J.M. Coetzee
Die Schulzeit Jesu
Roman
Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke
FISCHER E-Books
J. M. Coetzee, der 1940 in Kapstadt geboren ist und von 1972 bis 2002 als Literaturprofessor in seiner Heimatstadt lehrte, gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart. Er wurde für seine Romane und sein umfangreiches essayistisches Werk mit vielen internationalen Preisen ausgezeichnet, u. a. zweimal mit dem Booker Prize, 1983 für ›Leben und Zeit des Michael K.‹ und 1999 für ›Schande‹. 2003 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. Coetzee lebt seit 2002 in Adelaide, Australien.
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»Wenn man mit einem Schiff übers Meer fährt, werden alle Erinnerungen weggewaschen und man fängt ein völlig neues Leben an. So ist das. Es gibt kein Vorher. Es gibt keine Geschichte. Das Schiff legt im Hafen an und wir gehen den Landungssteg hinunter und wir werden ins Hier und Jetzt geworfen. Die Zeit beginnt.«
Der kleine Junge Davíd und seine Stiefeltern Inés und Simón erreichen Estrella zur Zeit der Ernte. Auf der Farm der mysteriösen drei Schwestern tobt Davíd über die Felder, Seite an Seite mit seinem Hund Bolívar und den Kindern der anderen Pflücker. Das Vagabundenleben aber kann nicht ewig anhalten: Davíd wird schon bald sieben und muss eine Schule finden. Auf der Tanzakademie trifft er auf den emotionalen Dmitri und lernt, unter der Anleitung des ebenso einfühlsamen wie ungleichen Ehepaars Arroyo, die edlen Zahlen vom Himmel zu rufen.
In der Fortsetzung von der »Kindheit Jesu« schreibt Coetzee in seinem neuen Roman über Immigration und das Rätsel vom Ankommen. Ein Spiegel unserer Welt, in dem das Profane zur Nebensache wird und die elementare Frage nach dem richtigen Leben neu gestellt wird.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel ›The Schooldays of Jesus‹ bei Harvill Secker, London.
Copyright © 2016 by J.M. Coetzee.
By arrangement with
Peter Lampack Agency, Inc.
350 Fifth Avenue, Suite 5300,
New York, N.Y. 10118 USA.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Simone Andjelković
Coverabbildung: John Chillingworth/Picture Post/Getty Images
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490464-1
Algunos dicen: Nunca segundas partes fueron buenas.
Don Quijote II.4
Er hatte sich Estrella größer vorgestellt. Auf der Karte ist es ein Punkt von der gleichen Größe wie Novilla. Während Novilla jedoch eine Stadt war, ist Estrella nur eine weitläufige Kleinstadt in einer Landschaft von Hügeln und Feldern und Obstgärten, durch die sich ein träger Fluss windet.
Ob es ein neues Leben in Estrella geben kann? In Novilla konnte er das Umsiedlungszentrum in Anspruch nehmen, um eine Unterkunft zu finden. Ob er und Inés und der Junge hier ein Zuhause finden werden? Das Umsiedlungszentrum ist wohltätig, es ist geradezu die Verkörperung von Wohltätigkeit einer unpersönlichen Art; aber ob seine Wohltätigkeit sich auch auf vor dem Gesetz Flüchtende erstreckt?
Juan, der Anhalter, der auf der Straße nach Estrella zu ihnen gestoßen ist, hat ihnen vorgeschlagen, sie sollten sich Arbeit auf einem der Bauernhöfe suchen. Bauern würden immer Landarbeiter brauchen, sagt er. Die größeren Höfe hätten sogar Unterkünfte für Saisonarbeiter. Wenn nicht Erntezeit für Apfelsinen sei, dann für Äpfel; und wenn nicht Erntezeit für Äpfel, dann für Weintrauben. Estrella und seine Umgebung seien ein wahres Füllhorn. Wenn sie wollen, könne er sie zu einem Hof leiten, wo Freunde von ihm einst gearbeitet haben.
Er tauscht Blicke mit Inés. Sollten sie Juans Rat annehmen? Geld spielt keine Rolle, er hat eine Menge Geld bei sich, sie könnten ohne weiteres in einem Hotel unterkommen. Aber wenn die Behörden von Novilla sie wirklich verfolgen, dann wären sie vielleicht besser unter den namenlosen Durchreisenden aufgehoben.
»Ja«, sagt Inés. »Gehen wir zu diesem Bauernhof. Wir waren zu lange im Auto eingesperrt. Bolívar braucht Auslauf.«
»Ich bin auch dieser Meinung«, sagt er, Simón. »Ein Bauernhof ist jedoch kein Ferienlager. Bist du bereit, Inés, den ganzen Tag bei heißem Sonnenschein Obst zu pflücken?«
»Ich werde meinen Teil tun«, sagt Inés. »Nicht weniger, nicht mehr.«
»Kann ich auch Obst pflücken?«, fragt der Junge.
»Leider nein, du nicht«, sagt Juan. »Das wäre gegen das Gesetz. Das wäre Kinderarbeit.«
»Mir macht Kinderarbeit nichts aus«, sagt der Junge.
»Der Bauer wird dich sicher Obst pflücken lassen«, sagt er, Simón. »Aber nicht zu viel. Nicht so viel, dass es Arbeit wird.«
Sie fahren durch Estrella, immer auf der Hauptstraße. Juan zeigt ihnen den Marktplatz, die Verwaltungsgebäude, das bescheidene Museum mit Kunstgalerie. Sie kommen über eine Brücke, lassen die Stadt hinter sich und folgen dem Flusslauf, bis sie ein beeindruckendes Haus auf der Anhöhe erblicken. »Das ist der Bauernhof, an den ich gedacht habe«, sagt Juan. »Dort haben meine Freunde Arbeit gefunden. Das refugio ist dahinter. Es wirkt trist, ist aber eigentlich recht bequem.«
Das refugio besteht aus zwei langen Zinkblechschuppen, die ein überdachter Gang verbindet; auf der einen Seite befinden sich sanitäre Anlagen. Er parkt das Auto. Keiner kommt, um sie zu begrüßen, außer einem ergrauten, steifbeinigen Hund, der sie, von seiner Kette zurückgehalten, anknurrt und gelbe Fänge fletscht.
Bolívar streckt sich und gleitet aus dem Auto. Aus einiger Entfernung nimmt er den fremden Hund in Augenschein und beschließt dann, ihn zu ignorieren.
