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Lana Morgenstern

Welten

Symphonie



Band 1

Das Kind

der Welten

Fantasyroman

Prolog

Es ist nicht richtig, dass die Welten getrennte Wege gehen.

Vor der Schreiberin lagen zwei Weltenbücher auf dem Tisch der Unendlichkeit. Auf dem einen Buch stand »Erde«, auf dem anderen »Landory«. Sie seufzte, als sie die Bücher berührte und die Geschichten zwischen den Seiten spürte. Dort standen mehr als Buchstaben und Zahlen. Hier waren Träume verewigt, Gefühle, Hoffnungen, Leben und Tod. So sollte es sein, das war der Lauf der Gezeiten. Aber etwas hatte sich verändert, denn eigentlich sollten nicht zwei Weltenbücher vor der Schreiberin liegen, sondern nur eines.

Einst, als etwas Schlimmeres als der Tod die Sternenwelt vernichten wollte, war die EINE Welt auseinandergebrochen. Verloren im sternenübersäten Kosmos drifteten die beiden Hälften voneinander weg. Doch das Leben war schon immer stark, beide Welten überlebten und formten sich neu. Die Quelle der Magie, welche einst die EINE Welt beherrscht hatte, bildete auf Landory, der Neuen Welt, ein Gefüge. Der andere Teil war nur noch mit einer schwachen Bande mit der Quelle verbunden und blieb auf der Erde, der Alten Welt.

Vorsichtig blätterte die Schreiberin im Weltenbuch der Erde ein paar Seiten zurück und sah damit gleichsam in die Vergangenheit. Das Buch war bereits sehr dick, es würde Jahrtausende brauchen, alles noch einmal durchzulesen. Das Weltenbuch Landorys hingegen wies bedeutend weniger Seiten auf. Dafür waren die mit einer mächtigen Magie verbunden, die duftend wie ein Sommerregen ganz besondere Gefühle in der Schreiberin weckten.

»Sie sollten wieder eins werden«, flüsterte sie mit ihrer melodiösen Stimme. »Es ist nicht richtig, dass die Welten getrennte Wege gehen.«

Allein das Schicksal sah das anders. Niemand hatte vorhersehen können, dass die EINE Welt das Schwert des Weltenschmiedes zu spüren bekommen sollte. Selbst die Zukunft war dafür blind gewesen, das war ein schwarzer Fleck im Gezeitenstrom. Doch seither war viel Zeit vergangen, die Welten gehörten zusammen. Das Schicksal jedoch sah nur einen Weg und wollte ihn nicht verlassen.

»Der Weltenrat lässt es nicht zu«, hatte das Schicksal der Schreiberin die Entscheidung der Hohen Damen und Herren mitgeteilt. »Die Zukunft fliegt bereits voraus und du musst niederschreiben, was sie dir zeigt.«

»Die Lebewesen beider Welten gehören einem Ursprung an, sie stammen aus derselben Quelle. Sie sind eins und sollten auf einer Welt leben«, begehrte die Schreiberin auf, aber das Schicksal hörte ihr nicht zu und verschwand.

Weiße Seiten lagen ausgebreitet vor der Schreiberin. Rein und unberührt sahen sie aus, wie frischgefallener Schnee. Sonnenstrahlen und Sternenglanz brachten sie zum Leuchten. Die Schreiberin fuhr andächtig über die jungfräulichen Seiten des Weltenbuches von Landory, dann sah sie auf den Einband. Dort war leuchtend ein Symbol abgebildet: Ein Notenschlüssel hielt zwei Weltkugeln zusammen, genau so war es einst gewesen.

Sie sah auf. Ihre dunkelgrünen Augen fingen das Licht des Abendsterns ein. Ihr goldenes Haar, das an ihrem Rücken in Wellen bis weit über ihre Hüfte hinabfiel, wirkte wie von der Sonne geküsst. Dann änderte sich ihre Augenfarbe und nahm einen braunen Farbton an, ihr Haar wurde silbern, wie die Sterne am Firmament. Doch auch diese Erscheinung war nicht von langer Dauer und wieder blickten grüne Augen auf das Weltenbuch. Die Schreiberin war ein Wesen, das bereits über die Welt gewandelt war, als das Leben sich neu entfaltet hatte. Wie Phönix immer wieder aus der Asche emporsteigt, war es ihr unmöglich, zu sterben, zu vergehen, ihre eigene Existenz auszulöschen. Als der Weltenschmied sie gefragt hatte, ob sie die neue Schreiberin werden wolle, musste sie zusagen. Sie mochte die beiden Welten und wollte mehr sein als eine ferne Beobachterin.

Die Schreiberin nahm ihre Feder aus Sternenglanz, strich noch einmal sanft über die leere Seite und setzte die Spitze an. Dabei summte sie ein Lied mit einer frühlingsklaren Melodie, welches beschwingt und kraftspendend zwischen den Sternen tanzte.

