Hannah Winkler
Verkaufe Brautkleid, ungetragen
Wahre Geschichten
FISCHER E-Books
Hannah Winkler wurde 1986 in Delmenhorst geboren und studierte in Bremen und Hannover Journalistik und Fernsehjournalismus. Heute lebt sie in Hannover und arbeitet als freiberufliche Filmemacherin, Journalistin und Autorin für verschiedene Redaktionen. Ihr Spezialgebiet: Persönliche, echte und unverfälschte Geschichten, die berühren und bewegen.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Filmemacherin, Journalistin und Autorin Hannah Winkler hat auf der Suche nach dem perfekten Brautkleid für ihre eigene Hochzeit zunächst das Internet durchforstet. Schnell klickte sie sich durch die gängigen Verkaufsportale und war überrascht, wie viele ungetragene Brautkleider hier zum Verkauf angeboten wurden. Die Kleinanzeigen hätten unterschiedlicher nicht sein können: die meisten verrieten fast gar nichts, einige wenige erzählten hingegen offen von geplatzten Träumen, Enttäuschungen oder überraschenden Schwangerschaften. So entstand die Idee zu einem Buchprojekt über ungetragene Brautkleider. Unzählige Frauen schütteten Hannah Winkler ihr Herz aus. Die Bandbreite der Geschichten war riesig. Und dennoch hatten alle Erzählungen etwas gemeinsam: Die betroffenen Frauen haben ihre Hoffnung nie aufgegeben. Ganz gleich, welche Erfahrungen sie gemacht haben: Der Verkauf ihres Brautkleides war der Schritt in ein neues Leben
Mit Zeichnungen von Frauke Thiemig
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Zero Werbeagentur, München
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490429-0
Leben ist das, was dir passiert,
während du eifrig dabei bist,
andere Pläne zu machen.
John Lennon
Irgendetwas ist anders an diesem Tag. Schon beim Aufstehen spüre ich, dass das kein normaler Samstag werden wird. Am Frühstückstisch bekomme ich kaum einen Bissen runter, ruhelos flüchte ich in Alltagskram und verbringe den Vormittag damit, die Küche und das Bad zu putzen. Ich sortiere den Müll und bringe das Altpapier weg. Danach räume ich endlich mal wieder meinen Schreibtisch auf und gehe einkaufen. So gelingt es mir nach und nach, dieses unruhige, flattrige Gefühl in meinem Bauch etwas zu bändigen.
Doch bereits am späten Nachmittag, meine To-do-Liste ist da gerade abgearbeitet – ich bin übrigens eine große Verfechterin von diesen kleinen gelben Post-it-Zettelchen –, ist es wieder da.
Ich bin gerade auf dem Weg zum Friseur in die Stadt. Es ist Ende Januar, der graue Winterhimmel verspricht wenig Abwechslung, aber mit jedem Schritt werde ich aufgeregter. Dabei habe ich nichts Aufwendiges vor, lediglich ein routinemäßiger Termin zum Spitzenschneiden steht an. Beim Friseur rutsche ich ungeduldig auf meinem Stuhl hin und her und begegne den Smalltalk-Versuchen meiner Friseurin unkonzentriert und einsilbig. Es dauert nur knapp eine Stunde, und dann verlasse ich den Salon auch schon wieder. Als ich in die Bahn in Richtung Zuhause einsteige, beginnen meine Hände plötzlich, ganz leicht zu zittern. Ich bin nervös. Richtig nervös.
Die Fahrt dauert etwa zehn Minuten, dann muss ich noch ein kurzes Stück zu Fuß gehen. Als ich die Eingangstür zu dem Haus öffne, in dem ich mit meinem Freund in der zweiten Etage wohne, zögere ich für einen kurzen Moment. Was ist nur los mit mir? Doch dann verdränge ich das unruhige Gefühl, hole tief Luft und nehme entschlossen die Treppen zu unserer Wohnung.
Angekommen in der zweiten Etage, erkenne ich durch die Glasscheibe der Haustür, dass in unserem Flur Kerzen brennen. Ich halte kurz inne, dann stecke ich den Schlüssel ins Schloss, öffne die Tür und betrete den Flur. An den sonst leeren Wänden hängen unzählige Fotos. Bilder von mir und meinem Freund Jonas. Fotos aus unseren zwei gemeinsamen Jahren. Die Schlafzimmertür ist verschlossen. Doch ich höre die vertrauten Klänge meiner Lieblingsband, ganz leise. Und auf einmal weiß ich, warum ich den ganzen Tag so aufgeregt war. Er wartet hinter dieser Tür auf mich. Ich atme noch einmal tief ein und aus. Dann öffne ich sie – und betrete mein neues Leben.
