Andrew Sean Greer
Mister Weniger
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Tobias Schnettler
FISCHER E-Books
Andrew Sean Greer hat einen eineiigen Zwillingsbruder und wuchs in einem Vorort von Washington D. C. auf. Schon mit seinem zweiten Roman »Die erstaunliche Geschichte des Max Tivoli« gelang ihm der internationale Durchbruch. Greer lebt zwischen San Francisco und der Toskana, wo er die Santa Maddalena Writer's Residency leitet. Auf Deutsch liegen außerdem Greers Romane »Geschichte einer Ehe«, »Die Nacht des Lichts« und »Ein unmögliches Leben« vor. 2018 erschien bei S. Fischer sein letzter Roman »Mister Weniger«, für den Andrew Sean Greer mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnet wurde.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Der Schriftsteller Arthur Weniger hat von allem ein bisschen zu wenig. Wo anderen ein dickes Fell gewachsen ist, schmückt ihn bloß die zarte Schale eines Butterkrebses. Um sich vor der Hochzeit seiner Langzeitaffäre Freddy zu drücken, führt der arglose Weniger tapfer sein geschundenes Herz spazieren – New York, Berlin, Mexico City, Kyoto –, Hauptsache weg. Überall begegnet er der Liebe, und nirgends läuft sie, wie sie soll. Doch erst die totale Schieflage rückt wieder alles ins Lot.
Eine erfrischend andere Liebeskomödie.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Less« bei Lee Boudreaux Books / Little, Brown and Company, New York
© 2017 Andrew Sean Greer
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Schiller Design, Frankfurt
Coverabbildung: Leo Espinosa
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490573-0
Für Daniel Handler
Von meiner Warte aus wirkt die Geschichte des Arthur Weniger gar nicht so schlimm.
Sehen Sie ihn sich an: da sitzt er adrett auf dem runden Plüschsofa des Hotelfoyers, in blauem Anzug und weißem Hemd, das eine Bein über das andere geschlagen, so dass ein polierter Slipper von seiner Fußspitze baumelt. Die Pose eines jungen Mannes. Seine schmale Silhouette ist tatsächlich noch immer die seines jüngeren Selbst, doch mit fast fünfzig ist er wie eine dieser Bronzestatuen in öffentlichen Parks, die sich – auch wenn ein Glück bringendes Knie von Schulkindern blank gerieben wurde – wunderbar verfärben, bis sie der Farbe der Bäume entsprechen. Auch Arthur Weniger, der einmal vor lauter Jugend rosa und golden gewesen war, ist ausgeblichen wie das Sofa, auf dem er sitzt, während er mit einem Finger auf sein Knie tippt und die große Standuhr anstarrt. Die lange Patriziernase ist von der Sonne dauerhaft verbrannt (selbst im wolkenverhangenen Oktober in New York). Das ausgewaschene blonde Haar ist oben zu lang, an den Seiten zu kurz – ein Abbild seines Großvaters. Dieselben wässrig blauen Augen. Lauschen Sie: dann hören Sie vielleicht, wie die Nervosität tickt, tickt, tickt, während er diese Uhr anstarrt, die ihrerseits leider nicht mehr tickt. Sie hat schon vor fünfzehn Jahren damit aufgehört. Arthur Weniger weiß das nicht; trotz seines reifen Alters glaubt er noch immer daran, dass Begleitpersonen bei Literaturveranstaltungen grundsätzlich pünktlich sind, und dass Hotelpagen zuverlässig die Uhren im Foyer aufziehen. Er trägt keine Uhr; sein Glaube ist stark. Es ist reiner Zufall, dass die Uhr um halb sieben stehengeblieben ist, fast genau um die Uhrzeit, zu der er zur heutigen Veranstaltung abgeholt werden soll. Der arme Mann weiß es nicht, doch es ist bereits viertel vor sieben.
Während er wartet, dreht eine junge Frau in einem braunen Wollkleid immer wieder ihre Runden, eine Vertreterin der Gattung Tweed-Kolibri, die zuerst diese Gruppe Touristinnen bestäubt und dann jene. Sie steckt ihr Gesicht in eine Gruppe von Stühlen hinein, stellt eine Frage und flitzt, weil ihr die Antwort nicht gefällt, davon, um eine andere zu finden. Weniger nimmt nicht wahr, wie sie so ihre Runden dreht. Er ist zu sehr auf die defekte Uhr fokussiert. Die junge Frau geht zum Empfang, dann zum Aufzug, wo sie eine Gruppe von Damen aufscheucht, die sich fürs Theater übertrieben schick gemacht haben. Auf und ab wippt Wenigers baumelnder Schuh. Würde er aufpassen, hätte er vielleicht die beflissene Frage der Frau aufgeschnappt, aus der hervorgeht, wieso sie diese allen im Foyer stellt, nur nicht ihm:
»Entschuldigen Sie, aber sind Sie Miss Arthur?«
Das Problem – das in diesem Foyer nicht gelöst werden wird – besteht darin, dass die Begleitdame glaubt, Arthur Weniger sei eine Frau.
Zu ihrer Verteidigung muss erwähnt werden, dass sie nur einen seiner Romane gelesen hat – eine digitale Ausgabe ohne Foto – und die Erzählerin so fesselnd, so überzeugend fand, dass sie sich sicher war, nur eine Frau könne das geschrieben haben; sie nahm an, der Name sei eine dieser amerikanischen Gender-Merkwürdigkeiten (sie ist Japanerin). Dies ist, für Arthur Weniger, eine der wenigen begeisterten Kritiken. Nur nützt ihm das in diesem Augenblick nicht viel, da er auf dem runden Sofa sitzt, aus dessen konischer Mitte eine Ölpalme wächst. Denn jetzt ist es zehn vor sieben.
Arthur Weniger ist seit drei Tagen hier; er ist in New York, um ein Bühnengespräch mit dem berühmten Science-Fiction-Autor H. H. H. Mandern zu führen, anlässlich der Veröffentlichung von H. H. H. Manderns neuem Buch; darin lässt er seinen wahnsinnig beliebten Holmes-haften Roboter wiederauferstehen, Peabody. In der Welt der Bücher ist das eine Schlagzeile für die Titelseite, und hinter den Kulissen klang alles so, als gehe es um sehr viel Geld. Geld klang aus der Stimme, die Weniger aus heiterem Himmel anrief und fragte, ob er mit dem Werk von H. H. H. Mandern vertraut sei und ob er vielleicht Zeit für eine Moderation habe. Geld aus den Nachrichten der Pressedame, die Weniger einwies, welche Fragen für H. H. H. Mandern absolut tabu seien (seine Frau, seine Tochter, seine schlecht besprochene Lyriksammlung). Geld aus der Wahl des Veranstaltungsortes und den Werbetafeln, mit denen das gesamte Village gepflastert ist. Geld aus dem aufblasbaren Peabody, der vor dem Theater gegen den Wind ankämpft. Geld sogar aus dem Hotel, in das man Arthur eingebucht hat, und wo man ihm einen Haufen »kostenloser« Äpfel zeigte, bei denen er jederzeit gerne zugreifen dürfe, Tag und Nacht, kein Problem. In einer Welt, in der die meisten Menschen genau ein Buch pro Jahr lesen, hängt sehr viel Geld von der Hoffnung ab, dass dies dieses eine Buch ist und dass mit diesem Abend sein Siegeszug beginnt. Und alle verlassen sich auf Arthur Weniger.