»Im ungetrübten Glanz einer dämmernden Welt, umgeben von Dunkelheit und schwindenden Träumen, wandelte das Volk der Erhabenen mit Hoffnung im Herzen auf Landory«, begann sie, zu schreiben. »Im Dunklen trieb die Welt dahin, bis jene kamen, die entlang vergehender Träume schritten, welche das Leben zum Erblühen brachte. Der Tod sah das mit Adleraugen und entsandte seine Häscher, denn jedes Leben schwächte seine Macht.«

Die Frau mit dem goldenen Haar hielt inne und schloss die Augen. Sie war eine Seherin, die dann und wann einen kurzen Blick in die Zukunft erhaschen konnte. Umgeben von eisigen Bergen, in deren Innersten das Feuer tobte, wusste sie um die Macht ihres Buches. Das Schicksal band fast immer ihre Hände und führte ihre Feder, auch wenn der Verlauf der Geschichte ihr selbst nicht immer gefiel. Aber wenn die Sterne günstig standen und die Schreiberin sich hinter dem Abendstern verstecken konnte, gelang es ihr, die Fesseln ihres Schwures ein wenig zu lösen. Diesen kurzen Moment nutzte sie und sie versuchte, hier oder da einen Satz zu ergänzen oder eine Warnung zu schicken, welche das Schicksal nicht bemerkte. Entweder sie entsandte einen Raben, der in vielen Welten ein Unheilsbote war, oder sie ließ ein vierblättriges Kleeblatt erblühen. Wenn die Zeit drängte, malte sie es in das Weltenbuch und zugleich erschien es bei der betreffenden Person. Dann wiederum verfasste sie Zeilen am Rand des Buches, die wie kunstvoll verzierte Rahmen wirkten, und deshalb nicht vom Schicksal erkannt werden konnten. Und so entsandte sie auch an jenem Tag, als das Gute über das Böse triumphiert hatte, eine Warnung und nannte sie eine »Prophezeiung«. Die Schreiberin hatte in die Zukunft geblickt und im Luftwirbel der Gezeiten die Zerstörung Landorys als mögliches Ereignis erkannt. Das jedoch durfte nicht geschehen.

Mit ihrer Schreibfeder war es ihr möglich, Zeilen auch in den Kosmos zu verfassen, welche weder vom Schicksal noch von der Zukunft gesehen werden konnten. Auf leisen Schwingen flog die Nachricht nach Landory. Für die eine Erhabene, die das stärkste Seelenlicht seit der Erschaffung des Lebens besaß, war es bereits zu spät. Die Schreiberin hatte ihre Geschichte verfasst. Doch für die anderen Bewohner Landorys und auch für die der Erde bestand noch Hoffnung.

Hoffnung, ein Gefühl, das die Schreiberin nicht ihr Eigen nennen durfte, genauso wenig, wie irgendein anderes Gefühl. Nichts und niemand sollte sie von ihrer Aufgabe abhalten. Doch einst, als die Schreiberin erwählt worden war, hatte niemand in dem Weltenrat bemerkt, dass auch sie über Mitgefühl verfügte und über Hoffnung.

Als das Schicksal die verbotene Handlung der Schreiberin bemerkte, war es bereits zu spät. Was einmal im Weltenbuch festgehalten war, konnte nicht mehr geändert werden. Das Schicksal lief los, denn es wollte den vorgezeichneten Weg der Zukunft beschreiten und nicht mühevoll einen neuen suchen. Die Schreiberin nutzte ihre Macht und lieferte sich ein Wettrennen mit dem Schicksal. Die Prophezeiung erreichte ihr Ziel und wurde von der Zukunft aufgenommen.

Von diesem Wettrennen und dem Kampf der Schreiberin bekamen weder die Bewohner der Erde noch die Landorys etwas mit. Ihre Geschichten wurden im »Schicksalhaften Weltenbuch« auf ewig niedergeschrieben. Doch all jene Geschichten, welche bisher nur die Zukunft kannte und die noch nicht im Weltenbuch verewigt wurden, waren veränderbar. Denn erst wenn ein Leben, eine Geschichte, ein Traum oder ein Tod im Buch niedergeschrieben waren, standen sie für alle Zeiten fest.

Surenas Seelenlicht

Ich brauche mein Herzblut und Eure Nähe, Zerstörer.

Verzeih mir, Erhabene, denn ich konnte dein Schicksal nicht ändern«, flüsterte die Schreiberin. »Aber dein Opfer soll nicht umsonst gewesen sein, denn auch ich sehe den Plan des Bösen, Landory mit Furcht und Schrecken zu überziehen.« Sie atmete tief durch und begann, das soeben Erblickte niederzuschreiben. Ihre Hand war ruhig, aber ihre Gedanken in Aufruhr. War es richtig, dass die Erhabene dieses Opfer brachte?
»Du bist die Schreiberin und nicht das Schicksal«, ermahnte sie sich.
Sie wusste um das Vergangene, wusste um dessen Einfluss auf die Zukunft. Wenn sie zurückblickte, war dort Dunkelheit, die in Schwaden in die Gegenwart waberte. Musste sie nicht eingreifen, wenn eine Zerstörung zu erkennen war, die eine ganze Welt betraf? Die Schreiberin konnte sich nicht entscheiden und notierte, was die Zukunft ihr offenbarte.
»Flieh, Erhabene und rette dein Leben!« Mit diesen Worten versuchte sie ein letztes Mal, die Frau vor dem sicheren Tod zu bewahren. Doch für die Erhabene war es bereits zu spät.

Glitzernde Spinnweben hielten sich an den Bäumen fest und tanzten mit ihren losen Enden im sachten Wind. Tautropfen saßen auf den hauchdünnen Fäden und nahmen begierig jeden Sonnenstrahl auf, um den Wald in ein leuchtendes Märchenland zu verwandeln. Die großen Bäume standen weit auseinander, um den grünen Wiesen genügend Freiräume zu lassen. Das Blätterdach leuchtete in den unterschiedlichsten Grüntönen und spielte mit den vereinzelten Sonnenstrahlen, die einen Weg zum Waldboden fanden. Vögel zwitscherten ihre lieblichen Lieder und das Rauschen der Bäume glich der Symphonie des Sonnenaufgangs.

Die Luft war angereichert mit einem würzigen Duft nach nassen Blättern und Holz. Die Tiere des Waldes suchten am Boden und in der Luft nach Nahrung, um sich auf den Herbst vorzubereiten. Der Spätsommer im Land der Elben neigte sich dem Ende zu und der Wind brachte das Versprechen von Kälte und Veränderung mit.

