Silvia Bovenschen
Lug und Trug und Rat und Streben
Roman
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Silvia Bovenschen, geboren 1946, lebt als Autorin, Literaturwissenschaftlerin und Essayistin in Berlin. 2000 wurde sie mit dem Roswitha-Preis der Stadt Bad Gandersheim und dem Johann-Heinrich-Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet, 2007 erhielt sie den Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik und 2012 den Schillerpreis der Stadt Mannheim. Unter anderem erschienen »Schlimmer machen, schlimmer lachen« (1998), »Über-Empfindlichkeit. Spielformen der Idiosynkrasie« (2000), »Älter werden« (2006), »Verschwunden« (2007), »Wer Weiß Was« (2009), »Wie geht es Georg Laub« (2011), »Nur Mut« (2013) und »Sarahs Gesetz« (2015).
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Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covermotiv: Sarah Schumann
Covergestaltung: Schiller Design, Frankfurt
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ISBN 978-3-10-490653-9
Meinen ungewöhnlich duldsamen Eltern.
Ein verspäteter Dank.
»Die Lüge hat sich wahr gelogen.«
Günther Anders
Und dann kamen sie zurück.
Und dann vermehrten sie sich.
Und dann lebten sie das ihnen gemäße Leben.
Und dann schien Frieden.
Und dann war Krieg.
Sagte der Greis: … und alsbald machten sich unsere Vorväter eilends auf und suchten ihr Heil in allen Teilen der Welt. Sie liefen und liefen und liefen.
Durch die Wälder, durch die Sümpfe, durch die Stürme, durch die Zeiten.
Sagte der Junge: … und warum wollten diese Monster uns ausrotten damals?
Sagte die gute Tante: Sie hatten die Ängste und bösen Träume mit uns bestückt und sich allerlei schaurige Mären erdacht. Die haben sie von Generation zu Generation weitergesponnen. Ein riesengroßes Lügengespinst … Aber das verstehst du noch nicht.
Sagte der Greis: Böse, böse, sehr böse.
Agnes Lupinski verstand sich nicht mehr.
Warum nur war sie so ruhelos? Warum war sie so verstört? Warum strich sie ziellos durch die Räume? Was trieb sie an?
Was trieb sie um?
Was trieb sie hin?
Was trieb sie her?
Was, um Himmels willen, trieb sie?
Verdammt nochmal, was war denn das mit ihr?
War es die SMS?
»Komme Dienstag. Gruß, Ulli«
Mehr nicht.
Eine Mitteilung. Sehr knapp. Harmlos.
Eine abwinkende Handbewegung.
Kein Grund zur Beunruhigung.
Ein fahriger Griff zum Kopf.
Kopfschmerzen. Den ganzen Morgen schon.
Wenn da wenigstens stünde, ob auch Max …
Agnes schmiss sich auf den Küchenstuhl. Sie lehnte sich zurück, rutschte vor mit dem Gesäß fast bis zur Stuhlkante, streckte die Beine aus, weit gespreizt, und ließ die Arme beidseitig herunterhängen.
Ihr war bewusst, dass sie in diesem Moment nicht sonderlich vorteilhaft aussah.
Unwichtig. Es war ja niemand anwesend. Und dennoch, sie wusste sich deutlich in einem – auch für sie selbst – befremdlichen Zustand.
Die Haare müsste sie waschen. Das hatte sie sich gestern schon vorgenommen. Die Fingernägel?
Sie spreizte die Finger der rechten Hand und hielt sie sich vor die Augen.
Die Nägel – zu lang, der Lack – schadhaft.
Sie schloss die Augen.
Kopfschmerzen.
Ein merkwürdiger Tag. Nicht dramatisch, niemand war gestorben, niemand hatte eine fürchterliche Diagnose hören müssen, niemand hatte einen Unfall.
Kopfschmerzen.
Ob sie noch eine Tablette nehmen sollte? Das wäre dann die dritte heute schon. Wohin hatte sie die Schachtel gelegt? Sie mochte nicht aufstehen und suchen.
Aber merkwürdig war er doch, dieser Tag. Ein Verschleißtag. Ein beschissener, verschlissener Tag.
Es begann mit der elektrischen Zahnbürste, die schon am Morgen unter rasselndem Protest den Geist aufgab. Dann, als sie eine E-Mail an Ulli schrieb, stürzte der Computer ab, und er war auch nach etlichen Neustartbemühungen nicht zu weiterer Arbeit zu bewegen. Mehr wusste sie nicht zu tun in diesem digitalen Problemfall. Sie würde um Hilfe bitten müssen. Ulli oder Frederic.
