Stefanie Neeb
Und wer rettet mich?
FISCHER E-Books
1974 in Bielefeld geboren, in Minden aufgewachsen, dort die Abifeier überlebt und mit dem Schulfreund losgezogen. Deutsch, Musik und Sport studiert und in Trier, Barcelona und München als Lehrerin gearbeitet. Gelandet jetzt in Frankfurt am Main: mit einem Mann, zwei Kindern und drei Haustieren.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Krass und romantisch wie das echte Leben!
Eine Party. Eine Scheune, die in Flammen steht. Und ein Schrei von jemandem, der ihr vertraut ist.
Als Kim aufwacht, hofft sie, dass es nur ein böser Traum ist. Aber es ist Wirklichkeit: Wer da geschrien hat, war ihr Freund Jasper.Nach einem Brand in der Abi-Party-Location liegt er im Krankenhaus und behauptet. sich an nichts erinnern zu können.
Und in Kims Wohnzimmer sitzt die Polizei und stellt Fragen, denn es gibt Hinweise darauf, dass es sich um Brandstiftung handelt. Ausgerechnet Jasper steht unter Verdacht. Kim glaubt nicht eine Sekunde daran, dass er so etwas tun könnte. Aber sie kann Jasper nicht helfen. Sie war an dem Abend nicht bei ihm. Sie war mit Ben zusammen, in den sie unsterblich verliebt war. Früher. Oder immer noch?
Eine toughe Heldin, gleich zwei Typen zum Verlieben und die alles entscheidende Frage: Was ist an jenem Abend wirklich passiert? Eine packende Mischung aus Spannung und Lovestory!
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Claudia Toman Traumstoff Buchdesign
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-4986-9
Brandunglück 06:54
In der Nacht von Freitag auf Samstag brach aus noch ungeklärter Ursache ein Feuer in der Scheune eines Hofes am Willsberg aus. Etwa 86 Abiturienten des Städtischen Gymnasiums feierten dort ihren Schulabschluss.
Als um 0:53 Uhr der Notruf bei der Feuerwehr einging, hatten sich die meisten Schüler schon ins Freie retten können.
Einen 18-Jährigen konnten die Rettungskräfte allerdings erst in letzter Minute aus den bereits meterhoch schlagenden Flammen ziehen. Der junge Mann wurde ins Krankenhaus eingeliefert.
Ein Ausbreiten des Feuers auf benachbarte Gebäude konnte die Feuerwehr verhindern, die Scheune aber brannte bis auf die Grundmauern ab.
Der Sachschaden liegt nach ersten Schätzungen bei 20000 Euro.
Die Brandursachenermittlung wurde aufgenommen.
»Kim, bist du wach?«
Ich höre die Stimme, ich schlafe nicht wirklich. Sie klingt dumpf zu mir rüber, wie aus dem Lautsprecher meiner Anlage, nur auf ganz leise gestellt. Aber ich will mich nicht bewegen, nie wieder, und höre einfach weg.
»Kim, bist du wach?« Die Anlage scheint auf repeat gestellt zu sein. Jemand setzt sich zu mir, die Matratze gibt nach, und ich spüre eine Hand, die über meine Stirn streicht. Ich würde sie gerne wegwischen, aber dann müsste ich mich bewegen. Also lasse ich sie da.
»Kim, du musst aufwachen.«
»Ist er tot?« Die Augen lasse ich zu. Sagt man das nicht auch? Die Augen vor der Welt verschließen? Ist aber ein Scheißspruch, das funktioniert nämlich nicht. Selbst im Dunklen lebt man weiter, die Bilder von gestern Abend lassen mich nicht los. Ich sehe das Feuer. Ich kann es hören. Hätte vorher nie geglaubt, dass Feuer so laut sein kann. Alle rennen weg, nur ich bleibe stehen und suche. Ich suche nach dir, nach dunklen Haaren, deinem Hemd, deinen Schuhen – nach irgendwas von dir – und starre in das Chaos. Aber ich sehe dich nicht. Blaulichter zerreißen hinter mir den schwarzen Himmel, Sirenen heulen. Es wimmelt von Feuerwehrleuten. Polizei und Sanitäter kommen, und plötzlich höre ich diese Stimme rufen: »Da ist noch jemand drin!« Sie klingt panisch.