Als ich ein kleines Mädchen war, habe ich mir diesen Moment immer ausgemalt. Den Moment, in dem mich ein Mann fragt, ob ich ihn heiraten will. Und ich wusste damals auch ganz genau, wie meine Hochzeit und vor allem mein Hochzeitskleid aussehen sollten. Ich wollte in einem Traum in Weiß zum Altar geführt werden oder vielmehr dahin schweben, und mein Liebster sollte bei meinem Anblick zu Tränen gerührt sein. Dann wollte ich die ganze Nacht darin durchtanzen und von allen bewundert werden.
Als ich mit achtundzwanzig Jahren von meinem Freund – der Liebe meines Lebens, meinem Seelenverwandten und engsten Verbündeten – einen Heiratsantrag bekomme, bin ich der glücklichste Mensch auf der Welt und schwebe tatsächlich die nächsten Tage und Wochen drei Zentimeter über dem Boden – mit einem Dauergrinsen im Gesicht. Allerdings habe ich mich über die Jahre des Erwachsenwerdens verändert. Und von meinem romantischen Mädchentraum einer Prinzessinnen-Hochzeit ist nicht mehr viel übrig geblieben.
Im Gegenteil: Es bereitet mir großes Unbehagen, im Mittelpunkt zu stehen. Ich mag keine Überraschungen. Ich vermeide es, meinen Geburtstag zu feiern. Und ich bekomme nicht gerne Geschenke. In diesen Momenten verspüre ich immer den Drang, mich in Luft aufzulösen.
»Die perfekten Voraussetzungen für eine Hochzeit«, scherze ich, als ich mit meinem Freund – ich korrigiere: Verlobten – beim Japaner ums Eck unseren großen Tag plane. Doch Jonas steht wie immer voll und ganz hinter mir. Und so entscheiden wir in diesem Moment gemeinsam: Wir wollen unsere Liebe mit einer kleinen, feinen Sommerhochzeit zelebrieren. Romantisch und doch ein wenig rustikal soll sie sein. Vielleicht in einer Scheune oder irgendwo in der Natur. Es soll eher ein Fest mit unseren Liebsten sein statt einer großen Hochzeitssause: ohne Hochzeitstanz (zu viel Aufmerksamkeit), ohne Reden (die Gefahr, dass ich rot anlaufe, ist zu groß) und ohne Spiele oder sonstige Vorführungen (ich mag ja nicht mal Spieleabende). Wir beschließen, nur die engsten Freunde und Familienangehörigen einzuladen, planen also mit gerade einmal fünfunddreißig Gästen, was die Situation deutlich entspannter für mich macht.
Doch auf eines möchte ich, obwohl ich in Sachen Hochzeit inzwischen etwas pragmatischer denke als noch zu Kinderzeiten, dennoch nicht verzichten: das Brautkleid.
Zwar würde ich selbst nie Tausende von Euros für ein Kleid über die Ladentheke schieben, aber ich muss zugeben: So ein Brautkleid hat etwas Magisches an sich. Wer dreht sich schließlich nicht um oder bleibt stehen, wenn er eine Frau im Brautkleid sieht. Ich jedenfalls mag die Wirkung und den Anblick dieses Stückes Stoff der Liebe. In keinem anderen Kleidungsstück stecken schließlich mehr Hoffnungen, Wünsche und Träume. Ein Brautkleid ist eben der Höhepunkt einer jeden Hochzeit – und das schon seit mehreren Jahrhunderten.
Es wurde nicht immer in Weiß geheiratet, so wie es heute die meisten Bräute tun, doch das Brautkleid wurde schon immer mit viel Liebe und Bedacht ausgewählt. Bereits im alten Rom trugen die Frauen auf ihrer Hochzeit eine festliche Tunika, etwa knöchellang, kombiniert mit einer gelben Stola, gelben Sandalen und einem ebenfalls gelben Schleier. Das Kleid wurde mit einem hölzernen Gürtel tailliert, der zweimal geknotet wurde. Diesen sogenannten Herkulesknoten musste der Bräutigam nach der Hochzeit lösen.
Im Mittelalter war das Hochzeitsoutfit der Braut nicht weniger prachtvoll. Ganz im Gegenteil: Das Brautkleid galt als Statussymbol und war ein Indikator für Macht, Stellung und Reichtum. Während der Hochzeitszeremonie trug die Braut ein luxuriöses Kleid aus Samt, Seide oder auch Silber- und Goldbrokat, verziert mit auffälligen Applikationen, Stickereien und Halbedelsteinen. Oft wurde auch das Familienwappen in das Kleid eingearbeitet. Beliebte Farben für das Brautkleid waren Blau, Grün und Rot.
