Sara Barnard
Vielleicht passiert ein Wunder
Aus dem Englischen
von Ilse Layer
FISCHER E-Books
Sara Barnard, geboren 1987, liebt Bücher und alles, was damit zu tun hat. Sie hat schon geschrieben, bevor sie groß genug war, um den Familiencomputer selbst anzuschalten. Heute schreibt sie am liebsten beim Zugfahren. So kann sie gleichzeitig ihr Ziel erreichen, jedes Land in Europa zu bereisen. Sara Barnard lebt in Brighton, England.
Ilse Layer arbeitete nach ihrem Studium zunächst im Kulturbereich und in einem Verlag, bevor sie sich als Literaturübersetzerin für Spanisch und Englisch selbständig machte. Sie lebt in Berlin. Für ihre Übersetzungen hat sie diverse Auszeichnungen und Preise erhalten, darunter den Deutschen Jugendliteraturpreis.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden sich auf www.fischerverlage.de
Steffi spricht nicht.
Rhys kann nicht hören.
Doch die beiden verstehen einander auch ohne Worte.
Steffi ist so lange still gewesen, dass sie das Gefühl hat, unsichtbar zu sein. Doch dann kommt Rhys an ihre Schule. Er ist gehörlos und schert sich nicht darum, ob jemand redet oder nicht. Steffi und Rhys finden eine ganz besondere Art, miteinander zu kommunizieren. Schnell brauchen sie nicht mehr als einen Blick, um zu wissen, was der jeweils andere gerade fühlt. Durch Rhys lernt Steffi, dass ihre Stimme etwas wert ist, dass sie gehört werden will, Rhys gibt ihr den Mut, wieder zu sprechen. Und dann passiert … ein Wunder.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die englische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel ›A Quiet Kind Of Thunder‹
bei Macmillan Children's Books, London
Copyright © Sara Barnard 2017
Originalverlag: Macmillan Children's Books
Originaltitel: ›A Quiet Kind Of Thunder‹
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Frauke Schneider, Wittighausen
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-0268-0
Für die Stillen
Millie Gerdavey hat mal wieder ihren Freund betrogen.
Aber das ist okay. Braucht ja keiner zu wissen, oder? Und nein, sie wird es Jack nicht sagen (»Natürlich nicht!«), und sie will nicht mit Leo zusammen sein (»Mit dem Blödmann?«). Es war eine einmalige Sache. Mal wieder.
Stellt euch die Szene vor, in der ich das erfahren habe. Millie hat sich neben mich auf die Bank gequetscht, ein zerknülltes Papiertaschentuch in der Faust, das von Tränen und Schnodder vielleicht schon ganz durchgeweicht war. Sie schluchzt und flüstert die ganze Zeit.
»Ich bin so froh, dass ich mit dir reden kann«, sagt sie.
Nette Szene, oder? Zwei Freundinnen, die sich am ersten Schultag einander anvertrauen. Irgendwie ganz normal. Was könnte normaler sein als zwei Mädchen, die die Köpfe zusammenstecken und sich Geheimnisse zuflüstern, wobei die eine weint und die andere sie beruhigt? Nichts.
Aber … seht ihr das andere Mädchen auf der Bank? Das schmächtige Ding, das den Kopf einzieht? Dem die Haare ins Gesicht hängen, im Schoß ein Buch, das sie gar nicht liest?
Ja, das bin ich. Die beiden Mädchen haben nichts mit mir zu tun, und sie führen diese streng geheime Unterhaltung direkt neben mir, als wäre ich komplett unsichtbar.
Irgendwann wirft mir das zweite Mädchen, das Jez heißt, einen Blick zu, dann sagt sie zu Millie: »Ähm, meinst du, sie hat was gehört?«
»Ach die.« Millie wirft sich abschätzig die Haare aus dem Gesicht. »Das ist okay. Sie wird nichts sagen.«
»Woher weißt du das?«, fragt Jez ein bisschen nervös.
»Pass mal auf«, erwidert Millie, und mein Herz setzt aus. Ich packe mein Buch ein bisschen fester. »Hey! Hey, Steffi!«
Geh weg. Geh weg geh weg geh weg.
»Steffiiiiii.« Millies Stimme ist zu einem Singsang geworden. »Steffi Bro-o-o-ns!« Sie zieht meinen Nachnamen in die Länge, bis er irgendwie vier Silben hat. »Siehst du?« Plötzlich ist ihre Stimme wieder normal. »Sie ist so stumm wie eine Statue.«
Zumindest habe ich meinen Freund nicht betrogen, würde ich sagen, wenn ich könnte. Aber wahrscheinlich ist es gut, dass das in dem Moment nicht geht, denn es wäre eine ziemlich blöde Retourkutsche. Um meinen Freund zu betrügen, müsste ich erst mal einen haben. Ich habe aber überhaupt keinen.
»Sie könnte es ins Internet stellen«, spekuliert Jez.
Millie beugt sich plötzlich vor, bis ihr Kopf dicht vor meinem ist. »Brons, du stellst doch nichts von dem hier ins Internet?«
Ich sehe mich plötzlich an meinem Laptop sitzen und einen Tweet in den Äther schicken: »MILLIE GERDAVEY HAT JACK COLE BETROGEN #mal wieder #LOL«, und muss darüber wie gestört lachen.
»Brons.« Als Millie mich anstupst, erschrecke ich. »Hallo!« Ich kann den Hohn in ihrer Stimme hören. »Warum bist du so komisch? Ich bin’s, Millie. Ähm, ich kenne dich, seit wir fünf sind.« Das stimmt, sie kennt mich, seit ich fünf bin, aber wenn sie mich wirklich kennen würde, wäre sie nicht so aufdringlich. »Weißt du noch? Du hast in mein Planschbecken gepinkelt.«
Jetzt reicht’s. Mein Kopf schnellt hoch, und ich funkle sie wütend an. Doch bevor mir die Worte aus dem Mund sprudeln können, haben sie sich schon wieder aufgelöst.
Millie grinst mich an. »Na bitte! Ich weiß, dass du nichts sagen wirst.« Sie zwinkert mir zu, und ich möchte ihr am liebsten eine kleben. Aber sie hat den Kopf schon wieder zu Jez gedreht. »Steffi ist doch meine Freundin.« Im Aufstehen boxt sie mich pseudofreundlich in die Schulter. »Bis nachher, Freundin.«
Als sie weg sind, genieße ich es, endlich allein zu sein, und genehmige mir ein ganz leises Murmeln: »Du hast in mein Planschbecken gepinkelt, Millie.«
Da fühle ich mich gleich ein bisschen besser.
Ich bin im Gemeinschaftsbereich von der Oberstufe, weil Mr Stafford, mein neuer Jahrgangsleiter, vor der Begrüßungsveranstaltung mit mir sprechen will. Wahrscheinlich erwarten mich wieder die üblichen aufbauenden oder einleitenden Worte, die ich schon seit fünf Jahren in Windham über mich ergehen lassen muss. Keine Ahnung, wer sich danach besser fühlen soll: ich oder die Lehrer?
Ein paar Minuten, nachdem Millie und Jez gegangen sind, öffnet sich die Tür zu Mr Staffords Büro, und er kommt herausgeschritten, strahlt schon. Das Schreiten & Strahlen übt er bestimmt zu Hause vor dem Spiegel.