Es war ein perfekter Tag in Adarak und ein jeder Besucher hätte sich gern auf das weiche Moos unter einen Baum gesetzt, um zu entspannen und die Schönheit der Natur zu genießen. Dieser Ort war der schönste im elbischen Land, wenn nicht sogar auf der ganzen Welt, die Landory genannt wurde. Und dieser Ort war auch der mächtigste. Eine uralte Magie ruhte zwischen den hohen Bäumen. Eine Kraft, die Landory einst erschaffen hatte und die es wieder zerstören konnte. Hier, an dieser Stelle, war der Beginn und hier würde alles enden. Das Schicksal Landorys sollte in diesem Paradies besiegelt werden, vor den Toren Tharuls, der Hauptstadt Adaraks.

Aber nicht, wenn ich das Ende noch aufhalten kann, dachte Surena, die Königin der Elben. Stolz und erhaben stand sie auf einer großen Waldlichtung und lauschte dem Rauschen der Blätter. Ihr weißes, bodenlanges Kleid bewegte sich sanft im Wind. Ihr silbernes, leicht gelocktes Haar umspielte ein gütiges und wunderschönes Gesicht. Kaum ein Wesen konnte sich ihrer Aura entziehen und das Leben selbst verneigte sich vor ihr. Wenn sie durch den »Heiligen Wald« schritt, sangen die Vögel besonders laut und melodiös, die Bäume rauschten aufgeregt und Blumen sprossen aus dem Boden. In ihren blauen Augen spiegelte sich stets der Wald wider, egal wo in Adarak sie sich auch befand. Ihr Blick fesselte jeden Betrachter, ihr betörender Duft erinnerte an den Moment nach einem Sommerregen. Surena war das verkörperte Leben und wurde genau deshalb von den Dämonen der Unterwelt umso mehr gehasst.

Die Königin drehte sich langsam im Kreis. Noch war alles friedlich. Kein Hinweis deutete auf das hin, was geschehen könnte … nein, was geschehen würde. Surena ließ ihren Blick noch einmal durch den Heiligen Wald schweifen, nahm sämtliche Sinneseindrücke in sich auf und atmete tief durch. Dieses Paradies würde nur noch für Sekunden existieren, denn Surena nahm eine tödliche Gefahr wahr, die sich ihr näherte.

Schlagartig verstummten die natürlichen Geräusche des Waldes. Kein Vogel war zu hören, der zwitschernd sein Lied sang. Kein Ast bewegte sich und das alltägliche Rauschen blieb aus. Die Sonne verbarg sich innerhalb weniger Atemzüge hinter dunklen Wolken und das Blätterdach der Bäume wurde fahl und krank. Schwarze Punkte legten sich auf die Blätter und fraßen das saftige Grün begierig auf. Nichts deutete mehr auf die einstige Vielfalt in diesem Wald hin. Es schien, als hätte jegliches Leben diesen Wald verlassen und Platz gemacht für etwas … anderes, etwas Dunkles.

Doch es war nicht völlig still.

Etwas war im Heiligen Wald zu hören, das nicht dorthin gehörte. Der Boden erbebte. Zuerst war die Erschütterung kaum wahrnehmbar, doch sie wurde immer stärker. Blätter und Äste auf dem Waldboden bewegten sich, kleine Kiesel sprangen umher. Die Luft war nicht mehr erfüllt vom würzigen Duft nach Leben, sondern wurde durch Fäulnisdämpfe verunreinigt. Der Tod schlich durch das Unterholz und gierte hungrig nach seiner Beute. Stimmen wurden laut, Geschrei kam hinzu. Das Brüllen unzähliger Tiere ließ die Bäume erzittern. Die Vögel, die sich bisher ruhig zwischen den Ästen verborgen hatten, flogen panisch auf.

Die Schatten zwischen den Bäumen bewegten sich, zogen sich in die Länge, dann in die Breite und teilten sich. Aus der Dunkelheit entsprangen viele Menschen, schwer bewaffnet mit Schwertern, Bögen und Äxten. Ihre Harnische waren so schwarz, wie ihre Seelen, die Arm- und Beinschienen, die sie trugen, waren mit scharfen Zacken versehen, damit jede noch so geringe Berührung leidvoll enden musste. Diese Menschen gehörten zum Dämonenheer, welches Tristok anführte, der Herrscher über Meridor. Er war es, der Adarak einnehmen und die starke Magie des Landes für sich vereinnahmen wollte. Würde ihm das gelingen, stand der Eroberung Landorys nichts mehr im Wege.

Er sah gar nicht so bedrohlich aus mit seinen knapp zwei Metern Körpergröße und den langen schwarzen Haaren. Sein Bart war gestutzt, die Haare zu einem Zopf zusammengebunden. Tristok war ein Mann der Muße und liebte intellektuelle Konversationen. Die Elbin wäre ihm sicherlich eine gute Gesprächspartnerin gewesen, denn sie hatte in ihrem langen Leben sehr viel gesehen und erlebt. Aber es war ihm nie gelungen, Surena gefangen zu nehmen und die Schwarze Magier in ihren Körper einzupflanzen. In diesem Fall würde sie ihm jetzt nicht gegenüberstehen, sondern ihr Heimatland an seiner Seite erobern.

