Michelle Cohen Corasanti | Jamal Kanj
Das Mädchen, das die Hoffnung fand
Roman
Aus dem Amerikanischen von
Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
FISCHER E-Books
Michelle Cohen Corasanti ist eine in den USA geborene Jüdin. Mit sechzehn schickten ihre Eltern sie nach Israel. Sie besuchte die Hebrew University of Jerusalem, wo sie ihren Master in Nahostwissenschaften machte. Inzwischen hat sie zwei Harvard-Diplome und ist Anwältin für Menschenrechte. »Der Junge, der vom Frieden träumte« war ihr erster Roman und wurde in viele Sprachen übersetzt.
Jamal Kanj wuchs in einem palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon auf. In den 70er Jahren gelang ihm die Flucht in die USA, wo er studierte und später promovierte. Er ist Autor des Buches »Children of Catastrophe – Journey from a Palastinian Refugee Camp to America« und schreibt regelmäßig Artikel und Reportagen über Palästina und den Nahen Osten. www.jamalkanj.com
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Sarah wächst als Tochter wohlhabender jüdischer Eltern in Odessa Anfang des 20. Jahrhunderts auf. Doch unter dem Sowjetregime verliert die Familie alles. Ihre Mutter wird ermordet, Sarah gelingt mit ihrem Vater in letzter Minute die Flucht auf einem Schiff. 1932 landen sie in Jaffa, der blühenden Stadt der Orangenhaine in Palästina.
Hier verliebt sich Sarah in den jungen Arzt Yussef, doch ihr zionistischer Onkel zwingt sie, innerhalb ihres Glaubens zu heiraten. Ihre verbotene Liebe führt zu einer Tragödie, die sie für den Rest ihres Lebens nicht mehr loslassen wird.
Boston, 1995: Die junge Rebekka, eine amerikanische Jüdin, trifft an der Harvard-Universität den attraktiven Wissenschaftler Amir, einen palästinensischen Flüchtling. Sofort werden beide von ihren Gefühlen überwältigt. Doch kann ihre Liebe stärker sein als Politik, Religion und Hass – und der Druck ihrer Eltern? Erst ein Blick zurück in die Vergangenheit ihrer Familien lässt sie wieder Hoffnung schöpfen.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: bürosüd, München
Coverabbildung: Getty Images/Christian Goupi
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490495-5
Meinem Schwiegervater Gene und meinem Onkel Angelo, die sich sehr für meinen ersten Roman »Der Junge, der vom Frieden träumte« eingesetzt haben. Leider hatten beide keine Gelegenheit mehr, diesen neuen Roman zu lesen.
Meinem Ehemann Joe und meinen Zwillingen Sarah und Jon-Robert – eure Liebe und Unterstützung bedeuten mir alles.
Außerdem widme ich dieses Buch Flüchtlingen auf der ganzen Welt. Möge durch unseren Einsatz die Menschheit einen Schritt vorankommen.
Michelle Cohen Corasanti
Die ersten achtzehn Jahre meines Lebens lebte ich in dem Flüchtlingscamp Nahr al-Bared, wo sich 20000 Menschen auf einem km² drängten. Im Laufe der Jahre verdoppelte sich die Zahl der Flüchtlinge, der Raum blieb derselbe.
Einigen Glücklichen von uns gelang die Flucht, vorbei an den militärischen Checkpoints des Camps. Ich schaffte es bis nach Amerika, während einige meiner Mitbewohner in Deutschland ein neues Zuhause fanden.
Heute habe ich Klassenkameraden und Cousins in Berlin, eine Nichte in Hamburg, Kindheitsfreunde in Frankfurt und in anderen deutschen Städten, deren Namen ich nicht aussprechen kann.Ihnen allen widme ich dieses Buch – und natürlich jenen, die in Nahr al-Bared zurückblieben.
Jamal Kanj
Lass selbst deinen Feinden Liebe zuteilwerden.
Was mag wohl geschehen, wenn du ihre Herzen erreichst?
Rumi
Odessa
22. April 1932
Ich erschrak, als ein hämmerndes Geräusch zu mir hochdrang. Dann folgte ein lautes Krachen, und ich zuckte zusammen.
»Was wollen Sie?« Mamas schrille Frage hallte von unten aus der Diele.
Soldaten. Ich stürzte durch mein Zimmer zum Schrank. Der Revolver, den mir Onkel Isaak »nur für alle Fälle« aufgedrängt hatte, war in meinem Teddybär versteckt. Ich riss das Stofftier auf und zog die geladene Waffe heraus.
Ich handelte, ohne nachzudenken, und spannte den Hahn. Leise öffnete ich die Zimmertür und schlich dicht an der Wand entlang über den Flur. Zwei Soldaten hatten ihre Pistolen auf Mama gerichtet. Mir stockte der Atem. Reiß dich zusammen. Ich musste sie beide erschießen, bevor einer von ihnen meine Mutter töten konnte.
»Wo habt ihr eure Waffen?« Eine dicke rote Narbe verlief senkrecht über die rechte Gesichtshälfte des Soldaten, der die Frage gestellt hatte. Er war Anfang zwanzig, wie ich, und sah sehr kräftig aus. Er packte meine Mutter an den Haaren und riss ihren Kopf nach hinten.
»Wir haben keine Waffen.« Mutters Stimme war so schrill, dass ich sie kaum wiedererkannte. »Bitte, tun Sie mir nichts.«
»Lüg mich nicht an.« Wieder riss er Mamas Kopf zurück.
»Ich lüge nicht«, schrie meine Mutter. Sie warf ihren mageren Körper hin und her, vergeblich. Ich sah, wie sie in verzweifelter Panik um sich trat. Ich musste näher ran.
Mama kreischte auf, als der Soldat ihr seine Pistole an die Stirn presste. »Mit dem Rücken an die Tür.« Er stieß sie mit der freien Hand nach hinten. Mutter prallte mit dem Kopf gegen die Tür, die durch den Stoß aufflog. Der Soldat hielt seine Pistole weiter auf Mamas Stirn gerichtet. Er sah den anderen Soldaten an.
»Sascha, durchsuch das Haus, ich halt sie hier solange in Schach. Such zuerst im Elternschlafzimmer und dann unter den Bodenbrettern in den Schränken.«
Ich hielt den Revolver mit beiden Händen, die Füße sprungbereit. Erschieß den Soldaten, sobald er oben an der Treppe ist, dann töte den anderen. Mit polternden Armeestiefeln kam er die Stufen herauf.
»Da oben ist nichts.« Mamas Stimme klang angsterstickt.
Wie kann ich ihr vermitteln, dass ich einen Plan habe?
»Bitte, kommen Sie wieder runter.«
Mein Magen verkrampfte sich. Nein, Mama.
»Ich dachte, du wüsstest nichts von irgendwelchen Waffen«, sagte der Soldat. »Die sind garantiert oben, Sascha.«
»Nein«, rief Mutter. »Sie sind im Arbeitszimmer meines Mannes. Kommen Sie runter, dann zeig ich’s Ihnen.«
O nein.
»Wenn du lügst, knall ich dich auf der Stelle ab«, sagte der Soldat namens Sascha, drehte sich um und ging die Treppe wieder hinunter. »Und keine Bange«, grinste er. »Was du da oben versteckt hast, finden wir auch noch.«
Der Soldat mit der Narbe packte Mama am Arm und zerrte sie in Vaters Arbeitszimmer.