Der Junge rennt in die Schuppen, taucht wieder auf. »Da sind Doppelstockbetten!«, schreit er. »Kann ich oben schlafen? Bitte!«
Jetzt taucht eine mollige Frau mit einer roten Schürze über einem weiten Baumwollkleid hinter dem Bauernhaus auf und kommt den Weg zu ihnen heruntergewatschelt. »Guten Tag, guten Tag!«, ruft sie. Sie mustert das vollgepackte Auto. »Ihr kommt wohl von weither?«
»Ja, von weither. Wir fragen uns, ob Sie vielleicht noch Helfer gebrauchen können.«
»Wir können immer noch Helfer gebrauchen. Viele Hände machen der Arbeit schnell ein Ende – sagt man nicht so?«
»Es sind nur wir beide, meine Frau und ich. Unser Freund hier hat anderweitige Verpflichtungen. Das ist unser Junge, er heißt David. Und das ist Bolívar. Gibt es auch einen Platz für Bolívar? Er gehört zur Familie. Ohne ihn gehen wir nirgendwohin.«
»Bolívar ist sein richtiger Name«, sagt der Junge. »Es ist ein Schäferhund.«
»Bolívar. Das ist ein schöner Name«, sagt die Frau. »Ungewöhnlich. Ich bin sicher, dass es einen Platz für ihn geben wird, solange er sich anständig benimmt und mit Futterresten zufrieden ist und keine Kämpfe anfängt oder die Hühner jagt. Die Arbeiter sind jetzt in den Obstplantagen, aber ich kann euch die Unterkünfte zeigen. Auf der linken Seite die Herren, auf der rechten die Damen. Familienzimmer gibt es leider nicht.«
»Ich gehe auf die Herrenseite«, sagt der Junge. »Simón sagt, ich kann oben schlafen. Simón ist nicht mein Vater.«
»Mach, was du willst, junger Mann. Es ist reichlich Platz. Die anderen kommen dann -«
»Simón ist nicht mein richtiger Vater und David ist nicht mein richtiger Name. Willst du meinen richtigen Namen wissen?«
Die Frau wirft Inés einen fragenden Blick zu, doch Inés tut so, als merke sie es nicht.
»Wir haben im Auto ein Spiel gespielt«, schaltet er, Simón, sich ein. »Um uns die Zeit zu vertreiben. Wir haben neue Namen für uns ausprobiert.«
Die Frau zuckt mit den Schultern. »Die anderen werden bald zum Mittagessen zurück sein, dann könnt ihr euch bekannt machen. Der Lohn ist zwanzig Reales pro Tag, für Männer und Frauen gleich. Der Tag dauert von Sonnenauf- bis -untergang, mit zwei Stunden Mittagspause. Am siebten Tag ruhen wir. Das ist die natürliche Ordnung, der wir folgen. Was die Mahlzeiten angeht, so stellen wir die Lebensmittel bereit und ihr kocht. Seid ihr mit den Bedingungen zufrieden? Glaubt ihr, dass ihr zurechtkommt? Wart ihr schon mal bei der Obsternte dabei? Nein? Das werdet ihr schnell lernen, es ist keine große Kunst. Habt ihr Hüte? Ihr werdet Hüte brauchen, die Sonne kann ziemlich stark sein. Was soll ich euch noch sagen? Ihr findet mich immer im großen Haus. Ich heiße Roberta.«
»Roberta, angenehm. Ich heiße Simón und das ist Inés und das Juan, der uns hierhergeführt hat und den ich dann in die Stadt zurückfahre.«
»Willkommen auf dem Hof. Wir werden bestimmt gut miteinander auskommen. Gut, dass ihr ein eigenes Auto habt.«
»Es hat uns über eine weite Strecke treu gedient. Ein zuverlässiges Auto. Mehr als das kann man nicht von einem Auto verlangen, Zuverlässigkeit.«
Als sie das Auto ausgeladen haben, kommen die Arbeiter nach und nach von den Obstplantagen zurück. Man macht sich bekannt, sie werden zum Essen eingeladen, auch Juan: selbst gebackenes Brot, Käse und Oliven, große Schüsseln mit Obst. Ihre Arbeitskameraden sind an die zwanzig Personen, einschließlich einer Familie mit fünf Kindern, die David vorsichtig von seiner Seite des Tisches aus mustert.
Bevor er Juan nach Estrella zurückbringt, kann er kurz mit Inés allein reden. »Was denkst du?«, murmelt er. »Sollen wir bleiben?«
»Es scheint ein guter Ort zu sein. Ich bin bereit, hier zu bleiben, während wir uns umschauen. Aber wir müssen einen Plan haben. Ich bin nicht so weit gefahren, um mich dauerhaft auf ein Leben als einfache Landarbeiterin einzulassen.«
Er hat das mit Inés schon einmal besprochen. Wenn sie polizeilich gesucht werden, dann sollten sie vorsichtig sein. Doch werden sie denn gesucht? Haben sie Grund, eine Verfolgung zu befürchten? Hat die Polizei genügend Ressourcen, dass sie Beamte in die entlegensten Winkel des Landes schicken kann, um einen sechsjährigen Schulschwänzer aufzuspüren? Spielt es für die Behörden in Novilla eine so große Rolle, ob ein Kind zur Schule geht oder nicht, solange es nicht als Analphabet aufwächst? Er, Simón, bezweifelt das. Andererseits, wenn nun nicht nach dem kleinen Schulschwänzer gefahndet wird, sondern nach dem Paar, das sich fälschlich als seine Eltern ausgibt und ihn von der Schule fernhält? Wenn eigentlich nach ihm und Inés gefahndet wird, statt nach dem Jungen, sollten sie sich dann nicht unauffällig verhalten, bis ihre Verfolger erschöpft die Jagd aufgeben?
»Eine Woche«, schlägt er vor. »Lass uns eine Woche als Erntehelfer arbeiten. Dann können wir neu überlegen.«
Er fährt nach Estrella und bringt Juan zu seinen Freunden, die eine Druckerei betreiben. Wieder auf dem Bauernhof angekommen, erkundet er mit Inés und dem Jungen die neue Umgebung. Sie besichtigen die Obstplantagen und werden mit den Geheimnissen der Gartenschere und des Okuliermessers vertraut gemacht. David wird von ihrer Seite weggelockt und verschwindet mit den anderen Kindern, wer weiß, wohin. Zur Abendbrotzeit taucht er mit Kratzern an Armen und Beinen wieder auf. Sie seien auf Bäume geklettert, sagt er. Inés will die Kratzer mit Jod behandeln, doch er sträubt sich. Sie gehen zeitig zu Bett, wie alle anderen auch, David in sein gewünschtes oberes Bett.
Als am nächsten Morgen der Lastwagen ankommt, haben er und Inés schon in aller Eile gefrühstückt. David reibt sich noch den Schlaf aus den Augen und kommt nicht mit ihnen. Mit ihren neuen Arbeitskameraden klettern sie auf den Wagen und werden zu den Weinbergen gefahren; dem Beispiel ihrer Kameraden folgend, nehmen er und Inés Körbe auf den Rücken und machen sich an die Arbeit.