Dann tragen sie dich heraus, und ich höre einen Schrei. Er ist schrill, furchtbar schrill, als würde man jemanden abschlachten. Ich halte mir die Ohren zu, doch er hört erst auf, als alles um mich herum schwarz wird.
»Ist er tot?« Auch ich bin auf repeat.
»Nein, er lebt. Jasper hat großes Glück gehabt.«
In diesem Moment lasse ich los, mein Körper verliert an Spannung und sinkt immer tiefer. Ich spüre, wie sich die Schlinge um meinen Hals löst und ich wieder Luft bekomme. Mein Blut beginnt wieder zu fließen, es wärmt mich: meine Beine, meine Arme, meine Hände. Er lebt! Alles andere ist erst einmal egal.
»Wir haben Besuch, Kim.«
Ich drehe mich zur Seite, von ihr weg. »Vergiss es!«
»Die Polizei ist da.«
Mit diesem Satz lässt sie mich endlich allein, und ich öffne die Augen.
Hier bei uns hatte ich nicht mit denen gerechnet, und schon gar nicht so schnell. Die Polizei, dein Freund und Helfer – das ist der größte Mist, den man Kindern erzählen kann. Dein Feind und Heuchler trifft es wohl besser. Und damit meine ich alle Arschlöcher, die sich hinter Uniformen verstecken. Als ob das was nützt. Wenn man Scheiße in Geschenkpapier wickelt, bleibt es immer noch Scheiße.
Von mir erfahren die gar nichts! Nicht, bevor ich mit Jasper geredet habe.
Ich rolle mich aus dem Bett und versuche, aufzustehen. War wohl ziemlich lange ausgeknockt, durch die Vorhänge knallt die Sonne, und ich fühle mich ganz steif. Zum Kleiderschrank ist es nicht weit, aber schon auf dem ersten Meter komme ich ins Stolpern. Ich kann mich zwar an der Kommode abfangen, aber meinen Ellbogen erwischt es hart.
»Scheiß Tasche«, zische ich und versuche, den Griff wegzustrampeln, der sich wie eine Schlinge um meinen Knöchel gelegt hat. Die gehört da gar nicht hin – die gehört gar nicht mir. Jasper wollte nach der Party bei mir pennen und hatte seine Fußballklamotten schon vorher hier geparkt.
Aber der Griff ist hartnäckig, und ich muss mich bücken, um ihn abzukriegen. Alles dreht sich. Scheiß aufs Umziehen, die kriegen mich pur!
Die Treppe nach unten ist auch gegen mich. Die Stufen verschwinden und tauchen da wieder auf, wo meine Füße sie nicht erwarten. Aber das Zeug, das mein Vater mir gestern noch eingeflößt hat, scheint mir Flügel zu verleihen. Ich lande erstaunlicherweise sicher unten im Flur. Vitamine waren das bestimmt nicht.
Im Wohnzimmer schaue ich in die erwartungsvollen Gesichter unserer Gäste. Zwar in Zivil, aber ich kann es riechen: Polizeiweibchen und Polizeimännchen – Good Cop, Bad Cop, wer ist wohl wer?
Meine Mutter hockt ihnen gegenüber am Tisch, und aus der offenen Küche höre ich das Dampfen von Papas Schätzchen, der scheißteuren, vollautomatischen Kaffeemaschine. Espresso für alle, wie nett von ihm.
»Hallo, Kim«, begrüßt mich die Polizeitussi, die kaum älter als ich sein kann. Sie mustert mich unverhohlen neugierig. Was sie da sieht, ist nicht wirklich Topmodel-like: kurze, schwarze Haare, graue Jogginghose, weißes Top, verstrubbelt, zerknautscht, barfuß. Ich muss ein Lachen unterdrücken, als ich mir vorstelle, wie sie gleich mit Heidis Piepsstimme sagt: »Sorry, mein Liebes, aber ich habe heute leider kein Foto für dich.«
Ruhig bleiben, Kim, ermahne ich mich, sei vorsichtig!
»Kennen wir uns?« Meine Stimme kratzt, klingt aber genauso unfreundlich, wie ich es meine. Hinter mir höre ich, wie mein Vater scharf die Luft einsaugt.
Unkonventionelles Verhalten hasst er mindestens genauso sehr wie Patienten, die alles besser wissen. Ist mir aber gerade mal so was von scheißegal!