»Stefanie!«, sagt er, und seine Hand schießt in meine Richtung. Eine Schrecksekunde lang denke ich, er will mich kumpelhaft von der Bank hochziehen, aber er will mir nur die Hand schütteln. Zum Glück. Beruhige dich, Steffi.
Das versuche ich und erwidere sein Lächeln. Ich will sagen: »Guten Morgen, Mr Stafford«, aber mitten in »Morgen« ersterben mir die Worte im Mund, als ich nämlich merke, dass Mr Stafford nicht allein ist. Verdammt. Ich war so stolz, dass ich vor einem Lehrer richtige Worte aussprechen konnte, und dachte schon, das wäre ein gutes Zeichen für dieses Jahr, das erste Jahr der Oberstufe, das Jahr, in dem ich zeigen soll, dass ich so grundlegende Dinge hinbekomme, wie vor Lehrern zu reden. Ich will später an die Uni gehen, und das wird nie klappen, wenn ich nicht mal in der Schule reden kann, sagen jedenfalls meine Eltern.
Mr Stafford strahlt immer noch. »Stefanie, das hier ist Rhys.« Er deutet auf den Jungen neben sich, der mich anlächelt.
Was soll das bitte schön werden? Spannen sie jetzt schon Fremde ein, um sich darüber lustig zu machen, dass ich kein Wort herausbringe? Irgendwo in meinem Bauch meldet sich eine panische Angst, die mir vertraut ist. Meine Wangen fangen an zu brennen.
Ich starre Mr Stafford an, wobei ich weiß, dass mein Gesichtsausdruck irgendwo zwischen getretenem Welpen und Bambi schwankt.
»Oh«, sagt er hastig. »Oh, schon okay. Rhys ist taub.«
Meine Augenbrauen schießen nach oben.
»Oh!«, sagt er wieder und sieht betreten aus. »Ich meinte nicht … ich meinte, es ist okay, wenn du nichts … ich meinte nicht, dass es okay ist, Schwierigkeiten zu … wobei es natürlich völlig in Ordnung ist, wenn man …«
Rhys, der ein Stück links von Mr Stafford steht, wartet geduldig. Er sieht mich immer noch an, aber sein Lächeln ist ein bisschen matter, und er wirkt leicht verwirrt. Wer ist dieses dusselige Mädchen?, denkt er bestimmt.
»Du meine Güte«, murmelt Mr Stafford. »Das Schuljahr fängt ja gut an. Ich versuch’s noch mal. Rhys …« Er klopft Rhys auf die Schulter, dann deutet er auf mich. Dabei dreht er den Kopf, so dass er Rhys direkt ins Gesicht sieht. »Das hier ist Stefanie«, sagt er laut. »STEF-AN-IIIE.«
Um Gottes Willen.
Rhys verzieht die Lippen zu einem warmen, leicht amüsierten Grinsen. Er sieht mich an, dann hebt er die Hand und winkt. Hallo.
Ich winke automatisch zurück. Hallo. Ich überlasse meine Hände den vertrauten Bewegungen. Ich bin Steffi.
Schön, dich kennenzulernen. Rhys tippt sich mit zwei Fingern an die rechte Wange. Taub?
Ich schüttle den Kopf, tippe mir dann mit einem Finger an die Wange. Ich kann hören. Ich zögere, überlege, wie ich mich verständlich machen kann. Ich könnte »selektiver Mutismus« mit dem Fingeralphabet buchstabieren, aber er weiß wahrscheinlich nicht, was das bedeutet, und es trifft auch gar nicht mehr ganz zu. Ich kann nicht …, fange ich an und will sagen, dass ich nicht sprechen kann, aber das trifft auch nicht zu, denn grundsätzlich kann ich ja sprechen. O Gott, Rhys und Mr Stafford starren mich beide an. Mein Gesicht glüht. Schließlich sage ich in Gebärdensprache ein bisschen lahm: Ich spreche nicht. Was die schlechteste Antwort aller Zeiten ist.
Aber Rhys lächelt, sieht mich ein wenig fragend an, dann nickt er, und ich bin so froh, dass ich zurücklächle.
»Wunderbar.« Mr Stafford sieht aus, als wolle er vor Erleichterung in Ohnmacht fallen. »Wunderbar. Steffi, Rhys hat heute seinen ersten Tag bei uns. Ich dachte, es wäre eine gute Idee, euch beide zusammenzubringen. Wir haben hier niemanden in der Oberstufe, der die Gebärdensprache beherrscht. Nicht dass Rhys das bräuchte – er kann perfekt von den Lippen ablesen, wurde mir gesagt –, aber ist doch schön für ihn, jemanden zu kennen, der die Gebärdensprache beherrscht. Dann lebt er sich schneller ein.«
Oh, er sieht so zufrieden mit sich aus, dass ich ihn am liebsten knuddeln und gleichzeitig ohrfeigen möchte. Ich möchte ihm sagen, dass ich nur die grundlegenden Sachen kann, aber jetzt hat mich die Sprache komplett verlassen, deshalb lecke ich mir nur nervös die Lippen und nicke dabei. Mein Vorsatz, dieses Jahr in der Schule zu sprechen, läuft eher schleppend an.
»Vermutlich werde ich auch ein wenig Gebärdensprache lernen müssen, hab ich recht, Mr Gold?« Mr Stafford wendet Rhys den Kopf erst gegen Ende des Satzes zu, ohne zu merken, dass Rhys alles verpasst hat, was er vorher gesagt hat.
Aber Rhys nickt trotzdem fröhlich, und plötzlich mag ich ihn. Er muss in Ordnung sein, wenn er Mr Stafford dieses wohlmeinende Theater spielen lässt, ohne ihn in Verlegenheit zu bringen. Schade, dass ich nicht so bin, ich bringe immer alle in Verlegenheit. Die Leute wissen einfach nicht, was sie mit jemandem anfangen sollen, der kein Wort sagt.
Ich bin neugierig auf diesen neuen Jungen, und mein Kopf schwirrt vor Fragen. Was bringt dich nach Windham? Welche Kurse hast du belegt? Magst du lieber weiße Weintrauben oder rote? Wenn du dich entscheiden müsstest, hättest du dann lieber Haare, die nicht wachsen, oder einen Bart, den du nicht rasieren kannst? Was ist deine Lieblingsgebärde? Aber beim Gedanken, die Worte laut auszusprechen, krampft sich mein Magen zusammen, und meine Kenntnisse der Gebärdensprache waren schon immer bestenfalls rudimentär. Offenbar kann ich mich Rhys gegenüber gleich in zwei Sprachen blamieren.
Also lächle ich weiterhin nur nervös und warte darauf, dass Mr Stafford das unvermeidliche Schweigen ausfüllt. Das tut er zum Glück auch. »Dann ab mit euch zur Versammlung, alle beide. Steffi, was ist das Zeichen für Versammlung?«
Ich will gerade brav die Gebärde machen, als aus dem Nichts ein Fünkchen Unsinn in meinem Kopf aufblitzt. Todernst wende ich mich Rhys zu und sage in der Zeichensprache: Willkommen in der Donnerkuppel. Rhys’ ganzes Gesicht leuchtet überrascht auf. O ja, seltsamer neuer Junge. Das stumme Mädchen ist WITZIG. Wer hätte das gedacht?
»Ausgezeichnet, ausgezeichnet«, sagt Mr Stafford ahnungslos. »Dann gehen wir mal.« Strahlend schreitet er durch den Flur voraus, und ich folge ihm, vielleicht ein bisschen zögernd, Rhys neben mir. Den ganzen Weg vom Oberstufentrakt zur Aula legen wir schweigend zurück, aber das liegt endlich einmal nicht an mir, der stummen, peinlichen Steffi. Dieses Schweigen ist entspannt. Ungezwungen. Es fühlt sich gut an.