Während sie arbeiten, können die Kinder tun, was sie wollen. Angeführt vom ältesten der fünf Geschwister, einem hochgewachsenen, dünnen Jungen, der Bengi heißt und einen dichten schwarzen Lockenschopf hat, rennen sie hinauf zum Reservoir, das die Weinberge bewässert. Die Enten, die dort herumschwimmen, fliehen erschrocken, alle außer einem Entenpaar mit noch fluguntüchtigen Jungen, das seine Brut zum gegenüberliegenden Ufer treibt und so zu entkommen versucht. Sie sind zu langsam – die johlenden Kinder fangen sie ab und zwingen sie zurück auf die Wassermitte. Bengi fängt an, mit Steinen zu werfen; die Jüngeren tun es ihm nach. Da die Vögel nicht fliehen können, schwimmen sie laut schnatternd im Kreis. Ein Stein trifft den farbenprächtigeren Erpel. Er hebt sich halb aus dem Wasser, fällt zurück und platscht herum, einen beschädigten Flügel hinter sich herziehend. Bengi stößt einen Triumphschrei aus. Der Hagel aus Steinen und Erdklumpen verdoppelt sich.
Er und Inés lauschen unruhig dem Lärm; die anderen Pflücker beachten ihn nicht. »Was da wohl vor sich geht?«, fragt Inés. »Glaubst du, David passiert nichts?«
Er lässt seinen Korb fallen, erklettert den Hügel, kommt rechtzeitig am Reservoir an, um zu sehen, wie David den älteren Jungen so heftig schubst, dass der wankt und beinahe hinfällt. »Hör auf damit!«, hört er ihn rufen.
Der Junge starrt seinen Angreifer erstaunt an, wendet sich dann ab und schleudert noch einen Stein auf die Enten.
Nun stürzt sich David mit Schuhen und allen Sachen ins Wasser und arbeitet sich Wasser spritzend in Richtung der Enten vor.
»David!«, ruft er, Simón. Der Junge beachtet ihn nicht.
Inés unten im Weinberg lässt ihren Korb fallen und rennt los. Seit er ihr vor einem Jahr beim Tennisspielen zugesehen hat, hat er nicht mehr erlebt, dass sie sich körperlich angestrengt hat. Sie ist langsam; sie hat zugenommen.
Wie aus dem Nichts taucht der große Hund auf und schießt pfeilschnell an ihr vorbei. Innerhalb weniger Augenblicke ist er ins Wasser gesprungen und bei David angelangt, hat sein Hemd mit den Zähnen gepackt und zerrt das um sich schlagende, protestierende Kind zum Ufer.
Inés kommt an. Der Hund lässt sich fallen, sieht sie an und wartet mit gespitzten Ohren auf ein Zeichen, während David in seinen nassen Sachen heult und ihn mit den Fäusten bearbeitet. »Ich hasse dich, Bolívar!«, schreit er. »Der Junge da hat mit Steinen geworfen, Inés! Er wollte die Ente töten!«
Er, Simón, hebt das sich wehrende Kind hoch. »Beruhige dich, beruhige dich«, sagt er. »Der Erpel ist nicht tot – schau mal –, er hat nur was abbekommen. Er wird sich bald erholen. Ich glaube, ihr Kinder solltet jetzt alle hier verschwinden, damit die Enten sich beruhigen und ihr Leben fortführen können. Und du sollst nicht sagen, dass du Bolívar hasst. Du liebst Bolívar, wir alle wissen das, und Bolívar liebt dich. Er hat geglaubt, dass du ertrinkst. Er hat dich zu retten versucht.«
Zornig windet sich David aus seinen Armen. »Ich wollte den Erpel retten«, sagt er. »Ich habe Bolívar nicht gerufen. Bolívar ist dumm. Er ist ein dummer Hund. Jetzt musst du ihn retten, Simón. Los, rette ihn!«
Er, Simón, zieht Schuhe und Hemd aus. »Weil du darauf bestehst, werde ich es versuchen. Ich möchte dich jedoch darauf hinweisen, dass die Vorstellung einer Ente vom Gerettetwerden eine andere sein kann als deine. Wahrscheinlich bedeutet das für sie, von Menschen in Ruhe gelassen zu werden.«
Inzwischen sind noch andere Traubenpflücker angekommen. »Bleiben Sie hier – ich mache das«, bietet ein jüngerer Mann an.
»Nein. Das ist freundlich von Ihnen, aber ich tue es für mein Kind.« Er zieht die Hosen aus und watet in Unterhosen in das braune Wasser. Mit kaum einem Spritzer taucht der Hund neben ihm auf. »Verschwinde, Bolívar«, murmelt er. »Ich muss nicht gerettet werden.«
Die Traubenpflücker stehen zusammengedrängt am Ufer und sehen zu, wie der nicht mehr junge Herr mit dem Körper, der nicht mehr ganz so straff ist wie zu seinen Zeiten als Schauermann, sich anschickt zu tun, was sein Kind ihm befiehlt.
Das Wasser ist nicht tief. Sogar an der tiefsten Stelle reicht es ihm nicht über die Brust. Doch er kann auf dem schlammigen Grund kaum gehen. Es ist ein aussichtsloses Unterfangen, den Erpel mit dem gebrochenen Flügel zu erwischen, der jetzt auf der Wasseroberfläche wild herumwirbelt, ganz zu schweigen von der Entenmutter, die inzwischen das jenseitige Ufer erreicht hat und, gefolgt von ihrer Brut, ins Gestrüpp verschwunden ist.
Bolívar erledigt das für ihn. Wie ein Geist an ihm vorbeigleitend, nur den Kopf übers Wasser gehoben, spürt er den verletzten Vogel auf, schließt die Kiefer wie einen Schraubstock über dem herabhängenden Flügel und zerrt ihn zum Ufer. Zuerst gibt es aufgeregten Widerstand, Flügelschlagen und Gespritz; dann scheint der Vogel ganz plötzlich aufzugeben und sein Schicksal zu akzeptieren. Als er, Simón, dann aus dem Wasser kommt, ist der Erpel in den Armen des jungen Mannes, der ihm angeboten hatte, die Sache zu übernehmen, und wird von den Kindern neugierig betrachtet.
Obwohl die Sonne noch ein gutes Stück über dem Horizont steht, wärmt sie ihn kaum. Fröstelnd zieht er sich an.
Bengi, der den Stein geworfen und damit den ganzen Ärger verursacht hat, streicht dem vollkommen apathischen Vogel über den Kopf.
»Sag ihm, dass es dir leidtut«, fordert ihn der junge Mann auf.
»Es tut mir leid«, murmelt Bengi. »Können wir den Flügel richten? Können wir ihn schienen?«
Der junge Mann schüttelt den Kopf. »Es ist ein wild lebendes Tier«, sagt er. »Es wird sich keine Schiene anlegen lassen. Es ist schon gut. Das Tier ist zum Sterben bereit, hat es akzeptiert. Sieh mal. Sieh dir seine Augen an. Es ist schon tot.«
»Der Erpel kann in meinem Bett bleiben«, sagt Bengi. »Ich füttere ihn, bis es ihm bessergeht.«
»Dreh dich um«, sagt der junge Mann.