»Wo sind die Waffen?«, schrie er.
»Das verrate ich erst, wenn der andere auch hier im Zimmer ist«, sagte Mutter so laut, dass ich es hören konnte.
Ich schlich lautlos hinter Sascha her, wobei ich die ganze Zeit den Revolver auf ihn gerichtet hielt.
Sascha lief zum Arbeitszimmer und ging hinein. Mama schrie los. Was machen die mit ihr? Mein Herz raste. Vielleicht schrie sie, damit ich fliehen konnte. Aber ich würde sie niemals allein lassen.
Mit hastigen Schritten, die von den Schreien meiner Mutter übertönt wurden, eilte ich zu Vaters Arbeitszimmer. Ich spähte durch die offene Tür. Mir wurde schwindelig vor Angst.
»Sie sind unter dem Teppich«, sagte Mutter.
Sascha zog den Teppich beiseite und öffnete die Luke über dem versteckten Hohlraum. Er sah hinein und funkelte dann meine Mutter wütend an. Sie wirkte so zart, bebte am ganzen Körper. Der andere Soldat trat vor, um auch einen Blick in den Hohlraum zu werfen.
»Da hat offensichtlich jemand gelogen und muss bestraft werden«, sagte Sascha. »Wem gehören die Waffen?«
Mama legte die Handflächen aneinander, die Fingerspitzen nach oben gerichtet, und blickte flehend zu Sascha hoch. »Bitte haben Sie Erbarmen.«
»So ist es recht, Jüdin, bettele schön.« Sascha spannte seine Pistole und zielte auf Mamas Körper. »Sag mir, wo ihr die herhabt, oder du bist tot!«
Der andere Soldat stand ein Stück abseits und hielt seine Pistole ebenfalls auf Mama gerichtet. Wenn ich ihn tötete, würde Sascha meine Mutter erschießen. Aber wenn ich nichts tat, würden sie sie wahrscheinlich ohnehin töten. Ich musste etwas tun. Ich musste es wenigstens versuchen.
Zitternd zielte ich auf Saschas Kopf. Ich hatte im Laufe der Jahre zahllose Schießübungen absolviert, aber noch nie auf einen Menschen geschossen. Meine Hand bebte, doch ich drückte ab. Ein Schuss fiel, dann noch einer. Ich schrie auf. Sascha fiel zu Boden. Mutter sackte in sich zusammen, als der andere Soldat zu mir herumfuhr. Ich drückte eine Sekunde schneller ab als er. Die Kugel traf ihn in den Kopf, und er stolperte rückwärts, fiel über meine Mutter.
Ich stieß einen gellenden Schrei aus.
»Lauf weg, Sarah!« Mutter hielt sich den Bauch. »Es werden noch mehr kommen, und sie töten dich, wenn sie dich finden.« Sie rang nach Luft.
»Mama!« Ich eilte zu ihr.
»Nein!« Mutter hob eine schwache Hand, wollte mich fortwinken.
Schon tränkte Blut ihre weiße Bluse über dem Unterleib. Zu viel Blut. Die Kugel musste eine Hauptader getroffen haben oder vielleicht die Milz. Ich streckte die Arme aus, wollte die Blutung stoppen, obwohl ich wusste, dass es mir nicht gelingen würde. Ich drückte eine Hand auf ihren Bauch, zuckte zusammen, als sie aufstöhnte.
»Lass mich.« Mutters Stimme war ein Flüstern, ihr Gesicht aschfahl.
Ich streichelte mit der freien Hand ihre Wange. »Ich lass dich nicht allein.«
»Geh«, sagte Mutter wieder. »Mir zuliebe.« Ihre Augen wurden glasig, und ihre Stimme verlor an Kraft. »Ich hab dich lieb.«
»Ich hab dich noch mehr lieb.« Unser altes Spiel, als ich noch ein Kind war. Ich wünschte inständig, Mama würde sagen, dass sie mich am allermeisten liebhatte, dass sie überleben würde, doch ihr warmes Blut quoll weiter über meine Hand.
»Sei stark«, flüsterte sie.
Ich nickte und beugte mich vor, drückte meine tränennasse Wange an ihre.
»Kümmer dich um deinen Vater.«
»Versprochen. Ich hab dich lieb, Mama.«
Sie antwortete nicht mehr, sondern erbebte ein letztes Mal, ehe ihre Brust reglos blieb. Ein Schluchzen drang aus meiner Kehle, als ich sie weinend in die Arme schloss.
»Sarah. Ist ja gut, Sarah.«
Ich griff nach der ausgestreckten Hand meiner Mutter, doch statt weicher Haut spürte ich nur raue Bretter. Ich zuckte zurück, als Splitter sich mir in die Finger bohrten.
Das Bild meiner Mutter verschwand, und als ich die Augen öffnete, sah ich nur Dunkelheit rings um mich herum, unter mir und über mir. Es roch nach feuchtem Holz. Ich hatte von Mama geträumt – oder nicht? Es kam mir vor, als würde sich das Fass, in dem ich steckte, enger und enger um mich schließen. Vielleicht war der Tod nahe. Ich presste die Augen wieder zusammen, wünschte mir, Mutter würde zurückkommen und mich holen.
Die Luft war drückend. Ich hatte das Gefühl zu ersticken. Meine Beine schmerzten, weil sie so lange gekrümmt waren. Wegen der Enge konnte ich die Arme nicht um die Beine schlingen, daher hielt ich sie fest an den Kopf gepresst, und mir taten die Schultern weh. Schlucken war fast unmöglich geworden, so ausgetrocknet war meine Kehle. Durch die Hitze und den Sauerstoffmangel fühlte ich mich benommen und hatte stechende Kopfschmerzen.
Und wie mochte es Vater gehen? Mit seinem gut ein Meter achtzig war er zwölf Zentimeter größer und rund fünfundzwanzig Kilo schwerer als ich. Ich hoffte, dass sein Fass größer war, traute mich aber nicht, nach ihm zu rufen, aus Angst, wir könnten entdeckt werden.
Wie lange steckten wir schon in diesen Fässern? Waren wir überhaupt schon aus russischen Gewässern heraus? Was, wenn die Russen das Schiff vorher stoppten? Die Erinnerung an Stalins Soldaten, die Jagd auf uns machten, während Vater und ich uns im Wald versteckten, war noch frisch. Ich schloss die Augen, als ich daran zurückdachte, wie Mutter ihren letzten Atemzug tat. Warum hatten wir Onkel Isaak erlaubt, seine Waffen bei uns im Haus zu verstecken? Jetzt waren Vater und ich vollkommen von ihm abhängig. Seine Kontaktleute halfen uns, aus der UdSSR zu fliehen, und sie würden uns helfen, in Palästina neu anzufangen.
Um mich zu beruhigen, versuchte ich, an all die Menschen zu denken, die wir sehen würden, falls wir überlebten. Im Verlauf der vergangenen anderthalb Jahrzehnte hatte mein Onkel sein Netzwerk aus jüdischen Kämpfern über ganz Europa bis nach Palästina ausgedehnt. Und ich wusste, dass sie sich massiv dort ausbreiteten. Er hatte sogar einige jüdisch-britische Offiziere rekrutiert, da die Briten Palästina besetzt hielten.