Der beobachtet noch immer pflichtbewusst die stehengebliebene Uhr. Er sieht die Begleitdame nicht, die elend neben ihm steht. Er sieht nicht, wie sie ihren Schal zurechtrückt und dann das Foyer durch die Waschmaschine von einer Drehtür verlässt. Sehen Sie sich das schüttere Haar auf seinem Scheitel an, das schnelle Blinzeln seiner Augen. Betrachten Sie sein jungenhaftes Vertrauen.
Einmal, in seinen Zwanzigern, hatte eine Dichterin, mit der er sich unterhielt, ihre Zigarette in einer Topfpflanze ausgedrückt und gesagt: »Du bist wie ein Mensch ohne Haut«. Eine Dichterin hatte das gesagt. Eine, die ihren Lebensunterhalt damit verdiente, sich bei lebendigem Leibe öffentlich selbst zu häuten, hatte gesagt, dass er, der große und junge und hoffnungsfrohe Arthur Weniger, keine Haut habe. Aber es stimmte. »Du musst dir einen Panzer zulegen«, hatte ihm sein alter Rivale Carlos früher immer erklärt, doch Weniger hatte nicht gewusst, was das bedeuten sollte. Gemein zu sein? Nein, es hieß, geschützt zu sein, gewappnet gegen die Welt, doch kann man sich so einen Panzer überhaupt »zulegen«, oder wäre das genauso aussichtslos wie der Versuch, sich einen Sinn für Humor »zuzulegen«? Oder tut man nur so, so wie ein humorloser Geschäftsmann Witze auswendig lernt und als »der Kracher« gilt, weil er Parties immer rechtzeitig verlässt, bevor ihm das Material ausgeht?
Was auch immer es sein mag – Weniger hat es nie gelernt. Mit vierzig hat er nicht mehr als ein schwaches Gefühl seines Selbst entwickelt, vergleichbar mit der zarten Schale eines Butterkrebses. Eine mittelmäßige Rezension oder eine dahingesagte Kränkung tun ihm nicht mehr weh, doch Liebeskummer, echter, wahrer Liebeskummer, kann sein dünnes Fell durchstoßen und Blut hervortreten lassen, das genau dieselbe Farbe hat wie früher. Wie kann es sein, dass einem so viele Dinge ab einem bestimmten Alter langweilig werden – Philosophie, Radikalismus und anderes Fast Food –, und nur der Liebeskummer beißt wie eh und je? Vielleicht, weil er immer wieder frische Quellen dafür findet. Selbst alberne alte Ängste hat er nie überwunden, nur vermieden: Telefonanrufe (frenetisch auf die Tasten hackend wie ein Mann, der den Entschärfungscode einer Bombe eingibt), Taxis (das Trinkgeld fallen lassend und aus dem Auto springend wie eine fliehende Geisel), und auf Parties mit attraktiven Männern oder Berühmtheiten zu reden (noch immer im Kopf seine ersten Sätze probend, um dann zu merken, dass der andere sich bereits verabschiedet). Diese Ängste plagen ihn noch immer, doch der Lauf der Zeit hat Lösungen dafür gefunden. Textnachrichten und E-Mails bewahren ihn für alle Zeiten vor dem Telefonieren. In Taxis gibt es Kreditkartengeräte. Eine verpasste Gelegenheit kann sich online melden. Aber Liebeskummer – wie lässt sich der vermeiden, außer, indem man der Liebe komplett abschwört? Letztlich war das die einzige Lösung, die Arthur Weniger fand.
Vielleicht erklärt das, wieso er einem bestimmten jungen Mann neun Jahre schenkte.
Ich vergaß zu erwähnen, dass auf seinem Schoß ein russischer Kosmonautenhelm liegt.
Doch jetzt auch mal ein wenig Glück: aus der Welt außerhalb des Foyers erklingt ein Läuten, einmal, zweimal, dreimal, viermal, fünfmal, sechsmal, siebenmal, und bringt Arthur Weniger dazu, von seinem Platz aufzuspringen. Sehen Sie ihn sich an: erst starrt er den Verräter an, die Standuhr, dann rennt er zur Rezeption und bringt – endlich – die entscheidende temporale Frage vor.
»Ich verstehe nicht, wie Sie denken konnten, ich sei eine Frau.«
»Sie sind so ein talentierter Schriftsteller, Mr Weniger. Sie haben mich getäuscht! Und was haben Sie da dabei?«
»Das hier? Die Buchhandlung hat mich gebeten –«
»Ich habe Dunkle Materie geliebt. An einer Stelle musste ich an Kawabata denken.«
»Das ist einer meiner Lieblingsautoren! Die alte Kaiserstadt. Kyoto.«
»Ich komme aus Kyoto, Mr Weniger.«
»Wirklich? Ich werde in ein paar Monaten dort sein –«
»Mr Weniger. Wir haben da ein Problem …«
Diese Unterhaltung findet statt, während die Frau in dem braunen Wollkleid ihn einen Theaterkorridor entlangführt. Dieser ist mit einem einsamen Baum dekoriert, die Art von Requisite, hinter der sich der Held in einer Filmkomödie verstecken würde; der Rest ist glänzend schwarz gestrichener Backstein. Weniger und seine Begleitung sind vom Hotel zum Veranstaltungsort gerannt, und er spürt bereits, wie der Schweiß sein frisch gebügeltes weißes Hemd in etwas Transparentes verwandelt.
Wieso er? Wieso haben sie Arthur Weniger gefragt? Einen unbedeutenden Autor, dessen größter Ruhm darin besteht, in jungen Jahren mit der Russian River School von Schriftstellern und Künstlern verbunden gewesen zu sein, einen Autor, der zu alt ist, um als frisch und unverbraucht zu gelten, und zu jung, um wiederentdeckt zu werden, einen, der im Flugzeug niemals neben jemandem sitzt, der schon einmal von seinen Büchern gehört hätte. Na ja, Weniger weiß genau wieso. Es ist kein großes Geheimnis. Es wurde eine Berechnung angestellt: Welcher Schriftsteller wäre bereit, sich auf ein Bühnengespräch vorzubereiten, ohne dass er dafür bezahlt wird? Es musste jemand schrecklich Verzweifeltes sein. Wie viele andere Autoren, die er kennt, hatten gesagt »Auf keinen Fall«? Wie weit mussten sie sich durch die Liste arbeiten, bis jemand vorschlug: »Und was ist mit Arthur Weniger?«
Er ist tatsächlich ein verzweifelter Mann.