Bengi begreift nicht.
»Dreh dich um«, sagt der junge Mann.
Simón flüstert Inés, die inzwischen den Jungen abtrocknet, zu: »Lass ihn nicht hinsehen.«
Sie drückt den Kopf des Jungen in ihre Röcke. Er sträubt sich, doch sie lässt nicht locker.
Der junge Mann klemmt den Vogel zwischen seine Knie. Eine kurze Bewegung, und es ist getan. Der Kopf baumelt unnatürlich; über die Augen des Tiers zieht sich ein Schleier. Den gefiederten Kadaver reicht er Bengi. »Geh ihn begraben«, befiehlt er. »Los.«
Inés gibt den Jungen frei. »Begleite deinen Freund«, sagt Simón zu ihm. »Hilf ihm, den Vogel zu begraben. Sorge dafür, dass er es ordentlich macht.«
Später sucht der Junge sie zwischen den Weinstöcken auf, wo sie arbeiten.
»Nun: habt ihr den armen Erpel begraben?«, fragt er.
Der Junge schüttelt den Kopf. »Wir konnten kein Loch für ihn graben. Wir hatten keinen Spaten. Bengi hat ihn im Gebüsch versteckt.«
»Das ist nicht schön. Wenn ich für heute mit der Arbeit fertig bin, werde ich ihn begraben. Du kannst mir die Stelle zeigen.«
»Warum hat er das getan?«
»Warum hat der junge Mann ihn von seinem Leiden erlöst? Ich hab’s dir gesagt. Weil er mit einem gebrochenen Flügel hilflos gewesen wäre. Er hätte die Nahrung verweigert. Er wäre kläglich verendet.«
»Nein, ich meine, warum hat Bengi das getan?«
»Ich bin sicher, dass er nichts Böses im Sinn hatte. Er hat nur Steine geworfen, und eins hat zum anderen geführt.«
»Werden die kleinen Entchen auch sterben?«
»Natürlich nicht. Sie haben eine Mutter, die sich um sie kümmert.«
»Aber wer wird ihnen Milch geben?«
»Vögel sind nicht wie wir. Sie trinken keine Milch. Und es sind sowieso die Mütter, die Milch geben, nicht die Väter.«
»Werden sie einen padrino finden?«
»Das glaube ich nicht. Ich glaube nicht, dass es bei Vögeln padrinos gibt, wie es auch keine Milch gibt. Padrinos sind eine menschliche Institution.«
»Es tut ihm nicht leid. Bengi. Er sagt, es tut ihm leid, aber es tut ihm nicht wirklich leid.«
»Warum denkst du das?«
»Weil er die Ente töten wollte.«
»Der Meinung bin ich nicht, mein Junge. Ich glaube nicht, dass er wusste, was er tat, nicht in vollem Umfang. Er hat einfach Steine geworfen, wie Jungen eben Steine werfen. Im Grunde seines Herzens wollte er niemanden töten. Hinterher, als er gesehen hat, was für ein schönes Tier der Vogel war, als er gesehen hat, was er Furchtbares getan hat, hat er es bereut und es hat ihm leidgetan.«
»Es hat ihm nicht wirklich leidgetan. Das hat er mir gesagt.«
»Wenn es ihm jetzt nicht leidtut, dann wird es ihm bald leid tun. Sein Gewissen wird ihm keine Ruhe geben. So sind wir Menschen. Wenn wir etwas Schlechtes tun, bringt uns das keine Freude. Dafür sorgt unser Gewissen.«
»Aber er hat gestrahlt! Das habe ich gesehen! Er hat gestrahlt und Steine geschleudert, so wild er konnte! Er wollte sie alle töten!«
»Ich weiß nicht, was du mit strahlen meinst, aber selbst wenn er gestrahlt hat, selbst wenn er Steine geschleudert hat, beweist das nicht, dass er sie im Grunde seines Herzens töten wollte. Wir können die Folgen unserer Taten nicht immer voraussehen – besonders wenn wir jung sind. Vergiss nicht, dass er angeboten hat, den Vogel mit dem gebrochenen Flügel zu pflegen, ihn in seinem Bett unterzubringen. Was konnte er mehr tun? Den Stein, den er geworfen hatte, ungeworfen machen? Das kann keiner. Man kann die Vergangenheit nicht ungeschehen machen. Getan ist getan.«
»Er hat ihn nicht begraben. Er hat ihn einfach ins Gebüsch geworfen.«
»Das tut mir leid. Aber der Erpel ist tot. Wir können ihn nicht wieder lebendig machen. Du und ich werden ihn begraben, sobald die Arbeit für heute beendet ist.«
»Ich wollte ihn küssen, aber Bengi hat mich nicht gelassen. Er hat gesagt, er wäre schmutzig. Aber ich habe ihn trotzdem geküsst. Ich bin ins Gebüsch rein und habe ihn geküsst.«
»Das ist gut. Ich freue mich darüber. Zu wissen, dass ihn jemand geliebt und geküsst hat, nachdem er gestorben war, wird ihm viel bedeuten. Es wird ihm auch viel bedeuten, dass er ein anständiges Begräbnis hatte.«
»Du kannst ihn begraben. Ich will ihn nicht begraben.«
»Also gut, ich werde es tun. Und wenn wir morgen kommen und das Grab leer finden und die ganze Entenfamilie im Stausee schwimmen sehen, Vater und Mutter und Entenküken, und es fehlt keiner, dann wissen wir, dass Küssen funktioniert, dass Küssen einen von den Toten erwecken kann. Aber wenn wir ihn nicht sehen, wenn wir die Entenfamilie nicht sehen -«
»Ich will nicht, dass sie zurückkommen. Wenn sie zurückkommen, wird Bengi nur wieder Steine nach ihnen werfen. Es tut ihm nicht leid. Er tut nur so. Ich weiß, dass er nur so tut, aber du willst mir nicht glauben. Du glaubst mir nie.«
Ein Spaten oder eine Spitzhacke ist nirgends aufzutreiben, deshalb leiht er sich ein Montiereisen aus dem Laster. Der Junge führt ihn dahin, wo der Kadaver im Gebüsch liegt. Das Federkleid hat schon seinen Glanz verloren und Ameisen haben die Augen befallen. Mit dem Eisen hackt er ein Loch in den harten Boden. Es ist nicht tief genug, er kann nicht so tun, als sei das ein anständiges Begräbnis, doch er wirft den toten Vogel trotzdem hinein und bedeckt ihn. Ein Schwimmfuß ragt steif heraus. Er sammelt Steine auf und legt sie über das Grab. »Bitte«, sagt er zum Jungen, »mehr kann ich nicht tun.«
Als sie die Stelle am Morgen darauf aufsuchen, sind die Steine verstreut und der Erpel ist verschwunden. Überall sind Federn. Sie suchen, finden aber nichts außer dem Kopf mit seinen leeren Augenhöhlen und einen Fuß. »Tut mir leid«, sagt er und marschiert davon, um sich der Arbeitsbrigade anzuschließen.