Miss Polizei zeigt keine Regung, aber das Interesse ihres Partners konnte ich wecken, er schaut zu mir rüber, sein Blick ist kalt.
»Das ist mein Kollege Schwindt, und mein Name ist Petra Heitmeier. Kim, wir sind hier, um dir ein paar Fragen zum gestrigen Abend zu stellen.« Ihre Stimme klingt sanft, aber bestimmt. Hat sie sicher lange für üben müssen.
»Echt? Da bin ich aber erleichtert. Ich dacht schon, ich hätt mal wieder falsch geparkt.«
»Das reicht, Kim!« Der Ton meines Vaters ist auch bestimmt, allerdings alles andere als sanft, und ich spüre seinen brennenden Blick im Rücken. Aber ich halte ihn aus. Die Zeit, in der ich Angst vor seinen Augen hatte, in denen ich gezittert habe vor dem, was danach kommt, ist lange vorbei.
Das Brennen lässt nach, und seine Stimme hat wieder diesen butterweichen Unterton, ganz der charmante Gastgeber, als er das Tablett mit den edlen Espressotassen auf den Tisch stellt. »Es tut mir leid, Kim ist von den Ereignissen noch sehr mitgenommen. Sie ist gestern zusammengebrochen und hätte eigentlich in die Klinik gehört. Wir haben sie aber lieber hier versorgt. Zucker?«
Beide verneinen und greifen zu ihrem Espresso.
»Willst du dich nicht setzen, Kim? Es wird einen Moment dauern.« Tussi sieht mich freundlich an, und Mama, die mal wieder vollends eingeschüchtert wirkt, klopft auffordernd auf den Stuhl neben sich. Sei brav, signalisiert ihr Blick, und ich könnte kotzen. Ich hasse ihre unterwürfige Art, außerdem lässt das Beruhigungsmittel meinen Magen Karussell fahren.
»Erzähl uns bitte, wo du warst, als das Feuer ausbrach«, fordert mich Bad Cop auf und lehnt sich auf seinem Stuhl vor.
»Müsste jetzt nicht ein Anwalt neben mir sitzen?«
Bevor mein Vater explodieren kann, geht Heitmeier dazwischen. Die rigorose Handbewegung in seine Richtung und ihr überlegener Gesichtsausdruck müssen für ihn die Hölle sein. Frauen mucken in seiner Gegenwart nur äußerst selten auf, und sie hier macht das echt cool.
»Wir befragen dich als Zeugin, Kim, da ist ein Anwalt überflüssig. Deinen Freund Jasper hat es ziemlich erwischt, und ich denke, es ist auch in deinem Interesse, dass wir das Ganze möglichst schnell aufklären, oder?«
Deinen Freund Jasper. Die Worte hallen in mir nach, und das Karussell setzt sich wieder in Bewegung. Wer will noch mal, wer hat noch nicht? Diesmal geht es rückwärts, und mir kommt es hoch. Zur Gästetoilette schaffe ich es zum Glück noch, obwohl es eigentlich cool gewesen wäre, denen direkt vor die Füße zu kotzen.
Ich umarme das Klo und lege meine Stirn auf das kalte Porzellan. Bei uns könnte man sogar auf dem Boden Kekse ausstechen, hier ist alles klinisch rein.
Jasper! Ich kann immer noch nicht glauben, was gestern passiert ist. Bin ich das echt gewesen? So hart, so kalt und dann plötzlich so glücklich und so leicht? Ich bräuchte dich jetzt hier, Jasper, du würdest das für mich übernehmen, ich weiß nicht, wie lange ich durchhalten kann.
»Kim?« Es ist die Stimme von Tussi, und Jasper verschwindet. Echt hartnäckig die Frau, nur dass ich wohl kaum Antworten auf die Fragen habe, die sie mir stellen will.
»Alles bestens!«, flöte ich zurück. »Aber lieber Abstand halten, Magen-Darm ist ja ziemlich ansteckend.«
Ich höre ein leises Lachen jenseits der Tür. »Bin ziemlich immun gegen diese Ausprägung des Virus. Können wir sprechen, Kim? Allein!«
Wieso wiederholt sie ständig meinen Namen? Das nervt total. Hat Heitmeierchen sicher auf der höheren Polizeischule gelernt: Schaffe Vertrauen und Nähe zu deinem Gegenüber.
Ohne mich, dagegen bin ich immun.