Ich hörte Schritte in der Nähe, und Panik überkam mich. Stalins Soldaten oder –
Das Fass wackelte, und ich hörte schmerzhaft laut, wie der Deckel aufgehebelt wurde. Als das erste Licht hereindrang, spürte ich das Vibrieren jeder Zelle unter der Haut. Mein Herzschlag dröhnte mir in den Ohren. Schließlich wurde der Deckel abgenommen, doch in dem grellen Licht konnte ich unmöglich erkennen, ob da ein Freund vor mir aufragte oder ein russischer Soldat.
»Dein Onkel Isaak schickt mich«, sagte der Mann. »Ich bin Gideon.«
»Gott sei Dank.« Ich wurde beinahe ohnmächtig.
»Nimm meine Hand«, sagte Gideon und half mir aus dem Fass.
Mein Körper schrammte am Holz entlang, als Gideon mich herauszog. Er trug eine Matrosenuniform und hob mich hoch, als wäre ich nicht schwerer als eine Rolle Seil. Als ich schließlich stand, fühlten sich meine Füße an, als stünde ich auf Hunderten spitzer Nadeln. Ich rieb mir, so kräftig ich konnte, Arme und Beine, um die Durchblutung wieder in Gang zu bringen. Schwarze Punkte schwebten mir vor den Augen. Gideon war schon dabei, die Nägel aus dem Deckel des Fasses zu ziehen, in dem mein Vater steckte.
»Gleich hast du’s geschafft, Papa.« Ich versuchte, Gideon dabei zu helfen, meinen Vater herauszubugsieren.
»Halten Sie sich an mir fest«, sagte Gideon. Der junge, kräftige Mann mit den dunklen Haarlocken umschlang meinen Vater und zog ihn heraus.
Gideon reichte uns beiden Wasser und je ein Stück Schwarzbrot. Mit zitternder Hand trank ich aus dem Becher. Das Wasser war eine Wohltat für meinen ausgedörrten Mund, und ich biss in das Brot.
Ich betrachtete meinen Vater, der einmal das größte Getreideimperium in Osteuropa besessen hatte, wie er zusammengesunken auf dem Schiffsdeck saß. Sein Gesicht – von jahrelangen Sorgen gezeichnet – hatte einen resignierten Ausdruck, der sein Leid widerspiegelte: Er hatte alles verloren. Jetzt waren wir zwei arme Seelen auf der Flucht vor der Obrigkeit und ernährten uns von trockenem Brot.
Der Matrose, der gesehen hatte, wie verdreckt wir waren, besorgte uns zwei alte Uniformen, die wir tragen konnten, bis ich unsere schmutzigen Sachen gewaschen hatte.
Als ich die saubere Krankenschwesterntracht wieder anzog, war der Fleck vom Blut meiner Mutter kaum noch zu sehen. Ich zerriss die linke Brusttasche, wie das von einer Tochter verlangt wurde. Ich erinnerte mich, dass meine Mutter dasselbe gemacht hatte, als ihr Vater starb. Nach seinem Tod war sein Körper gewaschen und gereinigt worden. Bis zur Beerdigung, die schon am nächsten Tag stattfand, hatte man ihn keine Minute allein gelassen. Den Leichnam meiner Mutter würde hingegen keine Prozession von Angehörigen und Freunden zur letzten Ruhestätte begleiten.
Vater sah, dass ich meine Tasche zerriss.
»Du denkst an sie?«, fragte er.
Ich nickte. Als mein Großvater starb, hatten wir alle Spiegel in unserem Haus verhängt, damit niemand sich während der Trauerzeit seiner Eitelkeit hingeben konnte. Ich wusste, die Gedanken sollten einzig um den Verstorbenen kreisen.
Dann riss mein Vater zur Ehre seiner Frau sein Hemd auf der rechten Seite ein.
»Ich möchte Mutter ehren«, sagte ich.
Vater spitzte die Lippen. Dann sprach er das Kaddisch, das Gebet für die Toten. Wir zogen Socken und Schuhe aus. Unsere nackten Füße sollten zeigen, dass Mutters Tod uns demütig gemacht hatte. Der jüdische erste Maat kochte für uns Linsen. Die kreisrunde Form der Linse symbolisierte den Kreislauf des Lebens. Die Tradition verlangte eigentlich, dass wir das Haus während der Trauerzeit nicht verließen, aber uns war keine andere Wahl geblieben. Wir hatten kein Zuhause mehr. Es war, als hätte es nie existiert. Wir waren zu bettelarmen Flüchtlingen geworden, auf dem Weg in ein fremdes Land. Ich sah zu meinem einst so starken Vater hinüber, der in Frack und Zylinder meine schöne Mutter über das Tanzparkett unseres Ballsaals gewirbelt hatte. Jetzt war er fast nur noch Haut und Knochen, ein Schatten seiner selbst. Wie sollten wir je überleben?
Neun Tage später standen Vater und ich an Deck und schauten nach Jaffa hinüber, während die Matrosen das Schiff an seinem Liegeplatz im tiefen Wasser ankerten. Ich konnte noch gar nicht richtig fassen, dass wir Palästina endlich erreicht hatten. Wir waren seit anderthalb Wochen an Bord des Schiffs, und allmählich begriff ich, dass es uns gelungen war, Russland mit all seinen Gefahren hinter uns zu lassen.
Ich trug meine schmuddelige, zerschlissene Schwesterntracht und Vater seine schäbige Arbeitskleidung – unsere einzigen Besitztümer –, als Gideon uns mit einem Ruderboot in den Hafen brachte. Große Schiffe mussten weiter draußen vor Anker gehen. Viele kleinere Fracht- und Passagierschiffe liefen aus oder legten gerade an. Als wir näher kamen, konnte ich sehen, dass die Häuser in Jaffa aus sandfarbenem Stein erbaut waren. Ein Eisenbahngleis führte zum Dock. Am Kai waren Fischer emsig dabei, ihren Fang zu verkaufen. Das sieht gar nicht aus wie die Wüste, von der Onkel Isaak geredet hat.
»Ich bringe euch nach Tel Aviv«, sagte Gideon. »Wenn wir dort sind, kriegt ihr ein Zelt, etwas Kleingeld und Arbeit.«
Vater nickte. Wir würden nehmen, was man uns anbot.
Palästina
1. Juli 1932
Mein Vater kam in unser Zelt gekrochen. Die Mittelmeersonne hatte sein blasses Gesicht feuerrot verbrannt und sein blondes Haar weiß gebleicht, wie das eines alten Mannes. Die Arbeitskleidung, die man ihm bei unserer Ankunft gegeben hatte, war völlig verdreckt und konnte nicht verbergen, wie hager er geworden war. Seine blutunterlaufenen Augen lagen tief in den Höhlen. Erschöpft ließ er sich neben mir nieder.
»Komm, ich mach dich ein bisschen sauber.« Ich zwang mich zu einem Lächeln, um ihn aufzumuntern, aber sein Mund blieb verkniffen. Ich goss Wasser aus einer Kanne, die ich gefunden hatte, auf den Lappen in meiner Hand. So behutsam wie möglich wusch ich ihm das Gesicht. An manchen Stellen warf die sonnenverbrannte Haut Blasen, die ich nur sachte betupfte, um den Schmutz zu entfernen. Als ich fertig war, trug ich Aloe auf. Ich hatte die Pflanzen in der Nähe vom Strand entdeckt.