Im 16. Jahrhundert wurde dann in allen Schichten der Gesellschaft mit Vorliebe in Schwarz geheiratet. Diese düstere Farbe betonte die Frömmigkeit der Trägerin und war praktisch zu reinigen. Auch konnte ein schwarzes Kleid öfter und eben nicht nur zur Hochzeit getragen werden. Angesagt waren strenge Schnitte und hochgeschlossene Kragen. Gerne trugen die Bräute aber auch lange Schleppen, Spitze und bestickte Schürzen.
Ende des 16. Jahrhunderts wurde dann erstmals ein weißer Schleier mit in das Hochzeitsoutfit eingebunden, als Kontrast zum schwarzen Kleid. Dieser neue Trend war der Startschuss für den Einzug der Farbe Weiß in den Heiratsmarkt – als Symbol für Reinheit, Jungfräulichkeit und Unschuld. Beliebt waren Kleider mit engem Oberteil und einem Korsett, das die Taille formte. Anfangs war diese Farbwahl jedoch den reichen Bürgern und dem Adel vorbehalten. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts waren weiße Brautkleider also eher die Ausnahme.
Abwechslungsreich wurde es dann im 20. Jahrhundert. Jedes Jahrzehnt sorgte hier für wechselnde Modetrends. In den zwanziger Jahren war der Charleston-Look angesagt, also gerade, schmale Schnitte, oft mit Beinschlitz. Auch wurden die Kleider in dieser Zeit immer kürzer und reichten zeitweise nur noch bis zum Knie.
Das änderte sich jedoch nach Kriegsende wieder. Die Mode wurde züchtiger, die Kleider wieder länger und weiter. In den fünfziger Jahren wurden dann Petticoats, also weit schwingende Röcke und Kleider, zum Hingucker. Zehn Jahre später wurde der Minirock entdeckt und die Brautkleider wurden immer kürzer. In den achtziger Jahren sehnten sich dann plötzliche alle Bräute nach romantischen Kleidern und wollten wie Lady Di mit einer meterlangen Schleppe zu ihrem Prinzen zum Altar geführt werden.
Heute gibt es in der Hochzeitswelt nichts, was es nicht gibt. Die Hochzeitskleider haben die unterschiedlichsten Schnitte, Materialien und Farben. Die Braut darf jedes Kleid tragen, das ihrem Geschmack und individuellen Stil entspricht.
Es vergehen ein paar Monate nach dem Heiratsantrag, bis ich mich selbst das erste Mal dem Thema Brautkleid annehme. Das Datum für unsere Hochzeit steht inzwischen, wir haben uns für den Monat August entschieden, und laut einer Hochzeits-Timeline, die es in irgendeinem Brautmagazin kostenlos gab, sollten Bald-Bräute mindestens ein Jahr vor der Hochzeit mit der Suche nach dem Brautkleid beginnen. Also beschließe ich: Ich brauche ein Kleid. Und zwar am besten sofort.
Doch anders als wohl die meisten Bräute mache ich keinen Termin mit meinen Freundinnen, meiner Mutter, meiner Schwester oder anderen Familienmitgliedern in einem Brautmodenfachgeschäft. Nein, ich schaue zunächst im Internet nach meinem Traumkleid.
Eins steht längst fest: Ich möchte mein Kleid nicht wie üblich nur einmal in meinem Leben anziehen, sondern vielleicht auch noch einmal in den Jahren danach beim Spazierengehen am Strand, auf Cocktail-Partys oder tatsächlich zu meiner eigenen Silberhochzeit (vorausgesetzt, ich passe dann noch hinein). Daher soll es nicht allzu überteuert sein. Und auch nicht zu pompös. Sondern lieber etwas schlichter. Aber trotzdem natürlich irgendwie romantisch, extravagant, der Figur schmeichelnd, günstig, aber nicht billig, umwerfend, bezaubernd und wundervoll!
Die Suche nach dem perfekten Kleid, das merke ich schnell, gestaltet sich jedoch schwieriger als gedacht. Das kann natürlich auch daran liegen, dass ich mein Budget auf gerade einmal zweihundert Euro heruntergeschraubt habe. Und in den ersten Brautkleid-Onlineshops, die ich durchforste, kosten die meisten Kleider zwischen achthundert und tausend Euro. Wie ich lese, ist diese mittlere Preiskategorie die beliebteste. In dieser Preisspanne werden also die meisten Brautkleider gekauft. Ganz schön viel Geld für ein Kleid, oder?
Ich klicke mich weiter durch das Angebot. Und finde: klassische Kleider in A-Linie, pompöse Kleider im Duchesse-Stil, figurbetonte Meerjungfrauen-Kleider, Kleider mit Empire-Schnitt, Etui-Kleider, kurze Mini-Kleider und romantisch-verspielte Boho-Hippie-Kleider. Die Auswahl ist gigantisch! Es gibt sogar Kleider, die mehrere tausend Euro kosten. Wahnsinn!