Die Aula ist voller Elft- und Zwölftklässler. Sie lümmeln auf dem Boden und den Sitzen herum, reden laut und mühelos, so natürlich, wie sie atmen. Wissen die, was für ein Glück sie haben?, frage ich mich unwillkürlich. Wissen die das eigentlich? Natürlich nicht. Jemand mit Mukoviszidose denkt wahrscheinlich dasselbe über mich. Offenbar ist es bei Menschen nun mal so, dass sie das Normale als selbstverständlich ansehen.
»Leute, Leute«, mahnt Mr Stafford gutgelaunt. »Das hier ist nicht euer Wohnzimmer.«
Niemand rührt sich.
»Setzt euch auf die Stühle!«, befiehlt Mr Stafford schärfer und mit hörbarem Missmut in der Stimme. »Dazu sind sie schließlich da.«
Er geht durch die ganzen Sitzreihen nach vorn und gibt Rhys ein Zeichen, ihm zu folgen. Ich stehe eine Sekunde unschlüssig da, dann lasse ich mich auf einen freien Stuhl gleiten und rutsche ein bisschen nach unten.
»Also, nachdem ihr alle einen Platz gefunden habt«, sagt Mr Stafford spitz, »wollen wir das neue Jahr beginnen. Willkommen zurück, Zwölftklässler. Und alle anderen: Willkommen in der Oberstufe. Die meisten von euch haben natürlich die Sekundarstufe in Windham absolviert, aber es gibt ein paar neue Gesichter, die erst jetzt mit an Bord kommen.«
Plötzlich durchfährt mich ein so scharfes Stechen, dass ich fast keuche. Teils Panik, teils Einsamkeit. Zum allerersten Mal sitze ich am ersten Schultag ohne meine beste Freundin in der Aula. Ich ziehe vorsichtig mein Telefon aus der Tasche und spähe auf den Bildschirm.
»Kommt nach vorn, wenn ihr eines dieser neuen Gesichter seid«, sagt Mr Stafford.
Tem:
Wie geht’s?!
Ich vermisse fast die schmuddeligen Klassenzimmer ;) xxxxx
Da muss ich unweigerlich grinsen. Okay, Tem ist also nicht hier bei mir. Das wird schwer. Aber wir sind weiterhin verbunden.
Steffi:
Mies. Du fehlst mir.
KOMM ZURÜCK!!!! xxxx
»Zwölf neue Schüler!«
Ich blicke hoch und mustere die lässig dastehenden, pseudo-desinteressierten Teenager, die jetzt neben Mr Stafford stehen. Bei den Mädchen ist keine dabei, die aussieht, als könnte sie Tem ersetzen. Das liegt daran, dass es auf der ganzen Welt keine zweite Tem gibt.
Tem:
DU BRAUCHST ES NUR ZU SAGEN, Brons!
Los. SPUCK’S AUS. xxx
Ich mustere die ganze Reihe, bis meine Augen an der einen Person hängen bleiben, die mich ansieht. Rhys. Als sich unsere Blicke treffen, grinst er, dann macht er in einer plötzlichen Bewegung das Zeichen für Hilf mir. Für alle anderen sieht es aus, als hätte er bloß kurz die Hand gehoben. Ich kann nicht anders, ich grinse zurück.
Steffi:
MACH KEINE STUMMENWITZE AN MEINEM ERSTEN SCHULTAG OHNE DICH! Du MONSTER! xxxx
Du bist phantastisch. Deine Stimme ist wie ein Fluss, der an einem warmen Frühlingstag dahin-strömt. Niemand auf der Welt ist duer als du. Etc. SPRICH DEINE WAHRHEIT AUS, SELBST WENN DEINE STIMME ZITTERT!!!
Ach doch nicht. Deine Stimme ist so wunderschön, dass ich sie für mich behalten will. RED NICHT, Steffi. Das ist ein Befehl.
Übers Telefon gebeugt lächle ich dem Bildschirm zu, als würde Tem mir direkt daraus entgegensehen, da verspüre ich ein Kribbeln. Ich hebe langsam den Kopf, es läuft mir vorsorglich schon jetzt kalt den Rücken hinunter, und alle starren mich an. Oberhorror … alle.
Panische Angst schießt in mir hoch, jagt mir Stromstöße durch die Blutbahnen bis in die Finger- und Haarspitzen. Es fällt mir sehr, sehr schwer, mich nicht zu übergeben.
»Also redet einfach mit Stefanie, wenn ihr Gebärdensprache lernen wollt«, sagt Mr Stafford, der Teufel in Menschengestalt. Und dann deutet er auf mich. Als sollte ich aufstehen und eine Rede halten. Schockierenderweise tue ich das aber nicht.
»Mit Steffi reden?«, murmelt jemand, und leises Gekicher rieselt durch den Saal.
»Oder ihr könnt einfach mit mir reden«, sagt Rhys. Seine Stimme ist eine Überraschung, belegt und ein bisschen schleppend, als würde er mit vollem Mund sprechen. Die Lautstärke schwankt, am Anfang ist sie zu laut und wird dann immer leiser. Er grinst. »Ich beiße nicht.«
Wie bei Erdmännchen drehen sich jetzt alle Köpfe zu ihm.
»Das heißt Hallo«, fügt Rhys hinzu und hebt die Hand zur Begrüßung in Gebärdensprache. Anschließend legt er sie auf die Brust. »Rhys.«
Und zu meiner totalen Überraschung heben fast alle im Raum ebenfalls die Hand. Er bringt die komplette Oberstufe dazu, hallo zu ihm zu sagen … Ich bin beeindruckt und gleichzeitig neidisch. Und fühle mich seltsamerweise auch ein bisschen verraten. Er kann reden? Das ist einfach nicht fair, oder?
»Wunderbar.« Mr Stafford sieht begeistert aus. »Jetzt haben wir die Vorstellungen hinter uns und können zum Organisatorischen übergehen.« Er klatscht in die Hände, wahrscheinlich denkt er, das erwartet man so von Oberstufenleitern. »Der Gemeinschaftsraum steht euch den ganzen Tag offen, wir bitten euch nur, dafür zu sorgen, dass er sauber und ordentlich bleibt. Was zu Bruch geht, muss bezahlt werden.« Er wartet auf einen Lacher, der nicht kommt. »Eure Freistunden könnt ihr verbringen, wie ihr wollt, wir empfehlen euch aber, sie zum Lernen zu nutzen.«
Ich schalte ab, mein Blick gleitet wieder zu Rhys, der konzentriert Mr Staffords Lippen beobachtet. Jedes Mal, wenn Mr Stafford den Kopf dreht oder aus Rhys’ Blickfeld bewegt, spannt er sich an. Am liebsten würde ich nach vorne rennen, Mr Stafford packen und ihn anschreien: »Halten Sie den Kopf still! Merken Sie nicht, dass er Ihre Lippen zu lesen versucht?«
Aber ich bin Steffi Brons und spreche nicht, und schreien tue ich erst recht nicht. Ich bewege mich langsam, damit die anderen mich nicht bemerken, denn in der Öffentlichkeit zu rennen ist so laut wie ein Schrei. Ich trage gern Pullover mit langen Ärmeln, die mir über die Handgelenke und Hände und Finger fallen. Unauffälligkeit ist meine Tarnung, Schweigen mein Schutzschild.