Noch zwei Tage, dann ist die Weinlese beendet; der Laster hat die letzten vollen Behälter weggebracht.
»Wer wird die ganzen Weintrauben essen?«, fragt David.
»Sie werden nicht gegessen. Sie werden in einer Weinpresse zerquetscht, und aus dem Saft wird Wein gemacht.«
»Ich mag Wein nicht«, sagt David. »Er ist sauer.«
»Wein ist gewöhnungsbedürftig. Wenn wir jung sind, mögen wir den Geschmack nicht, aber wenn wir älter sind, finden wir Gefallen an ihm.«
»Ich werde nie Gefallen an ihm finden.«
»Das behauptest du. Warten wir’s ab.«
Nachdem sie die Weinberge abgeerntet haben, gehen sie weiter zu den Olivenhainen, wo sie Netze ausbreiten und lange Haken benutzen, um die Oliven herunterzuholen. Die Arbeit ist anstrengender als die Weinlese. Er sehnt die Mittagspausen herbei; die Hitze der langen Nachmittage findet er schwer erträglich und macht oft eine Pause, um etwas zu trinken oder einfach wieder Kraft zu sammeln. Er kann nicht glauben, dass er erst vor ein paar Monaten im Hafen als Schauermann gearbeitet und schwere Lasten getragen hat und dabei kaum ins Schwitzen gekommen war. Sein Rücken und die Arme haben ihre alte Stärke verloren, sein Herz schlägt träge, die Rippe, die er sich gebrochen hatte, bereitet ihm Schmerzen.
Von Inés hatte er Klagen und Murren erwartet, so ungewohnt ihr körperliche Arbeit ist. Doch nein: Sie arbeitet den ganzen Tag an seiner Seite, freudlos, aber ohne zu mucken. Sie muss nicht daran erinnert werden, dass sie es war, die beschlossen hat, dass sie aus Novilla fliehen und als Zigeuner leben sollten. Nun hat sie herausgefunden, wie Zigeuner leben – indem sie von Sonnenauf- bis -untergang auf den Feldern anderer Leute schuften, und das alles für das tägliche Brot und ein paar Reales in der Tasche.
Aber wenigstens hat der Junge eine gute Zeit, der Junge, um dessentwillen sie aus der Stadt geflohen sind. Nach einer kurzen hochnäsigen Entfremdung hat er sich wieder Bengi und seiner Meute angeschlossen – er hat sogar, wie es scheint, die Führerschaft übernommen. Denn er, und nicht Bengi, gibt jetzt die Befehle, und Bengi und die anderen befolgen sie widerstandslos.
Bengi hat drei jüngere Schwestern. Sie tragen identische Baumwollkittel und haben das Haar mit identischen roten Bändern zu identischen Pferdeschwänzen gebunden; sie machen alle Spiele der Jungen mit. Auf seiner Schule in Novilla wollte David nichts mit Mädchen zu schaffen haben. »Die flüstern und kichern die ganze Zeit«, hat er zu Inés gesagt. »Sie sind doof.« Jetzt spielt er zum ersten Mal mit Mädchen und scheint sie überhaupt nicht doof zu finden. Er hat ein Spiel erfunden, das darin besteht, auf das Dach eines Schuppens neben dem Olivenhain zu klettern und von dort auf einen praktischerweise vorhandenen Sandhaufen hinunterzuspringen. Manchmal springen er und die jüngste der Schwestern Hand in Hand und purzeln in einem Gewirr von Armen und Beinen herum. Dann stehen sie wiehernd vor Lachen wieder auf.
Das kleine Mädchen, das Florita heißt, folgt David überall hin; er tut nichts, um sie davon abzubringen.
Während der Mittagspause neckt sie eine der Olivenpflückerinnen. »Ich sehe, du hast einen novio«, sagt sie. Florita schaut sie ernst an. Vielleicht kennt sie das Wort nicht. »Wie heißt er denn? Wie heißt denn dein novio?« Florita wird rot und läuft weg.
Wenn die Mädchen vom Dach springen, öffnen sich ihre Kittel wie Blumenblätter und zeigen identische rosafarbene Höschen.
Es sind noch reichlich Weintrauben von der Ernte übrig geblieben, ganze Körbe davon. Die Kinder stopfen sich den Mund voll; ihre Hände und Gesichter sind klebrig vom süßen Saft. Nur bei David nicht, der eine Beere nach der anderen isst, die Kerne ausspuckt und sich hinterher sorgfältig die Hände wäscht.
»Auf alle Fälle können sich die anderen bei ihm gutes Benehmen abgucken«, bemerkt Inés. Mein Junge, möchte sie hinzufügen – er, Simón, sieht das –, mein kluger, wohlerzogener Junge. So ganz anders als diese Gassenkinder.
»Er entwickelt sich schnell«, gibt er zu. »Vielleicht zu schnell. Manchmal finde ich sein Benehmen ein bisschen zu« – er zögert bei dem Wort – »zu gebieterisch, zu dominant. So kommt es mir jedenfalls vor.«
»Er ist ein Junge. Er hat einen starken Charakter.«
Das Zigeunerleben ist wahrscheinlich nichts für Inés und ganz bestimmt nichts für ihn, doch für den Jungen ist es genau das Richtige. Noch nie hat er ihn so unternehmungslustig gesehen, so voller Energie. Er wacht früh auf, isst mit unbändigem Appetit, rennt den ganzen Tag mit seinen Freunden herum. Inés versucht, ihn dazu zu bringen, eine Mütze aufzusetzen, doch die Mütze ist bald verloren und wird nie wiedergefunden. War er früher ein wenig blass, so ist er jetzt braun wie eine Haselnuss.
Nicht die kleine Florita steht ihm am nächsten, sondern ihre Schwester Maite. Maite ist sieben, ein paar Monate älter als er. Sie ist die hübscheste der drei Schwestern und die mit der nachdenklichsten Veranlagung.
Eines Abends vertraut der Junge Inés an: »Maite will, dass ich ihr meinen Penis zeige.«
»Und?«, sagt Inés.
»Sie sagt, wenn ich ihr meinen Penis zeige, dann zeigt sie mir ihr Ding.«
»Du solltest mehr mit Bengi spielen«, sagt Inés. »Du solltest nicht die ganze Zeit mit Mädchen spielen.«
»Wir haben nicht gespielt, wir haben miteinander geredet. Sie sagt, wenn ich meinen Penis in ihr Ding stecke, dann kriegt sie ein Baby. Stimmt das?«
»Nein, das stimmt nicht«, sagt Inés. »Jemand sollte dem Mädchen den Mund mit Seife auswaschen.«
»Sie sagt, dass Roberto in den Frauenraum kommt, wenn sie schlafen und seinen Penis in das Ding ihrer Mutter steckt.«
Inés wirft ihm, Simón, einen hilflosen Blick zu.