Warum zur Hölle geben Frauen eigentlich solch ein Vermögen für ein Kleid aus, das sie nur an diesem einen Tag anziehen werden? Und das anschließend, eingeschweißt in Plastik, in der Dunkelheit des Schrankes sein Dasein fristet?
Der Grund dafür lässt sich vermutlich mit nur einem einzigen Wort beschreiben: darum. Weil Frauen es können – und wollen. Weil ihr Herz darüber entscheidet, welches Kleid sie tragen wollen. Weil es ihr Traum ist, in meterweise Tüll, Chiffon, Stickereien oder funkelnden Steinen – eben in diesem einen Gesamtkunstwerk – »Ja« zu sagen. Egal, ob das Kleid dabei zweckmäßig ist, sie sich darin überhaupt bewegen, darin atmen, auf die Toilette gehen können oder es dem Budget entspricht. Oft stellen Frauen sich ihre Hochzeit und ihr Kleid schon vor, lange bevor sie überhaupt den passenden Mann getroffen haben. Das Brautkleid wird manchmal sogar sorgfältiger ausgesucht als der Bräutigam. Da darf dann auch schon mal geklotzt werden.
Der Brautkleid-Planungs-und-Kauf-Rausch erstreckt sich dabei im Regelfall über gleich mehrere Wochen, manchmal sogar über Monate, und teilt sich in vier zentrale Phasen auf:
Erstens: Die Ideen-Sammlung
Wochenlang nehmen angehende Bräute das Internet, sämtliche Brautmagazine und Brautkleid-Kataloge auseinander, immer auf der Suche nach passenden Inspirationen. Die wichtigsten Bilder mit den Lieblingsbrautkleidern werden dann in Ordnern auf dem PC, dem Handy, in digitalen Bildkatalogen oder gleich überall gespeichert, so dass man sie zu jeder Zeit parat hat – natürlich auch beim ersten Besuch im Brautmoden-Laden. Und für Bräute, die sich nicht gleich entscheiden können, welcher Kleiderstil zu ihnen passt, für die gibt es im Internet und in den Magazinen Tests, Checklisten und Typberatungen. Manche Bräute verlassen sich bei ihrer Vorbereitung sogar ausschließlich auf die Sterne und wählen ihr Brautkleid passend zum Sternzeichen aus oder kaufen ihr Kleid an dem Tag, an dem der Mond günstig steht.
Zweitens: Der Kauf
Brautkleid-Berater empfehlen, spätestens sechs Monate vor der Trauung erstmals zur Anprobe ins Fachgeschäft zu gehen, am besten aber noch früher. Somit bleibt ausreichend Zeit für die Qual der Wahl, für Höhenflüge, Abstürze, Findungsphasen und Kaufentscheidungen. Für Freudentränen und Verzweiflungstaten.
Ist das Kleid erst einmal in der Tüte, beginnt die dritte spannende Phase.
Drittens: Die Anpassung
Kaum ein Brautkleid passt einer Braut auf Anhieb. Hier und da müssen Änderungen vorgenommen werden. Manchen Bräuten ist das Kleid zu groß, manchen zu klein, anderen zu lang. Ab und zu müssen noch Ärmel an das Kleid genäht oder Stickereien und Perlen entfernt werden. Diese Näharbeiten werden direkt vom Brautmoden-Laden oder einem externen Schneider übernommen. Die Highlights dieser dritten Phase sind jedoch nicht die Anpassung und das spätere Abholen des Kleides. Nein. Es sind die Spannung und Vorfreude, das Geheimhalten, die Phase drei so aufregend machen. Der Kauf des Brautkleides gleicht einer geheimen Mission. Nur die engsten Freunde und Familienmitglieder sind in der Regel eingeweiht und wissen, wie das Brautkleid aussieht. Das verbindet und schweißt zusammen.
Viertens: Der magische Moment
Seinen großen Auftritt hat das Brautkleid natürlich erst am Hochzeitstag. Dieser besondere Moment wird zelebriert, das Anziehen des Brautkleides wird vom Fotografen und Videografen für die Ewigkeit festgehalten. Hier gibt es nur einen Versuch und vor allem kein Zurück mehr. Die Anspannung und Aufregung steigen ins Unermessliche. Wird der Bräutigam vor Freude in Tränen ausbrechen, wenn er die Braut das erste Mal in ihrem Kleid sieht? Wie wird das Kleid bei den Gästen ankommen? In diesem einen Augenblick, wenn alle Augen auf die Braut gerichtet sind, werden im besten Fall alle Wünsche, Träume und Hoffnungen der Brautkleid-Trägerin Wirklichkeit.