Deshalb bleibe ich stumm.
Was wäre, wenn du sterben würdest oder so?
Was wäre, wenn ich sterben würde?
Kannst du sprechen, wenn du die Augen zumachst?
Okay, aber was ist, wenn ich die Augen zumache?
Hat es dir die Sprache verschlagen?
Sag einfach was. Irgendwas, ganz egal.
Ist deine Stimme komisch oder so?
Du solltest einfach ein Glas Wein trinken.
Entspann dich.
Du bist aber still!
Schüchternheit, Introvertiertheit und soziale Angststörung sind drei verschiedene, aber ganz ähnliche Dinge. Man kann davon eins, zwei oder alle drei gleichzeitig haben. Die Leute denken oft, alles wäre dasselbe, aber das stimmt nicht. Extrovertierte können schüchtern sein, Introvertierte können forsch sein, und eine Angststörung kann einen immer treffen, ganz unabhängig vom Sozialverhalten.
Schüchtern sind viele. Schüchternheit ist normal. Ein bisschen Angst ist auch normal. Mixt man beides zusammen und fügt einen Übertragungsfehler im Gehirn hinzu – vielleicht ein »Kein Zutritt«-Signal auf der Nervenbahn zwischen Gehirn und Mund –, dann bekommt man mich. Die stumme Steffi.
Also was bin ich? Ich bin von Natur aus introvertiert mit einer schweren sozialen Angststörung und einer Schüchternheit, die im Grunde krankhaft ist. Als ich noch klein war, hat sich das in einer bestimmten Form von Stummheit geäußert, die »selektiver Mutismus« genannt wird. Das mit dem »selektiv« verwirrt die Leute manchmal, denn es klingt, als hätte ich die Kontrolle darüber, wann ich spreche und wann nicht, aber das ist nicht der Fall. Selektiv bedeutet, dass ich davon überrascht werde. Progressiver Mutismus ist, wenn der Mutismus mit zunehmendem Alter schlimmer wird.
Ich habe keinen progressiven Mutismus, um das gleich klarzustellen. Ich kann seit ein paar Jahren an Orten wie der Schule reden, wenn auch mit Mühe, aber meine Schwierigkeiten haben mehr mit sozialer Angststörung und Schüchternheit als mit Mutismus zu tun. Das ist unglaublich schwer zu erklären, weshalb ich es meist gar nicht erst versuche. »Früher konnte ich nicht reden, und jetzt kann ich es manchmal, aber manchmal auch nicht. Nein, ich weiß nicht, warum, tut mir leid«, taugt nicht wirklich als Erklärung. Und die Leute lieben Erklärungen.
Sie lieben Erklärungen und Geschichten übers Gesundwerden. Sie sehen sich gern Dr. House an, weil sie auf eine Lösung bauen können. Sie hören gern, dass Leute ohne Komplikationen wieder gesund werden. Sie lieben Geschichten über stumme Kinder, die an einen ungewöhnlichen Sprachtherapeuten geraten und am Ende eines einstündigen Dokumentarfilms ihre Stimme zurückgewonnen haben. Jugendliche wie ich, die sich als Kinder jahrelang abstrampeln, immer wieder andere Diagnosen bekommen, um ihren frustrierten Eltern das Schweigen zu erklären, die sich von »stumm« zu »schwere Angststörung« hochhangeln, aber trotzdem nicht mit Verkäufern sprechen oder jemanden anrufen können, sorgen nur für Verwirrung. Ständig die Grauzone, ständig der ungläubige Blick von Lehrern und Freunden der Familie, die meinen, ich würde simulieren. Sagen tun sie: »Das ist alles nur in deinem Kopf.« Oder: »Das ist keine Krankheit.« Und ich denke: Wenn es keine Krankheit ist, was dann? Ich denke, also bin ich, oder etwa nicht?
Also, nein, ich tue nicht bloß so, und ja, es ist eine Krankheit, zufällig nur eine, von der viele Leute noch nie gehört haben und die sie erst recht nicht verstehen.
Worüber denkst du nach, Steffi? Über alles, die ganze Zeit.
Warum bist du so still, Steffi? Aber in meinem Kopf ist es so laut.
Ich bin sicher, jeder führt innere Monologe, aber bestimmt keine so wortreichen wie ich.
Hier bin ich also, sechzehn Jahre alt und schweigsam an meinem ersten Tag in der Oberstufe. Ich bleibe mir treu und schaffe es, bis zum Mittagessen mit niemandem zu reden. Erst bin ich ziemlich froh, aber dann, als ich allein an einem Picknicktisch vor dem Oberstufentrakt sitze, schrecklich deprimiert. Es ist definitiv nicht normal, vier Stunden lang von Gleichaltrigen umgeben zu sein, ohne mit einem von ihnen zu sprechen – und sich darüber auch noch zu freuen.
Und dann soll ich mich dieses Jahr ja auch noch beweisen. Bis jetzt war davon noch nichts zu merken.
Ich vermisse Tem.
Nein, schieb es nicht darauf, dass du Tem vermisst. Wenn sie da wäre, hättest du trotzdem mit niemand anderem gesprochen.
Aber –
Meine innere Zwiesprache wird durch das plötzliche Auftauchen eines Jungen unterbrochen, der sich lässig auf die Bank mir gegenüber gleiten lässt und mir ein träges Grinsen zuwirft. Er hebt die Hand. Hallo.
Ich starre ihn an. Rhys blinzelt. Pause.
Hallo?
Ich reiße mich zusammen, löse mich aus der Starre. Hallo. Ich verkneife mir die Frage, warum er sich zu mir gesetzt hat, denn das wäre nicht sehr höflich, obwohl ich es wirklich gern wüsste, und frage stattdessen in Gebärdensprache: Wie läuft’s?
Rhys strahlt mich an. Das habe ich mit meiner verzögerten Reaktion gar nicht verdient. Super, danke. Ich glaube … Schule … Lehrer mit Glatze … Computer … Gebärdensprache … Tennis.
Hilfe, das ist ja erbärmlich. Eine schreckliche Röte steigt mir ins Gesicht. Ich kann Rhys’ Zeichen nicht folgen. Er ist zu schnell, zu gut, zu locker. Ich habe keine Ahnung, was er sagen will. Warum um Himmels willen sollte er über Tennis reden? Ach komm, Steffi. Du kriegst das hin.
Rhys’ Hände rühren sich nicht, und er lächelt mich erwartungsvoll an. Als er mich so glücklich und hoffnungsfroh ansieht, fühle ich mich ganz furchtbar. Deswegen hat er sich zu mir gesetzt – weil er sich dann unterhalten kann, ohne jemandes Lippen zu lesen oder Sorge zu haben, dass er etwas Entscheidendes verpasst. Und ich mache ihm einen Strich durch die Rechnung.
Ich kämpfe gegen die Panik an, die jede Unterhaltung in mir hervorruft, offensichtlich sogar eine stumme, und ringe mir ein Lächeln ab. Er kann nicht in mich hineinsehen, sage ich mir. Wie soll er ahnen, was für ein Chaos in meinem Kopf herrscht. Bisschen langsamer?, frage ich, verdrehe die Augen und deute auf mich. Ich bin eingerostet.
Er grinst. Hallo Eingerostet.
Ich lache so unbeschwert, dass es mich selbst überrascht. Blöder Witz.