»Ich wünschte, du könntest drinnen arbeiten«, sagte ich. Sein böser Sonnenbrand machte mir Sorgen.
»Ich hab schon so viel davon profitiert, dass ich Isaaks Bruder bin. Ich will nicht um noch mehr Gefallen bitten, Sarah«, murmelte Papa kopfschüttelnd. »Außerdem brauchen wir dringend Geld. Ich habe keine andere Wahl.«
Mein Vater sah aus, als wäre er in den zwei Monaten seit unserer Flucht aus Odessa um zwanzig Jahre gealtert. Und das lag nicht nur an unseren harten Lebensbedingungen hier, nein, er hatte seinen Stolz verloren, seine Körperhaltung war jetzt sichtlich gebeugt.
»Wie konnten wir so tief sinken?«, fragte er zum tausendsten Mal. Mit seiner blasenbedeckten Hand deutete er auf unser kleines Zelt. »Schau dich doch um. In Odessa haben wir gelebt wie die Könige. Wir hatten eine Villa. Weißt du nicht mehr?«
»Natürlich, Papa. Ich erinnere mich an jedes Zimmer.« Ich hoffte, er würde nicht wieder anfangen, unser Haus Raum für Raum zu beschreiben. Spätestens, wenn er zum Ballsaal kam – wo er und meine Mutter die feine Gesellschaft von Odessa empfangen hatten –, kamen ihm unweigerlich die Tränen. Papas Kummer brach mir das Herz. Er hatte unser schönes Zuhause geliebt und all die anderen Annehmlichkeiten, die der Reichtum mit sich brachte. Ich wusste nicht, wie ich ihm klarmachen sollte, dass diese Dinge nicht so wichtig waren. Am meisten vermisse ich Mama.
»Wir sind am Leben, Papa. Wir haben einander. Du bist noch jung genug, um neu anzufangen. Wir sind jetzt in Palästina.« Ich versuchte zu lächeln, während ich Blut und Schmutz von seiner zerschrammten linken Hand abwusch, und holte tief Luft. »Du brauchst eine Dusche. Komm, wir gehen zu den Waschräumen.«
»Ich will niemanden sehen.« Er ließ den Kopf hängen. »Ich bin zu niedergeschlagen und schäme mich zu sehr dafür, was aus mir geworden ist.«
»Bitte, Papa, du hast draußen in der Sonne gearbeitet. Das Wasser wird dich abkühlen«, erwiderte ich, weil ich ihm nicht sagen wollte, wie unangenehm er roch.
Widerwillig folgte er mir aus dem Zelt. Ich legte Vaters Arm um meine Schulter, und er stützte sich auf mich, während wir zwischen den anderen Zelten hindurchgingen. Kinder spielten Fangen, Männer und Frauen in dunkler Wollkleidung versammelten sich in Grüppchen und plauderten miteinander. Rauch von den Feuern der Gemeinschaftsküchen hing in der Luft. Wir gingen zu den Waschräumen, die gleich neben den großen Wassertrögen waren, wo Wäsche gewaschen und zum Trocknen aufgehängt werden konnte.
Ich gab Papa ein kleines Stück Seife. Während er duschte, setzte ich mich draußen hin und sah zu, wie die Wäsche an den Leinen im Wind schwankte und flatterte. Der Wind erinnerte mich an den Hafen von Odessa, an dem meine Eltern, als ich klein war, oft mit mir Spaziergänge unternommen hatten. Dabei erzählte uns Papa gern von den verschiedenen Häfen in aller Welt, in die er sein Getreide verschiffte. Seine Reisen führten ihn zwar selten aus Russland heraus, aber er unterhielt Mutter und mich mit seinen Geschichten und Kenntnissen über die Länder und Firmen, mit denen er Handel trieb. Ich fragte mich, ob er in jenen Jahren auch Getreide nach Palästina verschifft hatte.
Mein Vater ließ traurig den Kopf hängen, als wir zurück zu unserem Zelt gingen, aber ich versuchte, ihn aufzumuntern. »Ich hab vorhin daran denken müssen, wie du Mama und mir immer von den Firmen erzählt hast, mit denen du in verschiedenen Teilen der Welt geschäftlich zu tun hattest.«
Mein Vater blickte verwirrt, bis ich ihn fragte, ob er auch mal Geschäftspartner hier in Palästina gehabt hatte. Wer könnte schließlich seine Fähigkeiten als Geschäftsmann besser einschätzen als jemand, mit dem er schon Geschäfte gemacht hatte, gab ich zu bedenken.
»Der Gedanke ist mir auch schon gekommen, aber ich könnte mich nie dazu überwinden, einen Palästinenser zu bitten, mir Arbeit zu geben.« Vater schüttelte den Kopf.
Obwohl Vater kein überzeugter Verfechter der Aktivitäten seines Bruders gewesen war, setzte er sich doch für die Schaffung von Eretz Israel als jüdischem Staat ein, wo Juden zusammen lebten und arbeiteten. Dennoch, mir war unbegreiflich, warum er nicht bereit sein sollte, für einen Palästinenser zu arbeiten, zumal für einen, mit dem er früher Geschäfte gemacht hatte.
»Aber du hast doch keine andere Wahl. Glaubst du wirklich, du hältst die Schufterei da draußen in der glühenden Sonne noch lange durch?« Ich wollte ihm nicht erzählen, dass ich, wenn er tagsüber nicht da war, alles versucht hatte, um selbst eine Arbeit zu finden – vergeblich. Niemand wollte mich einstellen.
Vater legte den Kopf schief und schien über meine Worte nachzudenken. »Vielleicht hast du recht, Sarah. Omar Sultan gehört die Jaffa Oranges Trade Company, und er war immer ein fairer Geschäftspartner. Vielleicht hätte er Verwendung für mich.« Er starrte in die Ferne, lächelte nicht, aber blickte auch nicht mehr ganz so finster. Zum ersten Mal seit unserer Ankunft wirkte er verhalten hoffnungsvoll.
Palästina
2. Juli 1932
»Könnte ich bitte mit Mr Omar Sultan sprechen?«, fragte Papa auf Englisch, als wir das Büro von Jaffa Oranges betraten. Wir waren von Tel Aviv zu Fuß hergekommen, und obwohl es nur wenige Meilen waren, hatte Vaters geschwächter Zustand uns ein paarmal gezwungen, am Straßenrand eine Rast einzulegen.
Ein vornehm wirkender Mann in einem weißen Dreiteiler mit gepflegtem Schnurrbart und einer Nickelbrille blickte von seinem Schreibtisch auf. »Zu Ihren Diensten«, sagte er lächelnd.
»Ich bin Avraham Jeziernicky. Der ehemalige Besitzer von Odessa-Getreide.« Vater streckte eine schwielige Hand aus.
Omar Sultan senkte den Kopf und spähte über seine Brille, stutzte dann, als könnte er nicht glauben, dass der schlecht gekleidete Mann vor ihm der Mensch war, mit dem er viele Jahre lang Geschäfte gemacht hatte.
