Sabine Weigand

Die Manufaktur der Düfte

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Sabine Weigand

Sabine Weigand stammt aus Franken. Sie ist promovierte Historikerin und arbeitete als Ausstellungsplanerin für Museen. Historische Originaldokumente sind der Ausgangspunkt vieler ihrer Romane, wie ›Die Markgräfin‹, ›Das Perlenmedaillon‹, ›Die Königsdame‹, ›Die Seelen im Feuer‹ und ›Die silberne Burg‹. In ›Die Tore des Himmels‹ gestaltet sie das Leben der Hl. Elisabeth, in ›Das Buch der Königin‹ das Schicksal der deutschen Kaiserin Konstanze. Eine europäische Berühmtheit des Mittelalters schildert sie in ›Ich, Eleonore. Königin zweier Reiche‹.

In dem Memoir "Helga. Als es noch keine Worte dafür gab - mein Weg vom Mann zur Frau." dokumentierte sie das außergewöhnliche Schicksal von Helga F.

Auch ihr neuer Roman fußt auf der realen Geschichte einer Seifenfabrikantenfamilie.

 

www.sabine-weigand.de

Über dieses Buch

Der große Roman einer Fabrikantenfamilie in der Gründerzeit in Deutschland.

Sein Vater war noch einfacher Seifensieder, aber der junge Fritz Ribot will hoch hinaus. Mit seinen Ideen begründet er um 1880 ein Imperium, das seine duftenden Luxusprodukte aus Franken bis nach China exportiert. Seine Frau Sophie muss sich jedoch fragen, ob sie Fritz je so wichtig sein wird wie die Firma. Und darf sie zulassen, dass er sich zwischen seine jüngste Schwester Lisette und den Fabrikarbeiter Hans stellen will? Keiner in der Familie erkennt die düsteren Vorboten des Krieges, und niemand ahnt, dass Fritz ein Geheimnis bewahrt, das alles in Frage stellen kann, worauf die Ribots stolz sind.

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Book

 

Für die Abbildungen©Stadtmuseum Schwabach

 

Covergestaltung: www.buerosued.de

Coverabbildung: Arcangel / Ildiko Neer und www.buerosued.de

 

©2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-403811-7

Erstes Buch

Kapitel 1
1845

Mit weitausgreifenden Schritten näherte sich eine schmächtige Gestalt von Süden her dem Städtchen. Es war ein junger Bursche, vielleicht um die zwanzig Jahre alt, mit rosigen Wangen und einem feinen blonden Schnurrbart, wie er gerade Mode war. Der Bursche trug Arbeitshosen aus schwarzem Zwillich, bis zum Knie voller Straßenstaub, dazu ein Leinenhemd, das schon bessere Tage gesehen hatte, und eine gestreifte Weste. Auf seinen blonden Locken saß ein brauner Filzhut, dessen Krempe bei jedem Schritt mitschlappte. Jetzt blieb der junge Mann stehen, lehnte seinen Wanderstock gegen die Schulter und wischte sich den Schweiß mit einem großen karierten Taschentuch von der Stirn. Dann ruckelte er das Felleisen auf seinem Rücken zurecht und steuerte entschlossen auf den Stadtmauerturm zu. Die Uhr über der runden Toröffnung zeigte auf Mittag und erinnerte ihn daran, dass sein Magen knurrte.

Drinnen im Städtchen war es ruhig, um diese Zeit saß die Bürgerschaft beim Essen oder ruhte aus. Ein paar Spatzen hüpften über das Kopfsteinpflaster und nippten mit kleinen, ruckartigen Bewegungen an dem Wasserrinnsal, das in der Mitte zwischen den Häuserreihen dahinsickerte. Der junge Wanderer folgte dem Verlauf der Straße, vorbei an den ersten Wohnhäusern, ein paar geschlossenen Läden und einer schönen Schmiede, in deren Esse noch ein Feuer glomm. Aus einem Seitengässchen kam ihm eine alte Frau mit einem Korb voller Äpfel entgegen; er hielt sie an.

»Gute Frau«, sagte er freundlich in seinem heimatlichen Zungenschlag, »können Sie mir sagen, wie dieses hübsche Örtchen hier heißt?«

Die Alte blinzelte ihn misstrauisch an. »Schwouba«, brummelte sie und tappte dann eilig davon.

Das weiß ich selber, dass ich aus Schwaben bin, dachte der junge Bursche und ging schulterzuckend weiter. Schließlich erreichte er die Wirtschaft »Zum roten Ochsen« und trat durch die offene Tür. Der Schankraum war leer bis auf drei alte Männer, die an einem runden Tisch Schafkopf spielten. Er grüßte und bekam ein gemeinschaftliches Nicken zurück. »Verzeihung, in welcher Stadt bin ich hier?«, fragte er und bemühte sich, diesmal Hochdeutsch zu sprechen.

»Na, in Schwabach«, antwortete einer.

»Und gibt’s hier eine Seifensiederherberge?«

Die Männer berieten sich. »Muss der ›Schwarze Adler‹ in der Hördlertorstraße sein«, kam schließlich die Antwort. »Bist ein Handwerksbursch auf der Walz?«

Der junge Mann nickte. »Seifensieder, Altgeselle!«, sagte er stolz. Dann ließ er sich den Weg zur Herberge erklären, schritt aus, passierte wie beschrieben die Spitalkirche, überquerte die Brücke über das Flüsschen, das der Stadt seinen Namen gab, und marschierte dann auf das gelbverputzte Eckhaus zu, über dessen breiter Eingangstür ein Adler mit aufgespannten Flügeln prangte.

 

»Name?« Der Wirt, ein Kahlkopf mit ansehnlichem Bierranzen, klappte sein Herbergsbuch auf und tunkte die Feder in ein Tintenfass.

»Ribot«, antwortete der junge Seifensiedergeselle. »R-I-B-O-T. Das kommt aus dem Französischen«, ergänzte er. »Wird aber deutsch ausgesprochen. Philipp Benjamin.«

»Woher?«

»Aus Cannstadt im Württembergischen.«

»Aha.« Der Wirt trug alles mit eingeklemmter Zunge in sein Buch ein. Dann zapfte er wortlos eine Halbe Rotbier und schob sie dem Gast hin. »Bist auf der Durchreise? Oder suchst einen Platz?«

Philipp Benjamin Ribot ließ das kühle Bier seine staubige Kehle hinunterrinnen und wischte sich dann den Schaum aus dem Bärtchen. »Ein Platz wär schon recht«, meinte er.