Tristoks schlanke Statur steckte in einem einfachen Lederharnisch, weder Bein- noch Armschienen schützten ihn. Er brauchte keinen Schutz, denn kein Schwert oder Bogen würde ihm jemals etwas anhaben können. Würden nicht tausende von Soldaten und Dämonen um ihn herumstehen, hätte er ein Mann wie jeder andere auf Landory sein können. Aber ein besonderes Merkmal zeichnete ihn aus: seine Augen. Sie hatten eine eisblaue Farbe. Je nachdem, wie das Licht auf seine Augen fiel, waren sie entweder in ein Blau getaucht, wie es der Ozean trug, oder in ein eisiges helles Blau, das wie dickes Eis wirkte. An diese Augen erinnerte sich jeder, der sie einmal gesehen hatte, wenn er auch das dazugehörige Gesicht vergessen sollte.

Ein normaler Mann war Tristok bei Weitem nicht. Ein Wimpernschlag von ihm reichte aus, um ganze Landstriche zu verwüsten. Wirkte er Magie, nahmen seine eisblauen Augen eine schwarze Farbe an und ließen jeden erstarren, der ihn nur ansah.

Tristok trat an den Rand der großen Waldlichtung und beobachtete Surenas erhabene weiße Gestalt.
»Muss mir diese Hexe schon wieder im Weg stehen?«, grollte er unheilvoll und wütend. Er brauchte diesen Ort, er musste ihn erobern, um seinen Siegeszug fortzusetzen. Nur Surena stand noch zwischen ihm und der magischen Quelle. Sie war eine Elbin, die unbewaffnet und allein für ein ungeübtes Auge kaum eine Gefahr darstellte. Aber er, Tristok, unterschätzte sie nicht und würde ihr nicht allein gegenübertreten.

Doch wo nur war ihr Volk? Hatte es etwa eingesehen, dass Tristok mächtiger war als Surena und versteckte sich jetzt hinter den hohen Mauern Tharuls?

Tristok sah zur Seite. Neben den Soldaten tauchten jetzt Dämonen und Monster auf, deren schiere Anzahl die der Krieger um ein Vielfaches übertraf. Wolfsähnliche Kreaturen mit messerscharfen Krallen wühlten den Waldboden auf. Dort, wo sie entlangliefen, blieb nur Asche zurück, denn sie entsprangen der Unterwelt und der Tod folgte ihnen auf dem Fuß.

Jenseits der Lichtung waren unbezähmbare Drachen zu hören, die sich schreiend in die Tiefe fallen ließen und das Blätterdach der weitläufigen Wälder zerfetzten. Sie wollten sich ebenfalls an der Eroberung des Landes beteiligen, denn die Elben hatten sie einst in den Norden verbannt, wo das ewige Eis sie an das »Rückgrat Landorys« fesselte. Diese Drachen hatten keinen Herrn und würden niemals irgendjemandes Befehle entgegennehmen. Aber sie schmiedeten nur zu gern Bündnisse, wenn sie ihnen zum Vorteil gereichten. Als Tristok zu ihnen gekommen war und ihnen seinen Plan geschildert hatte, waren die Drachen bereit gewesen, mit ihm gemeinsam das elbische Volk zu vernichten, denn die Drachen sannen seit Langem auf Rache.

Mannsgroße Spinnen webten mit armdicken Seilen gefährliche Netze zwischen den Bäumen und fingen damit die fliehenden Tiere ein. Das Brechen von Knochen und das Schmatzen der großen Arachnenmäuler hallte durch den Wald und wurde nur durch das Getöse des heranstürmenden Heeres übertönt. Die Kronen der Bäume wankten bedrohlich, viele knickten um und wurden unter der heranpreschenden Meute zermalmt. Der Heilige Wald wurde zerstört und das bereitete Tristok tiefste Zufriedenheit.

Auf Surenas porzellanartigem Gesicht zeigte sich keine noch so geringe Regung. Sie sah in Tristoks Augen und erstarrte nicht vor ihnen, wie so viele andere Menschen und Elben. Nein, sie konnte seinem Blick standhalten, spurlos ging er dennoch nicht an ihr vorbei. Ihre empfindsame Seele litt sehr unter Tristoks Aura, unter seinem Blick, unter seiner ganzen Erscheinung. Er war ein Dämon, älter als sie selbst und hatte schon gegen ihre Eltern gekämpft. Bisher konnte jeder dieser Kriege vom elbischen Volk gewonnen werden. Diesmal aber stand der Sieg auf Messers Schneide und konnte nicht ohne ein Opfer errungen werden.

Eine flüsternde Stimme drang an Surenas Ohren und durchbrach ihre düsteren Gedanken.

»Flieh, Erhabene und rette dein Leben!« Es war der Wind, der ihr diesen Ratschlag gab, allein Surena rührte sich nicht. Sie spürte das Böse, die Qual und den Tod, die von Tristok ausgingen. Niemals konnte sie zulassen, dass er ihre Heimat erobern und zerstören würde.

»Nein«, antwortete sie dem Wind.

»Du wirst das Unausweichliche nur hinauszögern«, gab der Wind nicht auf.

»Das kannst du nicht wissen«, erwiderte Surena.

»Das Schicksal hat seine Fäden gesponnen, die Zeit Landorys ist vorbei. Flieh in die Gestade zwischen den großen Sternen. Dort bist du mit deiner Familie in Sicherheit.«

Bevor Surena darauf antworten konnte, kamen weitere wispernde Stimmen hinzu.

»Die großen Sterne rücken zusammen, das Tor in die Gestade ist frei. Flieh, Erhabene, flieh, denn das Ende erscheint bald im Weltenbuch.« Es waren die Natur, die Magie sowie das Leben, die im Chor an Surenas Vernunft appellieren wollten.

Die Elbenkönigin gab ihnen keine Antwort, weder stumm noch laut. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen und wollte Adarak wie auch Landory die Chance geben, das Schicksal vom Gegenteil zu überzeugen.