»Was Erwachsene tun, mag manchmal seltsam wirken«, schaltet er sich ein. »Wenn du älter bist, wirst du das besser verstehen.«
»Maite sagt, ihre Mutter lässt ihn einen Gummi auf seinen Penis tun, damit sie kein Baby bekommt.«
»Ja, das ist richtig, manche Leute machen das.«
»Tust du einen Gummi auf deinen Penis, Simón?«
Inés steht auf und geht hinaus.
»Ich? Einen Gummi? Nein, natürlich nicht.«
»Wenn du das nicht machst, kann Inés dann ein Baby bekommen?«
»Mein Junge, du sprichst vom Geschlechtsverkehr, und Geschlechtsverkehr ist etwas für Verheiratete. Inés und ich sind nicht verheiratet.«
»Aber du kannst Geschlechtsverkehr haben, selbst wenn du nicht verheiratet bist.«
»Das ist wahr, man kann Geschlechtsverkehr haben, wenn man nicht verheiratet ist. Aber Babys zu bekommen, wenn man nicht verheiratet ist, ist keine gute Idee. Ganz allgemein gesehen.«
»Warum? Weil die Babys dann huérfano-Babys sind?«
»Nein, ein Baby einer unverheirateten Mutter ist kein huérfano. Ein huérfano ist etwas ganz anderes. Wo hast du denn dieses Wort aufgelesen?«
»In Punta Arenas. Viele Jungen in Punta Arenas sind huérfanos. Bin ich ein huérfano?«
»Nein, natürlich nicht. Du hast eine Mutter. Inés ist deine Mutter. Ein huérfano ist ein Kind ohne Eltern.«
»Wo kommen denn huérfanos her, wenn sie keine Eltern haben?«
»Ein huérfano ist ein Kind, dessen Eltern gestorben sind und es auf der Welt allein gelassen haben. Oder manchmal hat die Mutter kein Geld für Essen und gibt es an andere Leute, damit sie für es sorgen. Für ihn oder für sie. Auf diese Weise wird man zum huérfano. Du bist kein huérfano. Du hast Inés. Du hast mich.«
»Aber du und Inés, ihr seid nicht meine richtigen Eltern, also bin ich ein huérfano.«
»David, du bist mit einem Schiff angekommen, genau wie ich, genau wie die Leute um uns, die Menschen, die nicht das Glück hatten, hier geboren zu sein. Sehr wahrscheinlich sind Bengi und seine Geschwister auch mit Schiffen angekommen. Wenn man mit einem Schiff übers Meer fährt, werden alle Erinnerungen weggewaschen, und man fängt ein völlig neues Leben an. So ist das. Es gibt kein Vorher. Es gibt keine Geschichte. Das Schiff legt im Hafen an und wir gehen den Landungssteg hinunter und wir werden ins Hier und Jetzt geworfen. Die Zeit beginnt. Die Uhr läuft. Du bist kein huérfano. Bengi ist kein huérfano.«
»Bengi wurde in Novilla geboren. Das hat er mir gesagt. Er ist nie auf einem Schiff gewesen.«
»Nun gut, wenn Bengi und seine Geschwister hier geboren wurden, dann beginnt ihre Geschichte hier, und sie sind keine huérfanos.«
»Ich kann mich an die Zeit erinnern, bevor ich auf dem Schiff war.«
»Das hast du mir schon gesagt. Es gibt eine Menge Leute, die behaupten, sie könnten sich an das Leben erinnern, das sie geführt haben, ehe sie über das Meer kamen. Aber es gibt ein Problem bei solchen Erinnerungen, und weil du klug bist, glaube ich, dass du das Problem begreifen kannst. Das Problem ist, dass wir nicht sagen können, ob die Erinnerungen dieser Menschen wahre Erinnerungen oder erfundene Erinnerungen sind. Weil sich manchmal erfundene Erinnerungen so wahr wie wahre Erinnerungen anfühlen können, besonders wenn wir wollen, dass die Erinnerung wahr ist. So könnte sich zum Beispiel jemand wünschen, ein König oder großer Herr gewesen zu sein, bevor er das Meer überquerte, und er könnte es sich so sehr wünschen, dass er sich selbst davon überzeugt, er sei wirklich ein König oder großer Herr gewesen. Aber die Erinnerung ist wahrscheinlich keine wahre Erinnerung. Warum nicht? Weil König zu sein etwas Seltenes ist. Nur einer von einer Million wird König. Daher hat wahrscheinlich einer, der seiner Erinnerung nach König gewesen ist, nur eine Geschichte erfunden und dann vergessen, dass er sie erfunden hat. Und so ähnlich ist es mit anderen Erinnerungen. Wir können einfach nicht mit Bestimmtheit sagen, ob eine Erinnerung wahr oder falsch ist.«
»Aber bin ich aus Inés’ Bauch gekommen?«
»Du zwingst mich dazu, mich zu wiederholen. Meine Antwort kann entweder sein: ›Ja, du bist aus Inés’ Bauch gekommen‹ oder ›Nein, du bist nicht aus Inés’ Bauch gekommen‹. Aber keine der Antworten bringt uns der Wahrheit näher. Warum nicht? Weil du dich, wie alle anderen auch, die auf den Schiffen hergekommen sind, nicht erinnern kannst und auch Inés kann sich nicht erinnern. Da es keine Erinnerung gibt, bleibt dir und bleibt ihr nichts anderes übrig, bleibt uns allen nichts anderes übrig, als Geschichten zu erfinden. Zum Beispiel kann ich dir erzählen, dass ich mich an meinem letzten Tag im anderen Leben in einer riesigen Menschenmenge befand, die alle auf die Einschiffung warteten. Und so groß war der Andrang, dass man Lotsen und Kapitäne im Ruhestand anrufen und sie auffordern musste, zum Hafen zu kommen und auszuhelfen. Und in dieser Menschenmenge, könnte ich sagen, habe ich dich und deine Mutter gesehen – mit meinen eigenen Augen. Deine Mutter hielt deine Hand fest und wirkte besorgt, wusste nicht, wohin. Dann, könnte ich sagen, habe ich euch beide in der Menge aus den Augen verloren. Als ich dann schließlich an der Reihe war, an Bord zu gehen, wen anders habe ich da gesehen als dich, wie du dich an ein Geländer geklammert hast und riefst: ›Mama, Mama, wo bist du?‹ Also bin ich zu dir hin und habe dich bei der Hand genommen und gesagt: ›Komm, kleiner Freund, ich werde dir helfen, deine Mutter zu finden.‹ Und so haben wir beide uns getroffen.
