der letzten Nacht.
Marcus! Marcus aus dem Schwimmteam. Ihm lagen die Mädchen zu Füßen. Es gab dafür durchaus Argumente. Wobei, in Amelias Augen eigentlich nur eines – sein Oberkörper. Ansonsten fand sie ihn irgendwie schleimig, was nicht nur an seinen geschniegelten Haaren lag. Er war einfach der Prototyp eines Harvard-Schnösels. Ein Rich Kid. Sie hatte nur mit ihm geflirtet, weil diese dürre Theta-Tussi ihn so angehimmelt hatte und Amelia sie damit ärgern wollte. Mehr nicht. An irgendeinem Punkt des Abends war das außer Kontrolle geraten. Der Gin Tonic war daran vermutlich nicht ganz unschuldig.
Passiert.
Es war ja auch nicht so, dass sie Rich Kids diskriminierte. Sie erschienen ihr nur meist schrecklich eindimensional. Geld, wie man es ausgab und zur Schau stellte, bestimmte ihr Leben. Amelia mochte Menschen, die eine Geschichte hatten. Eine, in der es Probleme gab, die nicht mit Daddys Kreditkarte gelöst werden konnten. Das war eine von Amelias selbstzerstörerischen Vorlieben – fand Catherine.
Apropos Catherine.
Amelia zog ihr Telefon aus der Tasche. Ihr Display zeigte bereits sieben Anrufe und drei WhatsApp Nachrichten von ihrer Pflegeschwester an.
Ich hoffe, du kommst bald.
Wo bleibst du?
Und: Alles okay?!
Catherine würde sie umbringen. Die Benutzung eines Ausrufezeichens in ihrer Nachricht deutete stark darauf hin. Für Catherine war dies die schriftliche Form des Anschreiens und damit unschicklich. Die Lage war ernst.
Bin auf dem Weg, schrieb Amelia zurück und eilte barfuß quer über den feuchten Rasen.
Es war verhältnismäßig ruhig auf dem Campus. Ein paar kleine Grüppchen hier und da, vereinzelte Jogger und die obligatorische Besuchergruppe, die ihren Weg kreuzte. Wie so oft wurde diese von Laura, eine von Catherines Freundinnen, geführt. Empört sah Laura Amelia an.
»Was bist du nur für ein Vorbild für diese jungen Menschen?«
Amelia wusste, wie sie aussehen musste. Ihre braunen Locken waren zwar immer etwas wirr, gerade aber ziemlich messy. Dazu die Mascara-Reste unter ihren Augen. Viel Fantasie brauchte man für die Deutung nicht.
Ihr war das egal. Für Amelia war es eine Frage der Gleichberechtigung. Es war nicht so, dass Frauenorganisationen sie als Rednerin einluden. Ein Skandal. Aber ernsthaft: Für gleiche Bezahlung zu kämpfen war ehrenhaft, für das Recht, sich genauso zu amüsieren wie ein Kerl, aber verpönt? Warum Geld wichtiger sein sollte als ein selbstbestimmtes Leben, wollte ihr nicht einleuchten.
Amelia musterte Laura. Sie trug einen Harvard-Hoodie, der mit der Farbe der Backsteingebäude hinter ihr verschmolz.
»Im Gegensatz zu dir strebe ich es überhaupt nicht an, ein Vorbild zu sein. Deshalb muss ich auch nicht ständig so eine verlogene Show abziehen und lebe einfach das Motto der Uni.« Amelia deutete auf das Wappen von Lauras Pullover.
Veritas. Wahrheit.
Das Motto der Universität.
Dann wandte sie sich der Gruppe zu. »Glaubt mir, ich kenne ihren Vortrag. Er geht ungefähr so: langweilig, langweilig, langweilig. Aber lasst euch nicht einschüchtern. Auch in Harvard kann Studieren Spaß machen.«
Die Jungen reckten ihre Fäuste in die Luft und grölten »Veritas«, während die Mädchen tuschelten. Laura senkte den Kopf und murmelte etwas vor sich hin.
»Viel Spaß noch«, rief Amelia ihnen zu und lief weiter.