»Avraham?«, sagte er fragend, als er Papas Hand schüttelte. »Ich bin Omar. Ich hatte keine Ahnung, dass Sie nach Jaffa kommen würden. Herzlich willkommen!«
»Wir mussten fliehen, sonst hätte man uns getötet«, sagte mein Vater. »Das ist meine Tochter Sarah.«
»Sehr erfreut.« Er nickte mir zu. Ich nickte zurück.
Verlegenes Schweigen trat ein, während Papa Omar anstarrte.
»Haben Sie Zeit für einen kleinen Mittagsimbiss?«, fragte Omar schließlich. Mir war klar, dass er nicht wusste, was er sonst sagen sollte. Mein Vater hatte noch keine Anstalten gemacht, den Grund für sein Erscheinen zu erklären.
»Sehr gern.« Papa lächelte.
»Großartig.« Es lag keinerlei Begeisterung in Omars Stimme. »Kommen Sie, wir fahren zu mir nach Hause.«
Wir folgten ihm nach draußen, und ich stieg hinten in seinen schwarzen Bentley ein, während mein Vater neben Omar auf dem Beifahrersitz Platz nahm.
Das Geräusch der Wellen, die an den Strand brandeten, und der Anblick der Schönheit um uns herum ließen mich für einen Moment vergessen, dass wir heimatlose Flüchtlinge waren. Wir schwiegen, während Omar den Wagen durch die belebten Straßen Jaffas steuerte. In Odessa war Papa einer der ersten Autobesitzer gewesen. Sein Chauffeur fuhr ihn – uns – überallhin. Damals hatte ich das für selbstverständlich gehalten. Wie unglaublich naiv ich gewesen war.
Als wir schließlich vor Omars Haus hielten, waren wir schwer beeindruckt.
»Was für eine herrliche Stadt!« Papa brachte ein Lächeln zustande.
»Jaffa ist die Braut des Meeres«, sagte Omar mit Stolz in der Stimme. »So nennen wir unsere Stadt.«
Sein geräumiges Haus bot Aussicht aufs Mittelmeer, und auf der anderen Seite erstreckten sich Orangenhaine in der Ferne. Omar, Papa und ich betraten die Kalksteinvilla durch eine große dunkle Holztür. Die Decken im Innern waren hoch, die Böden aus Stein, die Fenster groß, die Türrahmen geschwungen. Die weitläufigen und luftigen Räume waren, wie wir im Vorbeigehen sahen, luxuriös eingerichtet. Wir folgten Omar nach draußen auf die rückwärtige Terrasse, wo wir umgeben von Gärten unter einem Spalier mit Bougainvilleen Platz nahmen. Zerzaust und in der Kleidung, die wir getragen hatten, als wir aus Russland flohen, wirkten wir in dieser herrlichen Umgebung völlig deplatziert.
Ein Dienstmädchen brachte ein Tablett mit einer Teekanne und drei Gläsern.
»Danke, Yasmin«, sagte Omar und schenkte den Tee ein.
»Haben Sie Ihre Firma in Russland verkauft, um nach Palästina zu kommen? Ich hoffe, Sie sind nicht einer von diesen Zionisten, Avraham.« Omar spitzte die Lippen.
»Ich bin kein Zionist«, stellte Papa rasch klar. Ein ungutes Gefühl erfasste mich. Mein Onkel Isaak hatte uns gewarnt, dass die Araber gefährlich waren und man ihnen nicht über den Weg trauen konnte, aber wir hatten das nie besonders ernst genommen, da wir nicht vorgehabt hatten, Odessa je zu verlassen. Hat Omar uns hierhergelockt, um uns zu töten? Sogleich wurde mir klar, wie absurd dieser Gedanke war. Vater hatte Omar zwanzig Jahre lang als fairen und ehrlichen Geschäftspartner geschätzt. »Wir sind hergekommen, weil die Kommunisten meine Frau umgebracht und uns alles genommen haben.« Tränen traten meinem Vater in die Augen. »Sie können sich vorstellen, wie grauenhaft die Ermordung meiner geliebten Olga für uns war. Der Schmerz ist unerträglich. Wir brauchten einen Neuanfang.«
»Das tut mir furchtbar leid, Avraham. Das Leben kann sehr hart sein, nicht wahr?« Auch Omars Augen wurden feucht, und er wandte den Kopf ab.
Papa und ich sahen einander an. Warum kämpfte Omar mit den Tränen?
Er zog ein Taschentuch hervor. »Meine Frau Fatima ist schwerkrank«, sagte er, ohne uns anzusehen. »Sie hat Krebs im Endstadium. Es besteht offenbar keine Chance auf Heilung.«
»Das tut mir sehr leid, Omar.«
Omars Unterlippe bebte kaum merklich. Er blickte hinaus in den Garten. »Unsere Tochter Layla pflegt ihre Mutter seit September. In zwölf Wochen wird Layla einen wunderbaren Mann heiraten. Ich hoffe nur, Fatima kann noch an Laylas Hochzeit teilnehmen.« Omar trank einen Schluck Tee. »Mein Sohn ist Arzt. Er hat in England studiert und praktiziert, ist jedoch vor ein paar Monaten nach Hause zurückgekehrt, um in der Nähe seiner Mutter zu sein. Er arbeitet jetzt hier in Jaffa am französischen Krankenhaus.«
»Es muss tröstlich sein, seine Kinder um sich zu haben, zumal Ihr Sohn Mediziner ist.« Ich überlegte, ob die Chance bestand, am französischen Krankenhaus eine Stelle zu finden. Würden sie dort meine russische Ausbildung akzeptieren?
»Ja, ja das ist wahr«, sagte Omar traurig.
»Meine Tochter ist Krankenschwester«, sagte Vater.
»Sagen Sie, wie lange werden Sie in Palästina bleiben?«, erkundigte sich Omar.
Papa holte tief Luft. »Um ehrlich zu sein, wir wissen nicht, ob wir je nach Russland zurückkehren können«, sagte er kopfschüttelnd. Die Traurigkeit meines Vaters angesichts dessen, was er verloren hatte, erschütterte mich. Ich streckte den Arm aus und drückte seine Hand. »Als die Roten an die Macht kamen, haben sie mir nicht nur meine Firma weggenommen, sondern auch unser Haus praktisch leergeplündert. Das war schon schlimm, doch als dann Stalin die Parteiführung übernahm, wurde alles noch schlimmer. Die Kollektivierung der Landwirtschaft war eine Katastrophe, es gab nicht mehr genug zu essen.« Er sah zu Yasmin hinüber, die dabei war, den großen Tisch unter dem Spalier zu decken. »Manche haben aus Verzweiflung Hunde und Katzen gegessen.« Dass wir Onkel Isaaks Waffen versteckt hatten, ließ Vater unerwähnt, und eingedenk unseres Gastgebers war das wahrscheinlich eine kluge Entscheidung. Vater war zwar kein überzeugter Zionist, mein Onkel dagegen schon. Vater seufzte. »Schauen Sie sich meine schöne Tochter an.« Er deutete mit der Hand auf mich. »Stellen Sie sich vor, wie sie unter der Knute von Stalins Geheimdienst gelebt hat.«
Ich war sicher, Omar hielt meinen Vater für verrückt, weil er mich in meiner zerschlissenen Schwesterntracht als schön bezeichnete. Vaters Augen glänzten, während er versuchte, die Tränen zu unterdrücken.
»Sie haben uns alles genommen, was irgendwie von Wert war, und dann haben sie meine Frau umgebracht.« Vater konnte sich nicht länger beherrschen und schluchzte laut auf.