Etwas später streikte die Spülmaschine, dann gab der Kühlschrank seinen Geist auf, und als schließlich auch der Staubsauger nicht funktionierte, war sie bereit gewesen, an einen Fluch zu glauben.
Aber das war natürlich Unsinn. Da gab es eine plausible Erklärung. Die Gerätschaften hatten ihr vorbestimmtes Alter erreicht. Acht – sie überlegte – nein sogar neun Jahre waren ins Land gegangen, seit sie ihr altes Mobiliar hier platziert hatte. Nur die Geräte hatte sie teils ersetzt, teils erstmalig angeschafft.
Ja, klar, deren Ableben war Programm. Sollbruchstellen. Das hatte ihr mal jemand erklärt. Eingebaute Schwächen, die garantieren, dass das Elektroding nach einer gewollten Frist irreparabel verreckt.
Sollbruchstellen. Ob es die auch im menschlichen Sein gab …? Eine künstlich verknappte Lebenszeit …? Wer könnte dieses Sollen wollen? Sie war nicht gläubig. Sie schüttelte den Kopf. Unsinn!
Sie schüttelte nochmals den Kopf.
Aber sie spürte – wie könnte sie sich das verdeutlichen? – so etwas wie einen feinen Riss im Gebäude ihrer Alltäglichkeit. Eine diskrete Störmeldung, diskret zwar, aber doch unabweisbar. Eine leise bohrende Beunruhigung, die sich an ihren Nervenbahnen voranarbeitete.
Kopfschmerzen.
Sie fühlte sich gedrängt, kleine Klagelaute abzugeben –, aber das würde sie nicht tun.
Nein, das würde sie nicht tun.
Selbstverständlich nicht.
Lächerlich.
Ein Anruf unterbrach ihre Empfindungen. Besser: den schlappen Versuch einer Bezähmung ihrer Empfindungen.
Sie fand das Mobiltelefon nicht sofort.
Nervöse Kopfdrehungen. Schließlich entdeckte sie es. Sie hatte, nachdem die SMS heute Morgen eingetroffen war, achtlos ein Küchenhandtuch darübergeworfen.
Sie drückte hektisch auf die Taste für die Annahme …
Da war niemand mehr …
Sie war müde. Sie hatte keine Lust, dem entgangenen Anruf nachzuforschen.
Zu müde.
Sie ließ sich wieder auf den Stuhl fallen.
Wahrscheinlich Frederic …
Sagte der Junge: Aber sag doch mal – warum ausgerechnet uns?
Sagte die gute Tante: Ach, das ist ein ewiges Übel. Hör auf mit der Fragerei. Das macht nur schlechte Träume. Es ist Zeit. Du musst jetzt schlafen.
Sagte der Junge: Ich wäre gerne ein Stern.
Sagte der Greis: – nichts.
Sie saß noch immer auf dem Küchenstuhl.
Sie müsste aufräumen. Das schmutzige Geschirr stapelte sich im Spülbecken. Die Arbeitsplatte machte auch keinen hygienischen Eindruck.
So ging das nicht weiter mit ihr.
So kannte sie sich nicht.
So war sie nicht.
So wollte sie nicht sein.
Sie ließ den Blick über die Küche schweifen. Auch die Einrichtung machte jetzt auf sie einen unschönen, ja geradezu lieblosen Eindruck.
War lieblos das richtige Wort?
Nein, Frederic hatte recht. Ihre Küche wirkte nicht nur lieblos, sondern heruntergekommen. So hatte er es ausgedrückt. Heruntergekommen? War das übertrieben? Mit ein bisschen Farbe …
Aber sie wusste, ein bisschen Farbe würde nicht genügen.
Ja, Frederic hatte recht.
Noch am Vormittag war er aufgetaucht, wie üblich gehüllt in affige Klamotten und in diese aufgesetzte Munterkeit, die ihr heute besonders auf die Nerven gegangen war. Dann hatte er sie zu einer Ausstellung hochmoderner Küchen verschleppt und einem öligen Verkäufer überantwortet, der sie durch seine Küchenwunderwelt leitete.
Sagte der Junge: Aber warum wollten sie gerade uns ausrotten? Warum nicht alle Katzen oder irgendwelche Pflanzen oder Mond und Sonne?
Sagte die gute Tante: Mond und Sonne kann man nicht ausrotten.
Sagte der Greis: Wer weiß?