Sie musste sich nun wirklich beeilen. Catherine war bestimmt schon außer sich. Und ihren Zorn heraufzubeschwören, war keine gute Idee. Schließlich konnte Catherine allein durch die Kraft ihrer Gedanken töten. Sie könnte Amelias Blut zum Kochen bringen, ihr Herz aufhören lassen zu schlagen. Möglichkeiten gab es viele. Für gewöhnlich wandte ihre Pflegeschwester ihre Gaben jedoch nicht für etwas Profanes wie einen Rachefeldzug an. Das letzte Mal hatte sie das vor drei Jahren gemacht. Amelia war eigentlich mit Oliver Bannermann verabredet gewesen. Weil Catherine aber insgeheim für ihn schwärmte, verpasste sie ihr mit ihrer Gabe, die Körperfunktionen anderer zu kontrollieren, einen Durchfall. Amelias Date fand daraufhin mit der Kloschüssel und nicht mit Oliver statt. Rückwirkend betrachtet fand sie es lustig. Aber selbst damals vergab sie ihrer Schwester schnell. Sie war nicht der Typ, der lange nachtragend sein konnte. Catherine hingegen hielt sich das selbst ewig vor. Diese Entgleisung.
Seitdem hatte Amelia nie wieder erlebt, dass ihre Schwester die Kontrolle über sich verlor. Und sie hoffte, dass es auch heute nicht so weit kommen würde.
Noch während sie den Schlüssel ins Schloss steckte, öffnete Catherine die Tür von innen. Man musste ihre Pflegeschwester schon gut kennen, um zu wissen, dass sie sauer war, denn Catherine war ungemein beherrscht. Aber die Art, wie sich ihr Kiefer anspannte, ließ keinen Zweifel zu.
»Wo zur Hölle hast du gesteckt?«, fauchte Catherine sie an.
Beschämt senkte Amelia den Blick. »Es tut mir leid.« Tat es wirklich. »Aber so spät ist es doch noch gar nicht. Wir haben noch genug Zeit, um …«
Catherine ließ sie mitten im Satz stehen. Mit langen, schnellen Schritten durchquerte sie den schmalen Flur Richtung Wohnzimmer. »Ach, haben wir das, ja? Es ist elf Uhr. Ich hatte mit Pascal vereinbart, dass er seinen Laden von zehn bis zwölf für mich schließt, damit wir uns ungestört umsehen können. Und jetzt!« Das Sonnenlicht fiel durch die raumhohe Fensterfront auf Catherines Gesicht und zeichnete ihre Züge weich. Amelia konnte das jedoch nicht täuschen. Sie kannte ihre Schwester und das verräterische Zucken ihrer Schläfe. Ein falsches Wort und ihre Pflegeschwester würde anfangen zu weinen. »Es tut mir ehrlich leid. Aber wir können die Kleider doch genauso gut aussuchen, wenn wir nicht allein im Laden sind.«
»Natürlich können wir das. Ich kann ja auch selbst meine Maße nehmen und ein Kleid bei Amazon bestellen.«
Gott bewahre! Manchmal war ihr Catherine ein Rätsel. Wie konnte jemand, der jedes Wochenende in der Suppenküche aushalf, nur solche Meldungen vom Stapel lassen? »Du bist manchmal so versnobt«, sagte Amelia. »Aber weil das eine große Sache für dich ist, sehe ich es dir nach.«
»Und eben weil es eine große Sache für mich ist, hätte ich mich gern auf dich verlassen. Aber das war wohl ein Fehler. Dir war es ja anscheinend mal wieder wichtiger, einen Typen abzuschleppen.« Catherines harte Worte hallten durch den Raum. Selbst die Backsteinwände, die sonst jeden Lärm fraßen, verschluckten den Zorn, der darin schwang, nur zögerlich.
»Cathy«, sagte Amelia entschuldigend.
»Nichts Cathy. Sieh dich doch an. Ist dir das nicht peinlich?«
»Peinlich?«
»Na, dieser morgendliche Walk of Shame über den Campus.«
Amelia schnaufte. »Mir ist es nicht peinlich. Aber dir offensichtlich.«
Seufzend nahm Catherine auf dem weißen Sofa Platz. Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust und sah Amelia fest in die Augen. »Natürlich ist es das, Amelia. Ich hoffe, es hat sich wenigstens gelohnt.«
»Geht so. Das zweite Mal war ganz okay.«
Lachend schüttelte Catherine den Kopf. »Ich wusste gar nicht, dass du zwei Mal mit dem Gleichen schläfst.«
»Ich auch nicht. Aber das erste Mal war so enttäuschend, das konnte Marcus mit seinem Über-Ego nicht so stehen lassen.« Amelia klopfte Catherine spielerisch auf den Oberarm und ließ sich auf der Armlehne neben ihr nieder.