Rhys zuckt die Achseln und wirkt übertrieben zufrieden, weil er mich zum Lachen gebracht hat. Seine Hände bewegen sich wieder, diesmal deutlich und langsamer. Jetzt bekomme ich schon mehr mit, aber es reicht noch nicht annähernd für eine richtige Unterhaltung.
Sorry. Vor Frust verspanne ich mich. Ist lange her.
Er macht die universelle »Kein-Problem«-Geste, dann wühlt er in seiner Tasche und zieht einen Notizblock heraus. Er klappt ihn auf, schreibt ein paar Sekunden, dann hält er ihn mir hin: flott hingeschriebene Großbuchstaben. Es ist die lesbarste Jungenhandschrift, die ich jemals gesehen habe.
ICH GLAUBE, IM GRUNDE SIND ALLE SCHULEN GLEICH. KENNST DU DEN INFORMATIKLEHRER? DEN MIT DER GLATZE. ER IST AUCH MEIN TUTOR – ER KANN GEBÄRDENSPRACHE! JETZT HAB ICH SCHON ZWEI LEUTE, MIT DENEN ICH REDEN KANN
Nichts mit Tennis. Ich muss in Gebärdensprache noch eingerosteter sein, als ich dachte, wenn ich »Tennis« hinzugedichtet und »zwei Leute« übersehen habe. Ich zögere, versuche, mir eine passende Antwort zurechtzulegen. Es fühlt sich an wie bei meiner mündlichen Französischprüfung am Ende der Sekundarstufe, als ich einfach die passenden Wörter aneinandergereiht habe in der Hoffnung, sie würden als Satz irgendeinen Sinn ergeben.
Das hier will ich sagen: Auf welche Schule bist du vorher gegangen? Ja, Mr Green war jahrelang mein Informatiklehrer. Mit ihm kannst du wahrscheinlich leichter reden als mit mir!
Und das hier sind die Zeichen, die ich mache. Wahrscheinlich: Schule früher? Ja, Mr Green Lehrer Informatik Jahre. Er bessere Gebärden. Pause. Sorry, ich voll schlecht.
Rhys ist geduldig, und wenn er belustigt oder enttäuscht ist, zeigt er es nicht. Er macht langsame Gebärden, greift wieder zu seinem Notizblock, wenn klar ist, dass ich ihn nicht verstehen kann. Wir führen eine Patchwork-Unterhaltung, stückeln mit Stift und Händen Sätze zusammen. Ich bin so konzentriert, dass ich das Schweigen, das mich normalerweise so belastet, gar nicht bemerke. An keiner Stelle sagt er: Es wäre leichter, wenn du einfach sprechen würdest.
Wir tauschen uns über das Wichtigste aus. Rhys will Spieleentwickler werden und deswegen Informatik studieren. Man braucht keinen Uniabschluss, um als Spieleentwickler zu arbeiten, erklärt er mir – praktische Erfahrung ist wichtiger –, aber seine Eltern bestehen darauf. Sie glauben nicht, dass ich in der Spieleindustrie bestehen kann, erklärt er, und obwohl er die Augen verdreht, ist klar, dass er sie zu sehr mag, um darüber sauer zu sein. Sie wollen, dass ich zur Sicherheit einen Abschluss mache.
Wir haben nur einen Kurs gemeinsam, Mathe, und ich sage ihm, dass ich mich für Tiere interessiere und Verhaltensforschung studieren will. Falls ich es an die Uni schaffe.
Warum denn nicht?, fragt er verwirrt.
Ich zögere, dann versuche ich, es mit meinen beschränkten Möglichkeiten zu erklären. Meine Eltern wollen es nicht. Sie meinen, ich komme nicht klar.
Wie, nicht klarkommen?
Zum Glück klingelt es in dem Moment. Selbst wenn ich normal reden könnte oder in Gebärdensprache geübter wäre, könnte ich ihm die Sache mit der Uni und meinen Eltern nicht richtig erklären. Dass sie in allem unterschiedlicher Meinung sind, nur nicht über meine Zukunft, was sie eigentlich – sorry – gar nichts angehen sollte. Dass sie anscheinend denken, weil ich oft nicht rede, werde ich mich an der Uni nicht zurechtfinden. Dass ich ihnen dieses Jahr beweisen muss, dass ich das sehr wohl schaffe.
Rhys steht auf, nimmt seine Bücher und knüllt sein leeres Pausenbrotpapier zusammen. Mit der freien Hand winkt er zum Abschied. Lächelnd forme ich mit den Lippen tschüs, und es ist ein angenehmes Gefühl zu denken, dass es für ihn so sein muss, als hätte ich das Wort laut ausgesprochen.
»Tschüs, Stefanie«, sagt er laut, die Stimme heiser, die Wörter wie Konfetti, leicht und luftig im Raum zwischen uns.
»Nenn mich Steffi«, sage ich zu meiner eigenen Überraschung laut.
Er tut so, als würde er eine imaginäre Mütze vor mir ziehen, was mich zum Lachen bringt. »Steffi«, spricht er mir nach. Er hat das freundlichste Lächeln, das ich je gesehen habe. Er winkt noch einmal, dann dreht er sich um und trabt davon.
Mein liebstes Geräusch auf der ganzen Welt ist das Klingeln am Ende eines Schultages. Daran hat sich auch jetzt in der Oberstufe nichts geändert. Ich bin aufgesprungen und schon fast an der Tür, bevor das Klingeln überhaupt zu Ende ist.
»Hast du dir die Kapitel aufgeschrieben, Steffi?«, ruft mir Mrs Baxter zu. Seit ich sie in der Siebten zum ersten Mal in Englisch hatte, war sie schon drei Mal meine Lehrerin, deshalb strecke ich bloß den Daumen hoch, denn ich weiß, dass das für sie in Ordnung ist.
Sobald ich das Schultor passiert habe, fällt alle Anspannung von mir ab. Oh, hallo Freiheit. Süße, süße Freiheit.
Und das Beste von allem: »Hallo du da!«
Tem. Mein liebster Mensch auf der ganzen Welt steht direkt hinter dem Tor, balanciert zwei Starbucks-Becher in einer Hand und hält in der anderen eine Papiertüte. September Samatar, die Allerallerbeste.
Ich mache den Mund auf, aber es kommt nichts heraus. Der Stress des Tages hat meine Stimme geschluckt, und mir bleibt nichts anderes übrig, als zu warten, bis sie gleich zurückkommt. Tem grinst mich verständnisvoll an und deutet mit dem Kinn ans andere Ende der Straße. Ich nicke, und wir gehen gemeinsam weiter.
»Nettes Outfit«, sagt sie und sieht mich von der Seite an. Ich trage dunkle Jeans, ein schlichtes schwarzes T-Shirt und Stiefeletten. »Ich sehe, du baust auf den Background-Look. Der soll ja total angesagt sein. Gute Wahl für Leute, die gerne mit dem Hintergrund verschmelzen.«
Gegen meinen Willen muss ich lächeln, auch wenn ich sie zur Strafe an den schwarzen Locken ziehe. Tem tut, was sie immer tut: Sie füllt mein Schweigen.
»Ich hab uns was Süßes mitgebracht«, spricht sie weiter, während wir uns der Straßenecke nähern. Eine Horde von Jungen aus der Zehnten rennt an uns vorbei und drängelt uns ab.