Küchen? Sahen die Küchen jetzt so aus? So stellte sie sich einen Weltraumoperationssaal vor oder ein Geheimlaboratorium für verdunkelte Forschungen mit dem Ziel einer Optimierung der Menschengattung.
Eine eindringliche Farblosigkeit. Bis auf ein leises Grau und ein gebrochenes Weiß, hin und wieder, als Hervorhebung ein Anthrazit. Matter Chrom. Glatte Wände, in denen Aufbewahrungsgelasse vermutet werden durften, darin verborgen, auch das war zu vermuten, allerlei technische Gerätschaften tief versenkt und den Blicken entzogen. Alles zeugte von einer fanatischen Zurückhaltung der Funktionen, alles war übertrieben dezent, als schämten sich die smarten Apparate ihrer Brauchbarkeit.
Hier und da ein formbewusster Roboterarm.
Große Arbeitsflächen aus matt schimmernden undefinierbaren, aber zweifellos teuren Materialien.
Sie war staunend durch große hallende Räume gegangen.
Ein Gefühl der Öde. Sie fröstelte.
Bis sie plötzlich vor eine tiefschwarze Wand kam.
An der hingen magnetisch gehalten Messer.
Messer!
Messer in allen Formen.
Große und kleine Messer. Gestaffelt von riesig zu winzig.
Messerklingen. Blitzend, scharf und blank und frei meldeten sie ihre unschöne Funktion:
Schneiden. Stechen. Töten.
Zugleich – dem ekelerregend unterlegt – die weiche Stimme des Lackaffen, eine scheinkultivierte Verkaufsförderungssuada.
Angst!
Jetzt war Angst bei Agnes. Ein Überfall lähmender Angst.
Und:
Mit einem Schlag wähnte sie sich um Jahrzehnte zurückversetzt in eine Widerfahrung ihrer Kindheit. Das Reh.
Das Reh auf der Lichtung.
Wundersam beleuchtet von einem Sonnenstahl, der jäh zwischen dräuenden Wolken hervorgebrochen war.
Das Reh in einem Lichtkranz. Eine Märchenbotschaft einzig für sie geschaffen.
Sie war der Erscheinung in den verbotenen Wald gefolgt, als das Gewitter, das sich grollend angekündigt hatte, den Himmel verfinsterte.
Peitschende Zweige, krachender Donner, Blitze, die sie inmitten des Waldes Dunkel zwar nicht deutlich sehen konnte, wohl aber deren grellen Widerschein, wie er durch die Zweige zuckte. Sie lief und lief und lief. Immer weiter war sie tief hinein in den düsteren Wald geraten.
Das Reh war verschwunden.
Stattdessen ragte eine riesige schwarzverhüllte Gestalt vor ihr auf. Schlagartig.
Mächtig. Grausig.
Der Wald rings um sie begann zu flimmern.
Sie hatte geschrien und die Hände vor die Augen geschlagen.
Als sie nach unendlicher Zeit wieder einen Blick gewagt hatte, war sie allein.
Ganz allein.
Mutterseelenallein.
Sie löste den Blick von der schwarzen Messerwand.
Sie löste die Verbindung zu den lange vergangenen Tagen.
Sie löste sich aus der Kralle der Kinderangst.
Sie rief sich zur Ordnung.
Wie so oft an diesem Tag.
Was hatte diese Messerwand mit ihren Kindheitsängsten zu tun?
Nichts!
Rätselhaft.
Sie hätte sich gerne geschüttelt, wie die Hunde, wenn sie aus dem Wasser kommen.
Sie musste, als sie weiter hinter dem Verkäufer, der ihren Angstanfall nicht bemerkt hatte, durch die Küchenräume stolperte, an einen Ausspruch von Max denken.
Was hatte Max früher oft gesagt?
»Das geht mir am Arsch vorbei!«
Genau das war es, was sie jetzt abwehrend empfand. Oder besser: empfinden wollte: Diese Küchenlandschaft mitsamt der Messerwand geht mir am Arsch vorbei.
Sie lachte humorfrei in sich hinein.
Und sogleich wusste sie, warum ihr diese Wortwahl, die nicht in ihrer Vokabelwelt heimisch war, in den Sinn gekommen war. Es war die Sprache eines trotzigen Kindes, das sich seiner Not bewusst in stolzer Aufbäumung zu einem in den Ohren der Erwachsenen nicht so recht geduldeten Ausdruck fand.
Ein Mut-Willen.