Ich habe schlichtweg keine Lust auf so ein Vier-Phasen-Hannah-sucht-und-kauft-ihr-Brautkleid-Event mit all meinen Freundinnen, meiner Schwester, meiner Mutter und jeder Menge Tränen. Oder zumindest rede ich mir ein, dass ich darauf keine Lust habe. Denn insgeheim bin ich wohl doch noch immer eine Romantikerin. Jedenfalls fesseln mich romantische Liebesgeschichten in Büchern und Filmen noch immer, und selbstvergessen fiebere ich ihrem Ausgang entgegen: Werden sich die Liebenden am Ende kriegen oder nicht?
Aber aus irgendeinem Grund gestehe ich mir jetzt, wo sich in meinem Leben plötzlich einiges um das Thema Heiraten dreht, diese romantische Seite an mir nicht so richtig ein.
Ich durchforste also weiter sämtliche Onlineshops nach meinem Traum in Weiß. Doch nichts überzeugt mich. Ich will kein klassisches Brautkleid, so viel steht fest. Und auch kein gebrauchtes Kleid, denn davon gibt es mittlerweile mindestens genauso viele. Unglaublich, aber wahr: Immer mehr Frauen geben ein Vermögen für ihr Kleid aus und verkaufen es direkt nach der Hochzeit weiter. Und meist finden sie für ihre Kleider sogar ziemlich schnell eine Abnehmerin. Ich habe mal gelesen, dass viele Bald-Bräute gerne gebrauchte Kleider kaufen, da es ihnen ein Gefühl der Sicherheit gibt. Viele Frauen haben dann weniger Angst, dass ihre Hochzeit platzen könnte, da sie in einem Kleid heiraten, das einer anderen Braut bereits Glück gebracht hat. Im Sinne der Nachhaltigkeit ist das bestimmt ein guter Gedanke, aber geht dadurch nicht der Zauber rund um das Brautkleid verloren? Wie dem auch sei, obwohl ich die Worte »klassisch« und »gebraucht« bei meiner Suche ausklammere, lande ich wenig später, tief versunken in meinem Brautkleid-Such-und-Kauf-Rausch, auf den gängigen Kleinanzeigen-Portalen. Ob es hier wohl auch neue, ungetragene Brautkleider gibt? Ein paar sicherlich. Ich gebe ohne große Erwartung die Stichworte »Brautkleid neu« und »Brautkleid ungetragen« nacheinander über die Suchfunktion ein. Und was ich dann finde, lässt meine eigene Brautkleid-Suche plötzlich zur Nebensache werden.
Tausende Brautkleider, die nie mit »Ah« oder »Oh« bewundert wurden, weil es für sie keine Hochzeit gab, werden hier zum Verkauf angeboten. Lange Kleider, kurze Kleider, Kleider mit Schleppe, Kleider ohne Schleppe, hochwertige Designer-Träume, günstige Importe aus Asien, Kleider mit A-Linie, im Meerjungfrauen-Stil, ohne Träger, mit Träger, mit Schnürung, mit Raffung, in den Farben Weiß, Creme, Ivory, manche mit Perlen bestickt, einige mit Diamanten besetzt. Bis auf ein paar Ausnahmen offenbaren die Anzeigen jedoch nicht, warum die Kleider ungetragen geblieben sind.
Natürlich lässt sich ein Brautkleid nur schwer verkaufen, das mit den Worten »Ich wurde kurz vor der Hochzeit verlassen« angepriesen wird – einer anderen Braut also kein Glück gebracht hat. Dennoch frage ich mich, warum die Kleider wohl nicht zum Einsatz kamen. Was ist wirklich passiert? Gab es vielleicht einen Streit? Hat er sie verlassen oder sie ihn? Oder ist einfach nur der Brautkleid-Rausch an allem schuld, weil die Bräute vor lauter Verliebtheit gleich mehrere Kleider gekauft haben und nun die ungetragenen wieder verkaufen möchten? Oder hat tatsächlich einer den anderen betrogen, sich vielleicht neu verliebt? Gab es womöglich diesen Hollywood-Moment? Sie wissen schon: Der Pfarrer spricht die Worte »Wenn jemand der Anwesenden etwas gegen die Verbindung einzuwenden hat, möge er jetzt sprechen oder für immer schweigen«. Dann geht die Tür auf, und dort steht der bestaussehende Mann des Universums und schreit »Tu’ es nicht!«, oder so ähnlich. Die angehende Braut dreht sich um, ihre Augen leuchten, sie sagt noch kurz »Ich kann das nicht, es tut mir leid!« und brennt dann mit ihrem Traummann durch. (So viel kann ich Ihnen an dieser Stelle schon einmal verraten: Dieses Szenario wird es in diesem Buch leider nicht geben.)