Omars Augen weiteten sich. »Das ist empörend.«
Tränen strömten über Vaters Gesicht. »Sie sind alle geblendet von einer bösen, selbstgerechten Ideologie. Sie glauben, die gibt ihnen das Recht, Menschen zu töten und ihren Besitz zu beschlagnahmen. Sie haben meine Firma und meinen Grundbesitz konfisziert, einfach so.« Vater schnippte mit den Fingern. »Sie können sich gar nicht vorstellen, was wir alles verloren haben.« Vaters Stimme bebte. »Wir sind hier, um einen Neuanfang zu machen. Wir wohnen in einem Zelt, und ich arbeite auf dem Bau.« Vater vergrub das Gesicht in den Händen, und der Kummer ließ seine Schultern beben.
Es brach mir das Herz, meinen Vater so hoffnungslos zu erleben. Omar schien ratlos. Einen derart am Boden zerstörten Mann zu sehen, hatte ihn offensichtlich aus der Fassung gebracht. Er wandte sich mir zu, als nähme er mich zum ersten Mal richtig wahr.
»Sie sind also Krankenschwester?« Ich hörte die Verzweiflung in seiner Stimme.
Ich nickte, blickte nach unten auf meine schäbige Tracht. »Ja, ich war vier Jahre lang im Krankenhaus von Odessa.«
»Da Layla schon in zwölf Wochen heiratet, braucht sie Unterstützung bei der Pflege meiner Frau. Hätten Sie Interesse?«, fragte er und schielte zu meinem Vater hinüber.
Mir war klar, dass Omar mir dieses Angebot machte, weil wir ihm leidtaten – meinen Vater weinen zu sehen war ihm offensichtlich sehr unangenehm.
»Großes Interesse«, antwortete ich, ohne meinen Vater auch nur zu fragen.
»Wir haben ein Gästehaus.« Omar zeigte auf ein Steinhaus, das halb versteckt inmitten der Ziergärten stand. »Dort könnten Sie beide wohnen, dann wären Sie, Sarah, immer in der Nähe – für meine Frau.«
»Das würden wir sehr gerne.« Mit Tränen in den Augen sagte ich anstelle meines Vaters zu. »Sie sind überaus großzügig.«
»Sie können morgen einziehen.« Omar wischte sich mit seinem Taschentuch die Stirn. »Das Dienstmädchen wird alles für Sie vorbereiten.«
Ich sah zu dem Gästehaus hinüber und wünschte, wir könnten auf der Stelle dort einziehen.
»Wie sollen wir das je wiedergutmachen, Omar?« Die Stimme meines Vaters war heiser vor Trauer.
»Wenn Sarah bei Fatimas Pflege hilft, ist das mehr als genug«, beruhigte Omar ihn. »Meine Frau hat Sorge, dass sie unserer Tochter zu viel zumutet. Layla ist immer bei ihr und kümmert sich um sie. Sarahs Anwesenheit wird Fatima beruhigen. Und um ehrlich zu sein, Avraham, ich könnte einen Geschäftsmann wie Sie gut gebrauchen. Ich möchte den Absatz hier vor Ort steigern, und die neuen jüdischen Immigranten wollen nur mit Juden Geschäfte machen. Sie könnten diesen Markt für mich öffnen, und ich bin sicher, das wird uns dann sogar Absatzquellen in ihren ursprünglichen Heimatländern auftun.«
Omar redete ununterbrochen weiter, bis mein Vater ihn mit dem Anflug eines Lächelns ansah.
»Da ich beruflich stark eingespannt bin, konnte ich bisher nicht so viel Zeit mit Fatima verbringen, wie es mir lieb gewesen wäre. Ihre Mitarbeit würde mir Freiraum schaffen, um bei meiner Frau zu sein.«
»Das wäre einfach wunderbar.« Ein Lächeln breitete sich auf dem tränenverschmierten Gesicht meines Vaters aus.
Ich hätte Omar am liebsten umarmt, so dankbar war ich für seine Güte.
Das Dienstmädchen brachte ein Tablett, auf dem kleine Schalen mit verschiedenen Salaten standen. Es sah aus wie ein Festmahl.
Auf Omars Aufforderung hin begannen wir zuzugreifen und ließen nicht einen Bissen übrig. Es war das Köstlichste, was ich jemals gegessen hatte.
Palästina
3. Juli 1932
Wir klopften an die Haustür, und Omar machte uns auf.
»Willkommen«, sagte er. »Bitte kommt herein.«
Neben ihm stand eine junge Frau. Als sie meinen Vater und mich sah, klappte ihr Mund auf, und sie drückte sich eine Hand an die Brust. Ich vermutete, dass sie Omars Tochter Layla war. Sie trug einen langen blauen Faltenrock und eine weiße Bluse, und duftiges, glänzend schwarzes Haar fiel ihr über den Rücken. Sie hatte wunderschöne smaragdgrüne Augen.
»Layla«, sagte Omar. »Ich möchte dir Avraham und seine Tochter Sarah vorstellen.«
»Guten Tag«, sagten mein Vater und ich, während Layla einfach nur sprachlos dastand, als könnte sie nicht fassen, dass ihr Vater derart ungepflegte Leute eingestellt hatte.
»Avraham«, sagte Omar und schob meinen Vater sachte zur Tür hinaus. »Ich würde vorschlagen, wir fahren ins Büro, und Layla kann Sarah hier alles zeigen.« Seine Stimme klang so drängend, dass ich fast das Gefühl hatte, er wollte möglichst schnell weg.
»Miss Sultan?«, fragte ich, wobei ich, so gut ich konnte, den britischen Akzent annahm, den ich als Kind von meiner englischen Nanny gelernt hatte.
Layla nickte, sah mich aber immer noch mit einem Ausdruck an, als würde sie ihren Augen nicht trauen.
»Ich bin Sarah Jeziernicky. Ich soll bei der Pflege Ihrer Mutter behilflich sein.« Ich wollte so kompetent wie möglich klingen. Eine einzige Patientin zu versorgen wäre leicht im Vergleich zu den zwanzig oder mehr, für die ich im Krankenhaus von Odessa verantwortlich gewesen war.
»Ich hab meinem Vater gesagt, dass wir keine Hilfe benötigen«, sagte Layla. Sie blickte jetzt nicht mehr schockiert, sondern unverhohlen abweisend.
Bitte, meinem Vater zuliebe, gib mir eine Chance. In unserer verzweifelten Lage war ich notfalls bereit, sie anzubetteln, damit sie mich nicht wieder wegschickte.
»Ich verstehe.« Ich sah sie ratlos an. »Vielleicht könnte ich mich heute Ihrer Mutter einfach nur vorstellen und ihre Vitalwerte messen. Hinterher können Sie ja dann entscheiden, ob ich wiederkommen soll oder nicht.« Ich brauchte diese Arbeit unbedingt.
Layla hatte die Arme verschränkt. Sie wollte mich nicht mal in die Nähe ihrer Mutter lassen. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Miss Jeziernicky, aber wir brauchen wirklich niemanden.« Sie legte eine Hand an die Tür, als wollte sie sie mir vor der Nase zuschlagen.