Von hinter der Wand hört er die Zuschauer etwas skandieren. Ganz sicher den Namen von H. H. H. Mandern. In den vergangenen Monaten hat Weniger insgeheim H. H. H. Manderns Werke verschlungen, diese Weltraumoperetten, die ihn zunächst abgestoßen haben, mit ihrer blechernen Sprache und den lachhaften Ausstanzfiguren, um ihn dann mit ihrer Erfindungsgabe zu packen, die eindeutig größer ist als seine eigene. Wenigers neuer Roman, eine ernste Erkundung der menschlichen Seele, wirkt wie ein Kleinplanet im Vergleich mit den Konstellationen, die dieser Mann erdacht hat. Und doch, was soll man ihn fragen? Was kann man einen Autor je anderes fragen als: »Wie?« Und die Antwort ist, wie Weniger genau weiß, offensichtlich: »Keine Ahnung!«
Die Begleitdame plappert vor sich hin, über die Kapazität des Theaters, die Vorbestellungen, die Lesereise, das Geld, das Geld, das Geld. Sie erwähnt auch, dass sich H. H. H. Mandern eine Lebensmittelvergiftung eingefangen zu haben scheint.
»Sie werden sehen«, sagt die Begleitdame, und eine schwarze Tür öffnet sich zu einem hellen, aufgeräumten Raum, wo Schnittchen auf einem Klapptisch ausgebreitet liegen. Daneben steht eine weißhaarige, in Schals gehüllte Dame, und unter ihr: H. H. H. Mandern, der gerade in einen Eimer kotzt.
Die Dame dreht sich zu Arthur um und mustert den Weltraumhelm: »Wer zur Hölle sind Sie denn?«
New York: die erste Station einer Reise um die Welt. Eigentlich ist das Ganze ein Nebeneffekt von Wenigers Versuch, sich aus einer heiklen Lage zu befreien. Er ist stolz darauf, dass es ihm gelungen ist. Es ging um eine Hochzeitseinladung.
Arthur Weniger ist seit anderthalb Jahrzehnten Junggeselle. Dem ging eine lange Zeit voraus, in der er mit dem älteren Dichter Robert Brownburn zusammenlebte, ein Tunnel der Liebe, den er mit einundzwanzig betrat und in seinen Dreißigern, ins Sonnenlicht blinzelnd, verließ. Wo war er? Irgendwo darin hatte er die erste Phase der Jugend hinter sich gelassen wie die erste Phase einer Rakete; sie war verbraucht von ihm abgefallen. Und hier war die zweite. Und letzte. Er schwor sich, er würde sie an niemanden verschenken; er würde sie genießen. Er würde sie allein genießen. Nur: Wie soll man allein leben, ohne zugleich allein zu sein? Die Frage beantwortete die Person, von der er es am wenigsten erwartet hätte: sein ehemaliger Rivale Carlos.
Nach Carlos befragt, spricht Weniger immer von »einem meiner ältesten Freunde«. Das Datum ihrer ersten Begegnung kann präzise bestimmt werden: Memorial Day, 1987. Weniger erinnert sich sogar, was sie beide an diesem Tag anhatten: er, eine knappe grüne Badehose, Carlos ein entsprechendes Modell in leuchtendem Bananengelb. Jeder von ihnen hielt eine Weißweinschorle in der Hand wie eine Pistole, und beobachtete den anderen über den Rasen hinweg. Es lief ein Lied, Whitney Houston wollte mit jemandem tanzen. Der Schatten eines Mammutbaumes fiel zwischen sie. Mit jemandem, der sie liebte. Ach, hätte man doch eine Zeitmaschine und eine Videokamera! Könnte man doch den rosa-goldenen Arthur Weniger und den muskulös nussbraunen Carlos Pelu in ihrer Jugend einfangen, als Ihr Erzähler noch ein Kind war! Doch wer braucht schon eine Kamera? Sicher wiederholt sich diese Szene in ihren Köpfen jedes Mal, wenn der Name des anderen fällt. Memorial Day, Schorle, Mammutbaum, mit jemandem tanzen. Und beide lächeln und sagen, der andere sei »einer meiner ältesten Freunde«. Dabei war es Hass auf den ersten Blick.
Lassen Sie uns nun doch einmal diese Zeitmaschine benutzen, allerdings mit einem Ziel, das fast zwanzig Jahre später liegt. Lassen Sie uns ins San Francisco Mitte der 2000er reisen, in ein Haus in den Hügeln, in der Saturn Street. Eine dieser Kreaturen auf Stelzen, eine Wand aus Glas, hinter der ein nie benutztes Piano zu sehen ist und eine hauptsächlich aus Männern bestehende Gruppe von Menschen, die einen von einem Dutzend vierzigster Geburtstage in jenem Jahr feiert. Unter ihnen: ein dickerer Carlos, dessen langjähriger Partner ihm nach seinem Tod ein wenig Grundbesitz hinterlassen hat, und der diese paar Baugrundstücke in ein Immobilienimperium verwandelt hat, inklusive einzelner Teilhaberschaften in Vietnam und Thailand, sogar an einer lächerlichen Ferienanlage in Indien, von der Weniger schon gehört hat. Carlos: dasselbe würdevolle Profil, doch keine Spur mehr von dem muskulösen jungen Mann in der Bananen-Badehose. Für Arthur Weniger ist es ein lockerer Spaziergang von seiner kleinen Hütte an den Vulcan Steps, in der er jetzt allein lebt. Eine Party – warum nicht? Er wählt ein typisches Weniger-Kostüm – Jeans und Cowboyhemd, nur leicht unpassend – und macht sich auf den Weg, am Hügel entlang Richtung Süden.
Stellen Sie sich unterdessen Carlos vor, der auf einem Peacock-Stuhl thront und Hof hält. Neben ihm, fünfundzwanzig Jahre alt, in schwarzer Jeans, T-Shirt und runder Hornbrille, mit dunklem lockigem Haar: sein Sohn.
Das ist mein Sohn, hat er, wie ich mich erinnere, jedem erklärt, als der Junge erstmals auftauchte, damals gerade mal ein Teenager. Doch er war nicht sein Sohn – er war ein verwaister Neffe, den man zu seinem nächsten Verwandten nach San Francisco geschickt hatte. Wie soll ich ihn beschreiben? Große Augen, von der Sonne gesträhntes Haar und damals noch mit einer aufsässigen Art. Er weigerte sich, Gemüse zu essen oder Carlos anders anzusprechen als mit Carlos. Sein Name war Federico (mexikanische Mutter), doch alle nannten ihn Freddy.
Auf der Party starrt Freddy aus dem Fenster, wo der Nebel die Innenstadt auslöscht. Inzwischen isst er Gemüse, doch seinen gesetzlichen Vater nennt er noch immer Carlos. In seinem Anzug sieht er so dünn aus, dass es wehtut, mit einer eingefallenen Brust, und auch wenn ihm jugendlicher Elan völlig abgeht, teilt Freddy sämtliche Leidenschaft der Jugend; man kann sich mit einer Tüte Popcorn zurücklehnen und sich die Liebesfilme und Komödien ansehen, die seine Gedanken auf sein Gesicht projizieren, und beobachten, wie seine Phantasien die Gläser seiner Hornbrille zum Schimmern bringen wie die Membranen von Seifenblasen.