Welche Geschichten stecken also wirklich hinter all diesen Anzeigen? Ist das Erlebte immer traurig? Oder gibt es auch lustige und skurrile Gründe, warum ein Brautkleid nicht wie geplant zur Hochzeit getragen wird?
Ich merke, wie mich diese Fragen nicht mehr loslassen, wie meine eigene Brautkleid-Suche in den Hintergrund tritt, und beschließe, einfach mal nachzuhaken. Ich spüre instinktiv, dass hinter den Verkaufsanzeigen mehr steckt als ein »Ich bin verlassen worden« oder ein »Ich habe mich von meinem Verlobten getrennt«. Natürlich wären auch diese Antworten in einer Zeit angebracht, in der jede zweite Ehe geschieden wird, in der die Bindung an einen Internetanbieter länger währt als die meisten Beziehungen, und in der sich prominente Paare immer wieder nach wenigen Wochen trennen, obwohl sie in der Öffentlichkeit gerade noch von der Liebe ihres Lebens gesprochen haben.
Aber mit diesen vorgefertigten Antworten will ich mich nicht zufriedengeben. Und so vertage ich an diesem Morgen meine eigene Brautkleid-Suche und schreibe die ersten Verkäuferinnen an – denn ich bin neugierig auf die Geschichten hinter den Verkaufsanzeigen. Einige antworten mir tatsächlich binnen weniger Minuten. Ich mache weiter, immer weiter. Stück für Stück tauche ich ein in eine Welt, die in dem sonst so heilen, glatten Hochzeitszirkus keinen Platz findet.
Ich bin überrascht, wie offen die Frauen auf meine Anfrage reagieren. Einige schütten mir sofort ihr Herz aus. Viele schreiben mir einfach ihre ganze Geschichte auf; Wort für Wort, Moment für Moment. Andere weinen im Gespräch mit mir am Telefon. Und ich? Ich werde süchtig nach diesen Geschichten. Geschichten, wie sie nur das echte Leben schreiben kann, unendlich traurig, schockierend, kurios, aber auch lustig, herzerfrischend ehrlich und Mut machend.
In eineinhalb Jahren habe ich – und das ist wirklich nicht übertrieben – rund zweitausend Verkäuferinnen kontaktiert. Ich habe mit weit über hundert Frauen ausführlicher geschrieben und gesprochen. Ich habe danach oft schlecht geschlafen, weil mich die Geschichten so sehr bewegt haben. Dennoch bin ich drangeblieben.
Und die täglichen Recherchen, die vielen E-Mails und Telefonate, die ich neben meinem Job und meinen eigenen Hochzeitsvorbereitungen geschrieben und geführt habe, haben sich gelohnt. Vom ersten Tag an. Ich habe gelacht und geweint. Ich habe so viel über das Leben nachgedacht wie nie zuvor. Ich habe mich mit der Liebe, mit Hochzeiten und Trennungen beschäftigt – und irgendwie auch mit mir selbst, meiner Kindheit, der Zeit des Erwachsenwerdens, meinen Wünschen und Träumen.
Und noch mehr als das: Mir wurden unbeschreiblich viel Offenheit und Vertrauen entgegengebracht. Von den unzähligen Beinahe-Bräuten und Brautkleid-Verkäuferinnen, die mir ihr Innerstes offenbart und mich ein Stück in ihre Gefühlswelt gelassen haben.
Eine Auswahl der Brautkleid-Geschichten, die mich am meisten berührt haben, finden Sie in diesem Buch. Es sind Geschichten aus dem Leben von Tanja, Julia, Miriam, Demet, Charleen, Helen, Kerstin, Josie, Lilly, Astrid, Katrin und Emily. Es sind fröhliche und traurige Momentaufnahmen, Aufrüttler, Mutmacher und Wegweiser. Geschichten, die wirklich so passiert sind.
Was mich bei meiner Arbeit für dieses Buch am meisten beeindruckt hat, ist, dass all diese Frauen, die mir ihre Geschichten erzählt haben, zu dem Zeitpunkt, als sie ihr Brautkleid gekauft haben, ganz konkrete Wünsche, Träume und Ziele hatten. Oder zumindest dachten sie das. Denn jetzt kommt der entscheidende Punkt: Obwohl das Leben einigen Brautkleid-Verkäuferinnen übel mitgespielt hat, obwohl das Schicksal oft alle Pläne über den Haufen warf, obwohl immer wieder Tränen geflossen sind und die Verzweiflung in vielen Momenten kaum auszuhalten war, hat keine dieser Frauen die Hoffnung aufgegeben. Die Hoffnung auf bessere Zeiten, auf ein Happy End oder einen Neuanfang. Okay, vielleicht im ersten klitzekleinen (Schock-)Moment. Doch die Frauen, von denen ich in diesem Buch erzählen werde, haben sich durch die schwersten Zeiten gekämpft und den Glauben an das Leben zurückgewonnen.