Ohne Rüstung, durch keine Waffe und keinen Krieger geschützt, der um ihr Leben kämpfen würde, wirkte sie auf der großen Lichtung völlig schutzlos und verlassen. Surena war allein gekommen, sie hatte Tharul in der Nacht unerkannt verlassen, um hier ihr Schicksal zu erfüllen. Nur sie allein war in der Lage, das Dämonenheer aufzuhalten. Doch welchen Preis würde sie dafür zahlen?

»Meine Kinder werden in Frieden aufwachsen«, flüsterte sie sich selbst Mut zu. »Wenn er auch nur von kurzer Dauer sein wird.«

Sie musste an die Prophezeiung denken, die sich ihr in der vergangenen Nacht eröffnet und sie zu diesem Schritt gezwungen hatte. Sollte sie ihr Opfer nicht bringen, offenbarte der Blick in die Zukunft Tristoks baldigen Sieg und das Ende der ihr bekannten Welt. Und nicht nur Landorys Schicksal stand auf dem Spiel, sondern ebenso das einer anderen Welt.

Die Erschütterung im Boden intensivierte sich und Surena sah sich um. Die Lichtung war groß und die Elbin würde die Angreifer rechtzeitig genug erkennen. Um zu siegen, musste sie Tristok so dicht wie nur möglich an sich heranlassen. Das Böse musste sie berühren, damit sie es in sich aufnehmen und verbannen konnte. Damit würde aber auch ihre eigene Vernichtung einhergehen.

Angst bemächtigte sich ihrer, kroch wie ein schleichendes Gift durch ihre Adern und flüsterte, sie solle fliehen. Ist mein Opfer wirklich sinnvoll?, fragte sie sich nicht zum ersten Mal an diesem Tag. Alles in ihr schrie danach, umzukehren. Sie sollte in das Schloss von Tharul zurückkehren, ihre Kinder an sich nehmen, Schutz suchen zwischen den Sternen und …

»Ich habe keine Wahl«, flüsterte sie und brach ihren Gedanken ab. Eine Träne rollte an ihrer Wange hinab. Es gab keine Fluchtmöglichkeit für sie. Würde sie Tristok nicht aufhalten, würde nicht nur Adarak fallen. Aber was wäre, sollte ihr Opfer sinnlos sein? War es zu spät, hatte sie zu lange mit sich gehadert? Hatte der Wind etwa recht und das Ende Landorys stand in baldiger Zukunft bevor und würde im Weltenbuch verfasst werden?

Ein Schrei ließ sie zum Himmel emporschauen. Die Drachen hatten sie entdeckt und stürzten sich angriffslustig in die Tiefe. Mit ihren riesigen Flügeln verursachten sie einen gewaltigen Sturm und nur mit Mühe konnte Surena aufrecht stehenbleiben. Ein Drache kam auf nur wenige Meter an sie heran und die Elbin vermochte, das Böse in seinem Blick zu erkennen. Doch als seine Krallen sie packen und zerreißen wollten, trafen sie auf eine unsichtbare, aber undurchdringliche Barriere.

Mit einem wütenden Schrei versuchte der Drache, Surena nochmals zu ergreifen. Ihr Schutzschild hielt seinem Angriff jedoch stand und die kleinen Risse auf dessen Oberfläche schlossen sich augenblicklich wieder. Mehr als das konnte sie nicht tun, denn sie würde ihre ganze Kraft dafür benötigen, Tristok in die Unterwelt zu verbannen. Töten konnte sie ihn nicht, dafür reichte ihre Magie nicht aus. Ein Gefängnis musste genügen.

Nun war es soweit, das Dämonenheer war am Rand der Lichtung komplett aufmarschiert. Der Herrscher über Meridor beobachtete das Treiben auf der Lichtung. Ihm war klar, dass die Drachen keine Chance hatten. Sie waren sehr stark, aber genauso dumm und leichtgläubig. Er bewegte seine Hand und im nächsten Moment traf eine Druckwelle die geflügelten Monster. Sie stoben in alle Richtungen auseinander und die Elbin war frei. Tristok hatte das sicher nicht aus reiner Nächstenliebe getan. Vielmehr waren die Drachen ihm im Weg gewesen für das, was jetzt kommen sollte. Denn nun würde er Surena, die mächtigste Magierin des elbischen Volkes, endlich vernichten und sich ihre Magie aneignen. Sie war allein, kein einziger Krieger schützte sie. Doch Tristok unterschätzte sie nicht. Vielmehr vermutete er, dass sie keine Elben und Menschen opfern wollte.

»Wie nobel«, sagte er leise und schnaubte verächtlich.

»Sie ist schutzlos. Wir sollten angreifen«, riss Anaruba den Herrscher aus seinen Gedanken. Tristok drehte sich nicht zu dem Dämon um, als er ihn fragte:
»Wollt Ihr mir einen Ratschlag erteilen?« Er hatte seine Stimme kaum erhoben und sie hätte im Gebrüll der wartenden Dämonen und Soldaten untergehen sollen. Doch sie tat es nicht und schwebte leicht wie eine Frühlingsbrise über das gewaltige Heer. Anaruba stellte sich kerzengerade auf und schüttelte den Kopf.

»Nein, Herr, verzeiht mir«, antwortete er schnell und wich ein paar Schritte zurück. Er hatte bemerkt, dass Tristok seine Magie ergriffen hatte, die er auch gegen ihn einsetzen würde. Obwohl Anaruba selbst ein großer Magier war, konnte er mit der Magie des Zerstörers, wie Tristok auch genannt wurde, nicht mithalten.