»Ui, ui, sexy!«, ruft einer von ihnen Tem zu und greift sich demonstrativ in den Schritt. Sie lacht schallend. Bestürzt drückt der Junge den Brustkorb raus und zeigt uns im Davonrennen den Stinkefinger.
»Cooler Typ«, sagt Tem todernst. »Er wird ein Mädchen sehr glücklich machen. Dreißig Sekunden lang.« Sie trägt ein schwarzes Baumwollkleid mit kurzen Ärmeln und goldenem Patchwork am Saum, mit Perlen bestickte Sandalen, Armreifen am Handgelenk. Ich verstehe, warum ein Zehntklässler sie sexy nennt. Ich würde sie temmisch nennen.
Wir gehen über die Fahrbahn und biegen in eine der breiteren Straßen ein, weg von den Schuluniformen und dem Lärm in Richtung Stille.
»Oh, bin ich froh«, sage ich, und es fühlt sich so gut an. Der Klang der Wörter, die aus meinem Mund kommen, die Bewegungen meines Unterkiefers, als dürfte er zum ersten Mal an diesem Tag zeigen, was er kann. Ich atme tief aus und grinse. »Hi Tem.«
Sie grinst zurück und drückt mir einen Kuss auf die Wange. »Hi Steffi!«
Tem und ich sind beste Freundinnen, seit wir miteinander im Sandkasten gespielt haben. Das hat im Grunde meine Mutter für uns entschieden, was wohl die beste Entscheidung ist, die sie in Bezug auf mich je gefällt hat. Zu der Zeit hat Mum für den Flüchtlingsrat gearbeitet, und dort hat sie Ebla kennengelernt. Als sie herausfand, dass Ebla eine Tochter im selben Alter wie ich hat, schlug sie ein Treffen vor. Damit war die Sache geritzt.
Im Lauf der nächsten Jahre – in denen sich meine Eltern scheiden ließen und beide neu heirateten, in denen ich plötzlich völlig verstummte, in denen Clark starb und noch so viel anderes passierte – wurden Tem und ich quasi unzertrennlich. Steftember pflegte mein Vater uns zu nennen. Bei dem ganzen Durcheinander und Aufruhr in unserem Leben hatten wir uns immer gegenseitig.
»Erzähl mir alles«, sagt Tem, führt mich auf den Spielplatz – menschenleer wie immer – und setzt sich auf ihren Stammplatz in der Mitte des Karussells. Sie stellt die beiden Starbucks-Becher vor sich ab, öffnet die Papiertüte, zieht einen Kuchen heraus und teilt ihn in zwei Hälften. Erwartungsvoll grinst sie mich an.
»Millie Gerdavey hat Jack Cole mal wieder betrogen«, sage ich, trinke einen Schluck aus meinem Becher und lächle. Tem hat mir einen Caramel Mocha mitgebracht. Mit extra viel Zucker und extra viel Koffein. Sie muss wirklich besorgt um mich sein.
»Schön für sie«, sagt Tem achselzuckend. »Irgendwas richtig Interessantes?«
Ich lache. Tem ist quasi immun gegen Klatsch, was eine ihrer besten und zugleich schlechtesten Eigenschaften ist.
»Also, na ja, eigentlich nicht.«
»Hör mal!« Ihr Gesicht wird ernst. »Jahrelang haben wir zu denen in der Oberstufe aufgeschaut und uns gewünscht, an ihrer Stelle zu sein, und jetzt willst du mir erzählen, es wäre gar nicht interessant?«
»Ist es auch nicht. Alles wie immer, nur dass wir keine Uniform tragen müssen. Was natürlich ein Bonus ist. Aber trotzdem. Heute war sowieso noch kein Unterricht. Wir haben nur Leselisten und Stundenpläne bekommen und so.«
»Wie viele Wörter hast du heute gesagt?«
Ich überlege. »Weniger als zwanzig, mehr als zehn.«
»Hmm.« Tem verzieht das Gesicht. »Ich würde sagen, für deinen ersten Tag ohne mich ist das okay. Ich dachte, es wären vielleicht weniger. Oder sogar kein einziges.«
»Ich habe einen Jungen kennengelernt«, sage ich.
Tem ist sofort hellwach. Ganz ehrlich, ihr gesamter Körper ist wie elektrisiert. »Was?«
»Ich habe einen Jungen kennengelernt«, sage ich noch einmal, nur um sie zu ärgern.
»Stefanie!« Aufgeregt wedelt sie mit den Händen. »Erzähl mir alles. Und ich meine wirklich ALLES. Sofort. Und – Gott – ich hoffe, ein paar von den wenigen Worten hast du mit ihm gewechselt!«
»Hab ich nicht.« Ich genieße die seltene Gelegenheit, sie mal zappeln zu lassen. »Ich war komplett stumm. Er auch.« Ich überlege, dann füge ich hinzu: »Fast.«
Sie kneift die Augen zusammen, als wollte sie in meinen Kopf spähen. Schließlich fragt sie argwöhnisch: »Aber du hast ihn persönlich kennengelernt?«
»Er ist taub«, erkläre ich.
»Oh.« Ihre Augen leuchten auf. »Cool! Dann hast du Gebärdensprache benutzt? Das ist ja super, Steffi. Ich fand schon immer, du hättest damit weitermachen sollen.«
Darauf gehe ich nicht ein, denn das ganze Thema, ob ich Gebärdensprache lernen sollte oder nicht, hat mich damals schon genervt. Lieber nehme ich mir ein Stückchen von dem Kuchen, den sie mitgebracht hat. Es ist eine seltsame Mischung aus Donut und Apfeltasche und schmeckt göttlich. »Er heißt Rhys«, sage ich. »Mr Stafford hat uns bekannt gemacht, weil ich ein bisschen Gebärdensprache kann.«
»Klingt einleuchtend. Und? Wie ist er? Du weißt, dass ich alle Einzelheiten wissen will.«
»Nett«, antworte ich. »Freundlich. Richtig freundlich.«
»Ich meinte natürlich optisch.« Tem wedelt mit der Hand.
Ich lächle. »Auch nett anzusehen.«
»Gib mir was Konkretes! Augen? Haare? Zähne?«
»Braune Augen. Kurze Haare. Sehr schöne Zähne.« Ich denke an Rhys, wie er mich über den Tisch angelächelt hat. »Seine Haut ist hellbraun – ich glaube, einer seiner Eltern ist dunkelhäutig.«
»Hört sich gut an.« Tem nickt. »Genehmigt.«
Ich lächle. »Du brauchst nichts zu genehmigen. Er ist bloß ein neuer Junge an der Schule.«
»Klar ist er das.« Tem zieht die Wörter in die Länge. »Und du wolltest mir ›bloß‹ von ihm erzählen. Und ihn mir beschreiben. Und diese Rehaugen machen.«
»Ich hab keine Rehaugen gemacht!«
Sie hebt eine ihrer makellosen Augenbrauen und nippt schmunzelnd an ihrem Becher. »Ich finde, es sollte dein Ziel sein, ihn zu küssen. Ich gebe dir bis … Halloween.«
Ich lache halb amüsiert, halb panisch. »Tem, ich habe ihn buchstäblich erst heute kennengelernt. Wir sind noch nicht mal Freunde. Mach mal halblang.«
»Warum denn?«, fragt sie kopfschüttelnd. »Warum sollte ein gutaussehender junger Mann dich nicht küssen wollen? Das ist die Frage, die du dir stellen musst.«
Als ich den Mund aufmache, schießt ihre Hand hoch, um ihn mir zuzuhalten. »Das war eine rhetorische Frage, Brons. Ich habe dich nicht um eine Auflistung gebeten.«
Ich warte, bis sie ihre Hand wegnimmt, und antworte ihr trotzdem. »Jungs küssen gern Mädchen, die reden können.«
»Hm, so eindeutig stimmt das nicht. Du hast doch Arielle, die Meerjungfrau gesehen. Da gibt’s ein ganzes Lied darüber.«
Ich verdrehe die Augen. »Im Lied geht es darum, sie dazu zu bringen, sich zu küssen, aber sie tun es nicht.«
»Ist doch egal.« Sie winkt ab. »Ich meine doch nur, du steigerst dich viel zu sehr in ein winzig kleines Detail. Dann redest du halt nicht viel, na und? Du kannst mit deinen Händen reden.« Verschmitzt sieht sie mich an. »Red. Mit deinen Händen.« Sie schmiegt die Hände ums Gesicht und ahmt mit geschlossenen Augen und offenem Mund einen Kuss nach. Das soll wohl Küssen auf Gebärdensprache sein. Das kann sich auch nur jemand ausdenken, der keine Ahnung hat.