Freddy dreht sich um, als er seinen Namen hört; es ist eine Frau in einem weißen Seidenanzug und einer Bernsteinkette, mit dem coolen Auftreten einer Diana Ross: »Freddy, Schätzchen, ich habe gehört, du drückst wieder die Schulbank?« Was er denn nach dem Studium werden wolle?, fragt sie freundlich. Ein stolzes Lächeln: »Highschool-Englischlehrer.«
Das bringt sie zum Strahlen. »Gott, das freut mich ja! Ich treffe nie junge Leute, die Lehrer werden wollen.«
»Ehrlich gesagt liegt es vor allem daran, dass ich Leute in meinem Alter nicht ertrage.«
Sie pickt die Olive aus ihrem Martini. »Das könnte dein Liebesleben erschweren.«
»Kann sein. Aber eigentlich habe ich gar kein Liebesleben«, sagt Freddy und trinkt mit einem großen Schluck sein Champagnerglas leer.
»Wir müssen bloß den richtigen Mann für dich finden. Du kennst doch meinen Sohn, Tom –«
Von der Seite: »Eigentlich ist er Dichter!« Carlos steht mit einem schräg gehaltenen Glas Weißwein neben ihnen.
Die Frau (die Höflichkeit gebietet es, sie vorzustellen: Caroline Dennis, im Softwaregeschäft tätig; Freddy würde sie noch sehr gut kennenlernen) quietscht.
Freddy betrachtet sie genau und lächelt schüchtern. »Ich bin ein schrecklicher Dichter. Carlos erinnert sich nur daran, dass ich als Kind einer werden wollte.«
»Das war letztes Jahr«, sagt Carlos grinsend.
Freddy steht still da; seine dunklen Locken erzittern von dem, was ihm gerade durch den Kopf geht.
Mrs Dennis gibt ein paillettenbesetztes Lachen von sich. Sie sagt, sie liebe Lyrik. Sie habe immer schon auf Bukowski »und so Sachen« gestanden.
»Du magst Bukowski?«, fragt Freddy.
»Oh nein«, sagt Carlos.
»Tut mir leid, Caroline. Aber der ist noch schlechter als ich.«
Mrs Dennis’ Dekolleté läuft rot an, Carlos lenkt ihre Aufmerksamkeit auf ein Gemälde, das ein alter Freund aus der Russian River School gemalt hat, und Freddy, der nicht einmal das Gemüse des Small Talks herunter bekommt, stakst zur Bar, um sich ein neues Glas Champagner zu holen.
Arthur Weniger hat das Haus erreicht. Er steht vor einem weißen Tor in einer dieser niedrigen Mauern, die das Haus verdeckt, das sich dahinter den Hang hinab erstreckt. Was werden die Leute wohl sagen? Ach, gut siehst du aus. Hab schon gehört von dir und Robert. Wer behält das Haus?
Wie sollte er wissen, dass hinter diesem Tor neun Jahre auf ihn warten?
»Hallo, Arthur! Was trägst du da?«
»Carlos.«
Zwanzig Jahre später und immer noch, an diesem Tag, in diesem Raum: alte Rivalen im Duell.
Neben ihm: ein junger Mann mit lockigem Haar und Brille, in Hab-acht-Stellung.
»Arthur, du erinnerst dich doch an meinen Sohn, Freddy …«
Es war so einfach. Freddy fand Carlos’ Haus unerträglich, und so kam es oft vor, dass er freitags, nach einem anstrengenden Schultag und der Happy Hour mit ein paar seiner Collegefreunde bei Weniger auftauchte und nichts lieber wollte, als sich ein Wochenende lang im Bett zu verkriechen. Den nächsten Tag verbrachte Weniger dann damit, einen verkaterten Freddy mit Kaffee und alten Filmen wieder aufzupäppeln, um ihn am Montagmorgen aus dem Haus zu werfen. Das passierte ungefähr einmal im Monat, nachdem sie sich kennengelernt hatten, aber wurde schnell zu einer Gewohnheit, bis Weniger schließlich feststellte, wie enttäuscht er war, als es an einem Freitagabend nicht an der Tür klingelte. Wie seltsam, in seinen warmen, weißen Laken aufzuwachen, wenn das Sonnenlicht durch die Klettertrompete ins Zimmer schien, und zu spüren, dass etwas fehlte. Als er ihn das nächste Mal sah, sagte er Freddy, er solle nicht so viel trinken. Und so schlechte Gedichte rezitieren. Und hier war der Schlüssel zu seinem Haus. Freddy sagte nichts, aber er steckte den Schlüssel ein und benutzte ihn, wann immer er wollte (ohne ihn je zurückzugeben).
Ein Außenstehender würde vielleicht sagen: Das ist alles wunderbar, aber der Trick ist doch, sich nicht zu verlieben. Darüber hätten sie beide gelacht. Freddy Pelu und Arthur Weniger? Freddy war so wenig an einer Beziehung interessiert, wie es ein junger Mensch sein sollte; er hatte seine Bücher, seinen Unterricht, seine Freunde und sein Leben als Single. Der alte, unkomplizierte Arthur erwartete nichts. Freddy glaubte außerdem, dass es seinen Vater verrückt machte, dass er mit Carlos’ altem Erzfeind schlief, und Freddy war noch jung genug, um Vergnügen daran zu finden, seinen Ziehvater zu quälen. Er kam nie auf den Gedanken, dass Carlos erleichtert sein könnte, ihn von der Backe zu haben. Was Weniger anging: Freddy war nicht einmal sein Typ. Arthur Weniger hatte sich immer nur in ältere Männer verliebt; sie waren die eigentliche Gefahr. Ein Jüngelchen, das nicht mal die Namen der Beatles kannte? Ein Zeitvertreib, eine Freizeitbeschäftigung, ein Hobby.
Weniger hatte in den Jahren, in denen er sich mit Freddy traf, natürlich noch andere, ernstere Liebhaber. Da war der Geschichtsprofessor der UC-Davis, der zwei Stunden Autofahrt auf sich nahm, um Weniger ins Theater auszuführen. Glatzköpfig, mit rotem Bart, einem Funkeln in den Augen und mit Witz; eine Zeitlang war es ein Vergnügen, ein Erwachsener zu sein, der mit einem anderen Erwachsenen zusammen war, diese Phase des Lebens – die frühen Vierziger – gemeinsam zu durchleben und über ihre Angst vor der Fünfzig zu lachen. Im Theater blickte Weniger zu ihm hinüber, sah Howards vom Bühnenlicht beschienenes Profil und dachte: Das ist ein guter Gefährte, das ist eine gute Wahl. Hätte er Howard lieben können? Sehr wahrscheinlich. Doch der Sex war merkwürdig, viel zu spezifisch (»Kneif mich da, gut, und jetzt berühr mich da; nein, höher; nein, höher; nein, HÖHER!«) und fühlte sich an wie das Vortanzen für eine Revue. Aber Howard war nett, und er konnte kochen; er brachte Zutaten mit und bereitete eine Sauerkrautsuppe, die so scharf war, dass Weniger ein wenig high davon wurde. Oft hielt er Wenigers Hand und lächelte ihn an. Und so harrte Weniger sechs Monate lang aus, um zu sehen, ob der Sex besser werden würde, doch das passierte nicht, und er verlor kein Wort darüber, also wusste er vermutlich, dass es doch keine Liebe war.