So galant Tristok aussah, so grobschlächtig war Anaruba. Er verlor schnell die Kontrolle über sich, war jähzornig und tötete gern den Überbringer schlechter Nachrichten. Seine schwarzen Haare hingen ihm wirr ins Gesicht, seine Augen ruhten kaum einen Wimpernschlag lang auf einem Punkt. Er ließ sich nichts befehlen, außer von seinem Herrn. Deshalb schluckte er seine Wut schnell herunter, umfasste seinen Beidhänder mit einer Hand und wartete.

Tristok hatte seine Aufmerksamkeit wieder auf Surena gelenkt. Die sah ihm stumm entgegen. Ob sie schreien wird, wenn ich ihr das Herz aus dem Körper reiße?, fragte er sich. Wie es mir wohl munden wird?

Bald würde er es herausfinden und bereits die Vorfreude darauf zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht. Er hob seinen rechten Arm und die Meute um ihn herum verstummte augenblicklich. Die Luft knisterte vor Anspannung und Surena blickte ein letztes Mal hinauf zum Himmel. Dann ließ Tristok seinen Arm herabsausen. Sein Dämonenherr preschte los und überflutete die Lichtung. Menschen, Monster und Dämonen kamen von allen Seiten, sodass die Elbin eingekreist war.

Anaruba folgte den Monstern mit seinem großen Beidhänder. Mit diesem Schwert wollte er die Elbin in zwei Teile zerteilen. Er hoffte, dass der Plan seines Herrn aufgehen würde. Immerhin war Surena allein und konnte gegen eine solch große Anzahl von Soldaten, Monstern, Dämonen und Magiern nichts ausrichten – zumindest nicht auf Dauer. Und dann, wenn sein Herr Adarak eingenommen hätte und durch den Kampf geschwächt wäre, würde Anarubas Plan fruchten. Denn er hatte nicht vor, auf ewig Tristoks Handlanger zu sein.

An diesem Plan arbeitete er bereits viele Jahre. Es fiel ihm nicht leicht, sein Geheimnis zu wahren, und so manches Mal wären ihm seine Ungeduld und sein Jähzorn beinah zum Verhängnis geworden. Er musste sich zusammenreißen, jetzt, da sein Ziel so nah war.

Anaruba konnte eine Elbin mit Schwarzer Magie infizieren, ein Vorhaben, das Tristok nicht geglückt war. Bald würde er sich diese Elbin holen und dann wäre er der Herrscher über Landory. Doch jetzt galt es, eine Schlacht zu gewinnen.

Surenas Körper vibrierte. Auch sie hatte ihre Magie ergriffen. Ihr Anhänger, der bisher ruhig auf ihrer Brust gelegen hatte, leuchtete sanft auf. Er sah aus, wie ein Regentropfen aus milchig-weißem Kristall und in seiner Mitte ruhte ein Licht. Dieses Licht wurde immer größer, bis es den Tropfen überstrahlte. Schließlich begann die ganze Elbin zu leuchten, breitete ihre Arme aus und atmete tief ein. Den Gestank von verfaultem Fleisch und Tod, der in der Luft hing, nahm sie nur am Rande wahr. Sie brauchte die Magie des Landes, denn in Adarak ruhte die Weltenquelle Landorys. Nirgendwo gab es mehr gebündelte Magie als hier und nur darum war dieser Ort genau der richtige, um zu sterben.

Die übrig gebliebenen Bäume neigten zuerst ihre Kronen zur Lichtung, bis der Sog immer stärker wurde. Ihre dicken Stämme folgten dem Sog und lautstark brach das Holz. Tristok sah sich verwundert um. Ihm war nicht klar, warum Surena das tat, denn mit ihrer Handlung zog sie die Gefahr zu sich heran.

Jetzt wurden die Drachen über dem Wald von dem gewaltigen Sog zu Boden gezogen. Panisch versuchten sie, sich ihm zu entziehen. Sie waren indes nicht stark genug und fielen krachend in das heranstürmende Dämonenheer. Als die geflügelten Monster wild um sich schlugen und versuchten, sich wieder vom Boden zu erheben, gab es unzählige Opfer. Die wolfsähnlichen Kreaturen unterschieden nicht zwischen Freund und Feind. Die Drachen waren für sie in diesem Moment Opfer, die in Reichweite gekommen waren, und sie stürzten sich auf sie.

Die restlichen Gegner sprangen über die Kämpfenden hinweg und rannten auf Surena zu. Die sah ihnen mit unbewegter Miene entgegen. Die Dunkelheit legte sich über den Heiligen Wald und so wirkte Surena als strahlende Erscheinung, wie ein Licht in der Nacht. Die Elbin wurde immer mehr eingekreist, bis die Klauen der Dämonen an ihrem Schutzschild kratzten.

Surena konnte ringsumher keine Natur mehr erkennen. Die Lichtung war schwarz, die Bäume lagen am Boden und der Himmel verfinsterte sich zusehends.

Als sie spürte, dass sie keine weitere Magie mehr in sich aufnehmen konnte, hielt sie inne. Für einen Wimpernschlag lang war es so still, wie in einer Grabkammer. Nichts und niemand bewegte sich, die Bäume blieben mitten im Fallen in der Luft stehen, als würde etwas sie aufhalten. Vögel standen bewegungslos und starr am Himmel, ihre Flügel weit ausgebreitet. Die Krallen der Monster hatten Surenas Schutzschild durchdrungen und kratzten bereits an ihrem Gewand. Doch sie kamen nicht weiter.

Nur eine einzige Person konnte sich diesem Stillstand der Zeit entziehen. Tristok kam langsam näher, stieß die Soldaten um, die mitten im Laufen erstarrt waren, und kam endlich bei Surena an.