Im Mittelpunkt dieser Geschichten steht ein Kleidungsstück, in das jede einzelne Frau all ihre Hoffnungen gelegt hatte, das mit ganz viel Sorgfalt und Bedacht ausgesucht worden war und das den schönsten Tag noch hätte schöner machen sollen. Die Erwartungen und Wünsche an ein Brautkleid, das habe ich immer und immer wieder erfahren, sind absolut hoch. Zwar wird ein Brautkleid meist nur an einem Tag getragen, doch das ist nicht ausschlaggebend für die Auswahl. Ein Brautkleid ist eben mehr als nur ein normales Kleidungsstück. Es vereint das Gefühl des Glücks mit dem Gefühl der Liebe. Es muss zur Braut passen, ihre Schönheit unterstreichen und ihr das Gefühl von Sicherheit geben. Zu einem perfekten Partner und einer perfekten Hochzeit gehört eben auch ein perfektes Brautkleid. Und da werden keine Kompromisse gemacht.
Aber was passiert, wenn ganz plötzlich all die Träume, Wünsche und Hoffnungen, die in das Brautkleid projiziert wurden, wie eine Seifenblase zerplatzen? Wenn das Traumkleid auf einmal zum Albtraumkleid wird?
Dann bleibt der Braut eben nur eine Möglichkeit: Sie muss ihr ungetragenes Brautkleid so schnell wie möglich loswerden.
Ich sitze im Zug auf dem Weg zu einem Termin. Es ist noch früh am Morgen, die Sonne ist gerade erst aufgegangen, auf den Feldern liegt so dichter Nebel, dass der Boden kaum zu sehen ist. Ich nehme meine Kopfhörer, mache mir meine Lieblingsmusik an, und schaue aus dem Fenster. Während ich hinausblicke und die vorbeiziehenden Baumkronen beobachte, die ganz leicht im Wind schwingen, entziehe ich mich für einen kurzen Moment dem Gerede und Geraschel im Zug.
Doch so ganz abschalten kann ich heute offensichtlich nicht. Was für ein Sinnbild, denke ich beim Blick auf den Nebel und den dadurch verborgenen Grund. Wie sehr dieses morgendliche Schauspiel zu Tanjas Geschichte passt, zu dem Grund dafür, dass ihr Brautkleid noch immer ungetragen ist.
Manchmal leben Paare jahrelang Seite an Seite, ohne das wahre Ich des jeweils anderen, den Boden der Tatsachen, den unter dem Nebel verborgenen Grund wirklich zu kennen. Nichts ist tödlicher für eine Beziehung als Unaufrichtigkeit sich selbst und dem Partner gegenüber. Unehrlichkeit bringt jedes noch so stabile Fundament ins Wanken – und sorgt dafür, dass eine Liebe auf kurz oder lang kaputtgehen wird. Oder eben in einer totalen Katastrophe endet. So wie bei Tanja.
Als ich zum ersten Mal mit Tanja telefoniere, spüre ich sofort, wie schwer sie verletzt wurde. In ihrer Stimme liegt ein Hauch Melancholie, bei dem auch eine gewisse Resignation mitschwingt. Ohne Tanja wirklich zu kennen, glaube ich, dass ihr der Halt im Leben fehlt. Der Halt, den ihr ihre Jugendliebe Chris acht Jahre lang gegeben hat.
Tanja und Chris lernen sich zu Schulzeiten kennen. Sie sind Freunde, er hilft ihr regelmäßig bei den Hausaufgaben, gibt ihr Nachhilfe. Mit sechzehn Jahren wird für Tanja dann aus Freundschaft ganz plötzlich Liebe. Sie verliebt sich Hals über Kopf in Chris und nimmt bei einer Schulfeier all ihren Mut zusammen. Sie umarmt den Mann, nach dem sie sich so sehr sehnt. Chris weicht nicht zurück. Das ist Tanjas Bestätigung.
Es dauert jedoch weitere neun Monate, inzwischen ist sie siebzehn, bis sie ihn, wie sie selbst sagt, »bearbeitet hat«. Erst dann stehen sie offen zueinander.
Für Tanja geht damit ein Traum in Erfüllung. Endlich ist da ein Mann an ihrer Seite, dem sie vertrauen kann, der ihr den Halt gibt, den ihr ihre Familie nie so richtig geben konnte. Chris und sie sind Seelenverwandte, sie verstehen sich auch ohne Worte. Sie wissen immer direkt, was der andere fühlt, meint oder denkt.