Aber mit der allein zu quatschen ist allemal besser als in trauter Runde mit dem Typen und meinen Eltern, also komme ich raus und gehe mit ihr nach oben.
»Du machst Kampfsport?«, fragt sie und schaut sich interessiert meine Wände an. »Respekt!«
»Messerscharf kombiniert!«
Meine Wände hängen voll mit Bildern und meinen bisher erworbenen Kordeln. Jasper gehört zu der einen Seite von mir, für die andere brauche ich meinen Sport. Hier kann ich alles Dunkle rauslassen, und das ist viel.
»Bist du eigentlich immer so?«, fragt Heitmeier, schaut dabei aber weiter auf meine Fotowand. »Ich meine, so äußerst freundlich und zuvorkommend?«
»Kommt drauf an, wer was von mir will. Außerdem bist du doch auch nicht so ganz zuvorkommend, oder?« Das musste jetzt sein, und ich merke, wie sie ganz kurz zuckt, bevor sich ihr Rücken wieder strafft.
»Alles klar, du bist achtzehn.« Sie schaut mich ruhig an, doch ein leichtes Grinsen kann sie nicht unterdrücken. »Möchtest du, dass ich dich sieze?«
Ich grinse offen zurück. »Nö, finde unser Du ganz okay.«
Sie lacht, und es steht ihr gut. »Jasper und du, ihr seid eine gute Kombi, oder?«
»Du kennst Jasper schon?«
»Nein, er ist noch nicht vernehmungsfähig. Aber andere haben ihn mir als Sonnenschein beschrieben. Vor dir haben sie mich allerdings nicht gewarnt!«
Ich muss jetzt echt aufpassen, dass ich nicht anfange, sie zu mögen.
»Dann waren es definitiv die falschen Leute«, murmle ich und wende mich von ihr ab.
Er ist noch nicht vernehmungsfähig! Und das bedeutet: Er hat noch nichts gesagt. Der Gedanke beruhigt meinen Magen merklich.
»Was ist das für ein Kampfsport, den du machst?«
»Capoeira. Ist ein brasilianischer Kampftanz.«
»Und ihr macht Musik dabei?« Sie scheint wirklich interessiert zu sein, aber ich hab keine Lust zu plaudern.
»Ja.«
»Sag mal, ist das Ben?« Mittlerweile ist sie bei den Fotos über meiner Kommode angelangt und zeigt auf ein Gruppenfoto, das in der Mitte hängt. Ich kenne jeden Pixel von dem Bild. Ja, es ist Ben, und mein Gesicht wird heiß.
Ich brauche Zeit, gehe langsam zu ihr rüber und schaue interessiert auf das Foto. »Ja, das ist Tronco, also Ben, meine ich.« Meine Stimme klingt ein bisschen brüchig, und ich hoffe, dass sie es nicht merkt. »Ist aber superalt … also, das Foto.«
Ich weiß noch genau, wann es aufgenommen wurde: Es war unser letzter gemeinsamer Workshop, vor etwas mehr als vier Jahren. Eine Woche später war Ben weg. Bis gestern.
Abschied von Ben
I don’t like Mondays, dröhnt es laut aus meiner Anlage, keine Ahnung, warum der Sender diesen uralten Song spielt. Wahrscheinlich extra für mich. Ich drehe die Lautstärke hoch und schmeiße mich aufs Bett. Wie recht du hast, ich hasse diesen Tag auch! Aber erst seit heute. Zwei Jahre lang war es anders, zwei Jahre lang bestand die Woche für mich nur aus Montagen und Mittwochen. Da ist Capoeira. Doch nicht nur das war es, was diese Tage für mich so besonders machte. Es war Ben.
Und es ist Ben, der mir den Montag ab heute zu meinem persönlichen Horrortag macht. Ben geht nach Brasilien.
Heute feiern wir seinen Abschied. Ich wusste lange nicht, ob ich überhaupt hingehen soll. Aber die Chance, ihn noch ein letztes Mal zu sehen, kann ich mir nicht entgehen lassen. Vielleicht nimmt er mich heute endlich einmal wahr, verliebt sich genau heute unsterblich in mich, cancelt seinen Flug und bleibt bei mir. So was soll es ja geben, und in meinen Träumen läuft es immer so ab: Ben und ich – forever!