»Marcus? Der Schwimmer-Marcus?«
»Jep.«
Catherine riss ihre Augen weit auf. »Du weißt schon, dass er seine Abenteuer immer filmt und großzügig vorführt?«
»Ähm, nein.« Amelia biss sich auf die Zunge. »Stand das in deinem Pornhub-Newsletter?«
»Haha«, sagte Catherine und stemmte ihre Hände in die Hüften. »Ich weiß es von einer Freundin.«
»Kümmerst du dich drum?«
»Wieso sollte ich?«, fragte Catherine bitter und wandte den Kopf von ihr ab.
»Stell dir vor, du tust es nicht und das Ganze dringt an die Öffentlichkeit … unsere Eltern bekommen davon Wind … Und ich werde mit enttäuschten Blicken, aber noch viel schlimmer, endlosen Moralpredigten gestraft.« Amelia seufzte und sah zu Catherine. »Worauf würde das hinauslaufen?«
»Darauf, dass du bekommst, was du verdienst?«
»Es würde darauf hinauslaufen, dass ich schrecklich, schrecklich genervt bin. Eher angepisst. Und du weißt doch, wie ich dann so reagiere und zu ertragen bin, oder?«
»Mhm.«
»Und wen treibe ich mit meinen Launen dann immer in den Wahnsinn? Dich. Genau. Siehst du jetzt, worauf das hinauslaufen würde?«
»Miststück«, zischte Catherine. »Ich hasse es, meine Gaben einzusetzen, um deinen Mist geradezubiegen.«
Amelia stand auf, setzte sich auf den Couchtisch genau gegenüber von Catherine und legte ihren Hundeblick auf. »Und trotzdem wirst du es tun, oder?«
»Ja, aber nicht für dich. Sondern weil das irgendwann zum Skandal werden könnte. Nicht für dich. Für unsere Familie.« Catherine lächelte versöhnlich, setzte dann aber nach: »Und hör auf, dich ständig auf diesen Tisch zu setzen. Er ist ein handgefertigtes Unikat, ungeleimt aus dem Stamm eines Nussbaums gearbeitet.«
Amelia erhob sich. Die Nerven ihrer Schwester waren heute schließlich schon strapaziert genug. Sie nahm Catherines Hände in ihre und drückte sie sanft. »Danke.«
Catherine erwiderte die Geste und Amelia war froh, dass die Wogen wieder geglättet waren. »Ich springe nur schnell unter die Dusche und dann gehen wir dir das schönste Kleid in der Geschichte des Maturity Feasts aussuchen. In Ordnung?«
Catherine nickte. »Aber beeil dich.«
Amelia nahm sie in den Arm. »Mach ich.«
»Gut, du riechst nämlich fürchterlich«, sagte Catherine und kicherte.
»Das ist der Geruch von Sünde«, zwinkerte ihr Amelia zu. »Du kommst auch noch auf den Geschmack.«
Sie drückte ihrer Schwester einen feuchten Schmatz auf die Wange, den Catherine angewidert wegwischte, und verschwand dann ins Badezimmer.
Amelia parkte ihren Maserati auf dem Gehsteig vor dem gorgeous4gorgeous und warf dem Parkboy ihren Schlüssel zu.
»Aber Vorsicht. Das Schätzchen ist neu.«
»Selbstverständlich«, gab dieser pflichtbewusst zurück.
Catherine blickte sie tadelnd an. Sie war verdammt gut darin, ihr ein schlechtes Gewissen zu machen. In diesem Punkt jedoch nicht. Ihr Cabrio war ein Traum. Der perlmuttfarbene Lack und das rote Leder. Es war genau die Mischung aus eleganter Aggressivität, in die sie sich verliebt hatte. Und das unsichere Auftreten des Parkboys gefiel Amelia gar nicht. »Aber …«
»Nichts aber«, sagte Catherine barsch und zog sie am Arm mit sich.