Diese Wand geht mir am Arsch vorbei. So ein geschwärzter Wald – wie bedrohlich er einst auch wirkte – schien ihr rückblickend fast als ein Hort der Geborgenheit.
Vergleichbar war nur die Angst.
Und dann: so ein beleuchtetes Reh, das konnte man ja gar nicht ernst nehmen und schon gar nicht erzählen, da stünde man sofort unter Kitschverdacht.
Die dunkel verhüllte Gestalt?
Noch immer sprach der Gelackte auf sie ein. Da er sie zu Recht für eine Netzidiotin hielt, malte er ihr eine Tischlein-deck-dich-Idylle aus, schilderte wortreich eine Küchenzukunft der digitalen Dienstbarkeit.
Aber da hatte er sich ein wenig getäuscht, der Lackaffe. Hatte sie doch erst kürzlich eine Reportage gesehen über smarte Häuser, über die automatisierte Haushaltsführung der Zukunft, über den Segen, den all die intelligenten Maschinen über die kommende Wohnwelt bringen würden, eine vernetzte Cyberflotte, die bereitstand für den Nachweis ihrer hausfraulichen Überflüssigkeit.
Was wäre die Folge eines Stromausfalls? Das Haus würde vollständig ins Dunkel sinken, in die Unbrauchbarkeit aufs Ganze.
Was hatte Tante Alma neulich düster orakelt?
In der Regel ergriff sie sofort die Flucht, wenn Tante Alma zu einer ihrer furchterregenden Tiraden ansetzte, aber diese Drohworte waren offensichtlich zu ihr durchgedrungen.
Dass es sie schon bald vermehrt geben würde, die digitalen Kriegsschäden, hatte sie behauptet, und dass jede milde Regung zerrieben werde im Terrorverbund von Barbarei und Spitzentechnik. Da bliebe kein Raum mehr für das Erbarmen und die Schönheit und die Wohltat und die Wahrheit … Tante Alma hatte noch Weiteres aufgefahren, das da angeblich verlorengehe.
Musste man das glauben? Oder kam es nur aus dem Groll einer alten Frau, die spürt, dass sie den Neuerungen nicht mehr gewachsen ist?
Vielleicht, so dachte sie jetzt im Rückblick auf ihr Küchenabenteuer, ist doch etwas dran. Sie sollte mal darüber nachdenken.
Aber nicht jetzt.
Kopfschmerzen.
Sagte die gute Tante: Hör zu. Es geht wieder los. Du musst aufpassen. Es wurden wieder welche gesehen. Halte dich verborgen. Sobald du einen witterst, verschwindest du geräuschlos.
Geh nicht zu der Lichtung. Bleib bei den Erwachsenen. Sie dürfen uns nicht finden.
Sagte der Greis: Hab acht, hab acht, hab acht!
Agnes Lupinski saß noch immer auf dem Küchenstuhl. Oder besser: wieder. Denn kurz zuvor war sie aufgestanden und hatte sich eine Zigarette geholt. Die fast vergessene Sucht hatte sie wieder erreicht. Ein Freund hatte neulich eine halbleere Packung bei ihr vergessen. Auf dem Balkon. Der war freiwillig dorthin ausgewichen. Fast automatisch. Sie hatte ihn nicht darum gebeten. Möglicherweise schmeckten ihm die Zigaretten nur noch in der Exilkühle.
Sie setzte sich wieder.
Sie zündete sich die Zigarette an. Der Ausflug in das Küchenglück hatte Nerven gekostet. Anders konnte sie sich diesen Rückfall nicht erklären.
Ein tiefer Zug.
Die erste Zigarette seit vier Jahren. Jetzt war ihr schwindlig. Jetzt war sie beunruhigt. Jetzt war sie beunruhigt, hatte Kopfschmerzen, und ihr schwindelte. Außerdem war sie müde. Nervös und müde gleichermaßen. Seltsam. Sie drückte die Zigarette auf einer Untertasse aus. War das schon das erste Symptom einer einsetzenden Verwahrlosung? Sie rief sich zur Ordnung. Oder besser: Sie versuchte, sich zur Ordnung zu rufen.
Aber der Ruf drang nicht zu ihr durch.
Frederic kam ihr in den Sinn. Sie hatte ihn beschimpft. Gefaucht hatte sie. Was ihm denn eingefallen sei, wie er überhaupt darauf hatte kommen können, sie in eine so absurde Ausstellung zu schleppen.
Das tat ihr leid. Er hatte es gut gemeint. Sie würde sich entschuldigen müssen.