Es gab noch andere; viele, viele andere. Da war der chinesische Banker, der Geige spielte und im Bett lustige Geräusche von sich gab, doch der küsste, als wisse er nur aus dem Kino, wie man das macht. Da war der kolumbianische Barkeeper, dessen Charme sich nicht leugnen ließ, doch der ein unmögliches Englisch sprach (»Ich will deine Hand und deine Fuß dienen«); Wenigers Spanisch war noch schlechter. Da war der Architekt aus Long Island, der in Flannelpyjama und Mütze schlief, wie jemand in einem Stummfilm. Da war der Florist, der darauf bestand, Sex im Freien zu haben, was zu einem Arztbesuch führte, bei dem Weniger zugleich um einen Test auf Geschlechtskrankheiten und ein Mittel gegen Giftsumach bitten musste. Da waren die Nerds, die davon ausgingen, Weniger verfolge jede einzelne Nachricht aus der Tech-Industrie, sich aber ihrerseits nicht im Geringsten verpflichtet fühlten, sich mit Literatur zu beschäftigen. Da waren die Politiker, die ihn vermaßen, als wollten sie ihm einen Anzug schneidern. Da waren die Schauspieler, die ihn auf dem roten Teppich ausprobierten. Da waren die Fotografen, die ihn ins rechte Licht setzten. Viele von denen hätten es vielleicht getan. So viele Menschen würden es tun. Doch wenn man einmal wirklich verliebt war, ist einem das »tut’s schon« nicht mehr genug; es ist schlimmer, als allein zu leben.
Kein Wunder, dass Weniger jedes Mal wieder zum verträumten, simplen, lüsternen, lesewütigen, harmlosen, jugendlichen Freddy zurückkehrte.
So hielten sie es neun Jahre lang. Und dann, eines Herbsttages, war es zu Ende. Natürlich hatte sich Freddy verändert, er war vom Fünfundzwanzigjährigen zu einem Mann Mitte dreißig geworden: Ein Highschoollehrer, der kurzärmelige blaue Button-Down-Hemden mit schwarzer Krawatte trug und den Weniger im Scherz Mr Pelu nannte (oft hob er dazu noch die Hand, als wolle er im Unterricht drangenommen werden). Seine Locken hatte Mr Pelu behalten, doch seine Brille war jetzt aus rotem Kunststoff. Er passte nicht mehr in seine alten Kleider; aus dem dürren Jungen war ein ausgewachsener Mann geworden, mit Schultern und Brust und dem Ansatz eines weichen Bauches. Er kam nicht mehr jedes Wochenende betrunken die Treppe zu Wenigers Haus hinaufgestolpert und rezitierte schlechte Lyrik. Doch an einem Wochenende tat er es. Er war auf der Hochzeit eines Freundes gewesen und als er kam, betrunken und mit rotem Gesicht, lehnte er sich gegen Weniger und torkelte lachend in seinen Windfang. Es folgte eine Nacht, in der er sich, Wärme ausstrahlend, an Weniger klammerte. Und ein Morgen, an dem Freddy mit einem Seufzer verkündete, dass er jetzt mit jemandem zusammen war, der wollte, dass er monogam werde. Das hatte er versprochen, gut einen Monat zuvor. Und er meinte, es sei langsam an der Zeit, sich an dieses Versprechen zu halten.
Freddy lag auf dem Bauch und hatte seinen Kopf auf Wenigers Arm abgelegt. Seine Bartstoppeln kratzten. Auf dem Nachttisch vergrößerte seine rote Brille ein Paar Manschettenknöpfe. Weniger fragte, »Weiß er von mir?«
Freddy hob den Kopf. »Was soll er von dir wissen?«
»Das hier.« Er deutete auf ihre nackten Körper.
Freddy sah ihm direkt in die Augen. »Ich kann nicht mehr herkommen.«
»Verstehe.«
»Es wäre schön. Es war schön. Aber du weißt, es geht nicht.«
»Verstehe.«
Freddy schien noch etwas sagen zu wollen, doch er unterbrach sich. Er schwieg, doch er sah ihn an wie jemand, der sich ein Foto einprägen wollte. Was sah er da? Er wandte den Blick von Weniger ab und griff nach seiner Brille. »Du solltest mich küssen, als wär’s ein Abschiedskuss.«
»Mr Pelu«, sagte Weniger. »Das hier ist kein Abschied.«
Freddy setzte seine rote Brille auf, und in jedem Aquarium schwamm ein kleiner blauer Fisch.
»Willst du, dass ich für immer hier bei dir bleibe?«
Ein wenig Sonnenlicht fiel durch die Klettertrompete; es malte ein Muster auf das nackte Bein.
Weniger sah seinen Liebhaber an, und vielleicht gingen ihm da einige Bilder durch den Kopf – eine Smokingjacke, ein Hotelzimmer in Paris, eine Party auf einem Dach –, vielleicht war das, was er sah, auch nur die von Panik und Verlust verursachte Schneeblindheit. Sein Gehirn sandte eine aus drei Pünktchen bestehende Nachricht aus, die er zu ignorieren beschloss. Weniger beugte sich hinab und gab Freddy einen langen Kuss. Dann zog er den Kopf weg und sagte, »Ich merke doch, dass du mein Eau de Cologne benutzt hast«.
Die Brillengläser, die die Entschlossenheit des jungen Mannes so sehr vergrößert hatten, vergrößerten jetzt seine auch so schon großen Pupillen. Sie rasten auf Wenigers Gesicht hin und her, als würden sie darin lesen. Er schien all seine Kraft zusammenzunehmen, um zu lächeln, und schließlich tat er es.
»War das dein bester Abschiedskuss?«, fragte er.
Dann, einige Monate später, die Hochzeitseinladung im Briefkasten: Wir möchten die Hochzeit von Federico Pelu und Thomas Dennis mit Ihnen feiern. Wie unangenehm. Er konnte die Einladung unter keinen Umständen annehmen, wenn doch jeder wusste, dass er Freddys alter Liebhaber war; die Leute würden kichern und die Augenbrauen hochziehen, und obwohl es Weniger normalerweise egal gewesen wäre, ertrug er es nicht, sich das Lächeln auf Carlos’ Gesicht vorzustellen. Sein mitleidiges Lächeln. Weniger war Carlos bereits auf einer weihnachtlichen Benefizveranstaltung begegnet (eine Feuerfalle aus Kiefernzweigen), und Carlos hatte Weniger zur Seite genommen und ihm dafür gedankt, Freddy so großzügig ziehen gelassen zu haben: »Arthur, du weißt, mein Sohn war nie der Richtige für dich.«
Und doch konnte Weniger die Einladung nicht einfach absagen. Zu Hause zu sitzen, während die alte Gang in Sonoma zusammenkam, um Carlos’ Geld zu vertrinken – nun, sie würden auch so über ihn lachen. Der traurige junge Arthur Weniger war zum traurigen alten Arthur Weniger geworden. Sie würden alte Geschichten ausgraben, um sich über ihn lustig zu machen; auch neue würden ausprobiert werden. Der Gedanke war unerträglich; er durfte unter keinen Umständen absagen. Knifflig, knifflig, dieses Leben.