Es war nicht nötig, die Ladentür selbst zu öffnen. Eine Mitarbeiterin machte das für sie und unmittelbar danach wurden sie von Pascal, dem Inhaber des gorgeous4gorgeous, begrüßt. Catherine kannte ihn gut. Schließlich war sie häufig auf irgendwelchen Chichi-Veranstaltungen, für die sie ein Abendkleid brauchte. Und Pascal war der Mann ihres Vertrauens, wenn es darum ging, sie ins rechte Licht zu rücken.
Nachdem Catherine links und rechts ein Küsschen bekommen hatte, war auch Amelia an der Reihe.
»So, meine Hübschen«, sagte er und klatschte erfreut in die Hände. »Ich habe alles vorbereitet. Kommt mit mir nach hinten.«
Catherine und Amelia folgten ihm durch das Geschäft. Der Showroom war sehr minimalistisch und Kleiderstangen suchte man dort vergebens. Dafür gab es Schaufensterpuppen mit teils üppigen, teils gewagten Kreationen, Tische mit Stoffmustern und rundherum Videoleinwände, auf denen Models diverse Schnitte präsentierten. Erst im hinteren Teil des Ladens türmten sich die exklusiven Roben.
»Hast du alle Modelle hier, die wir besprochen haben?«, fragte Catherine.
Pascal sah sie mit gespielter Empörung an. »Natürlich, meine Hübsche. Aber glaub mir, du willst gar nicht wissen, was ich dafür alles machen musste.«
Amelia wollte es definitiv nicht wissen.
»Du bist ein Schatz«, hauchte Catherine ihm zu.
Das war er. Vor allem, weil er mit keinem Wort erwähnte, dass er seinen Laden inklusive Personal seit zwei Stunden sinnloserweise für sie beide geschlossen hatte.
Pascal schnippte zweimal mit den Fingern und eine seiner Assistentinnen eilte herbei. Sie schob einen Kleiderständer, der mit prachtvollen Roben bestückt war, vor sich her. Catherine grinste wie ein Honigkuchenpferd. In der Hinsicht war sie echt süß. »Gott, ich bin so aufgeregt«, entfuhr es ihr.
»Ich auch«, erwiderte Amelia. Und es war nicht einmal komplett gelogen. Sie war tatsächlich neugierig, was für ein Kleid sich ihre Schwester aussuchen würde. Wie zu erwarten war, stachen Amelia haufenweise pudrige Farbtöne ins Auge.
Catherine begutachtete den Berg an Kleidern. »Beginnen wir mit meinen Favoriten und arbeiten uns durch die Auswahl.«
Amelia ließ sich auf einen der samtigen Sessel sinken. »Klingt nach einem Plan.«
»Das hellblaue Marchesa.«
»Patricia«, sagte Pascal. Seine Assistentin holte das betreffende Kleid heraus und hängte es Catherine in die Kabine.
Ihre Schwester war auf der Suche nach einem Kleid für das Maturity Feast. Das Fest zu Ehren ihres einundzwanzigsten Geburtstags. Dem Tag, an dem sie ein vollwertiges Mitglied der Gesellschaft werden würde. Amelia fragte sich, was sie wohl veranstalten würde, wenn sie tatsächlich heiratete.
»Darf ich meinen Schönheiten ein Gläschen Champagner anbieten?«
»Gern!«, rief Amelia augenblicklich.
»Für mich nicht«, sagte Catherine. »Ich muss noch fokussiert sein. Und du solltest auch nicht zu viel trinken.«
Amelia nahm das Glas, das Patricia ihr entgegenhielt. »Ja, Mama.«
»Ich wünschte, du würdest das etwas ernster nehmen. Mir zuliebe.« Catherine verdrehte ihre Augen und verschwand in der Kabine.
Amelia wünschte sich, ihre Schwester würde das etwas weniger ernst nehmen. Nicht für Amelia, sondern ihr selbst zuliebe. Sie verstand nicht, wie sie sich so auf diesen Tag freuen konnte. Es war nichts falsch daran, sich auf seinen einundzwanzigsten Geburtstag zu freuen. Die meisten taten das jedoch, weil sie sich dann endlich offiziell betrinken konnten. Amelia würde es nächstes Jahr, wenn es bei ihr so weit war, auf jeden Fall ordentlich krachen lassen. Aber wegen dieser archaischen Zeremonie? Der Gedanke daran, potentielle Heiratskandidaten vorgestellt zu bekommen, rief bei Amelia Fluchtgedanken und Brechreiz hervor. Vorfreude sicher nicht. Aber Amelia betraf das ja auch nicht. Für jemanden mit so minderwertigen Gaben wie sie betrieb die SHS diesen Aufwand nicht. Zum Glück.