Das ist eine Geschichte, die ich erzählen könnte, wie ich meiner Erinnerung nach dich und deine Mutter zum ersten Mal gesehen habe.«
»Aber ist sie wahr? Ist es eine wahre Geschichte?«
»Ist sie wahr? Ich weiß es nicht. Für mich fühlt sie sich wahr an. Je öfter ich sie mir erzähle, desto wahrer fühlt sie sich an. Du fühlst dich wahr an, wie du das Geländer so fest umklammert hattest, dass ich deine Finger losmachen musste; die Menschenmenge im Hafen fühlt sich wahr an – hunderttausende Menschen, alle verloren, wie du, wie ich, mit leeren Händen und bangem Blick. Der Bus fühlt sich wahr an – der Bus, der die pensionierten Lotsen und Kapitäne zum Hafen brachte. Sie trugen die marineblauen Uniformen, die sie aus Schrankkoffern vom Dachboden geholt hatten und die noch nach Mottenpulver rochen. Das alles fühlt sich von Anfang bis Ende wahr an. Aber vielleicht fühlt es sich so wahr an, weil ich es so oft für mich wiederholt habe. Fühlt es sich für dich wahr an? Erinnerst du dich daran, wie du von deiner Mutter getrennt wurdest?«
»Nein.«
»Nein, natürlich nicht. Aber erinnerst du dich nicht daran, weil es nicht geschehen ist oder weil du es vergessen hast? Wir werden es nie mit Sicherheit wissen. So ist das nun einmal. Damit müssen wir leben.«
»Ich glaube, ich bin ein huérfano.«
»Und ich glaube, du sagst das nur, weil es dir romantisch vorkommt, ohne Eltern allein auf der Welt zu sein. Nun gut, ich möchte dir mitteilen, dass du in Inés die beste Mutter der Welt hast, und wenn du die beste Mutter der Welt hast, bist du bestimmt kein huérfano.«
»Wenn Inés ein Baby bekommt, ist es dann mein Bruder?«
»Dein Bruder oder deine Schwester. Aber Inés wird kein Baby bekommen, weil Inés und ich nicht verheiratet sind.«
»Wenn ich meinen Penis in Maites Ding stecke und sie ein Baby bekommt, ist es dann ein huérfano?«
»Nein. Maite wird überhaupt kein Baby bekommen. Ihr seid zu jung, um Babys zu machen, wie ihr auch zu jung seid, um zu verstehen, warum Erwachsene heiraten und Geschlechtsverkehr haben. Erwachsene heiraten, weil sie leidenschaftliche Gefühle füreinander haben, wie du und Maite sie nicht habt. Ihr könnt keine Leidenschaft empfinden, weil ihr noch zu jung seid. Nimm das als Tatsache und bitte mich nicht um eine Erklärung, warum das so ist. Leidenschaft kann nicht erklärt werden, man kann sie nur erfahren. Genauer gesagt, muss sie von innen erfahren werden, bevor sie von außen verstanden werden kann. Worum es geht, ist, dass du und Maite keinen Geschlechtsverkehr haben solltet, weil Geschlechtsverkehr ohne Leidenschaft sinnlos ist.«
»Aber ist es schlimm?«
»Nein, es ist nicht schlimm, es ist nur unklug, so etwas zu tun, unklug und leichtfertig. Weitere Fragen?«
»Maite sagt, sie will mich heiraten.«
»Und du? Willst du Maite heiraten?«
»Nein. Ich will nie heiraten.«
»Vielleicht änderst du ja deine Meinung darüber, wenn die Leidenschaften erwachen.«
»Werdet ihr, du und Inés, heiraten?«
Er antwortet nicht. Der Junge trottet zur Tür. »Inés!«, ruft er. »Werdet ihr, du und Simón, heiraten?«
»Still!«, lautet Inés’ ärgerliche Antwort. Sie kommt wieder in die Schlafbaracke. »Genug geredet. Zeit für dich, ins Bett zu gehen.«
»Hast du Leidenschaften, Inés?«, fragt der Junge.
»Das geht dich nichts an«, sagt Inés.
»Warum willst du nie mit mir reden?«, fragt der Junge. »Simón redet mit mir.«
»Aber ich rede mit dir«, sagt Inés. »Nur nicht über Privatangelegenheiten. Putz dir jetzt die Zähne.«
»Ich werde keine Leidenschaften haben«, verkündet der Junge.
»Das sagst du heute«, sagt er, Simón. »Aber wenn du älter wirst, wirst du merken, dass Leidenschaften ein eigenes Leben haben. Jetzt putz dir schnell die Zähne, vielleicht liest dir dann deine Mutter eine Gutenachtgeschichte vor.«
Roberta, die sie am ersten Tag für die Eigentümerin der Farm gehalten haben, ist in Wirklichkeit eine Angestellte wie sie selbst, man hat sie eingestellt, damit sie die Arbeiter beaufsichtigt, sie mit Essensrationen versorgt und ihnen den Lohn auszahlt. Sie ist eine freundliche Person und wird von allen gemocht. Sie nimmt Anteil am Privatleben der Arbeiter und bringt den Kindern kleine Leckereien: Bonbons, Kekse, Limonade. Wie sie erfahren, gehört die Farm drei Schwestern, die weit und breit nur als die Drei Schwestern bekannt sind, inzwischen im vorgerückten Alter und kinderlos, die ihre Zeit zwischen der Farm und ihrem Wohnsitz in Estrella aufteilen.
Roberta führt ein langes Gespräch mit Inés. »Was haben Sie vor, um Ihrem Sohn eine Schulbildung zu verschaffen?«, fragt sie. »Ich sehe, dass er ein aufgeweckter Junge ist. Es wäre schade, wenn er wie Bengi enden würde, der nie eine richtige Schule besucht hat. Es ist nicht so, dass mit Bengi etwas nicht stimmt. Er ist ein netter Junge, doch er hat keine Zukunft. Er wird bloß Landarbeiter wie seine Eltern, und was ist das langfristig für ein Leben?«
»David ist in Novilla zur Schule gegangen«, sagt Inés. »Es war kein Erfolg. Er hatte keine guten Lehrer. Er ist ein von Natur aus kluges Kind. Das Tempo im Klassenzimmer war für ihn zu langsam. Wir mussten ihn aus der Schule nehmen und zu Hause unterrichten. Ich fürchte, wenn wir ihn hier in die Schule bringen, wird er dasselbe erleben.«
Inés’ Bericht von ihren Auseinandersetzungen mit dem Schulsystem in Novilla entspricht nicht ganz der Wahrheit. Er war mit Inés übereingekommen, nichts von ihren Verstrickungen mit den Behörden in Novilla verlauten zu lassen; doch offenbar hat Inés keine Bedenken, sich der älteren Frau anzuvertrauen, und er schaltet sich nicht ein.
»Will er denn zur Schule gehen?«, fragt Roberta.