»Möchtet Ihr mit mir allein sein, Königin?«, fragte er im süffisanten Tonfall. Seine Augen waren schwarz, wie die Nacht, seine Haut glühte. Das war ein Anzeichen dafür, dass er ebenfalls sehr viel Magie in sich aufgenommen hatte, genauso wie Surena.

»Eure Vernichtung ist eine sehr private Angelegenheit«, erklärte Surena leise. »Ich möchte Euch nicht vor Eurem Heer demütigen.«

»Wie aufmerksam von Euch«, bedankte sich Tristok, hob seine rechte Hand und ließ ein Messer aus schwarzem Feuer darin erscheinen.

»Ihr verkennt nur die Lage, Hoheit. Denn es ist Eure Vernichtung, welche diesen Tag krönen wird. Ihr gestattet?«

Noch bevor er das letzte Wort ausgesprochen hatte, verringerte er die Distanz zu Surena, beugte sich vor und rammte ihr das Messer mitten ins Herz. Es war so einfach, ihr Körper so zart. Ohne auf einen Widerstand zu treffen, versank die Klinge bis zum Heft. Surena ließ es zu, wehrte sich nicht und hieß die Waffe willkommen.

»Was …?« Tristok starrte Surena an. Es war zu einfach. Er hatte mit einem harten magischen Kampf gerechnet. Er hatte gedacht, die meisten seiner Soldaten würden sterben, sein Heer dezimiert werden. Und nun sollte er den Sieg davontragen, ohne auch nur einen Mann zu verlieren? Hier stimmte etwas nicht!

Auf Surenas Gesicht hingegen erschien kein erschrockener, schmerzerfüllter Ausdruck. Es war vielmehr ein Lächeln, das sie ihm schenkte, ein wissendes Lächeln.

»Ich brauche mein Herzblut und Eure Nähe, Zerstörer«, erklärte die Elbenkönigin.

Sie umfasste mit beiden Händen seine Faust, die noch immer das Messer hielt, zog ihn noch dichter an sich heran und küsste ihn.

Tristok riss die Augen weit auf. Er versuchte, sich aus Surenas Griff zu lösen, aber sie war um vieles stärker als er. Die Zeit schnellte mit einem harten Ruck wieder in die Realität zurück, die Stille wurde durch das ohrenbetäubende Dröhnen des heranpreschenden Heeres durchbrochen. Doch dieses Heer kam nicht weit.

Surena drückte ihre Lippen auf die von Tristok, öffnete ihren Mund und atmete tief ein. Sämtliche Magie, die der Zerstörer in sich trug, sog sie in sich ein, sodass er sie nicht mehr kontrollieren konnte. Wann immer er sie gegen die Elbin entsenden wollte, entzog sie sich seiner Hand, wie nasse Seife.

Als Surena genügend Schwarze Magie in sich aufgenommen hatte, hielt sie inne und sah ihn an. Sie löste ihre Lippen von ihm und sagte: »Ihr werdet mir nun in die Unterwelt folgen. Da ich Eure Magie in mir trage, seid Ihr untrennbar an mich gebunden.«

Tristok vermochte nun, sich endlich von ihr zu lösen, und stolperte einige Schritte rückwärts. Seine rechte Hand war rot von ihrem Blut, ihrem Herzblut.

»Halt!«, schrie er und das Dämonenheer blieb tatsächlich stehen. Nur wenige Meter trennten es noch von den beiden Kontrahenten, als die Elbin jene Worte sprach, die nie über ihre Lippen kommen sollten.

»Ich unterwerfe mich den Latharl, den mächtigen Sieben der Unterwelt«, rief Surena in den mittlerweile pechschwarzen Himmel. Ihre Stimme klang nicht mehr so fest, die Schwäche darin war deutlich zu erkennen.

»Nein!«, schrie Tristok. »Tötet sie!«

Das Dämonenheer setzte sich wieder in Bewegung, doch es war zu spät. Eiseskälte kroch wie eine Schlange über den Ascheboden, Eis legte sich über die Soldaten und Monster. Die Latharl kamen, die mächtigesten sieben Magier Landorys, die ihr Dasein in der Unterwelt fristen mussten.

Surenas Anhänger erlosch in diesem Moment, denn seine Trägerin war nur noch eine leere Hülle.
»Flieh, Iliah, sie kommen«, waren ihre letzten Worte, dann verschwand sie unter massigen schwarzen Körpern.

Ihre Seele jedoch wurde von anderen Wesen geholt. Die Eiseskälte ließ die Monster innehalten, denn sie konnten sich fast nicht mehr bewegen. Ihre Gliedmaßen drohten, einzufrieren.

Dann waren sie da. Die Latharl, schwarz gewandet in Umhänge und mit tief ins Gesicht gezogenen Kapuzen, kamen auf Surena zu. Sie berührten die Monster, welche die Elbin in Stücke zerreißen wollten, und die Kreaturen zerfielen augenblicklich zu Asche.

»Du bist für immer unser«, prophezeite ein Latharl und beugte sich zu Surena hinab.

Er war so groß wie die Elbin, offenbarte aber das ganze Gegenteil ihrer Erscheinung. Während sie das Leben verkörperte, die Liebe, die Hoffnung und den Glauben an das Gute, war er der Tod, das Leid und der Schmerz. Rotglühende Augen, die vor Triumph hell aufloderten, sahen die Elbin an.

Zum ersten Mal seit Anbeginn der Zeit würde nun eine Elbin, ein reines Wesen, in die Unterwelt geholt und auf Ewigkeit der Verdammnis angehören. Noch nie war sie mit dem Bösen in Berührung gekommen, hatte jedem Argwohn, jeder Hinterlist, Neid und Missgunst widerstanden. Sie war so sehr anders als die Menschen, sie war wie unberührter Schnee. Nun würde sie am eigenen Leib erfahren, was Leid bedeutete, und ihre Seele würde die Dunkelheit zu spüren bekommen. Dadurch war ihr der endgültige Tod versagt, ihr Leben war aber auch ausgehaucht. Zwischen den Welten würde sie niemals Ruhe finden und die Latharl konnten sich für alle Zeit, die noch kommen würde, an ihrem Leid erfreuen.