Meine Eltern würden sicher die Krise kriegen, was ihn in meinen Augen nur noch heldenhafter macht. Ben würde mich beschützen, mich hier rausholen, mich mitnehmen …
Ben kommt wie immer zu spät, grinst in die Runde und nimmt seinen Stammplatz ein, bei den Älteren ganz vorne. Ich rutsche ein wenig zur Seite und kann ihn schräg durch die Reihen sehen. Ich weiß, dass ich ihn anstarre, aber das ist mir heute egal. Mir bleiben nur noch diese neunzig Minuten mit ihm, und ich sauge alles auf, was er mir bietet. Mein Blick gleitet über seinen Rücken, und ich sehe unter dem weißen T-Shirt seine Muskeln arbeiten. Ben ist riesig, nicht nur für mich. An ihm ist alles groß, breit und stark. Tronco wird er hier genannt, das bedeutet Stamm. Nachzulesen auf seinem Oberarm, in den Wurzeln von einem Baum, der sich über seine ganze rechte Schulter ausbreitet. Ich sehe sein Lächeln im Spiegel und sogar die Grübchen in seinen Wangen. Aber das Lächeln gilt nicht mir, es strahlt zu Anna.
Heute gibt es keine neuen Schritte, kein Techniktraining, heute gibt es nur die große Roda, den Abschiedskreis für Tronco. Er darf mit jedem ein letztes Mal kämpfen. Die Trommel gibt den Rhythmus vor, unsere Hände klatschen im Takt, und wir beginnen zu singen. Ich lasse mich mitziehen, singe lauter als sonst und behalte ihn im Auge, die ganze Zeit. Er schwitzt, seine blonden, verstrubbelten Haare werden wie immer von einem roten Band nach hinten gehalten, sein Atem geht schwer. Es ist anstrengend für ihn, aber er gönnt sich kaum eine Pause. Tronco ist einer der Besten, unterhalb seines durchtrainierten Bauches baumelt an seinen Hüften die grüne Kordel, die drittletzte vor dem Mestre-Titel.
Dann bin ich dran: Puma! Mit klopfendem Herzen gehe ich auf ihn zu, wische mir meine feuchten Hände noch einmal an meiner Hose ab, bevor ich seine über Kreuz fasse. Das Eröffnungsritual. Ich halte seine Hände, spüre jeden einzelnen seiner Finger und umschließe sie fest. Wir hocken direkt voreinander, und ich sehe ihn an. Es ist ungewohnt. Sonst schaue ich meistens weg, wenn er mir so nah ist. Es scheint ihn zu irritieren. Richtig so, Tronco, nimm mich endlich wahr!
Der Mestre gibt uns ein Zeichen, und wir beginnen unser Spiel. Tronco ist vorsichtig, das merke ich sofort, er lässt mir viel Raum, nimmt sich zurück und legt wesentlich weniger Kraft in seine Bewegungen als bei den anderen. Brauchst du nicht, signalisiere ich ihm und greife an. Mein Adrenalinspiegel ist außerhalb jeglicher Norm, mein Puls schlägt hart gegen meinen Hals, und in jeden Kick, in jede Drehung lege ich meine ganze verzweifelte Kraft. Ich lasse Tronco nicht aus den Augen, verbohre mich in seinen Blick und versuche, ihn magnetisch zu mir rüberzuziehen. Er muss was tun, er muss dagegenhalten, um nicht zu verlieren. Und er tut es, er lässt seine Vorsicht fliegen und steigt mit ein. Natürlich könnte er mich plattmachen. Er ist mehr als einen Kopf größer, fünf Jahre älter und wiegt sicher das Doppelte von mir, aber ich bin wendig, schlängle mich unter seinen Angriffen immer wieder raus und fliege über meine Hände zurück, bevor ich erneut auf ihn zukomme. Und immer wieder zeigt er mir sein herausforderndes Grinsen, das anerkennende Aufblitzen seiner Augen, auf das ich so lange habe warten müssen.