Zeitgleich mit der Hochzeitseinladung kam ein Brief, der ihn höflich an das Angebot erinnerte, an einer obskuren Universität in Berlin zu lehren, mit einem Hinweis auf das knappe Honorar sowie die knappe Zeit, die ihm zum Antworten blieb. Weniger saß an seinem Schreibtisch und starrte den Brief an; der sich aufbäumende Bär im Briefkopf erschien ihm eregiert. Durch das geöffnete Fenster drang die Melodie hämmernder Dachdecker und der Geruch geschmolzenen Teers ins Zimmer. Dann öffnete er eine Schublade und holte einen Stapel Briefe hervor, auch dies Einladungen, allesamt unbeantwortet; weitere waren in den Tiefen seines Computers versteckt, und nochmals weitere unter einem Haufen Voicemails begraben. Weniger saß da, während das Fenster vom Lärm der Arbeiter erzitterte, und sah sich die Briefe an. Ein Lehrauftrag, eine Konferenz, ein Schreibaufenthalt, ein Reiseartikel und so weiter. Und so wie bei diesen sizilianischen Nonnen, die einmal im Jahr singend hinter einem sich lüftenden Vorhang stehen, damit ihre Familien sie sehen können, hob sich für Arthur Weniger in seinem kleinen Arbeitszimmer, in seinem kleinen Haus, ein Vorhang, hinter dem ein einzigartiger Gedanke ans Licht kam.
Ich bedaure, schrieb er auf das beigefügte Antwortschreiben, aber ich werde außer Landes sein. Alles Liebe an Freddy und Tom.
Er würde sie alle annehmen.
Was hat er da für einen klapprigen Reiseplan zusammengeschustert!
Erstens: dieses Interview mit H. H. H. Mandern. Das verschafft ihm das Flugticket nach New York City, inklusive zweier Tage vor der Veranstaltung, in denen er die Stadt genießen kann, im leuchtenden Herbst. Und mindestens ein kostenloses Essen gehört auch noch dazu (das Glück des Schriftstellers): mit seinem Agenten, der ganz sicher Nachricht von seinem Verleger erhalten hat. Wenigers neuester Roman wohnt schon seit mehr als einem Monat bei seinem Verleger, so wie jedes moderne Pärchen vor der Hochzeit zusammenwohnt, doch bestimmt wird der Verleger im Laufe der nächsten Tage die entscheidende Frage stellen. Dann wird der Champagner fließen; und das Geld.
Zweitens: eine Konferenz in Mexico City. Es ist die Art Veranstaltung, die Weniger jahrelang abgelehnt hat: ein Symposium über Roberts Werk. Er und Robert sind seit anderthalb Jahrzehnten getrennt, doch als Robert krank wurde und nicht mehr reisen konnte, fingen die Leiter der Literaturfestivals an, sich an Weniger zu wenden. Nicht an ihn als Schriftsteller; eher als eine Art Zeitzeuge. Eine Bürgerkriegswitwe, so kommt es Weniger vor. Diese Festivals wollen einen allerletzten Blick auf die berühmte Russian River School von Schriftstellern und Künstlern werfen, eine 70er-Jahre-Boheme, die schon längst hinterm Horizont verschwunden ist, und da würden sie auch den Abglanz akzeptieren. Doch Weniger hat sich immer geweigert. Nicht, weil es seinen eigenen Ruhm schmälern würde – das wäre gar nicht möglich, weil Wenigers Status, seiner eigenen Einschätzung nach, unterirdisch ist –, sondern weil es ihm parasitär vorkommt, Geld mit einer Welt zu verdienen, die eigentlich Robert gehört. Und diesmal ist es nicht einmal genug Geld. Nicht mal annähernd genug. Doch es würde ihm hübsch die Lücke von fünf Tagen füllen, die sich zwischen New York und der Preisverleihung in Turin auftut.
Drittens: Turin. Weniger ist skeptisch. Angeblich soll er einen prestigioso Preis für ein Buch verliehen bekommen, das kürzlich ins Italienische übersetzt wurde. Welches Buch? Er muss lange suchen, bis er dahinter kommt, dass es Dunkle Materie ist. Liebe und Bedauern durchfährt ihn; der Name einer alten Liebschaft auf der Passagierliste eines Kreuzfahrtschiffes. Ja, sehr gerne kommen wir für den Flug von Mexico City nach Turin auf; Ihr Fahrer erwartet Sie dort – einen glamouröseren Satz hat Weniger nie gelesen. Er fragt sich, wer solche europäische Verschwendungslust finanziert, denkt sich, dass hier vermutlich illegal erzielte Gewinne gewaschen werden und findet schließlich, ganz unten auf die Einladung gedruckt, den Namen eines italienischen Seifenkonglomerats. Wäsche, fürwahr. Doch es bringt ihn nach Europa.
Viertens: die Wintersitzung der Befreiten Universität Berlin – ein fünfwöchiges Seminar »zu einem Thema Ihrer Wahl«. Der Brief ist auf Deutsch formuliert; die Universität glaubt, Arthur Weniger spreche fließend Deutsch, und auch Arthur Wenigers Verleger, der ihn empfohlen hat, teilt diese Überzeugung. Genau wie Arthur Weniger. Mit Gottes Freude, schreibt er zurück, nehme ich dieses Podest der Macht an, und schickt es freudig erregt ab.
Fünftens: ein Aufenthalt in Marokko, sein einziger Luxus auf dieser Reise. Er würde sich an die Geburtstagsfeier einer anderen anhängen, jemand namens Zohra, die er noch nie getroffen hat und die eine Expedition von Marrakesch in die Sahara plant, und dann Richtung Norden nach Fès. Sein Freund Lewis bestand darauf; sie hatten für ihre Reise noch einen Platz zu besetzen – perfekt! Der Wein würde reichlich vorhanden sein, die Konversation schillernd und die Annehmlichkeiten luxuriös. Wie konnte er da nein sagen? Die Antwort, wie immer: das Geld, das Geld, das Geld. Lewis nannte ihm die Kosten, alles inbegriffen, und obwohl die Summe enorm war (Weniger sah zweimal hin, um sicherzugehen, dass es sich nicht um marokkanische Dirham handelte), hatte er sich, wie immer, schon zu sehr verliebt. Beduinenmusik erklang bereits in seinen Ohren; Kamele grunzten bereits in der Dunkelheit; er erhob sich bereits aus bestickten Kissen und trat in die Wüstennacht hinaus, Champagner in der Hand, um den Sand der Sahara seine Zehen wärmen zu lassen, während über ihm die Milchstraße seine Geburtstagskerzen erstrahlen ließ.