»Schauen wir doch einfach, wie es heute klappt, und dann können Sie Ihre Entscheidung treffen«, beharrte ich so sanft wie möglich. »Und bitte, nennen Sie mich Sarah.«
Unsere Blicke trafen sich. Ich sah ihr in die Augen und konnte die Traurigkeit darin sehen. Ihr Gesichtsausdruck wurde weicher, und ich begriff, dass sie in meinen Augen die gleiche Traurigkeit entdeckt hatte.
Sie atmete aus. »Also gut«, sagte sie schließlich, und vor Erleichterung hätte ich sie am liebsten umarmt.
Layla und ich betraten das Zimmer ihrer Mutter. Fatima starrte hinaus in den Garten. Sie sah furchtbar schwach aus. Das Zimmer war schön, mit vielen Büchern, Gemälden und Bildern und einer herrlichen Aussicht in die gepflegten Anlagen. »Mama, das ist die Pflegerin, die uns, wie Baba wünscht, unter die Arme greifen soll.« Laylas Stimme klang zaghaft, als schämte sie sich für die Wahl ihres Vaters. »Sie heißt Sarah.« Ihr Tonfall verriet, dass sie mich für unwürdig hielt.
Fatima lächelte zu mir hoch. »Mein Mann hat mir erzählt, was Sie alles durchmachen mussten«, sagte sie. »Es tut mir unendlich leid. Das muss sehr schwer für Sie sein. Ich hoffe, Sie und Ihr Vater werden sich im Gästehaus wohl fühlen.«
Ihre Worte waren herzerwärmend. Diese Frau lag im Sterben und sorgte sich dennoch um mich.
»Vielen Dank, Mrs Sultan«, sagte ich und blickte dann zu Layla hinüber, die nicht lächelte. »Ich bin bloß hier, um Ihre Tochter zu entlasten, und würde jetzt gern erst mal Ihre Vitalwerte messen.« Ich wollte Layla vermitteln, dass ich mir nichts anmaßen würde.
»Yussef«, sagte Layla zu jemandem hinter mir.
Ich wandte mich um und erblickte den schönsten Mann, den ich je gesehen hatte – welliges pechschwarzes Haar, smaragdgrüne Augen und wunderbare, olivfarbene Haut. Aber im Moment konnte ich mich bloß darauf konzentrieren, diese Arbeit nicht gleich wieder zu verlieren. Seine Schönheit musste warten.
»Das ist Sarah.« Fatima nahm meine Hand und drückte sie. »Und das ist mein Sohn Yussef.«
Ich senkte den Kopf. »Sehr erfreut, Sir.«
»Falls ihr beide nichts dagegen habt, würde ich gern mit Sarah nach nebenan gehen und einige Dinge mit ihr besprechen«, sagte Yussef recht förmlich zu Layla und seiner Mutter.
Ich fragte mich, ob er ein Einstellungsgespräch mit mir führen wollte. Omar hatte sich kaum nach meiner Erfahrung als Krankenschwester erkundigt. Als Arzt würde sein Sohn mir gewiss gründlich auf den Zahn fühlen, ehe er mir seine todkranke Mutter anvertraute.
»Natürlich.« Laylas Stimmung hellte sich spürbar auf. Sie ging anscheinend davon aus, dass er mich ablehnen würde.
Ich folgte ihm in eine riesige Küche und überlegte währenddessen, wie ich ihn davon überzeugen könnte, dass ich die Richtige für diese Aufgabe war. Er bot mir einen Platz am Tisch an, und während er zwei Gläser mit frisch gepresstem Orangensaft füllte, schaute ich mich um. Der lange Tisch war für acht Personen gedacht und gewährte ebenfalls einen Blick in die Gärten, die das Haus offenbar von allen Seiten umgaben. Der Boden war aus Marmor, und die Wände waren leuchtend gelb gestrichen und mit Bildern geschmückt. Yussef öffnete den Eisschrank und nahm einige kleine Teller mit Aufschnitt, Käse und Oliven heraus, die er auf den Tisch stellte.
So ausgetrocknet, wie meine Kehle war, hätte ich das ganze Glas Orangensaft in einem Zug leeren können, aber ich beherrschte mich, damit Yussef nicht merkte, wie groß mein Durst war. Der Saft war süß und wohlschmeckend. Seit Jahren hatte ich keine solche Köstlichkeit mehr genossen.
Normalerweise hätte ich bei einem so wichtigen Einstellungsgespräch vor Nervosität keinen Bissen herunterbekommen, jetzt jedoch siegte mein Hunger. Ich nahm ein Stück Käse und aß es, so langsam ich konnte.
»Bitte, greifen Sie ordentlich zu«, sagte Yussef. »In meiner Kultur ist es eine Beleidigung für den Gastgeber, wenn man sein Essen verschmäht.«
Tja, beleidigen will ich ihn auf keinen Fall. »Sehr freundlich«, sagte ich leise, dankbar. War er mit mir in die Küche gegangen, weil er gemerkt hatte, wie ausgehungert und durstig ich war? Ich mochte ihn auf Anhieb. Er war sehr mitfühlend.
»Wo in Russland haben Sie als Krankenschwester gearbeitet?«, fragte Yussef.
»Im Krankenhaus von Odessa«, antwortete ich.
»Hatten Sie ein besonderes Fachgebiet?«
»Ja.« Ich schluckte den Bissen Käse, den ich im Mund hatte, herunter. »Ich war in der Chirurgie und hatte leider häufig mit Amputationen zu tun.« Ich war eine erfahrene Krankenschwester. Ich musste ihm nur die Wahrheit sagen. »Als die Kommunisten unsere Stadt übernahmen, verschlechterte sich die Lage dramatisch, so dass viele Menschen ihre Häuser im Winter nicht mehr beheizen konnten. Stalin und die Hungersnot taten ihr Übriges. Es kamen viele Patienten mit Erfrierungen herein, mit Wundbrand als Folge. Wir hatten drei Operationsräume und mussten oft von morgens bis abends amputieren.« Unfähig, mich zu beherrschen, nahm ich mir noch ein Stück Käse.
Yussef zog die Augenbrauen hoch. »Ich habe selbst auch schon einige Amputationen vorgenommen.«
Was für eine Gemeinsamkeit: das Abschneiden von Gliedmaßen.
»Was genau war Ihre Aufgabe bei den Eingriffen?«, fragte Yussef und beugte sich zu mir vor.
Ich holte tief Luft. »Ich war für die Betäubungen mit Chloroform zuständig. Und ich habe die Aderpressen angelegt. Bei der Amputation eines Unterschenkels beispielsweise habe ich die Oberschenkelarterie abgebunden und mit dem anderen Arm den Körper des Patienten fixiert.« Ich nahm noch einen Schluck Orangensaft, um meine trockene Kehle zu benetzen. »Der jeweilige Arzt, dem ich assistiert habe, machte einen kreisrunden Schnitt durch die Bänder bis in die Muskulatur. Nach weiteren Schnitten banden wir die Arterien ab, die der Arzt vom Muskel getrennt hatte.«
Yussef, der mich nicht aus den Augen ließ, schien mir mit ehrlichem Interesse zuzuhören.