Der Wirt wiegte den kahlen Schädel hin und her. »Acht Seifensieder haben wir hier am Ort, alles anständige Meister. Aber wer von denen grad Arbeit hat? Hm, ich würd’s als Erstes beim Strunz versuchen, in der Nürnberger Straße. Der ist nicht ganz gesund und kann vielleicht Hilfe brauchen. Sag einen schönen Gruß.« Er sah den begehrlichen Blick des Gesellen auf die Räucherwürste, die hinter der Theke von der Decke hingen, schnitt eine ab und drückte sie ihm in die Hand. »Damit du nicht vorher verhungerst.«

Philipp Benjamin Ribot übergab dem Wirt sein Felleisen zur Aufbewahrung und machte sich kauend auf den Weg. Schließlich stand er in einer Gasse vor einem zweigädigen Haus, in das rechts von der Eingangstür ein großes Fenster eingelassen war. Darin lagen schön aufgestapelt verschiedene Seifenstücke, runde Tiegel mit Schmierseife und Kerzen in allen Größen. Über dem Fenster stand in schmalen, hohen Buchstaben: »E. Strunz, Seifen und Lichter«. Ribot klopfte sich den Staub von Hose und Schuhen, gab sich einen Ruck und trat ein.

Im Flur kam ihm ein großer Mann mit schütterem, zurückgekämmtem Haar entgegen, eine stattliche Erscheinung, wenn da nicht die Krücke gewesen wäre, mit der er sich beim Gehen behalf. Ribot nahm den Hut ab und hielt ihn, wie es sich für den traditionellen Gruß gehörte, mit dem linken Daumen an den Stock gepresst. »Grüß Gott, sind Sie der Meister?« – »Weiß nicht anders«, entgegnete Ernst Strunz nach gutem Brauch und Gewohnheit. Dann winkte er seinen Besucher in die Stube und goss ihm einen Becher voll Wein ein. »Trink, Fremder, von wegen des Handwerks.« Das war das Zeichen, dass der junge Geselle Hut und Stock ablegen durfte. Anschließend nahm er dankend das dazulande übliche Meistergeschenk von zwanzig Kreuzern in Empfang.

»Suchst eine Arbeit?«, fragte Strunz und musterte sein Gegenüber durchdringend.

»Ja, Herr Meister«, nickte der junge Ribot und reichte Strunz sein Wanderbuch. »Bin im zweiten Jahr auf der Walz.«

»Wie heißt?«

»Philipp.«

»Kannst auch Lichter ziehen?«

»Und wie«, antwortete der Geselle und warf sich in die Brust.

Strunz durchblätterte das kleine schwarze Büchlein, in dem alle Stationen des bisherigen Wanderlebens seines Bewerbers festgehalten waren. »In Ungarn warst auch schon, hm?«

Ribot nickte. »Und in Österreich, in Wien.«

So ging das Examinieren noch eine Weile weiter, bis der Meister schließlich sagte: »Gut, bleibst da. Holst dein Felleisen, kannst gleich zum Abendessen eintreten.«

»Ich dank auch schön, Herr Meister.« Philipp war erleichtert. Er brauchte diese Stelle dringend, seine Ersparnisse waren schon seit der letzten Station in Ulm so gut wie aufgebraucht.

 

Am Abendbrottisch lernte Philipp die Meisterin Maria Strunz kennen, eine dicke, breithüftige Frau mit aufgesteckten Haaren und der Andeutung eines Kropfes. »Kannst Frau Mutter zu mir sagen«, erklärte sie großzügig und wies ihm seinen Platz an der schmalen Seite des Tisches zu. Am Herd hantierte derweil ein junges Mädchen in Schürze und Kopftuch und brachte dann mit gesenktem Kopf einen Topf heran. »Meine Tochter Babette«, stellte Strunz sie vor. Das Mädchen knickste stumm; ein Hauch von Röte legte sich auf ihre Wangen.

»Grüß Gott, Babette«, lächelte Philipp und dachte bei sich, dass er noch selten ein reizloseres Ding gesehen hatte. Er war kein Kostverächter, und mit seiner Frohnatur kam er bei den Damen gut an. In fast jedem Städtchen hatte ihm bisher eine nachgeweint, wenn er wieder einmal »fremd« geworden und weitergezogen war. Einmal hatte er auch Ärger bekommen, weil er mit dem hübschen Töchterlein eines ungarischen Seifensiedermeisters angebandelt hatte. Na, die hier würde ihn jedenfalls nicht in Versuchung führen.

Die Meisterstochter schöpfte allen von der Brotsuppe ein. Betty war ein dürres, fahlhäutiges Ding mit mausgrauen Zöpfen, die unter ihrem Tuch hervorhingen. Nichts an ihr hatte Farbe, und die dunklen Ringe unter den Augen ließen sie kränklich wirken. Beim Stehen zog sie unwillkürlich den Kopf ein und wölbte den Rücken, was ihre Haltung einem Fragezeichen ähneln ließ. Während des Essens wagte sie nicht ein einziges Mal, von ihrem Teller aufzublicken, und sie schwieg beharrlich. Na, das kann ja spaßig werden mit der, dachte sich Philipp und löffelte hungrig Brot- und Zwiebelbrocken in sich hinein. Zweimal bat er um Nachschlag, bis die Meisterin zu ihrem Mann sagte: »Den kriegen wir nie satt, der frisst uns bald die Haare vom Kopf!«

 

Am nächsten Morgen um halb fünf stand Philipp auf, wusch sich im Hof am Wasserschwengel und betrat die Werkstatt. Unter dem gemauerten Siedekessel flackerte schon das Feuer, und der Meister humpelte mit einer Wanne voll Talg zur Hintertür herein. »Hab ein verkürztes Bein«, erklärte er. »Und das macht Krämpfe und Schmerzen, mal schlimmer, mal besser. Kann Hilfe gut gebrauchen.« Philipp beeilte sich, ihm die Last abzunehmen und zu der kochenden Lauge in den Kessel zu schütten. Er schnupperte. »Meister, was für Soda verwenden Sie für die Lauge?«

»Selbstgemachte!«, erwiderte Strunz stolz. »Aus Kalk und erstklassiger Holzasche. Schau mal in den Äscher!«

Philipp stellte den Blechbehälter ab, blickte sich um und rümpfte die Nase. Der war ja rückständig! Überall sonst nahm man inzwischen längst künstliche Soda aus Glaubersalz und Kalk. Die hatte ein französischer Arzt namens Leblanc schon vor Jahrzehnten erfunden! Überhaupt sah hier in der Siederei alles ein wenig verwahrlost und verdreckt aus, die Abschöpfkellen waren nicht gereinigt, die Pottasche lagerte zusammen mit den Kalksäcken offen in einer Ecke gleich neben den Wannen mit Schafsfett, auf dem die Mücken hockten. Da fragt man sich doch, wer hier von wem was lernen kann, dachte der Geselle. Aber er sagte lieber nichts, schürte und rührte lieber fleißig, gab Steinsalz in den Bottich, prüfte die Konsistenz der blubbernden Flüssigkeit und kontrollierte die Festigkeit des Seifenleims. Der Siedeprozess dauerte normalerweise acht bis neun Stunden, meist gelang die Verseifung je nach Stärke der Lauge erst nach dem fünften bis sechsten Sud. Der Meister beobachtete seinen neuen Gesellen derweil mit Argusaugen und nickte hin und wieder zufrieden. »Machst das schon ganz ordentlich«, kommentierte er.