Für eine Superia mit Catherines Gaben wurden jedoch keine Kosten und Mühen gescheut, den perfekten Zuchtbullen zu ermitteln.
Die SHS, die Superior Human Society. Manchmal fragte sich Amelia wirklich, was das Human im Namen zu suchen hatte. Sie konnte an all dem nichts Menschliches finden. Und wenn man das Human wegließe, wäre man wieder direkt am Ursprung des Programms. Bei verqueren Ideologien und Rassenhygiene. Natürlich sprach man darüber nicht. Unschicklich.
Ob Amelia Catherines Euphorie nun verstand oder nicht, große Erwartungen führten unweigerlich zu großen Enttäuschungen. Und davor würde sie ihre Schwester zu gern bewahren.
Während Catherine in der Kabine mit Patricias Hilfe in Kleid Nummer eins schlüpfte, nippte Amelia an ihren Champagner. Besser. Viel besser. Der Vorhang zu Catherines Kabine wurde beiseitegeschoben und ihre Schwester trat in den Raum. Genau so hatte Amelia sich das Kleid der Wahl vorgestellt. Catherine sah aus wie eine Disney-Prinzessin – einfach grauenvoll.
»Und?«, fragte Catherine erwartungsvoll.
»Hinreißend«, sagte Pascal und meinte es vermutlich auch so.
»Zu viel von allem.« Amelia seufzte und ließ sich tiefer in den weichen Sessel sinken. »Nächstes Kleid.«
Prompt erntete sie empörte Blicke von allen Seiten.
»Das ist alles, was dir dazu einfällt?«, fragte Catherine.
Natürlich hätte Amelia noch mehr auf Lager. Nur würde nichts davon die Sache besser machen. »Ja, nächstes Kleid.«
Enttäuscht wandte sich Catherine an Pascal und kündigte an, was sie nun probieren wollte. Sie schlüpfte in eine Reihe weiterer Kleider, die für Amelia alle mehr oder weniger gleich aussahen.
»Was stimmt denn damit nun wieder nicht?«, fragte Catherine und blickte auf ihr Kleid hinab. Es hatte eine rosa Korsage und einen weißen Rock.
»Was damit nicht stimmt? Du siehst aus wie ein Strawberry Cheesecake. Also ehrlich. Wenn ich ein Mann wäre, mich würde das in die Flucht schlagen.«
Catherine zog eine Schnute und betrachtete sich im Spiegel. »Du hast ja recht. Ich sehe aus wie eine Barbie und nicht wie eine Frau, die bald heiratet.«
Amelia erhob sich von ihrem Sessel und ging auf einen Kleiderständer zu, der nicht zu Catherines Auswahl gehörte. »Dann werden wir das Ganze mal etwas verkürzen.« Amelia zog ein rotes Kleid vom Ständer und hielt es Catherine hin. »Probier das mal an.«
»Elli Saab«, murmelte Pascal, während Catherine das Kleid mit einem skeptischen Blick entgegennahm.
»Schau nicht so. Wir brauchen jetzt mal was ganz anderes, um das Richtige zu finden.«
Pascal stand in Denkerpose neben ihnen und Amelia musste ein Lachen unterdrücken. Schließlich ging es nur darum, ein Abendkleid auszusuchen. Die beiden taten gerade so, als ginge es um die Rettung der Welt. Mindestens. »Meine Hübsche – ich glaube, Amelia hat recht.«
Catherine gab sich geschlagen. Als sie wieder aus der Kabine kam, trat sie unsicher vor den Spiegel. Das Kleid war der Wahnsinn. Es bestand aus mehreren Lagen roten Chiffon. Dabei wirkte es nicht bauschig, sondern fließend. Über das eng anliegende Oberteil ragte asymmetrisch eine Lage Stoff über die rechte Schulter. Gegengleich dazu gab ein langer Schlitz die Sicht auf ihre langen, schlanken Beine frei. Pascal und Patricia starrten Amelias Schwester mit offenen Mündern an. Auch Catherine selbst stand ein stummes Wow ins Gesicht geschrieben. Sie raffte den Stoff mit ihren Händen und drehte sich vor dem Spiegel. Strahlend und mit ausgebreiteten Armen ging sie auf Amelia zu. »Ammy, du bist ein Genie«, sagte sie und drückte sie an sich.