»Mit Hilfe eines Retraktors löste der Arzt das umgebende Fleisch und entfernte es. Nachdem die Gliedmaße abgetrennt war, legte ich den Hautlappen über die Wunde und vernähte sie.«
Er nickte, während ich den Eingriff schilderte, als würde er jeden einzelnen Schritt abhaken. »Ihre Beschreibung ist wie aus dem Lehrbuch.« Dann fragte er mich nach meiner Ausbildung und nach verschiedenen Szenarien, die bei der Pflege seiner Mutter eintreten konnten. Nach jeder Antwort nickte er, und ich merkte, dass er mit dem, was ich sagte, zufrieden war.
»Dr. Sultan, ich nehme meine Pflichten als Krankenschwester sehr ernst, bei jedem Patienten. Ich versichere Ihnen, ich werde Ihrer Mutter die bestmögliche Pflege angedeihen lassen.«
»Ich liebe meine Mutter über alles. Ich würde sie niemals einer x-beliebigen Person anvertrauen.« Seine Augen schienen zu glitzern. »Das Gespräch mit Ihnen hat mich überzeugt, dass Sie über ausreichend Erfahrung verfügen. Ich hatte schon mit vielen Krankenschwestern zu tun. Sie erinnern mich an eine, die ich in England kannte. Darcy übte ihren Beruf mit Leidenschaft aus und besaß großes Einfühlungsvermögen. Sie haben Ähnlichkeit mit ihr, und mein Instinkt sagt mir, dass Sie genauso fürsorglich sind wie sie. Meine Mutter kann sich glücklich schätzen, Sie zu bekommen, und glauben Sie mir, ein größeres Kompliment könnte ich Ihnen nicht machen.«
Er lächelte, und ich spürte, wie ich mich entspannte. Wir blieben noch eine Weile sitzen, plauderten über England und Russland, während wir den Käse und den Aufschnitt aßen. Ich fühlte mich tausendmal besser. Als wir fertig waren, gingen wir gemeinsam zurück in Fatimas Zimmer. Er trat an das Bett seiner Mutter und küsste mehrmals ihre Hand. »Baba hat eine ausgezeichnete Pflegerin für dich gefunden.« Fatima zog ihn zu sich herunter und nahm ihn in die Arme. »Layla, kann ich dich kurz draußen sprechen?«, fragte Yussef, als seine Mutter ihn schließlich losließ.
Layla sagte irgendwas auf Arabisch zu ihm.
»Layla!« Fatima sprach den Namen nicht freundlich aus. Sie war offensichtlich bestürzt über die Äußerung ihrer Tochter.
Die Geschwister verließen das Zimmer, und ich ging zu Fatima hinüber.
»Kann ich irgendwas für Sie tun?«, fragte ich sie. »Möchten Sie vielleicht, dass ich Sie später bade?«
Fatima stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Das wäre wunderbar. Durch die schreckliche Krankheit sieht mein Körper aus wie eine verschrumpelte Frucht, und es ist mir unangenehm, wenn Layla mich in diesem Zustand sieht.«
»Haben Sie Probleme beim Essen?«
Ihr Kinn zitterte, und sie nickte schwach. »Ich kann schlecht schlucken«, gab sie zu.
»Warum hast du das nicht gesagt, als ich dich gefragt habe?« Laylas Stimme erklang hinter uns.
Fatima lächelte Layla schwach an. »Du tust doch schon so viel. Ich wollte dich nicht noch mehr belasten.«
»Ich könnte Ihr Essen pürieren«, schlug ich vor.
»Außerdem fällt mir das Lesen schwer bei meinen schlechten Augen«, seufzte Fatima.
Ich schaute mich um, sah die vollen Bücherregale, und mein Herz jubelte. Lesen war schon immer meine Leidenschaft gewesen. »Ich könnte Ihnen vorlesen«, sagte ich.
»Layla.« Fatima sah ihre Tochter an. »Ruh du dich doch ein bisschen aus, während Sarah mir vorliest.«
Layla wollte widersprechen, doch Yussef, der ebenfalls wieder ins Zimmer getreten war, kam ihr zuvor. »Das ist eine ausgezeichnete Idee.«
Wieder öffnete Layla den Mund, doch diesmal drohte Yussef ihr hinter dem Rücken ihrer Mutter mit dem Finger und zog sie dann mit nach draußen auf den Flur.
Fatima zeigte auf ein Buch neben ihrem Bett. Ein Lesezeichen steckte darin, und ich schlug die Seite auf.
»Yussef war dabei, mir eines seiner Lieblingsgedichte vorzulesen.« Sie lächelte.
Dann mag Yussef also auch Lyrik, genau wie ich.
»Es ist ein wunderschönes Gedicht mit dem Titel ›Die weiße Rose‹, von John Boyle O’Reilly«, sagte Fatima.
Ich überflog es kurz und las es dann vor.
Die rote Rose flüstert von Lust, Und die weiße Rose raunt von Liebe; Ach, die rote Rose ist ein Falke, Die weiße dagegen eine Taube.
Aber ich sende dir eine zartweiße Blüte Mit einem Hauch Rot an den Spitzen, Denn selbst die reinste und süßeste Liebe Trägt den Kuss des Verlangens auf den Lippen.
Palästina
4. Juli 1932
Das Badezimmer war voller Dampf. Ich stand unter der heißen Dusche und genoss die Wärme. Es war lange her, dass wir in unserem Haus in Odessa Heizung oder Strom gehabt hatten. Meine Gedanken wanderten zurück zu den Wintertagen, an denen meine Eltern und ich, eingemummelt in unsere Mäntel, möglichst nah am Kamin gesessen hatten, um uns zu wärmen, und zu den vielen Abenden, an denen wir hungrig ins Bett gegangen waren, weil wir, obwohl wir arbeiteten, kaum genug Geld hatten, um etwas zu essen auf den Tisch zu bringen. Natürlich war es uns nicht anders ergangen als den meisten Russen nach der Revolution, doch das hatte unsere Situation nicht erträglicher gemacht.
Während das warme Wasser meinen Körper liebkoste, überlegte ich staunend, wie schnell sich die Dinge geändert hatten. Omar und seine Frau hätten uns nicht herzlicher aufnehmen können. Ich war nervös geworden, als Layla mich so abweisend taxierte, doch ihr Bruder hatte sich als echter Gentleman erwiesen. Dr. Yussef Sultan war groß und muskulös, mit einem athletischen Körper und breiten Schultern. Seine Augen waren ausdrucksvoll, sein Blick intensiv. Sein breites sonniges Lächeln strahlte Offenheit und Selbstbewusstsein aus. Wäre ich ihm begegnet, als wir noch in Russland lebten, hätte ich ihn gern besser kennengelernt.
Aber natürlich würde er sich niemals für mich interessieren. Ich dachte an meine abgetragene Schwesterntracht. Ich sah aus wie eine Obdachlose.
Während ich mich abtrocknete, musste ich daran denken, wie abschätzig Layla auf mich herabgesehen hatte. Wahrscheinlich hätte ich an ihrer Stelle genauso reagiert. Doch ihr Bruder wirkte anders, verständnisvoller und weniger oberflächlich. Als ich ihm die Amputationen schilderte, hatte er aufmerksam zugehört. Ich konnte sehen, wie sehr er seine Mutter liebte, wie verzweifelt er über ihren nahenden Tod war, und das rührte mich zutiefst. Ich litt selbst noch unter dem Verlust meiner eigenen Mutter. Ich konnte seinen Kummer verstehen, weil ich den gleichen Kummer empfand.