»Darf ich später einmal ins Rezeptbuch schauen?«, fragte Philipp. »Damit ich gleich weiß, was in den Bottich kommt?«

Strunz grinste. »Rezeptbuch, ts! So was brauch ich nicht.« Er tippte sich an die Stirn. »Ist alles hier drin, mein Junge!«

Philipp seufzte in sich hinein. Kein Rezeptbuch, uralte Methoden – das war hier ja wie im letzten Jahrhundert!

 

Um acht Uhr war Zeit für das Frühstück, serviert von der schüchternen Betty. Es bestand aus einem ordentlichen Stück Brot, das in warme Milch gebrockt wurde. »Meister«, fragte Philipp vorsichtig, »warum nehmen Sie keine künstliche Soda?«

Ernst Strunz verzog das Gesicht. »Neumodisches Zeug«, knurrte er. »Braucht keiner. Meine Lauge ist einwandfrei.«

»Aber«, wandte Philipp ein, »mit der künstlichen Soda wird die Seife schön weiß, nicht mehr so grünlich wie mit der alten Natursoda. Das schaut viel eleganter aus.«

»Elegant, elegant, so ein Schmarrn.« Strunz warf den Löffel hin. »Ich sag dir mal eins, Herr Siebengescheit: Meine Seifen sind weit und breit die besten. Gute Festigkeit, feiner Schaum, sparsam im Verbrauch. Ich brauch keinen aufgestellten Mäusedreck, der mir Neuerungen aufschwatzen will. Wenn dir hier was nicht passt, kannst gern wieder gehen.«

Philipp schluckte. »Oh, neinneinnein«, druckste er. »So war’s doch nicht gemeint. Ich hab ja nur gedacht …«

»Das Denken kannst du ab jetzt ruhig mir überlassen«, brummte Strunz versöhnlich und haute seinem neuen Gesellen auf die Schulter. »Auf! Bis Mittag machen wir noch einen Sud Schmierseife, dann schöpfen wir ab und schütten alles in die Formen zum Austrocknen. Heut gibt’s früher Abendessen, weil wir nachts um ein Uhr aufstehen zum Lichterziehen. Das machen wir ab jetzt dreimal die Woche, der Herbst kommt und es wird schon früher dunkel, das ist gut für den Verkauf!«

»Ja, Herr Meister.« Philipp stand auf und trug die beiden Teller zu Betty, die am Spülstein stand und Kartoffeln schälte. »Danke«, sagte er. Sie lächelte ihn verlegen an. »Heut Mittag gibt’s saures Kartoffelgemüs«, flüsterte sie und wurde wieder rot. »Meine Leibspeis!«, lachte er, und sie sah ihm nach, als er aus der Küche ging.

***

Kapitel 2
1849

Vier Jahre bin ich jetzt schon hier, dachte Philipp Benjamin Ribot, als er in einer ruhigen Stunde abends in der Werkstatt seinen Kontrollgang machte. Und was hab ich alles verändert! Die rückständige alte Siederei Strunz hab ich auf Vordermann gebracht – obwohl der alte Meister sich anfangs mit Händen und Füßen dagegen gewehrt hat. Und jetzt ist er froh drüber!

Ja, der alte Strunz war nicht dumm. Er hatte schnell gemerkt, was da in Gestalt des schwäbischen Altgesellen für ein Goldschatz ins Haus gekommen war, und er brauchte auf die Dauer einen Helfer, sein Bein wurde schließlich nicht besser. »Kannst machen, was du willst«, hatte er nach einem Dreivierteljahr gebrummt, »Hauptsache, du bleibst da.« Das hatte sich Philipp nicht zweimal sagen lassen. Er war ehrgeizig, und die Aussicht, freie Hand zu haben, hatte ihm gefallen. Tatkräftig hatte er die Werkstatt auf moderne Weißsiederei mit künstlicher Soda umgestellt, was die Anzahl der Sude von bis dahin sechs auf zwei verringerte. Die Seifen waren ab da wunderbar weiß und fanden in der Stadt reißenden Absatz. Die nächste Neuerung war die Verwendung von Leinöl als Fettzusatz, damit wurde der Schaum feinporiger und die Seife riss beim Trocknen nicht mehr so stark. Und mit seinen auf der Walz erlernten neuen Siederezepten erreichte Philipp eine Ersparnis von Rohstoffen – aus 50 Kilogramm Talg gewann man nun eine viel größere Menge Seife, nämlich ganze 100 Kilo, die auf zwei Drittel Gewicht eintrocknete und dann in Blöcke geschnitten werden konnte. Mit dem ersparten Geld konnte ein Pferdewagen angeschafft werden, auf dem der alte Meister in die umliegenden Dörfer kutschierte. Bald war der »Seifmsieder vo’ Schwouba« ein gewohnter Anblick auf allen Märkten im Umland. Das Geschäft blühte, und der alte Strunz rieb sich die Hände.

Und nun, nach vier Jahren, hatte Philipp sich in dem Städtchen mit seinen sechstausend Seelen längst eingewöhnt. Natürlich war Schwabach kein Wien, kein Györ, kein Ulm – aber es ließ sich hier gut leben. Das Schwabenbürschle, wie man den Cannstädter bald nannte, wurde dank seiner schönen Baritonstimme Mitglied im Gesangsverein »Liederkranz« und schloss sich dem Verein der »Privilegierten Feuerschützen« an, wo er die Samstagabende verbrachte. Hin und wieder ergab sich eine kleine Liebschaft mit einem der vielen jungen Mädchen, die in den Nadelwerkstätten der Stadt als Sortiererinnen und Verpackerinnen arbeiteten. Nichts Ernstes natürlich, denn eine Arbeiterin wäre unter Philipps Stand gewesen, und er wollte schließlich hoch hinaus. Er wusste, dass sein Meister keinen Erben, aber dafür eine reizlose Tochter hatte, die nicht als alte Jungfer enden wollte. Und die ihn seit seiner Ankunft in hoffnungsloser Verehrung anhimmelte. Möchte wissen, wann beim alten Strunz endlich der Groschen fällt, dachte Philipp und schloss nach seinem Rundgang alle Türen ab. Oder bei seiner Frau.