Viel zu schnell ist es vorbei. Tronco bleibt stehen, kommt auf mich zu, und ich beginne zu zittern. Ich weiche seinem Blick nicht aus, hebe meine Arme und schließe sie um seinen Körper. Das macht man nach einem Kampf immer so, doch für mich bedeutet diese Umarmung heute alles. Ich spüre seine Hitze, seinen Herzschlag und halte ihn fest. Jetzt muss er es sagen, ich habe es immer wieder geträumt. Ein Flüstern, ganz leise und nur für meine Ohren bestimmt: »Ich liebe dich, Puma! Ich bleibe bei dir!«
Ich warte, höre seinen Atem an meinem Ohr und dann seine raue Stimme: »Das war der Hammer, Puma! Respekt!« Ein anerkennendes Schulterklopfen hat er noch für mich übrig, bevor er sich von mir löst und sich auf den nächsten Kampf vorbereitet.
Respekt, hallt es in mir nach. Ich will deinen beschissenen Respekt nicht. Verdammt, Ben, ich liebe dich!
Zuschauen kann ich nicht mehr, jeder Blick tut weh. Ich hab ihn verloren, ohne ihn je gehabt zu haben. Heulen will ich nicht, aber ich schaffe es nicht, die Tränen wegzublinzeln. Jetzt zu gehen ist blöd, bleiben geht aber auch nicht. Ich entscheide mich für blöd, drehe mich um und haue ab.
»Dann kennst du Ben gut?«
Ob Heitmeier was gemerkt hat, weiß ich nicht, glaube es aber schon, denn ich fühle mich total gescannt. Auf meiner Stirn sammelt sich Schweiß, ich drehe mich weg und setze mich wieder aufs Bett.
»Wir waren nicht in der gleichen Liga.«
»Wie meinst du das?«
»Tronco war einer der Besten. Und die bleiben unter sich. Er ist dann vor – ich weiß gar nicht genau – vier Jahren oder so nach Brasilien abgehauen.«
Vor vier Jahren, drei Monaten und zwei Tagen.
»Aber gestern Abend war er da.«
Und wie er da war! Ich sehe sein Gesicht, spüre seine Hand und erinnere mich an jedes Wort von ihm. »Ja.«
Heitmeier setzt sich auf meinen Schreibtischstuhl, schlägt ihre Beine übereinander und holt Zettel und Stift aus ihrer Jackentasche. Es geht los.
»Also, Kim, was ist gestern Abend passiert?«
»Es hat gebrannt.«
Mittlerweile nerve ich sie wirklich, ihre Schultern sacken nach vorne, ihr Blick sucht das Fenster, und sie atmet tief durch, bevor sie weitermacht. »Hattet ihr Streit?«
Bei dieser Frage lässt sie mich nicht aus den Augen, und ich bewege mich nicht. Das mach ich immer, wenn ich leicht panisch werde. Ist ein guter Trick, verwirrt den Gegner und spart Kraft. »Wer? Ben und ich?« Dummstellen ist auch immer gut.
»Ich versteh dich nicht.« Heitmeier schüttelt den Kopf. »Muss ich aber auch nicht. Ich weiß nur nicht, ob Jasper dich verstehen würde, wenn er miterleben könnte, wie überaus gut du mit uns zusammenarbeitest.«
Jetzt atme ich tief durch und frage betont gelangweilt: »Was genau willst du denn wissen?«
»Ich möchte, dass du mir erzählst, wie der Abend abgelaufen ist.« Heitmeier ist jetzt voll Polizei, ihr Ton ist nüchtern, ihr Blick ernst, und ich stelle mich brav.
»Die Party fing um sieben an. Dann haben sich erst mal alle aufs Essen gestürzt. Jeder hatte was mitgebracht, das hatten die echt gut organisiert.«
»Wer ist die?«
»Es gab eine Gruppe, die die Party vorbereitet hat. Jasper gehörte auch dazu.«
»Wer noch?«
»Keine Ahnung … Jan war dabei. Ein Freund von Jasper. Hannes auch, der gehört zum Hof. Aber die anderen?« Ich kann mich nicht erinnern. Ehrlich.
Ihr scheint es zu reichen, sie nickt und schweigt. Ich soll wohl weitermachen, nur wie?
