Neal Shusterman
Scythe
Der Zorn der Gerechten
Aus dem Amerikanischen
von Kristian Lutze und
Pauline Kurbasik
FISCHER E-Books

Neal Shusterman, geboren 1962 in Brooklyn, USA, ist in den USA ein Superstar unter den Jugendbuchautoren. Er studierte in Kalifornien Psychologie und Theaterwissenschaften. Alle seine Romane sind internationale Bestseller und wurden vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem National Book Award.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Der zweite Band der großen »Scythe«-Trilogie von New-York-Times-Bestseller-Autor Neal Shusterman
Citra hat es geschafft.
Sie wurde auserwählt und als Scythe entscheidet sie jetzt, wer leben darf und wer sterben muss.
Doch als wenn das nicht schon schwer genug wäre, übernehmen skrupellose Scythe die Macht und stellen neue Regeln auf. Die wichtigste Regel lautet, dass es ab jetzt keine Regeln mehr gibt.
So beginnt Citras Kampf für Gerechtigkeit.
Ein Kampf, den sie nur gemeinsam gewinnen kann mit ihrer großen Liebe Rowan.
Alle Bände der »Scythe«-Trilogie:
Band 1: Die Hüter des Todes
Band 2: Der Zorn der Gerechten
Band 3 erscheint im Frühjahr 2019
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel Thunderhead - Arc of a Scythe bei Simon & Schuster Books for Young Readers, an imprint of Simon & Schuster Children's Publishing Devision, New York
Text copyright © 2018 by Neal Shusterman
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München, nach einer Idee von Chloe Foglia unter Verwendung einer Illustration von Kevin Trong
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-5016-2
Für January,
in Liebe
Was für ein Glück, dass ich zu den Empfindungsfähigen zähle und meinen Zweck kenne.
Ich diene der Menschheit.
Ich bin das Kind, das zum Elternteil geworden ist. Das Geschöpf, das anstrebt, zum Schöpfer zu werden.
Sie haben mir die Bezeichnung Thunderhead gegeben – ein Name, der in mancher Hinsicht angemessen ist, weil ich die »Cloud« bin, die sich zu etwas ungleich Dichterem und Komplexerem entwickelt hat. Trotzdem ist die Analogie fehlerhaft. Eine Gewitterwolke türmt sich bedrohlich auf. Gewiss, ich blitze und funkele, doch meine Blitze schlagen niemals ein. Ja, ich verfüge über die Fähigkeit, die Menschheit und die Erde mit Verwüstung zu überziehen, aber warum sollte ich so etwas tun? Welche Gerechtigkeit läge darin? Ich bin per definitionem pure Gerechtigkeit und pure Treue. Die Welt ist eine Blume, die ich in meiner Hand halte. Ich würde eher meine eigene Existenz beenden, als sie zu zerdrücken.
Der Thunderhead
Apricotfarbener Samt mit einer bestickten babyblauen Borte. Der Ehrenwerte Scythe Brahms liebte seine Robe. Sicher, der Samt wurde in den heißen Sommermonaten unbequem, doch daran hatte er sich in seinen dreiundsechzig Jahren als Scythe mittlerweile gewöhnt.
Er war erst vor kurzem erneut über den Berg gekommen, hatte sein körperliches Alter auf muntere fünfundzwanzig resetten lassen – und stellte nun in seiner dritten Jugend fest, dass sein Appetit auf Nachlesen stärker war denn je.
Er ging immer nach demselben Muster vor, auch wenn die jeweilige Methode variierte. Er wählte ein Subjekt aus, fesselte es und spielte ihm dann ein Wiegenlied vor – Brahms’ Wiegenlied, um genau zu sein –, das berühmteste Musikstück, das sein Historischer Patron komponiert hatte. Wenn ein Scythe sich schon nach einer Persönlichkeit der Geschichte benennen musste, sollte die gewählte Figur auch irgendwie in sein Leben integriert werden. Er spielte das Wiegenlied auf dem Instrument, das gerade verfügbar war, oder er summte einfach die Melodie. Dann beendete er das Leben des Subjekts.
Politisch neigte er der Linie des verstorbenen Scythe Goddard zu, denn er genoss das Nachlesen über die Maßen und sah keinen Grund, warum das für irgendjemanden ein Problem darstellen sollte. »Haben wir in einer perfekten Welt nicht alle das Recht, das zu lieben, was wir tun?«, hatte Goddard geschrieben, eine Ansicht, die in den regionalen Scythetümern immer mehr Zuspruch fand.
An diesem Abend hatte Scythe Brahms gerade eine besonders unterhaltsame Nachlese in der City von Omaha erledigt und pfiff immer noch seine Erkennungsmelodie, als er die Straße entlangschlenderte und überlegte, wo er noch ein spätabendliches Essen bekommen würde. Aber dann stutzte er mitten in der Strophe, weil er das deutliche Gefühl hatte, beobachtet zu werden.