Und tatsächlich ergriff endlich die Meisterin die Initiative. »Merkst du denn nicht, Mann, dass deine Tochter dem Philipp gut ist?«, sagte sie eines Abends, als beide nebeneinander im Bett lagen und das Licht gelöscht war.

Strunz kratzte sich unter der Bartbinde an der Oberlippe. »Die Betty?«

»Hast vielleicht noch eine andere?«, fragte Maria kopfschüttelnd.

Schweigen.

»Meinst, der tät sie nehmen?« Strunz war sich durchaus bewusst, dass seine Betty keine Schönheit war, und er kannte auch Philipps Beliebtheit bei den Schwabacher Mädchen. Zur Zeit poussierte der freche Kerl sogar heimlich die blonde Adele vom Polizeikommissär Döbelein.

»Mit der Werkstatt schon.« Maria stopfte das lange Ende ihres Zopfes unter das Nachthäubchen und faltete dann die Hände über ihrem dicken Bauch. »Redst mit ihm?«

Schweigen.

 

Am folgenden Sonntag nach dem Gottesdienst nahm Ernst Strunz seinen Gesellen zur Seite. »Hab was mit dir zu handeln!«

Sie setzten sich auf die hölzerne Bank im Hof, auf der sie manchmal Pause machten. Meister Strunz stellte zwei Gläschen zwischen sich und Philipp und goss aus einem Tonkrüglein bestes Gustenfeldener Zwetschgenwasser hinein. Die Männer tranken.

»Was gibt’s?«, fragte Philipp erwartungsvoll.

Strunz holte umständlich ein Taschentuch aus der Hosentasche und putzte sich die Nase. »Weißt ja«, begann er, »dass die Werkstatt keinen Erben hat.«

Philipp nickte bedächtig.

»Tätst sie haben wollen?«

»Schon.«

Strunz schenkte noch einmal ein. »Und weißt auch, dass die Betty dir gut ist«, stellte er fest.

»Auch.«

Die Männer tranken.

»Kriegst die Werkstatt nicht ohne die Betty.« Strunz saugte sich den Schnaps aus dem Bart.

Philipp nickte wieder. »Ist mir recht.«

»Dann schlag ein.«

Damit und mit einem weiteren Schnaps war das Geschäft besiegelt.

Hinterm Küchenfenster, von wo aus die beiden Frauen gelauscht hatten, schlug Betty die Hände vor den Mund, und ihre Mutter tupfte sich mit dem Schürzenzipfel die Tränen aus den Augenwinkeln.

 

Gleich am nächsten Tag, es war der 17. August 1849, marschierte Philipp Benjamin Ribot zum Magistrat und reichte ein Gesuch zur Ansässigmachung in Schwabach ein, zusammen mit der schriftlichen Bitte um eine Konzession als Seifensieder sowie die Erlaubnis zur Verehelichung mit Babette Strunz allda. Den drei Ansinnen wurde bereitwillig stattgegeben. Das Aufgebot wurde bestellt und die Hochzeit für Oktober angesetzt.

So trat schließlich Betty an einem regnerischen Herbstmittwoch den Gang durch das Mittelschiff der Kirche St. Johannes und St. Martin an, geführt von ihrem stolzen Vater, der sich für diesen feierlichen Auftritt ohne Krücken mühte. Betty trug ein hochgeschlossenes schwarzes Brokatkleid mit seidenen Bändern und Schärpen, lederne Spangenschuhe und ein Myrtenkränzlein als Kennzeichen der Jungfrauen. Selbst im festlichen Brautgewand hatte sie wenig Anziehendes an sich. Ihr Gesicht war bleich wie eh und je, die Augen dunkel umrandet, das dünne Haar streng aus der Stirn gekämmt und in spärlichen Schnecken aufgesteckt. An der Seite des stattlichen Bräutigams sah sie aus wie das sprichwörtliche hässliche Entlein neben dem Schwan. Natürlich wusste sie, dass Philipp sie nicht liebte. Er nahm sie, weil sie das Geschäft mit in die Ehe brachte. Aber es war ihr ganz gleich, sie wollte einfach nur bei ihm sein, ihn lieben und ehren und für ihn sorgen bis ans Ende ihrer Tage. Glücklich wollte sie ihn machen, und das hatte sie schon getan, in einer heißen Augustnacht droben in seiner Dachkammer. Deshalb entsprach das Myrtengrün auf ihrem Kopf nicht ganz der Wahrheit, und das drückte schon auf ihr Gewissen. Was sie getan hatten, unter den leise knackenden Balken in seinem schmalen Bett, war ihr unangenehm gewesen, geschämt hatte sie sich. So ging das also mit den Männern. Sie hätte das kein zweites Mal gebraucht, aber sie wusste, dass dieser nächtliche Akt in Zukunft zu ihrer Pflicht gehörte, und sie würde dieser Pflicht getreulich nachkommen. Alles würde sie für ihren Philipp tun und noch mehr. Wenn es sein sollte, würde sie ihm jede Nacht mit ihrem mageren Körper, ihren kindlichen Brüsten, ihrem weiblichen Schoß zu Willen sein. Denn er war freundlich zu ihr und gut. Was hatte ein hässliches Ding wie sie sonst schon zu bieten? Als sie ihm vor dem goldenen Wandelaltar der Stadtkirche das Jawort gab, empfand sie unendliche Dankbarkeit.

 

Nach der Kirche wurde im Jubelhaus gefeiert, es gratulierten die Freunde, die Nachbarn, die guten Kunden und die Schwabacher Metzger als treue Talglieferanten. Auch die Strunz’sche Verwandtschaft aus Altdorf war gekommen: Ernsts jüngerer Bruder Valentin, der dort ebenfalls eine Seifensiederei betrieb, dessen Frau Irma, die beiden Söhne Wilhelm und Stefan und Tochter Käthe. Beim Mittagessen konnte Philipp nicht anders, er musste immer wieder zur Cousine seiner Frau hinüberschielen. Das war ein Weibsbild! Drall, rosig, mit ordentlich was dran! Und wie sie lachte und mit Appetit ihre Blut- und Leberwürste verspeiste! Ei, so eine, das wär’s gewesen, dachte er. Aber die hätt halt keine schöne große Werkstatt mitgebracht, die hat ja einen Bruder, der übernimmt. Und außerdem, so schalt er sich, ist die Betty eine Herzensgute, eine Brave, und fleißig wie ein Bienlein. Mit der war kein schlechter Griff getan.