»Was genau willst du denn wissen? Soll ich dir jetzt jedes Lied aufzählen, zu dem wir getanzt haben? Oder jeden, mit dem ich mich unterhalten habe?«
Sie schaut genervt zur Decke, und ich werde wütend. »Ich mein das ernst! Ich hab keinen Plan, wie ich das hier machen soll.«
Heitmeier hilft. »Ihr habt also getanzt.«
»Ja, aber nicht alle. Einige standen an der Theke, einige waren draußen zum Rauchen und Quatschen. Ich hab viel getanzt.«
»Wurde drinnen auch geraucht?«
»Am Anfang musste Hannes einen rausschmeißen, weil der mit ’ner Kippe an der Bar stand. Bauer Jeschke gibt uns oft die Scheune zum Feiern. Und dass da Rauchverbot ist, dass wir keine Kerzen oder so anmachen dürfen, wissen eigentlich alle. Bis auf den scheinbar, war aber kein großer Act.«
Sie nickt. »Und Jasper? Hat der auch getanzt?«
Mir fällt es leichter, Fragen zu beantworten, als einfach so rumzureden.
»Nee, der tanzt nicht gern. Am Anfang war er schon bei uns, aber später halt woanders. Wahrscheinlich bei Jan und Tina oder den anderen aus seiner Mannschaft.«
Heitmeier schaut komisch zu mir rüber.
»Ey, das war ’ne Abiparty! Kein Cliquentreff oder so. Jasper und ich kannten da jeden, seit Jahren. Da muss man nicht die ganze Zeit aufeinanderhocken. Das machen wir eh nie.«
»Ist Jasper eifersüchtig?«
»Keine Ahnung«, antworte ich und lache auf, als ich die großen Fragezeichen in ihren Augen sehe. »Mal ehrlich, kannst du dir echt vorstellen, dass sich Typen an mich ranschmeißen?«
»Sehr gut sogar!« Sie meint es tatsächlich ernst. »Vielleicht nicht gerade die ganz schüchternen. Aber für viele andere bist du mit Sicherheit die Herausforderung. Wer knackt Kim?«
»Blödsinn!« Ich versuche, überzeugend zu klingen, aber in mir zieht sich alles zusammen.
Hat Ben mich gestern nur verarscht? Ging es ihm nur darum, mich zu knacken? Zu ihm passen würde es – zumindest zu dem Ben von früher.
Ich lehne mich zurück, spüre mein schweißnasses Shirt im Rücken und atme demonstrativ genervt aus. »Ich hab mir den Besten geangelt. Und das weiß jeder! Glaub mir, da gräbt schon lange keiner mehr.«
Sie schluckt es, ihr Lachen verschwindet. »Wo warst du, Kim, als das Feuer ausbrach?«
Endlich, da ist sie, die Eine-Million-Euro-Frage. Ich hatte genug Zeit, mich genau auf die Antwort vorzubereiten.
»Ich war auf dem Klo.«
»Du warst wo?« Heitmeier kann genauso erstaunt gucken wie Jauch. Nee, besser sogar, bei ihr wirkt es echt.
»Auf dem Klo!« Die Idee kam mir vorhin, als ich kotzend über der Schüssel hing. Und ich muss sagen, sie ist genial. Erstens, weil ich wirklich aus der Richtung gekommen bin, mich da also bestimmt irgendwer gesehen hat. Und zweitens wird sie sicherlich nicht fragen, ob es dafür Zeugen gibt.
Doch Heitmeier ist scheinbar nichts zu doof, denn sie fragt tatsächlich: »Allein?«
»Kennst du das Klo da?«
»Nein.«
»Dann schau es dir mal an. Ist selbst für’n Quicky zu eng.«
»Kann es dafür wirklich zu eng sein?«
Ich kann nicht anders, ich muss lachen. Es ist das Echteste, was ich seit gestern Abend von mir gebe, und es tut gut.
»Ich bin mal gespannt, wie die Kollegen auf das Protokoll reagieren werden.« Heitmeier wird wieder ernst, und ich schalte zurück auf Vorsicht.
»Wo Jasper war, weißt du also nicht. Aber ist dir an dem Abend irgendetwas aufgefallen? Hatte er Streit mit irgendwem? Hat er viel getrunken? Hat er sich anders benommen, als du es sonst von ihm kennst?«
»Trinken tut er nie viel. Ein Bier oder so. Saufen, rauchen – das macht er nicht.«
Und ob er sich anders benommen hat? Ja klar! Wäre ja auch seltsam, wenn nicht.
»Gab’s irgendwelchen Ärger auf der Party?«
Ich schüttle den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste.« Doch dann fallen mir plötzlich Tim und Marek ein, wie sie in der Scheune aufgetaucht sind und Stress gemacht haben. Soll ich das sagen?
»Was ist, Kim?« Sie hat es gemerkt.