»Ich weiß«, erwiderte Amelia trocken. »Aber das«, sie zeigte auf ihr Kleid, »ist es noch nicht.«
»Was? Spinnst du? Das Kleid ist atemberaubend.«
»Ich weiß, deshalb werde ich es auch nehmen.« Denn ob sie dieser Viehschau nun etwas abgewinnen konnte oder nicht, aussehen wie das Aschenbrödel wollte sie neben ihrer schönen Schwester nicht. »Es ist so gar nicht Catherine.«
»Du bist ein Miststück. Wenn ich nicht so gut erzogen wäre, würde ich dir jetzt eine scheuern.«
Die Münder der Zuschauer standen immer noch offen. Nun allerdings nicht mehr vor Begeisterung.
»Krieg dich wieder ein. Ich sage das nicht, weil ich dir das Kleid ausspannen möchte. Es ist die Wahrheit.«
»Die Wahrheit? Und vor fünf Minuten war die Wahrheit noch, dass ich andere Dinge ausprobieren soll.« Catherines Augen verengten sich zu Schlitzen.
Unbeeindruckt ging Amelia zurück zu dem Kleiderständer, von dem sie das rote Kleid geangelt hatte, und sondierte weiter die Auswahl.
Ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht, als sie das Kleid, dessen goldenes Funkeln sie angezogen hatte, zur Gänze erblickte. Zufrieden nickend zog sie es hervor. »Das ist es«, sagte sie und drückte es Catherine an die Brust. »Ja, genau. Das ist es, wonach ich gesucht habe.«
Nur langsam wandte Catherine ihren Blick zum Spiegel. Ihre Miene hellte sich langsam auf, als sie das Kleid betrachtete. Amelia war klar, dass sie es nicht zugeben wollte, aber sie war sich sicher, dass sich ihre Schwester genau in diesem Augenblick in das Kleid verliebt hatte.
»Das rote Kleid steht mir hervorragend«, sagte sie. »Von wem ist das hier?«
Scheißegal.
»Oscar de la Renta«, antwortete Pascal prompt.
»Gut, ich schlüpfe mal schnell rein.«
Klar. Amelia kannte ihre Schwester. Einen Fehler zuzugeben, war nicht gerade ihre Stärke. Es war vermutlich auch schwer, wenn man so perfekt war wie sie.
Als Catherine die Kabine wieder verließ, wussten alle, dass sie das perfekte Kleid für sie gefunden hatten. Es war in A-Linie geschnitten und um die Brust herum mit groben Blattgold-Teilchen bedeckt. Diese dünnten nach unten hin immer weiter aus, bis nur noch der feine cremefarbene Tüllrock zu sehen war. Es hatte das besondere Etwas, war aber immer noch Catherine.
»Ich weiß«, grinste Amelia. »Ich bin ein Genie.«
Catherine strahlte verlegen bis über beide Ohren, antwortete aber nicht.
»Das werte ich als ein Ja.« Amelia wandte sich an Pascal. »Also, dann einmal den Traum in Gold für meine Schwester und das Rote für mich.«
»Sehr gern«, antwortete er und nickte Patricia instruierend zu, die sich augenblicklich in Bewegung setzte.
»Und jetzt zieh dich wieder um, Schwesterherz. Ich habe noch was anderes vor.«
»Willst du dein Kleid gar nicht anprobieren?«, fragte Catherine.
»Nein, ich weiß, dass es mir passt und dass ich einfach umwerfend darin aussehen werde.«
»Amelia«, sagte Catherine in einem Tonfall, der nicht klar erkennen ließ, ob er tadelnd oder belustigt war.
Amelia zuckte mit den Schultern. »Ich bin ein Genie. Schon vergessen?«
»Und ein Miststück.«
»Ich hab dich auch lieb«, sagte Amelia schmunzelnd.
Die ernste Miene ihrer Schwester verwandelte sich in ein Lächeln.
»Einigen wir uns auf geniales Miststück.«
Catherine legte ihren Kopf auf Amelias Schulter. »Ich hab dich auch lieb, Ammy.«