Trotzdem zog er die Käthe später beim Tanz recht eng an sich, bis seine Schwiegermutter ihn so finster ansah, dass er den ganzen restlichen Nachmittag nur noch mit Betty tanzte. »Freust dich?«, fragte er sie jedes Mal, wenn der Fiedelspieler eine Pause machte. »Freilich«, sagte sie dann, »hab doch jetzt einen braven Mann!«

Nach der Abendbrotzeit verliefen sich die Gäste, und Philipp brachte den Pfarrer zur Tür. Auf dem Rückweg durch den Flur sah er eine kleine Bewegung im Laden und ging hinein. Drinnen stand sein frischgebackener Vetter Stefan und machte sich an der Geldschublade zu schaffen.

»Herrschaftszeiten, gehst weg, auf der Stelle!«, schrie Philipp. »Bestiehlst die eigene Verwandtschaft, bist ja ein sauberes Bürschlein!«

Stefan zuckte zusammen und drehte sich um. »Bittschön, verrat mich nicht«, flehte er. »Sei so gut! Bin eh schon der ärmste Hund.«

Beim Anblick des zitternden Jungen, der sterbensbleich geworden war, packte Philipp das Mitleid. Er schloss die Tür. »Ja sag, warum tust denn du so was?«

Stefan schluckte. »Der Vater macht mir das Leben zur Hölle, wo ich geh und steh. Nichts kann ich ihm recht tun, alles, was ich sag, ist falsch. Er prügelt mich sogar vor der Kundschaft, dabei bin ich doch schon achtzehn. Nicht zum Aushalten ist’s!«

»Und deshalb klaust du Geld?«

Trotzig fuhr der Junge auf. »Ich bin ein besserer Seifensieder als mein Bruder. Ideen hab ich, werden will ich was. Aber der Willi kriegt das Geschäft, und ich soll mein Leben lang Gehilfe sein und von Brosamen leben! Aber wart nur, denen zeig ich’s! Ich geh nach Amerika, und da mach ich mein Glück!«

Philipp schob die Unterlippe vor. »Amerika? Hoppla, mutig!« Er bekam fast ein wenig Hochachtung vor dem jungen Kerl, der da mit funkelnden Augen vor ihm stand. Amerika, ja, wer träumte nicht davon? Ein freies Land, in dem jeder alles werden konnte. Wo es keine Standesgrenzen gab, wo nur die eigenen Fähigkeiten zählten. Wo man dem alten Mief und der Kleinstaaterei entfliehen konnte und Abenteuer erleben!

»Hab schon fast genug für die Überfahrt nach Neu York zusammen«, sagte Stefan und hob die Hände. »Ich hätt euch auch das Geld zurückgeschickt, ehrlich! Bitte, bitte, verrat mich nicht.«

Philipp kratzte sich am Kopf, sah den armen Tropf mit gerunzelten Brauen an und fasste einen Entschluss. »Wart«, sagte er. »Bin gleich wieder da.«

Er kam mit einem Kästchen zurück, auf dessen Deckel die Worte »Uebe Sparsamkeit« standen, öffnete es und nahm zehn glänzende Guldenstücke heraus. »Nimm’s«, sagte er und drückte dem ungläubig dreinblickenden Stefan das Geld in die Hand. »Das ist mein Spargroschen, aber ich hab jetzt ja die Siederei. Jetzt nimm schon!«

Stefans Finger schlossen sich um die Goldmünzen. »Das … das vergess ich dir nie!«, stotterte er. »Ich schwör’s! Und du kriegst alles zurück, Ehrenwort!«

»Schon gut.« Philipp zwinkerte seinem Vetter zu. »Viel Glück!«

Dann ging er zu den letzten Gästen zurück.

»Wird schon werden mit uns beiden«, flüsterte er Betty ins Ohr, als sie um Mitternacht im neuen Ehebett lagen.

Sie lächelte. »Bis dass der Tod uns scheidet.«

Dann blies sie die Kerze aus.

 

Fünf Monate später, im März 1850, stand am selben Bett händeringend die städtische Hebamme. Betty wand sich schweißgebadet in den Laken. »Es darf noch nicht kommen«, stöhnte sie. »Es ist doch noch zu früh. Heilige Mariamuttergottes, hilf!«

»Trink, Kindchen«, sagte die Wehfrau und setzte einen Becher mit krampfhemmendem Kräuterabsud an die Lippen der Schwangeren. Wenn es stimmte, dass das Kind im August gezeugt war, dann stand es wirklich nicht gut. Sie hatte alles getan, um eine Geburt zu verhindern, aber es schien, als könne die junge Frau das Kleine nicht mehr halten. Jetzt bäumte sie sich wieder auf. Kraft hatte die Ärmste eh nicht viel, schmächtig und blass wie sie da lag, fast wie ein Kind, wäre da nicht der gewölbte Bauch gewesen. Beruhigend strich sie Betty über die Stirn, aber da kam schon die nächste Wehe. Nichts zu machen, dachte sie, das Kleine will auf die Welt. »Strunz-Mutter«, sagte die Hebamme zu Maria, die am Fußende des Bettes saß und ein Vaterunser nach dem anderen betete, »bring heißes Wasser und Tücher. Sie kann’s nicht drinhalten!«

Und so kam Philipps erster Sohn vor der Zeit auf die Welt, nur um sie gleich wieder zu verlassen. Er atmete zwar, aber zum Schreien und Strampeln fehlte dem Frühgeborenen die Kraft. Philipp hielt den kleinen Wurm weinend in seinen Armen, während dieser die Nottaufe empfing. »Wie soll er denn heißen?«, fragte der eilends herbeigeholte Pfarrer Röckel. Philipp brachte kein Wort heraus. »Nach mir«, erklärte der alte Strunz schulterzuckend. Ist sowieso egal, dachte der Geistliche und segnete das sterbende Kind. »Ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes auf den Namen Christian Ernst Strunz.« Im selben Moment hauchte das winzige Geschöpf in den Armen des Vaters sein bisschen Leben aus.