Surena schloss endgültig die Augen. Der Latharl berührte ihre Stirn. An dieser Stelle wurde ihre Haut unmittelbar schwarz. Der Verfall breitete sich in Wellen über ihren ganzen Körper aus und innerhalb weniger Augenblicke war die Elbin nicht mehr zu erkennen. Sie war zu Asche geworden. Inmitten der Asche aber war noch ein schwaches Leuchten auszumachen: Das war Surenas Seelenlicht.

Der Latharl nahm es auf und hielt es in seiner Hand. Als ein zweiter Latharl nach ihrem Anhänger greifen wollte, stoben blaue Funken heraus, die in seine Hand einschlugen. Er schrie auf und ließ den Anhänger los.

Plötzlich intensivierte sich das Leuchten des Seelenlichts und nahm an Temperatur zu. Der Latharl sah verwundert auf das immer heller werdende Licht. Aus der schwachen Wärme wurde Hitze und schließlich schien es, als würde der Latharl eine kleine Sonne in der Hand halten.

Er ließ das Seelenlicht fallen, doch allein, es fiel nicht zu Boden. Vielmehr flog es in den Anhänger, den Surena getragen hatte, und vereinigte sich mit dessen Licht. Das Schmuckstück stieg in die Höhe, als würde es jemand aufheben. Und noch bevor ein Latharl erneut danach greifen konnte, flog es davon.

»Sie hat uns betrogen«, grollte einer der Schwarzen Magier. »Ihre Magie ist für uns verloren.«

»Ihre Seele ist dennoch unser«, antwortete ein anderer und deutete auf Surenas Asche. Über ihr zeichnete sich ganz schwach die Silhouette der Elbin ab. Wie leichter Nebel schwebte sie knapp über der Asche.

Ein Latharl hob seine Hand und die Seele der Elbin richtete sich auf. Surena öffnete die Augen und sah ihn an.

»Wir werden dein Seelenlicht wiederbekommen. Es gibt keine Hoffnung für dich.«

Die Elbenkönigin antwortete nicht darauf. Nur mit Erlaubnis eines der Latharl war es ihr möglich, zu sprechen oder sich zu bewegen. Selbst den Schmerz, der tief in ihrem Inneren saß, konnte sie nicht zeigen. Und er würde größer werden, je heftiger die mächtigen Sieben sie bestrafen wollten.

Plötzlich war ein leises Summen zu hören. Die vereiste Landschaft erwärmte sich wieder, Wasser floß von den eingefrorenen Kreaturen und Menschen herab. Sie tauten auf.

»Wie ist das möglich?«, wollte ein Latharl wissen.

Aus dem Summen wurde bald eine Melodie, lieblich und zart wie ein Frühlingswind, der mit den Tautropfen eines Sonnenaufgangs spielte.

Surenas Anhänger kam zurück und schwebte hoch über dem dämonischen Heer. Das Seelenlicht intensivierte sich wieder und bald war der Anhänger nicht mehr zu erkennen. Die Latharl spürten die enorme Magie, die von dem Schmuckstück ausging, drehten sich um und kehrten mit Surenas Seele in die Unterwelt zurück.

Das Dämonenheer erwachte aus seiner Starre. Einige Soldaten schauten in den Himmel und beobachteten, wie silberne Wellen von der kleinen Sonne ausgingen, die sich wie ein Tuch über ihnen ausbreiteten. Die Magie Surenas entfaltete ihre ganze Kraft und senkte sich über alles herab. Sie tötete bedingungslos und zerstörte auch die Reste der Natur. Kein lebendes Wesen vermochte dieser Kraft zu entkommen.

Panische Schreie waren zu hören, denn jeder versuchte, dem silbernen Tuch zu entfliehen.

Tristok war erstarrt. Er spürte, wie seine Seele in die Unterwelt gesogen wurde. »Anaruba«, rief er nach seinem Handlanger. »Helft mir!«

Doch der große Dämon, der Tristok um einen ganzen Kopf überragte, zog sich zurück.

»Helft Euch doch selbst, Herr«, erwiderte er, drehte sich um und rannte leichtfüßig davon. Er wusste nicht, ob er der todbringenden Magie würde entkommen können. Jeder Soldat, der ihm im Wege stand, jede einzelne Kreatur wurde von ihm getötet. Er wendete viel Magie auf, um einen starken Schutzschild zu wirken, denn der Tod war nur noch etwa drei Meter vom Boden entfernt. Um ihn herum wurde das gesamte Heer pulverisiert. Anders war es nicht zu bezeichnen, denn wen oder was auch immer das leuchtend silberne Tuch berührte, zerfiel augenblicklich in kleine Staubkörner und verschwand im Licht.

Schließlich war er aus der Gefahrenzone heraus und hörte einen markerschütternden Schrei, als Tristoks Seele in die Unterwelt hinabgezogen wurde.

»Meine Zeit wird kommen«, zischte Anaruba und rannte fort, in Richtung Meridor. Er brauchte nur noch ein wenig Geduld.

Als die Magie ihr zerstörerisches Werk beendet hatte, zog sie sich wieder in den Anhänger zurück. Nur schwach war noch ein leichtes Glimmen in seiner Mitte zu erkennen. Nun flog der Anhänger Richtung Norden davon, nach Tharul, um seine neue Trägerin zu finden.