Denn irgendwo in der Sahara würde Weniger fünfzig werden.
Er hatte sich geschworen, dann nicht allein zu sein. Erinnerungen an seinen Vierzigsten, als er durch die breiten Straßen von Las Vegas gewandert war, suchten ihn in dunkleren Momenten noch immer heim. Er würde nicht allein sein.
Sechstens: nach Indien. Wer hatte ihn auf diese Idee gebracht? Carlos, ausgerechnet Carlos. Es war auf derselben Weihnachtsparty gewesen, wo sein alter Rivale ihn erst in einem Feld entmutigte (»Mein Sohn war nie der Richtige für dich«), um ihn dann in einem anderen zu ermutigen (»Es gibt da übrigens dieses Besinnungszentrum in der Nähe einer Ferienanlage, die ich gerade aufbaue. Das sind Freunde, sehr schön alles, auf einem Hügel oberhalb des Arabischen Meers; das wäre ein toller Ort für dich zum schreiben.«) Indien: vielleicht würde er da endlich Ruhe finden; er könnte der finalen Fassung seines Romans den letzten Schliff geben, des Romans, den sein Agent ganz sicher in New York mit Champagner feiern wird. Wann war noch gleich die Monsunsaison?
Und schließlich: nach Japan. Er saß, so unwahrscheinlich es klingen mag, in San Francisco in einer Pokerrunde für Schriftsteller, als ihm das in den Schoß fiel. Die anderen waren selbstverständlich heterosexuelle Schriftsteller. Selbst mit seiner grünen Sonnenbrille war Weniger kein besonders überzeugender Spieler; in den ersten Runden verlor er jede einzelne Hand. Doch er war ein guter Verlierer. Es geschah während der dritten Runde – als Weniger dachte, er könne den Zigarettenrauch und das Gegrunze und das warme jamaikanische Bier keine einzige Minute mehr ertragen –, als ein Mann aufsah und sagte, seine Frau sei sauer, weil er so viel reise, er müsse zu Hause bleiben und einen Artikel absagen. Ob nicht einer der anderen für ihn nach Kyoto fahren könne? »Ich mach das!«, quiekte Weniger. Alle Poker Faces blickten auf, und Weniger erinnerte sich plötzlich daran, wie er sich in der Junior-Highschool freiwillig für das Schultheaterstück gemeldet hatte: denselben Gesichtsausdruck hatte er bei den Football-Spielern gesehen. Er räusperte sich und senkte seine Stimme: »Ich mach das.« Ein Text für ein Bordmagazin, über die traditionelle Kaiseki-Küche. Er hoffte, er würde nicht zu früh dran sein für die Kirschblüten.
Von dort wird er nach San Francisco zurückfliegen und wieder einmal in sein Haus an den Vulcan Steps zurückkehren. Fast alles bezahlt von Festivals, Preiskommitees, Universitäten, Residenzprogrammen und Medienkonglomeraten. Den Rest kann er, wie er festgestellt hat, mit Vielfliegerpunkten abdecken, die sich, jahrzehntelang unbeachtet, zu einem digitalen Vermögen multipliziert haben, wie in der magischen Truhe eines Zauberers. Nachdem er die marokkanische Ausschweifung im Voraus bezahlt hat, hat er jetzt gerade noch genug Geld auf dem Konto, um das Nötigste abzudecken, vorausgesetzt, er übt sich in der puritanischen Sparsamkeit, die ihm seine Mutter eingebläut hat. Keine Klamottenkäufe. Nicht ausgehen. Und, Gott stehe ihm bei, keine medizinischen Notfälle. Doch was soll schon passieren?
Arthur Weniger umkreist den Globus! Er kommt sich vor wie ein Kosmonaut. Am Morgen, als er in San Francisco aufbrach, zwei Tage vor der Veranstaltung mit H. H. H. Mandern, fiel Arthur Weniger auf, dass er nicht vom Osten zurückkehren würde, wie er es sein gesamtes Leben getan hatte, sondern vom mysteriösen Westen. Und während dieser Odyssee würde er ganz sicher kein einziges Mal an Freddy Pelu denken.
New York ist eine Stadt mit acht Millionen Menschen, von denen ungefähr sieben Milllionen stinksauer sind, wenn sie erfahren, dass man in der Stadt war, ohne mit ihnen in ein teures Restaurant zu gehen, fünf Millionen stinksauer, weil man nicht zu einem Babybesuch vorbeigeschaut hat, drei Millionen stinksauer, weil man sich ihr neues Stück nicht angesehen hat, eine Million stinksauer, weil man sich nicht gemeldet hat, um Sex zu haben, aber nur fünf tatsächlich Zeit haben, einen zu treffen. Es ist absolut vertretbar, keinen dieser fünf anzurufen. Stattdessen könnte man sich in eine schreckliche, schmalzige Broadway-Show stehlen, für die man zweihundert Dollar Eintritt bezahlt – was man niemals zugeben würde. Genau das tut Weniger an seinem ersten Abend, und als Ausgleich für den Luxus gibt es zum Abendessen nur einen Hotdog. Man kann nicht von einem peinlichen Vergnügen sprechen, wenn das Licht ausgeht, der Vorhang sich hebt und das jugendliche Herz im Takt mit dem Orchester zu schlagen beginnt, wenn man es doch gar nicht als peinlich empfindet. Und er empfindet es nicht so; er spürt nur einen wohligen Schauer, weil niemand da ist, um ihn zu beurteilen. Es ist ein schlechtes Musical, doch genau wie ein schlechter Sexpartner kann auch ein schlechtes Musical seinen Zweck perfekt erfüllen. Am Ende ist Arthur Weniger in Tränen aufgelöst, sitzt schluchzend da, im Glauben, er habe still und leise geschluchzt, bis das Licht angeht, und die Dame neben ihm sich zu ihm umdreht und sagt, »Schätzchen, ich weiß ja nicht, was dir zugestoßen ist, aber es tut mir so schrecklich leid«, und dann schließt sie ihn in ihre nach Flieder duftenden Arme. Mir ist nichts zugestoßen, will er ihr sagen. Mir ist nichts zugestoßen. Ich bin bloß ein Homosexueller in einer Broadway-Show.
Am nächsten Morgen: Die Kaffeemaschine in seinem Hotelzimmer ist eine hungrige kleine Molluske, die das Maul aufklappt, um Pads zu verschlingen und anschließend Kaffee in einen Becher auszuscheiden. Die Hinweise zur Pflege und Fütterung sind eindeutig, und doch gelingt es Weniger irgendwie, beim ersten Versuch nichts als Dampf und beim zweiten eine aufgelöste Version des Pads selbst zu produzieren. Ein Seufzer Wenigers.