 

Vier Monate später lebte auch Betty nicht mehr. Sie war nach der schweren Geburt nicht mehr aus dem Wochenbett aufgestanden, hatte vor lauter Kummer nichts mehr zu sich nehmen können und hatte schließlich das Schleimfieber bekommen. Ihre letzten Worte waren gewesen: »Jetzt geh ich zu meinem Engele.«

Für Philipp war es ein schwerer Schlag, seine junge Frau war ihm doch ans Herz gewachsen, ihre Liebe und Hingabe hatten ihm in der Seele gutgetan. Doch die ehrliche Trauer des jungen Witwers war nichts gegen die Verzweiflung der Mutter. Maria Strunz brachte kein Stückchen Brot mehr hinunter, magerte innerhalb kürzester Zeit ab und legte sich eines Tages ins Bett, um nicht mehr aufzustehen. Da war guter Rat teuer. Ohne die Hilfe der Frauen, die in der Werkstatt beim Seifenschneiden, Stanzen und Verpacken gebraucht wurden – ganz zu schweigen vom Haushalt – konnte es nicht gehen. Man musste sich jemanden suchen, der die kranke Maria pflegte, die Männer versorgte und im Geschäft half. Da lag nichts näher, als nach Altdorf zu schreiben und Valentin Strunz zu bitten, seine Käthe zu schicken. Zumindest so lange, bis die alte Meisterin sich wieder aufrappelte.

Und Käthe kam. Mit ihrer zupackenden Art hatte sie den Haushalt schnell im Griff, und als Seifensiedertochter wusste sie auch in der Werkstatt gleich, wo sie hinzulangen hatte. Sie war selber froh, dem Elternhaus zu entkommen, denn seit ihr Bruder Stefan vor drei Monaten bei Nacht und Nebel auf und davon gegangen war, hatte die Familie unter der Tyrannei des wütenden Valentin noch mehr zu leiden als sonst. Die Käthe wirtschaftete also bei der Schwabacher Verwandtschaft, und mit ihr kehrte das Leben in das Haus in der Nürnberger Straße 10 zurück. Die alte Meisterin stand zwar nicht wieder auf, aber alles andere fand sich. Und kaum war das Trauerjahr zur Hälfte vorüber, hatten sich auch Philipp und Käthe gefunden. Eines Abends war sie zu ihm ins Bett gekommen, als sei es das Selbstverständlichste auf der ganzen Welt. Es hatte keine Worte gebraucht. Philipp war überwältigt von ihrer natürlichen Sinnlichkeit, ihrer Gabe, seine Zärtlichkeiten zu genießen, anstatt ihn nur verschämt gewähren zu lassen, so, wie er es bisher gekannt hatte. In seinen Nächten mit Käthe war er zum ersten Mal im Leben wirklich glücklich.

Natürlich blieb nicht verborgen, was im Hause Strunz vorging. Es gab Gerüchte, die Leute redeten. So kam es, dass Pfarrer Röckel eines Abends an die Tür klopfte. »So kann’s nicht weitergehen bei euch«, seufzte er. »Selbst wenn’s nicht stimmen sollte, was man sich in der Stadt erzählt, aber zwei junge Leut miteinander unter einem Dach, beide voller Saft und Kraft, du lieber Herrgott! Das ist ja in höchstem Maß, wie soll man sagen, das sind ja schlamperte Verhältnisse!« Er wischte sich mit dem Zipfel seiner Soutane den Schweiß von der Stirn. Dann drosch er mit der Faust auf den Tisch. »So was dulde ich nicht in meinem Pfarrsprengel! Also Kinder, punktum: Ihr bestellt jetzt das Aufgebot, und sobald das Trauerjahr um ist, wird geheiratet.«

Draußen fiel die Käthe dem verdutzten Kirchenmann um den Hals. »Danke, Herr Pfarrer!« Und drinnen meinte der alte Strunz zu seinem verlegenen Schwiegersohn: »Ist schon recht, Bub. Ich geh und sag’s der Frau.«

So gab Philipp Benjamin Ribot am 8. Oktober 1851 zum zweiten Mal sein Jawort, diesmal als verliebter Bräutigam, mit Inbrunst und aus vollstem Herzen.

***

Kapitel 3

Brief des Seifensieders Stefan Strunz an seine Schwester Käthe, geschrieben zu Neu York am 12. Februar 1851

 

Liebe Schwester,

Ich will dir sogleich Nachricht geben von meiner Ankunft in Amerika, damit du dir keine Sorgen nicht machst.

Die Überfahrt war schlimm, wir hatten Sturm dass es das Wasser ober dem Schiff zusammenschlug. Das war ein Elend, die mehresten mußten sich erbrechen alle Fässer und Kästen was wir hatten burzelten von der einen Seite zur andern. Im Bett hat man sich angelegt aber man ist doch herausgefallen. Die Leut haben alle gerufen wir gehen zukrund es ist keine Hilfe mehr da mir sind verloren. Da dachte mancher wäre ich daheim gebliben.

Wir hatten solch schlechte Kost daß es nicht einmal die Schweine freßen thäten. Salzfleisch und Kardofeln, Graupen und Bohnen und eingemachte Zwetschgen, alles ganz schlecht und faulig, obenher schwamm das Ungeziefer es waren Tierchen wie die Flöh. Wenn man auf den schwarzen Zwieback klopfte dann kamen weiße Würmchen heraus. Viele hatten die Scheißerei, und nur 8 Privets! Es starben nicht umsonst 10 Kinder die warn am schlimsten dran aber wir warn froh, dass es nicht die Ruhr oder der Tüphus warn, auf andern Schiffen sind viel mehr Leut gestorben, Todesschiffe hat man die genannt.

Nach 36 Tagen fuhrn wir im Hafen von Neuyork ein, da mußten wir 3 Tag auf Quaranti liegen. Neuyork ist so groß, manche Gass ist sieben Stunden lang und die Häuser sind schöner gebaut als daheim.

In Amerika hilft keiner dem andern da kann man nicht sagen jetzt will ich da und da hin da muß man thun was man für eine Arbeit bekommt. Es kommen alle Tage Neuangekommene im Tausend nach wo Arbeit wollen. Ich war 10 Tag in Neuyork, dann war alles Geld weg und bin ich zu einem Farmer gekomen da hab ich 12 Dollar bekomen nach deutschem Geld 30 fl in einem Monat! Dan bin ich auf die Eisenbahn da hab ich ein Dollar per Tag bekommen und jetzt bin ich beim Canal, da hab ich noch mehr. In Amerika hat es jeder Arbeiter gut. Dies ist mein Glück das ich gesund bin und verdienen kann. Aber alles ist hier theuer doch die Kost ist beßer als in Deutschland beim reichsten Herrn mir haben noch gar kein schwarzes Brot gesehn lauter weißes Brot, es gibt alle Tage 3 × Fleisch und ißt man anstatt Kardofeln feine Pasteten. Es ist alle Tage wie daheim an Kirchweih. Wenn ich genug Dollar gespart hab will ich bald eine Siederey aufmachen.