»Ich hab keine Ahnung, wann das war, aber nach dem Essen sind zwei Jungs aus unserer Stufe aufgetaucht. Die waren nicht eingeladen, und Jasper und ein paar andere haben mit denen rumdiskutiert.« Fühlt sich blöd an, das zu erzählen, Heitmeier hat wieder diesen neugierigen, ernsten Blick. Ich sag ihr schnell, dass die beiden dann sofort wieder verschwunden sind.
Aber sie beißt sich fest. »Wie heißen die Jungs?«
»Tim und Marek.«
»Und wieso waren die beiden nicht eingeladen?«
»Die sind von der Schule geflogen. Die haben Scheiße gebaut, kurz vor den Prüfungen.«
»Und was für eine Scheiße war das?«
»Die sind in der Schule eingebrochen und wollten die Klausuren checken. In der Nacht vor der Prüfung. Hat zwar nicht geklappt, gab aber tierisch Ärger. Auch am nächsten Morgen noch. Der Direktor meinte, da wär noch jemand dabei gewesen, hat sich total aufgespielt und Druck gemacht. War natürlich blöd für uns alle. Aber … am besten fragst du die Mutter von Tim, die ist die Sekretärin.«
Heitmeier steht auf, und ich hoffe inständig, dass es das jetzt war.
»Okay.« Ihr Ton lässt mich aufatmen, denn er hat etwas Abschließendes. »Für mich reicht es jetzt erst mal. Und ich denke, für dich auch, oder?«
»Schon lange«, antworte ich und lege mich hin. Mit geschlossenen Augen stelle ich jetzt meine Frage und hoffe auf die eine Million. »Sagst du mir, wie es Jasper geht?«
Im Zimmer ist es ganz still. Ich höre sie atmen, ich spüre, wie sie kämpft und ich verliere.
»Ich kann das nicht, Kim. Solche Informationen darf ich nur der engsten Familie weitergeben. Es tut mir leid!«
Sie geht an mir vorbei, bleibt aber an der Tür stehen und dreht sich noch einmal um. »Ich sag unten, dass du noch Ruhe brauchst.«
»Du arbeitest echt für den falschen Laden.«
Ich kann es gar nicht glauben, aber nach Heitmeiers Abgang konnte ich tatsächlich einschlafen. Und was mich noch mehr erstaunt: Die da unten lassen mich wirklich in Ruhe. Keine Ahnung, was Heitmeier denen erzählt hat, aber aufgetaucht ist zumindest niemand.
Meine Haare stinken nach Rauch, und auch dem Rest kann Wasser nicht schaden.
Als ich wenig später nach unten gehe, treffe ich im Wohnzimmer zum Glück nur auf meine Mutter, die am Telefon hängt, aber sofort auflegt, als sie mich reinkommen sieht.
»Na, hast du ein bisschen geschlafen?«
»Nee, ich hab oben Party gemacht.«
»Möchtest du was essen? Ich habe noch …«
»Super Idee! Damit ich gleich wieder aufs Klo renne?«
In einer Sache ist meine Mutter unschlagbar, und das ist weghören. Egal, was man ihr vor den Kopf knallt, sie macht einfach weiter mit ihrem Programm, und das heißt im Moment: Ich sorge liebevoll für meine Tochter.
Lächerlich!
Ich hole mir eine Cola aus dem Kühlschrank und setze mich im Schneidersitz auf einen Stuhl am Esstisch. Ich brauche jetzt Infos und wechsle den Modus.
»Weißt du was von Jasper?«
Meine Mutter steht auf und kommt zu mir rüber, aber bevor sie auf die Idee kommen kann, meine Hand zu nehmen, verschränke ich die Arme vor der Brust.
»Papa ist heute Morgen gleich in die Klinik gefahren und hat mit dem zuständigen Arzt gesprochen. Er will Jaspers Behandlung übernehmen, und ich denke, es wird klappen.«
Als ob damit alles gut wird. Es ist ihr typisches Schema: Papa macht = alles gut! Wie kann man nur so blind sein?
»Ich hab nach Jasper gefragt.«
»Sie haben das Schlimmste befürchtet, aber eine Hirnblutung konnten sie zum Glück ausschließen.«
»Hirnblutung?« Was soll das denn? Verbrennungen, Rauchvergiftung, klar! Aber eine Kopfverletzung?