»Nein, will er nicht, nicht nach seinen Erfahrungen in Novilla. Er ist hier auf der Farm vollkommen glücklich. Er liebt die Freiheit.«
»Es ist ein wunderbares Leben für ein Kind, aber die Ernte ist ja bald vorbei. Und auf einer Farm ungezügelt herumzulaufen ist keine Vorbereitung auf die Zukunft. Haben Sie schon mal an einen Privatlehrer gedacht? Oder an eine Akademie? Eine Akademie ist nicht wie eine normale Schule. Vielleicht würde eine Akademie für ein Kind wie ihn geeignet sein.«
Inés schweigt. Er, Simón, meldet sich zum ersten Mal zu Wort. »Wir können uns einen Privatlehrer nicht leisten. Was nun Akademien angeht, so hat es in Novilla keine gegeben. Wenigstens hat sie keiner erwähnt. Was genau ist eine Akademie? Denn wenn es nur ein hochtrabender Name für eine Schule für schwierige Kinder ist, Kinder mit eigenen Vorstellungen, dann wären wir nicht daran interessiert – oder, Inés?«
Inés schüttelt den Kopf.
»In Estrella gibt es zwei Akademien«, sagt Roberta. »Sie sind ganz und gar nicht für schwierige Kinder. Die eine ist die Singakademie und die andere die Tanzakademie. Es gibt auch noch die Atom-Schule; aber die ist für ältere Kinder.«
»David singt gern. Er hat eine gute Stimme. Aber was passiert in diesen Akademien noch außer Singen und Tanzen? Gibt es richtigen Unterricht? Und nehmen sie so junge Kinder auf?«
»Ich bin keine Schulexpertin, Inés. Alle mir bekannten Familien in Estrella schicken ihre Kinder in normale Schulen. Aber ich bin sicher, dass man auf den Akademien die Hauptfächer unterrichtet – nämlich Lesen und Schreiben und so weiter. Ich kann die Schwestern fragen, wenn Sie möchten.«
»Was ist mit der Atom-Schule?«, fragt er. »Was unterrichten sie dort?«
»Der Unterricht handelt von Atomen. Sie beobachten die Atome durch ein Mikroskop bei dem, was Atome so tun. Mehr weiß ich nicht.«
Er wechselt Blicke mit Inés. »Wir werden uns die Akademien als eine Möglichkeit merken«, sagt er. »Einstweilen sind wir völlig zufrieden mit dem Leben, das wir hier auf der Farm führen. Glauben Sie, dass wir nach Ernteschluss hierbleiben können, wenn wir den Schwestern eine kleine Miete anbieten? Sonst müssten wir die ganze Prozedur durchmachen, uns bei der Asistencia anmelden, auf Arbeits- und Wohnungssuche gehen, und ich glaube, dazu sind wir nicht bereit, noch nicht – was meinst du, Inés?«
Inés schüttelt den Kopf.
»Ich will mit den Schwestern sprechen«, sagt Roberta. »Ich will mit Señora Consuelo sprechen. Sie ist die Praktischste. Wenn sie sagt, Sie können auf der Farm bleiben, dann können Sie vielleicht Señor Robles einmal anrufen. Er bietet Privatunterricht an und verlangt nicht viel dafür. Er tut es aus Liebe.«
»Wer ist Señor Robles?«
»Das ist der für den Bezirk zuständige Ingenieur für Wasserwirtschaft. Er wohnt ein paar Kilometer weiter oben im Tal.«
»Aber warum sollte ein Ingenieur für Wasserwirtschaft Privatunterricht geben?«
»Er macht alles Mögliche außer seiner Tätigkeit als Ingenieur. Er ist ein vielseitig talentierter Mann. Er schreibt eine Geschichte der Besiedlung des Tales.«
»Eine Geschichte. Ich wusste nicht, dass Orte wie Estrella eine Geschichte haben. Wenn Sie uns eine Telefonnummer geben, werde ich mich mit Señor Robles in Verbindung setzen. Und werden Sie daran denken, mit Señora Consuelo zu sprechen?«
»Das werde ich. Ich bin sicher, dass sie nichts dagegen haben wird, wenn Sie hierbleiben, während Sie sich nach etwas Dauerhafterem umsehen. Sie müssen sich danach sehnen, in ein eigenes Zuhause zu ziehen.«
»Eigentlich nicht. Wir sind zufrieden mit den Verhältnissen, wie sie sind. Für uns bedeutet es noch ein Abenteuer, wie die Zigeuner zu leben – nicht wahr, Inés?«
Inés nickt.
»Und der Junge ist auch zufrieden. Er lernt etwas über das Leben, selbst wenn er nicht zur Schule geht. Kann ich irgendwelche Arbeiten auf der Farm übernehmen, um mich für Ihre Freundlichkeit erkenntlich zu zeigen?«
»Natürlich. Es gibt immer das eine oder andere zu tun.« Roberta macht eine nachdenkliche Pause. »Noch etwas. Wie Sie sicher wissen, ist dies das Jahr der Volkszählung. Die damit beauftragten Beamten sind sehr gewissenhaft. Sie kommen zu jeder Farm, sogar zu den entlegensten. Wenn Sie sich also vor der Volkszählung drücken wollen – und ich behaupte nicht, dass es so ist –, dann wird Ihnen das nicht gelingen, indem Sie hierbleiben.«
»Wir wollen uns vor nichts drücken«, sagt er, Simón. »Wir sind keine Flüchtlinge. Wir wollen nur das Beste für das Kind.«
Am nächsten Tag kommt am späten Nachmittag ein Laster auf die Farm gefahren und ein beleibter Mann mit kräftiger Gesichtsfarbe steigt aus. Er wird von Roberta begrüßt, die ihn zur Schlafbaracke führt. »Señor Simón, Señora Inés, das ist Señor Robles. Ich lasse euch drei allein, um eure Angelegenheit zu besprechen.«
Ihre Unterredung ist kurz. Señor Robles liebt Kinder, wie er ihnen mitteilt, und kommt gut mit ihnen aus. Er wird den jungen David, von dem er außerordentlich Lobendes von Señora Roberta gehört hat, gern in die Grundlagen der Mathematik einführen. Wenn sie zustimmen, wird er zweimal wöchentlich zur Farm kommen, um den Jungen zu unterrichten. Bezahlung in irgendeiner Form werde er nicht annehmen. Es sei Belohnung genug, Umgang mit einem aufgeweckten jungen Geist zu haben. Er selbst habe leider keine Kinder. Da seine Frau verstorben sei, sei er allein auf der Welt. Wenn unter den Kindern der anderen Obstpflücker welche seien, die sich David gern anschließen würden, dann seien sie willkommen. Und die Eltern, Señora Inés und Señor Simón, dürften auch dabei sein – das verstünde sich von selbst.
»Und Sie würden es nicht langweilig finden, die Grundrechenarten zu unterrichten?«, fragt er, Señor Simón, der Vater.