Ich hoffe mein Schreiben wird dich in bester Gesundheit antreffen, was mich anbelangd bin ich Gott sey dank gesund. Lebe wohl und verbleibe ich mit freundlicher Hochachtung dein Bruder

Stefan

***

Kapitel 4
1852

An einem Oktobermorgen des Jahres 52 betrat ein stämmiges dunkelhaariges Mädchen in Hütchen und Sonntagskleid den Ribot’schen Laden. Das Messingglöckchen an der Feder über dem Türblatt bimmelte, während das Mädchen sich drinnen umblickte. Lauter Regale voller Seifenstücke, einzeln und in Kartons aufgestapelt, Kerzen in allen Größen, Tiegel und Töpfchen und Einwickelpapier, und wie das duftete, so frisch!

»Was darf’s sein?« Die junge Meisterin kam aus dem Nebenraum und stellte sich hinter die Theke. »Schöne weiße Schmierseife hätten wir, gestern erst fertiggemacht.«

Das Mädchen schlug verlegen die Augen nieder. »Verzeihung, aber ich hab gehört, hier wär eine Arbeit zu vergeben.«

»Ach so!« Käthe Ribot nickte. »Wir suchen ein Dienstmädchen, das stimmt. Na, komm herein.«

Sie führte die Bewerberin in die Küche, wo schon ein Topf mit Kartoffeln fürs Mittagessen und eine Blechkanne mit Zichorikaffee auf dem Herd standen. In einem hölzernen Laufställchen hockte ein vielleicht sechs Monate alter blonder Bub und kaute mit seinen drei Zähnchen auf einem Kanten Brot herum.

»Da sitzt ein Grund dafür, dass wir ein Mädchen brauchen«, sagte Käthe und deutete lächelnd auf den kleinen Burschen. »Der Fritz, unser Stammhalter. Er ist im August geboren, jetzt krabbelt er schon, und ich komm nicht mehr hinterher. Ich muss ja in der Werkstatt mitarbeiten und im Laden. Die Schwiegermutter ist bettlägrig und braucht selber Pflege. Die ist der zweite Grund. Traust du dir das zu, Haushalt und Kind und eine Kranke?«

Das Mädchen wagte ein Lächeln. »Ich hab meinem Vater und seinem Lehrling das Haus geführt, seit meine Mutter gestorben ist, vor sieben Jahren. Und meine Mutter hab ich davor gepflegt, da war ich noch ein Kind.«

Käthe nickte und musterte die Kandidatin. Hübsch war sie nicht mit ihren dichten schwarzen Augenbrauen und den leicht vorstehenden Zähnen, was ihrem Gesicht etwas Hasenähnliches verlieh. Aber derb und gesund sah sie aus, rosige Wangen, breite Hüften, kräftige Figur. »Zeig mir deine Hände«, befahl die Meisterin, und folgsam streckte das Mädchen sie hin. Ja, das waren keine Fräuleinhände; die hatten schon gearbeitet, das konnte man sehen. »Bei uns muss nämlich hingelangt werden, weißt du, es gibt genug zu tun von früh bis spät. Da muss einer die Arbeit sehen und zupacken. Wie heißt?«

»Rosa Adel, und neunzehn Jahre bin ich.«

»Wir zahlen achtzehn Kreuzer am Tag plus Kost und Logis«, erklärte Käthe. »Und jeden zweiten Sonntagnachmittag frei.«

Rosa sah ein wenig enttäuscht drein, auf zwanzig Kreuzer hatte sie schon gehofft. Aber sie konnte es sich nicht leisten, wählerisch zu sein. »Wär schon recht«, sagte sie.

Im selben Augenblick ging die Tür auf und Philipp Ribot kam herein, schweißgebadet vom Sieden. Er griff zum Wasserkrug auf dem Tisch und trank durstig.

»Das ist die Rosa Adel«, sagte Käthe zu ihm. »Unser neues Dienstmädchen.«

»Adel, Adel … bist du am End die Tochter vom Wilhelm Adel aus der Schulgasse? Dem Revoluzzer?«

Rosa sackte ein bisschen in sich zusammen. »Ja, Herr Meister.«

»Na sauber!« Philipp runzelte die Stirn. Der Tuchscherer Wilhelm Adel war ein stadtbekannter Unruhestifter, Anführer der aufrührerischen Arbeiter in der Revolutionszeit von 1848. Einen politischen Verein hatte er gegründet, gegen die Obrigkeit hatte er sich aufgelehnt, der unverschämte Kerl! Und die Tochter von so einem sollte ihm jetzt ins Haus kommen?

Rosa genierte sich; ihre dichten Augenbrauen sackten noch ein bisschen tiefer. Sie wusste schon, was Philipp dachte. Ihr Vater war vor vier Jahren gegen die Regierung und Staatsmacht auf die Straße gegangen, hatte für die einfachen Leute gekämpft, für ein besseres Leben. Man hatte ihn mehrfach verhaftet, hatte seinen Verein verboten, ihn schikaniert und gepiesackt. Nie hatte er sich gebeugt, war nie von seiner Haltung abgewichen. Deshalb hatte ihn der Magistrat vor drei Wochen aus der Stadt gewiesen; zwei Polizeisoldaten hatten ihn bis zum Nürnberger Tor gebracht und gemeinsam mit der weinenden Rosa zugesehen, wie er mit seinem Tornister auf dem Rücken Richtung Norden marschierte.

»Bist auch so eine?«, fragte Philipp misstrauisch.

Rosa schluckte. »Ich brauch Arbeit und Unterkunft«, sagte sie leise. »Mein Vater ist verbannt, und ich kann die Miete für die Wohnung nicht bezahlen. Bittschön, Meister Ribot, ich mach bestimmt keine Revolution …«

Philipp war schon drauf und dran, abzulehnen, da fing der kleine Fritz an zu schreien. Rosa ging schnell zum Ställchen, nahm den Buben hoch und herzte ihn. »Gell, das tut weh, wenn die Zähnle kommen«, tröstete sie und ließ den Kleinen nach ihren Kinnbändern grapschen. Das Fritzle zog die Schleife auf und betastete glucksend die künstlichen Blumen auf Rosas Hütchen. Käthe sah bittend zu ihrem Mann hinüber.

»Meinetwegen«, brummte Philipp. »Bleibst halt da. Aber wehe, wenn ich aufmüpfige Reden höre!«

Rosa knickste. »Danke, Herr Meister. Nein, Herr Meister, bestimmt nicht.«

Damit war sie ins Seifensiederhaus aufgenommen.