Nicht nur für die heutige Beschimpfung. Schon in den letzten Wochen war sie nicht sehr freundlich gewesen. Richtig attackiert hatte sie ihn einige Male. Zu geringfügigen Anlässen. Schäbig hatte sie sich verhalten. Hysterisch.
Das hatte ihn irritiert. Was denn in sie gefahren sei. So launisch kenne er sie nicht, hatte er ratlos gesagt. Das Wort hysterisch hatte er sich nicht erlaubt.
Die schlechte Behandlung, die sie ihm, trotz seiner unerschütterlichen Freundlichkeit, zumutete, kam, das wusste sie, aus einer Abwehr. Sie hatte gespürt, dass er sich an schwerwiegende Fragen heranpirschte. Fragen, die vielleicht nicht geradewegs in einem Heiratsantrag münden würden, aber doch auf eine engere Bindung zielten. In letzter Zeit war er übertrieben fürsorglich gewesen. Auch in pekuniärer Hinsicht. Seit die Buchhandlung, in der sie zwölf Jahre Geschäftsführerin gewesen war, Pleite gemacht hatte.
Auch die Superküche wollte er finanzieren, um ihr eine Freude zu machen.
Sie fasste mit den Fingerspitzen an die Schläfen.
Sie sollte mal sortieren.
Wollte sie ihn heiraten?
Eher nicht.
Wollte sie ihn vergraulen?
Eher nicht.
Wollte sie auf den Sex mit ihm verzichten?
Nein.
Wollte sie mit ihm in seinem gnadenlos durchgestylten Penthouse wohnen?
Keinesfalls.
Konnte sie sich vorstellen, dass er hier mit ihr in Tante Almas Häuschen leben würde?
Nein.
Agnes Lupinski war ohne Rat.
Sagte die gute Tante: Das musst du wissen: Alleine bist du verloren.
Das musst du lernen: Es gibt eine Teilung der Arbeit, der Beschaffung, der Fürsorge.
Die musst du ehren: die, die mit dir sind.
Sagte der Greis: So sei es. So sei es.
Agnes saß noch immer auf dem Küchenstuhl.
Plötzlich kam Leben in sie.
Mist, sie hatte Tante Alma vergessen, total vergessen.
Das war ihr noch nie passiert.
Die Einkäufe, die sie pflichtgemäß für Tante Alma getätigt hatte, warteten darauf, oben im 1. Stock abgeliefert zu werden. Sie lagen dort, wo sie achtlos neben der Eingangstür abgestellt worden waren.
Das Ritual verlangte, dass sie Tante Alma, die niemandem ohne Vorwarnung die Türe öffnete, kurz anrief, bevor sie die Einkaufstüten bei ihr abgab. Agnes Lupinski fand das zwar etwas absurd – wie vieles, was mit ihrer Tante zusammenhing –, aber sie beugte sich dem, ohne zu murren. Schließlich verdankte sie Tante Alma, dass sie hier fast mietfrei wohnen konnte.
Sie musste lachen, als sie sich vorstellte, wie sich so eine hypermoderne Küche in diesem Häuschen ausmachen würde.
Sie blickte zur Küchendecke und lauschte. Es war nichts zu hören.
Ja klar. Heute war kein Rumpeltag. Heute war ein Mäuschentag.
Diese etwas alberne Einteilung stammte von ihrem kleinen Neffen Max, den sie oft und gern beherbergte, wenn ihr alleinerziehender Bruder mal wieder keine Zeit für ihn hatte. Die Einteilung in Rumpeltage und Mäuschentage, in Tage, an denen man ständig von einem massiven Getrampel aufgeschreckt wurde, und in Tage, an denen kein Laut – oder wie Max sagen würde: kein Mucks – aus der darüberliegenden Wohnung zu hören war. Auch seine Marotte, immer wenn er Verwandte erwähnte, den jeweiligen familiären Status beizugeben, hatte sie liebevoll übernommen.
Tante Alma hatte auf ihre alten Tage sonderbare Angewohnheiten ausgebildet. An den Tagen, an denen sie hauptsächlich las, war es ruhig. Wenn sie aber schrieb, stand sie nach jedem dritten Satz auf und trampelte durch ihr Zimmer. Offensichtlich konnte sie nur im Takt strammer Gehschritte nachdenken. Dann knallten Tante Almas Blockabsätze hart auf das Parkett.
Sie hatte schon daran gedacht, ihr ein paar Pantoffeln zu schenken. Aber sie wusste, dass das keine gute Idee war.