Es ist ein Herbstmorgen in New York, und dementsprechend herrlich; es ist der erste Tag seiner langen Reise, der Tag vor dem Bühnengespräch, und seine Kleider sind noch sauber und ordentlich, die Socken noch in Paaren, der blaue Anzug unverknittert, die Zahnpasta noch amerikanisch und keine merkwürdige ausländische Geschmacksrichtung. Zitronengelbes New Yorker Licht fällt von den Wolkenkratzern auf die zusammengenieteten Aluminiumdächer der Fresswagen, und von dort auf Arthur Weniger selbst. Selbst der fies-vergnügte Blick der Dame, die den Aufzug nicht für ihn aufhält, die humorbefreite junge Frau im Coffee Shop, die Touristen, die stocksteif auf der überfüllten Fifth Avenue herumstehen, die lästigen, überdrehten Kundenfänger (»Mister, mögen Sie Comedy? Comedy mag jeder!«), das Zahnschmerzen verursachende Geräusch von Presslufthämmern auf Asphalt – nichts davon kann ihm diesen Tag trüben. Hier gibt es ein Geschäft, das nichts als Reißverschlüsse verkauft. Es gibt zwanzig davon. Das Reißverschluss-Viertel. Was für eine großartige Stadt.
»Was werden Sie anziehen?«, fragt die Buchhändlerin, als Weniger vorbeischaut, um Hallo zu sagen. Er ist fast zwanzig wunderbare Blocks gelaufen, um hierher zu gelangen.
»Was ich anziehen werde? Ach, einfach meinen blauen Anzug.«
Die Buchhändlerin (in Bleistiftrock, Pullover und Brille: die Karikatur einer Bibliothekarin) lacht und lacht. Dann klingt ihre Heiterkeit zu einem Lächeln ab. »Nein, Spaß beiseite«, sagt sie, »was wollen Sie anziehen?«
»Das ist ein toller Anzug. Was meinen Sie denn?«
»Na ja, das ist H. H. H. Mandern! Und es ist fast Halloween! Ich habe einen NASA-Trainingsanzug gefunden. Janice geht als Königin des Mars.«
»Ich war davon ausgegangen, dass er ernst genommen werden möchte –«
»Aber das ist H. H. H. Mandern! Halloween! Wir müssen uns verkleiden!«
Sie weiß nicht, wie sorgsam er seinen Koffer gepackt hat. Es ist ein Clownauto voller sich widersprechender Gegenstände: Kaschmirpullover und leichte Leinenhosen, Thermounterwäsche und Sonnenmilch, Krawatte und Badehose, seine Stretchbänder und so weiter. Welche Schuhe nimmt man mit für die Universität und für den Strand? Welche Sonnenbrille für das trübe Licht Nordeuropas und die Sonne Südasiens? Er würde Halloween, Día de los Muertos, Festa di San Martino, den Nikolaustag, Weihnachten, Silvester, Eid al-Mawlid, Vasant Pachami und Hina Matsuri miterleben. Die Hüte allein könnten ein gesamtes Schaufenster füllen. Und dann ist da der Anzug.
Es gibt keinen Arthur Weniger ohne diesen Anzug. Er hatte ihn aus einer Laune heraus gekauft, in jener kurzen Zeit der Launenhaftigkeit drei Jahre zuvor, als er die Vorsicht über Bord warf (und das Geld aus dem Fenster) und nach Ho-Chi-Minh-Stadt flog, um einen Freund zu besuchen, der dort arbeitete. Auf der Suche nach einem klimatisierten Raum in dieser schwülen, von Mopeds heimgesuchten Stadt fand er sich plötzlich in einer Schneiderei wieder und gab einen Anzug in Auftrag. Trunken von Autoabgasen und Zuckerrohr traf er eine Reihe voreiliger Entscheidungen, gab seine Privatadresse an, und hatte am nächsten Morgen schon wieder alles vergessen. Zwei Wochen später kam ein Paket in San Francisco an. Verdutzt öffnete er es und holte einen mittelblauen Anzug heraus, mit fuchsiafarbigem Futter, und mit seinen Initialen versehen: APW. Der Rosenwasserduft des Pakets beschwor sofort eine herrische Dame mit einem straffen Haarknoten herauf, die ihn mit Fragen bombardierte. Welcher Schnitt, Knöpfe, Taschen, Kragen? Aber vor allem: welches Blau? Hastig aus einer Wand aus Stoffen ausgewählt: kein gewöhnliches Blau. Pfauenblau? Lapislazuli? Das trifft es nicht annähernd. Mittelblau, aber strahlend, mäßig schimmernd, eindeutig kräftig. Irgendwo zwischen ultramarin und Cyanidsalz, zwischen Vishnu und Amon, Israel und Griechenland, den Logos von Pepsi und Ford. Mit einem Wort: leuchtend. Er liebte, welches Selbst auch immer den Anzug ausgewählt hatte und trug ihn seitdem immerzu. Selbst Freddy gefiel er: »Du siehst aus wie jemand Berühmtes!« Und das stimmt. Endlich hat er, in seinem fortgeschrittenen Alter, den richtigen Ton getroffen. Er sieht gut aus, und er sieht ganz aus wie er selbst. Ohne den Anzug ist das irgendwie nicht der Fall. Ohne den Anzug gibt es keinen Arthur Weniger.
Doch anscheinend ist der Anzug nicht genug. Jetzt muss er sich, trotz eines Terminkalenders, der mit Mittag- und Abendessen vollgestopft ist, auf die Suche machen nach … nach was? Einer Star-Trek-Uniform? Er spaziert von der Buchhandlung in seine alte Nachbarschaft, wo er nach dem College wohnte, und das verschafft ihm die Gelegenheit, sich an das alte West Village zurückzuerinnern. Alles nicht mehr da: das Soulfood-Restaurant, wo Wenigers Ersatzschlüssel unter dem Kokosnusskuchen deponiert war, die Reihe von Fetischläden, deren Schaufenster voller gummierter Gerätschaften dem jungen Weniger Angst und Schrecken einjagten, die Lesbenbars, in die Weniger gerne ging, der Theorie folgend, dass er dort bessere Chancen bei den Männern haben würde, die schäbige Bar, in der ein Freund einmal dachte, Kokain gekauft zu haben, nur um kurz darauf von der Toilette zurückzukommen und zu verkünden, dass er sich gerade pulverisierte Lutschbonbons in die Nase gezogen hatte, die Pianobars, die in einem Sommer vom »Karaoke Killer« heimgesucht wurden, wie die New York Post fälschlicherweise berichtete. Weg, ersetzt durch etwas Schöneres. Hübsche Geschäfte für Dinge aus Gold, und reizende kleine Restaurants, in denen es nur Burger gibt, und Schuhe, die präsentiert werden wie in einem Museum. Manchmal scheint es so, als wisse nur Arthur Weniger noch, wie schmutzig es hier einmal war.
Von hinten: »Arthur! Arthur Weniger?«
Er dreht sich um.
»Arthur Weniger! Ich glaub’s ja nicht! Ich habe gerade von dir gesprochen!«
Verdammt, wer ist das