»Oh, hör auf.« Ich muss gegen meinen Willen lachen.
»Okay, okay. Sag mal, magst du heute Abend eine Runde mit mir laufen?« Sie grinst. »Ganz langsam, versprochen.«
»Wie langsam?«, frage ich misstrauisch.
Tem ist Läuferin. Eigentlich Langstrecke, aber sie hat die Angewohnheit, mich in falscher Sicherheit zu wiegen, indem sie dreißig Sekunden langsam joggt und dann mal eben davonsprintet.
»Jogging-Tempo«, verspricht Tem. »Du wirst nicht mal schwitzen.«
»Das ist wirklich verlockend«, sage ich (ich bin keine Läuferin), »aber es geht nicht. Ich bin bei Dad.«
»Oh. Das hattest du aber schnell parat.«
Ich lächle. »Der Sommer ist vorbei. Ich hab gestern Abend meine Sachen hingebracht.«
Obwohl meine Eltern geschieden sind und beide danach wieder geheiratet haben, leben sie zum Glück in derselben Stadt. Das haben sie vor Jahren vereinbart, damit ich abwechselnd bei ihnen beiden wohnen kann, ohne große Nervereien wie Schule wechseln oder morgens drei verschiedene Busse nehmen. Sie leben an entgegengesetzten Enden der Stadt – Windham ist ziemlich genau in der Mitte, was praktisch ist –, und ich fahre zwischen Mum und Dad hin und her. Seit der Sekundarstufe wohne ich während der Schulzeit bei Dad und in den Ferien bei Mum.
Der größte Nachteil bei all dem, zumindest während der Schulzeit, ist, dass Tem zwei Minuten zu Fuß von meiner Mutter wohnt und zehn Minuten im Auto von meinem Vater, weshalb wir uns nicht so leicht sehen können.
»Ich kann trotzdem zu dir kommen«, schlägt Tem vor. »Macht mir nichts aus.«
Ich schüttle den Kopf. »Vielleicht am Wochenende, aber nicht heute Abend. Ich bin ziemlich müde, dabei habe ich Dad versprochen, Abendessen zu machen.«
Sie seufzt. »Na gut. Aber du wirst mich schrecklich vermissen.«
»Ruf mich heute Abend an, okay?«, sage ich. »Das ist genauso, als wäre ich bei dir.«
Sie lächelt gekünstelt. »Deine Stimme zu hören ist seltsam genug, und erst recht, wenn ich dich nicht gleichzeitig sehen kann.«
Ich blitze sie an. »Keine Stummenwitze an meinem ersten Schultag! Das hast du versprochen!«
»Nein, hab ich nicht. Du hast darum gebeten, und ich habe einen Witz über Pinguine gemacht.«
Ich verdrehe die Augen. »Du bist unmöglich.«
»Ich bin wundervoll.« Tem breitet die Arme aus und strahlt mich an. Sie übertreibt so maßlos, dass ich lachen muss.
Was ich mit all dem sagen will: So schwer es auch ist, das Mädchen zu sein, das nicht redet, das Mädchen, das sich in die Ecke drückt und dann mit einem Achselzucken antwortet – ich habe Tem. Selbst wenn ich nur mit einer einzigen Person auf der Welt reden könnte, würde ich jederzeit Tem wählen.
5) Wenn man eine Toilette braucht
Ich bin sechs Jahre alt, und Tem ist nicht in der Schule wegen Mumpsverdacht (es stellt sich später als Grippe heraus). Ich manövriere mich allein durch meinen stillen Tag, ohne meine treue Dolmetscherin, die meinen Bedürfnissen genauso viel Beachtung schenkt wie ihren eigenen. Alles ist in Ordnung, bis ich merke, dass ich pinkeln muss. Das kann ich aber nicht sagen, kann nicht mal die Hand heben, um auf die Tür zu deuten. Ich sitze wie gelähmt da, starre auf mein Arbeitsblatt und mache mir in die Hose. »Eeeeeeeeeyyyy!«, johlt die ganze Klasse begeistert.
4) Wenn man blutet
Ich bin acht Jahre alt. Wir machen einen Schulausflug zu einem kleinen Bauernhof. Wir sind in kleinere Gruppen aufgeteilt worden – ich bin eine Kichernde Ziege, Tem ist ein Glückliches Huhn. Am Stacheldrahtzaun reiße ich mir die Hand auf, vom Daumen quer über den Handteller klafft ein beeindruckendes Loch. Ich bemühe mich, unserer Betreuerin Julie Bescheid zu sagen, ohne ein Riesentamtam zu veranstalten, was damit endet, dass ich für die nächsten zwanzig Minuten die Hand an die Brust drücke, bis Julie mich fröhlich fragt, was ich denn verstecke. Als ich ihr meine Hand zeige – jetzt eine blutige Fleischmasse –, schreit sie, weicht taumelnd zurück und fällt in Ohnmacht.
3) Wenn man einen neuen Stift braucht
Elf Jahre alt. Prüfung in der Grundschule. Wir sitzen seit zehn Minuten an Mathe, Teil 1, da bricht mir der Bleistift ab, und die Spitze schlittert über den Boden. Natürlich sollte ich den Arm heben und um einen neuen Bleistift bitten; natürlich bräuchte ich nur zu fragen, und meine Lehrerin, Miss Kapsalis, würde mir einen geben. Aber nicht nur mein Mund ist zugefroren – ich bin wie erstarrt, die Handgelenke drücken gegen die abgesplitterte Kante des Pults, der Bleistift klemmt in der geballten Faust. Ich kann mich nicht mehr rühren. Voller Panik sitze ich zwanzig Minuten da, bis Miss Kapsalis, die zwischen den Pultreihen auf und ab geht, damit wir nicht schummeln können, es endlich merkt. Sie stößt ein Geräusch aus, das Stöhnen, Keuchen und Erschrecken ist, alles gleichzeitig, und steht in der nächsten Sekunde neben mir.
»Steffi!«, flüstert sie, obwohl sie während der Prüfung eigentlich nicht mit uns reden darf. »Du musst die Fragen beantworten.«
Ich löse die Finger, und der stumpfe Bleistift fällt auf den Tisch. Als ich den neuen Stift bekomme, haben wir noch eine Viertelstunde Zeit. Logischerweise schneide ich nicht besonders gut ab.