 

Rosa fühlte sich schnell wohl im Hause Ribot. Der kleine Fritz hing wie ein Zeck an ihr, und sie liebte den Buben wie ihr eigenes Kind. Die alte Meisterin brauchte zwar eine Weile, aber mit der Zeit gewöhnte sie sich an die sanften Hände, die sie wuschen, anzogen und kämmten, an Rosas Stimme, wenn sie sie fütterte. Käthe konnte sich bald aus dem Haushalt zurückziehen und ihren Mann täglich in der Werkstatt unterstützen, nur an den Waschtagen und bei besonderen Aufgaben wie Obst- und Gemüseeinmachen, Bügeln oder beim großen Reinemachen vor den Feiertagen half sie noch mit. Rosa stand jeden Tag früh um halb fünf Uhr auf, arbeitete vierzehn Stunden und fiel nach dem Abendessen in ihrer Dachkammer todmüde ins Bett. Wenn Not am Mann war, verkaufte sie auch im Laden oder wickelte Seifen in Papier ein. Trotz der vielen Arbeit war sie zufrieden. Man war gut zu ihr, und sie bekam jeden Samstag pünktlich ihr Geld, das sie in einem Sparstrumpf unter der Matratze versteckte. Wie viele andere Dienstmädchen in der Stadt ging sie am Sonntag nach der Kirche für zwei Stunden in die Sonntagsschule, machte dann einen Spaziergang über den Heubersbuck oder aß im Café ein Stück Torte, doch das war schon ein großer Luxus, den sie sich nur selten gönnte. Käthe, die nur ein paar Jahre älter war, wurde ihr zur Freundin, wenn auch stets ein gebührender Abstand zwischen Dienstmagd und Meisterin gewahrt wurde. Als sich das nächste Kleine in Käthes Bauch ankündigte, freute sich Rosa um so mehr mit der werdenden Mutter. Die Geburt im Juli 53 war leicht, und es war durch Gottes Fügung wieder ein Sohn, den man Carl Benjamin nannte. Ein liebes Kind, das nicht viel schrie, meistens schlief und von seinem Bruder wie ein Spielzeug herumgezogen wurde. Im Hause Ribot herrschte wieder eitel Glück und Sonnenschein. Aber der Herr gibt’s und der Herr nimmt’s – eine Woche vor Weihnachten wurde der Bub unruhig, wollte nicht mehr trinken und schrie schließlich unablässig. Alle Künste des herbeigeholten Stadtphysikus waren vergeblich; am dritten Tag starb die unschuldige kleine Seele am Stickfieber. Rosa und Käthe weinten gemeinsam am Sterbebettchen, während Philipp sich in die Werkstatt zurückzog, um seinen Kummer wegzuarbeiten. Wie zum Hohn gelang ihm jetzt endlich die Verwirklichung einer Idee, die er schon lange mit sich herumtrug: farbige Seife. Nach vielen Versuchen glückte ihm das Blaufärben durch die Zugabe von Harzstocköl, und pulverisierte Krappwurzel brachte ein schönes Rosa.

Die neue »Damen-« und »Herrenseife« entwickelte sich schnell zum Verkaufsschlager, sogar aus Nürnberg kam Kundschaft. Und als dann Philipp der Damenseife noch Rosenöl und der Herrenseife Latschenkieferöl als Duftstoff zufügte, kam er mit der Produktion kaum noch hinterher. Der Schwiegervater war ihm nur wenig Hilfe, das verwachsene Bein peinigte ihn immer schwerer. Also stellte Philipp seinen ersten Lehrling ein, der in einem Verschlag unterm Dach der Siederei untergebracht wurde. Käthe arbeitete von früh bis spät mit wie ein Mann; mit heißem Draht schnitt sie die getrockneten Seifenblöcke erst in Tafeln oder Riegel, dann in einzelne Stücke, schlug anschließend mit Stempel und Holzhammer die Prägung auf die Oberfläche, stapelte sie zum Fertigtrocknen in Horden auf und verpackte sie am Ende in schönes Dekorpapier. Kam Kundschaft, dann rannte sie schnell in den Laden und verkaufte. So war auch sie vom Kummer über den Tod ihres zweiten Söhnchens abgelenkt. Für ihren Erstgeborenen hatte sie kaum Zeit, doch der Bub gedieh glücklich unter den Fittichen seiner Ersatzmutter Rosa. Und schließlich stellte sich wieder Nachwuchs ein: Im Oktober 54 kam ein Sohn zur Welt, den man nach seinem toten Brüderchen Carl nannte, und zwei Jahre später bekam Käthe ihr ersehntes Mädchen, die kleine Frieda.

Eines schönen Sommertages saß Rosa mit dem kleinen Fritz auf der Holzbank im Hof, das Carlchen auf dem Schoß und die winzige Frieda im Körbchen neben sich. Sie sang Kinderlieder, damit ließen sich alle drei am einfachsten still halten. Fuchs, du hast die Gans gestohlen, Weißt du, wie viel Sternlein stehen, Die Vogelhochzeit. Und dann, sie hätte gar nicht mehr sagen können, wie sie darauf kam, stimmte sie mit einem Mal das Lied an, das ihr Vater immer gesungen hatte: »Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten / sie fliegen vorbei wie nächtliche Schatten / kein Mensch kann sie wissen / kein Jäger erschießen / es bleibet dabei: Die Gedanken sind frei. Und sperrt man mich ein im finstersten Kerker / das alles sind rein vergebliche Werke / denn meine Gedanken sie brechen die Schranken und Mauern entzwei …«

»Ja Kreuzdonnerwetter, bist du ruhig!« Das war die Stimme des Meisters aus der Siederei. Mit ein paar Schritten war Philipp Ribot im Hof und baute sich breitbeinig vor Rosa auf, die sich instinktiv duckte. »Singst das Dreckszeug von der Revolution vor meinen Kindern! Willst mir meinen Nachwuchs verderben mit aufrührerischen Liedern? Dir werd ich gleich …« Er packte Rosa am Arm, zog sie mitsamt dem kleinen Carl hoch und hob die Hand. Fritz begann zu schreien, und auch die kleine Frieda plärrte in ihrem Körbchen.

»Nicht, Philipp!« Käthe war herbeigeeilt und fiel ihrem Mann in den Arm. Der stand hochroten Kopfes da und schnaubte wütend. »Die kannst du gleich entlassen! Die ist kein Umgang für meine Söhne, ich hab’s doch gewusst! Sozialistenpack!«

Rosa schluchzte auf, drückte Käthe den kleinen Carl in die Hand und flüchtete weinend ins Haus.