»Wir haben uns richtig gut ergänzt. Und ich habe mich absolut geborgen gefühlt«, erzählt mir Tanja. »Wir hatten immer auch die gleichen Vorstellungen vom Leben. Wir hatten Zukunftspläne.«
Beide träumen davon, ein Haus zu bauen, zu heiraten, mindestens drei Kinder zu bekommen. Sie überlegen sich gemeinsam Namen für ihre Kinder und malen sich immer wieder aus, wie ihre Hochzeit aussehen soll. Doch sie sind sich auch sicher: Das alles hat noch etwas Zeit. Mit neunzehn Jahren zieht Tanja dann von zu Hause aus und macht eine Ausbildung zur Krankenschwester. Chris hingegen macht sein Abitur und will danach studieren.
Die Beziehung des Paares verläuft harmonisch. Tanja ist glücklich mit Chris an ihrer Seite. Nach fünf gemeinsamen Jahren sehnt sie sich aber immer mehr nach dem nächsten Schritt, einer gemeinsamen Weiterentwicklung. Sie zögert nicht und spricht ihre Sehnsüchte offen an.
»Ich habe so ein Verlangen danach, mich fest zu binden und eine Familie zu gründen«, offenbart sie ihm.
Doch Chris, mit dem sie früher stundenlang, ja manchmal sogar tagelang, übers Heiraten und Kinderkriegen philosophieren konnte, mit dem sie ihre Träume stets teilte, weist Tanja nun zurück.
»Wir sind noch so jung, lass uns noch etwas warten«, vertröstet er sie.
Zwar ist Tanja sichtlich enttäuscht, aber sie versucht, nach vorne zu schauen. Chris braucht noch etwas Zeit, und die will sie ihm geben. Irgendwann, da ist sie sich sicher, wird auch er bereit sein und ihr dann endlich die Frage aller Fragen stellen. Das ist schließlich auch sein Wunsch. Zumindest hat er das immer gesagt. Und Tanja vertraut ihm voll und ganz.
Und obwohl es Tanja schwerfällt, übt sie sich in Geduld. So ganz kann sie ihren innersten Wunsch, endlich den nächsten Schritt zu gehen, jedoch nicht verdrängen. Immer und immer wieder ertappt sie sich dabei, wie sie von ihrer Hochzeit mit Chris träumt, wie sie sich ihr Brautkleid ausmalt, in Gedanken bereits das Aufgebot bestellt. In diesen Momenten überkommt sie so eine Vorfreude, so eine Aufregung, dass es ihr große Mühe bereitet, Chris weiter Zeit zu geben.
Doch es dauert noch ein ganzes Jahr, bis der Augenblick, auf den sie so lange gewartet hat, endlich Realität wird. Endlich ist es so weit.
Tanja und Chris sind auf dem Weg zu seiner Schwester in den Schwarzwald. Das kleine Örtchen liegt auf tausend Meter Höhe und ist umgeben von wunderschöner Natur. Der perfekte Ort für einen Heiratsantrag also, findet auch Chris. Die beiden fahren nicht direkt zu seiner Schwester, sondern nehmen einen kleinen Umweg. Chris schlägt vor, noch schnell im Wald Blumen zu pflücken. Margeriten, für den bevorstehenden Besuch. Das zumindest glaubt Tanja. Als die beiden mit dem gepflückten Blumenstrauß auf einer Waldlichtung ankommen, kniet Chris plötzlich vor Tanja nieder und stellt ihr die Frage, auf die sie so lange, so sehnlichst, gewartet hat.
Als Tanja mir von ihrem Antrag erzählt, klingt ihre Stimme auf einmal so leicht und unbeschwert. Von der Melancholie und der Traurigkeit, die ich noch am Anfang meine herauszuhören, ist auf einmal nichts mehr zu spüren. Obwohl die Erinnerungen an diesen Tag schmerzen, das gibt Tanja zu, ist und bleibt der Heiratsantrag ein Moment, an den sie gerne zurückdenkt. Denn in diesem einen Augenblick ist für Tanja alles perfekt. Chris findet die richtigen Worte, er hat einen wunderbaren Platz für den Antrag ausgesucht und in seiner Hand hält er ihre Lieblingsblumen. Als er sich vor ihr hinkniet, rast Tanjas Herz auf einmal so schnell, dass sie für einen kurzen Moment glaubt, gleich umzukippen. Diese pure Freude, die sie in diesem Moment empfindet, ist wohl eines der schönsten und leichtesten Gefühle, die es gibt. Den Rest des Tages erlebt Tanja daher wie im Rausch, sie ist absolut beseelt und überglücklich. Ihre Freude und Vorfreude sind kaum zu bändigen, am liebsten hätte sie ihr »Ja« noch auf der Lichtung in die Welt hinausgeschrien.
Aber es gibt einen Haken: Chris will nicht, dass Tanja ihre Freude teilt.