2) Wenn man ein bisschen verdächtig aussieht
Zwölf Jahre alt. Tem und ich verbringen einen Samstagnachmittag zusammen und streifen ziellos durch die Stadt. Wir sind in einem dieser Läden, in denen alles Mögliche verkauft wird, Kleider, kleine Geschenke, Kissen. Tem probiert gerade ein festliches Vintage-Kleid an, und ich stehe in der Ecke und sehe mir ein Bord voller Kerzen an. Plötzlich steht die Ladenbesitzerin neben mir und fragt mich mit bedrohlich sanfter Stimme, was ich da mache. Ich starre sie an, halb verwirrt, halb panisch. Was ein höfliches »Ich sehe mich nur um, danke« hätte werden können, endet damit, dass sie immer aufgebrachter wird und ich immer mehr erstarre. Kein noch so inständiges Kopfschütteln reicht aus, um sie davon zu überzeugen, dass ich nichts klauen will. Sie droht gerade, die Polizei zu rufen, da kommt Tem in einem schwarzweiß getupften Kleid aus der Umkleidekabine stolziert und verkündet: »Sag mir einfach, wie wunderschön ich bin!«, bevor sie uns beide sieht, in weniger als einer Sekunde die Situation erfasst und durch den Laden rast, um die Wogen zu glätten.
1) Wenn einen die beste Freundin braucht
Dreizehn Jahre alt. Ich bin in einem Stadion und sehe zu, wie Tem bei der Bezirksmeisterschaft das 800-Meter-Finale läuft. Sie gewinnt das Rennen und ist ganz high vor Energie und Endorphinen, springt über die Absperrung, umarmt mich, lässt mich los, hüpft davon, schlägt ein Rad. Es ist das erste Rennen, das sie je gewonnen hat. Nachdem sie ihre Medaille erhalten hat, sieht sie mich mit strahlenden Augen an, um uns herum jede Menge Menschen. Und in dem Moment sagt eine Frau, die Mutter von einer von Tems Konkurrentinnen, zu jemandem (bis heute weiß ich nicht genau, mit wem sie gesprochen hat): »Eigentlich sollte man die beim Wettkampf gar nicht zulassen; es ist doch bekannt, dass die von Natur aus schneller laufen können. Das ist unseren Mädchen gegenüber einfach nicht fair.«
Eine Sekunde lang bin ich ahnungslos, was sie meint, aber als plötzlich jede Freude aus Tems Gesicht weicht, wird es mir klar. Da gibt es nichts zu entschuldigen, kein Kontext, in dem diese Bemerkung harmlos sein könnte. Die Frau hat eindeutig eine rassistische Bemerkung über meine geliebte Tem gemacht, und zwar direkt vor ihrer Nase. Und das ist er: der beschämendste Moment meines Lebens. Denn ich sage kein Wort. Ich stehe nur da, selbst als ich das Strahlen in Tems Augen erlöschen sehe, selbst als sie mich eine Sekunde lang ansieht und obwohl sie den größten Teil ihrer Tage damit verbringt, sich um mich zu kümmern. Auch niemand anderes sagt etwas, aber ich weiß, mein Schweigen ist am schlimmsten. Mein Schweigen ist unverzeihlich.
Später, als ich mich entschuldigen will – hilflos und mit bleierner Zunge –, winkt sie ab, sagt, sie versteht, dass mir die Wörter manchmal einfach nicht über die Lippen kommen, sie weiß, dass ich etwas gesagt hätte, wenn ich gekonnt hätte.
Der Punkt ist: Für mich war es schrecklich, in diesem Moment stumm zu sein, aber in gewisser Weise hat meine Stummheit auch unsere Freundschaft gerettet. Denn so blieb offen, ob ich den Mut aufgebracht hätte, für Tem einzutreten.
Es gibt etwas ziemlich Wichtiges, das ihr wissen solltet. Seit dem Sommer nehme ich MEDIKAMENTE. Keine üblen. Gute. Auf ärztliches Rezept.
Zum Teil hat es damit zu tun, dass dieses Jahr entscheidend für mich ist, aber eigentlich ist schon lange davon die Rede. Schon als ich noch ganz klein war, haben meine Eltern und mein Arzt darüber diskutiert, ob ich gegen meine Angststörung und infolgedessen meinen Mutismus Medikamente nehmen soll. (Ihr fragt euch vielleicht, warum ich bei den Diskussionen nicht einbezogen wurde. Hervorragende Frage. Lasst mich wissen, ob ihr eine Antwort bekommt.) Der springende Punkt bei den SSRI – Serotonin-Wiederaufnahmehemmern, also dem, was ich jetzt nehme – ist, dass sie nicht für »Kinder« gedacht sind, und das heißt im Prinzip für niemanden unter achtzehn.
In meinem Fall haben wir uns geeinigt, dass sechzehn das richtige Alter ist. Also hatte ich nach meinem Geburtstag letzten Herbst mehrere Sitzungen bei einer neuen Therapeutin, in denen wir einen Medikamentenplan für mich ausgearbeitet haben, dazu alle zwei Wochen Verhaltenstherapie. Wie gesagt habe ich diesen Sommer mit meiner ersten Runde Fluoxetin angefangen – genauer gesagt vor drei Wochen. Bis jetzt habe ich deswegen nur ein bisschen Zahnschmerzen gehabt (eine seltene Nebenwirkung, also habe ich sie natürlich prompt bekommen), dazu jede Menge nervöse Unruhe. Es kann bis zu sechs Wochen dauern, bevor sich die ersten positiven Wirkungen zeigen. Sechs Wochen! Ich habe also noch einen weiten Weg vor mir.
Es ist nicht so einfach. Bei manchen Leuten krempeln die SSRI das Leben um – als würde sich der Nebel lichten, sagen sie. Andere bemerken keinen großen Unterschied, ihre Angst ist immer noch da, und in ein paar Fällen wird sie sogar schlimmer. Zu welcher Gruppe ich zähle, wird sich also erst noch herausstellen. Ich hoffe, ich gehöre zu den Glückspilzen. Das wünsche ich mir wirklich sehr.
»Das sind keine Zauberpillen«, hat mein Dad gewarnt. »Es passiert kein Wunder, und du bist gesund. Ist dir das klar, Stef-Stef?«
Natürlich ist mir das klar. Aber hoffen kann ich trotzdem.
Ich male mir aus, wie ich, ohne lange zu überlegen, in den Supermarkt gehe und eine Flasche Milch kaufe. Ich träume davon, mit dem Bankangestellten zu sprechen. Ich hoffe, an einem Samstag ohne Panikanfall durch die Stadt zu kommen. Für die meisten Leute sind das Kleinigkeiten, aber meine ganze Welt ist von der Angst davor bestimmt.
Als ich von meinem ersten Tag als offizielle Oberstufenschülerin nach Hause komme, sehe ich Dad, noch im Anzug, wenn auch mit gelockerter Krawatte und ohne Jackett, wie er über die Küchenspüle gebeugt eine Nektarine isst. Mein Dad ist Regierungsbeamter, was bedeutet, dass er den ganzen Tag mit Politikern zu tun hat, aber nicht politisch sein darf. Er ist diplomatisch, hat eine weiche Stimme und ist der freundlichste Mensch der Welt.
»Stef-Stef«, sagt er, während er den Nektarinenkern in den Kompostbehälter fallen lässt und sich die Hände an einem Stück Küchenpapier abwischt. »Wie war dein erster Tag?«