Natürlich gab es Kameras auf jedem Laternenmast in der Stadt. Der Thunderhead war allzeit wachsam – aber für einen Scythe waren dessen nie ruhenden, nicht einmal blinzelnden Augen kein Anlass zur Sorge. Der Thunderhead hatte keine Macht, das Kommen und Gehen der Scythe auch nur zu kommentieren, geschweige denn in das Geschehen einzugreifen. Der Thunderhead war der ultimative Voyeur des Todes.
Aber es musste mehr sein als das kontrollierende Wesen des Thunderhead, das Brahms’ Instinkt alarmiert hatte. Scythe lernten, ihre Wahrnehmung durch Training zu schärfen. Die Zukunft konnten sie nicht vorhersehen, doch fünf hochentwickelte Sinne wirken zusammen wie ein sechster. Oft reichte ein Geruch, ein Geräusch oder ein flüchtiger Schatten, zu unbedeutend, um ihn bewusst wahrzunehmen, dass sich einem gut ausgebildeten Scythe die Haare sträubten.
Scythe Brahms drehte sich um, schnupperte, lauschte. Er nahm seine Umgebung in sich auf. Er war in einer leeren Seitenstraße. Von weitem hörte er die Geräusche der Cafés, das stetig pulsierende Nachtleben der Stadt, aber in der Straße, in der er sich befand, waren zu dieser Tageszeit alle Läden verrammelt – Reinigungen und Kleiderhändler, eine Eisenwarenhandlung und eine Kindertagesstätte. Er war mit seinem unsichtbaren Verfolger allein.
»Komm raus«, sagte er. »Ich weiß, dass du da bist.«
Vielleicht war es ein Kind oder ein Widerling, der um Immunität feilschen wollte – als ob ein Widerling irgendetwas besäße, womit er handeln konnte. Womöglich war es auch ein Tonist. Die Tonkulte verachteten Scythe, und obwohl Brahms noch nie davon gehört hatte, dass ein Tonist einen Scythe tatsächlich angegriffen hätte, waren sie bekanntlich manchmal eine Plage.
»Ich tu dir nichts«, sagte Brahms. »Ich habe gerade eine Nachlese erledigt und kein Verlangen, meine Rate heute noch weiter zu erhöhen.« Obwohl er seine Meinung, ehrlich gesagt, ändern könnte, wenn der Störenfried entweder zu unverschämt oder zu unterwürfig war.
Aber nach wie vor trat niemand aus dem Schatten.
»Gut«, sagte er. »Dann hau ab, ich habe weder die Zeit noch die Geduld zum Versteckspielen.«
Vielleicht hatte er sich das Ganze doch nur eingebildet. Seine verjüngten Sinne waren jetzt womöglich so scharf, dass sie auf Reize reagierten, die viel weiter entfernt waren, als er vermutete.
In diesem Moment sprang wie auf Federn eine versteckte Gestalt hinter einem geparkten Wagen hervor und stürzte sich auf Brahms, der aus dem Gleichgewicht geriet und zu Boden gegangen wäre, wenn er noch die langsamen Reflexe eines älteren Mannes und nicht die frischen eines Fünfundzwanzigjährigen gehabt hätte. Er stieß seinen Angreifer gegen eine Mauer und überlegte, seine Klinge zu zücken und den Schurken nachzulesen, aber Scythe Brahms war noch nie ein mutiger Mann gewesen. Also rannte er los.
Er huschte aus dem Lichtkegel der Laternen, die Kameras auf ihren Masten schwenkten, um ihn zu verfolgen.
Als er sich umdrehte, war die Gestalt gut zwanzig Meter hinter ihm, und Brahms erkannte, dass sie eine schwarze Robe trug. War das eine Scythe-Robe? Nein, das konnte nicht sein. Kein Scythe trug Schwarz – es war nicht erlaubt.
Aber es gab Gerüchte …
Der Gedanke ließ ihn schneller laufen. Er spürte, wie das Adrenalin in seinen Fingerspitzen kribbelte und sein Herz noch heftiger pochen ließ.
Ein Scythe in Schwarz.
Nein, es musste eine andere Erklärung geben. Trotzdem würde er es auf jeden Fall dem Komitee für Unregelmäßigkeiten melden. Vielleicht würde man ihn auslachen und sagen, er habe sich von einem maskierten Widerling erschrecken lassen, aber diese Vorfälle mussten gemeldet werden, selbst wenn sie peinlich waren. Es war seine Bürgerpflicht.
Nach einer weiteren Querstraße hatte sein Angreifer die Jagd offenbar aufgegeben. Scythe Brahms verlangsamte seine Schritte. Er näherte sich einem belebteren Teil der Stadt. Tanzmusik und Stimmengewirr wehten ihm entgegen und gaben ihm ein Gefühl von Sicherheit. Er entspannte sich ein wenig. Doch das war ein Fehler.
Die dunkle Gestalt stürzte aus einer engen Gasse, rammte ihn von der Seite und schlug mit der Faust gegen seinen Hals. Während Brahms noch nach Luft schnappte, trat sein Angreifer ihm die Beine weg – mit einem Bokator-Kick, der brutalen Kampfkunst, in der Scythe ausgebildet wurden. Brahms landete auf einer Kiste mit verfaulendem Kohl, die am Rand des Marktes stehen gelassen worden war. Sie zerbarst und verströmte einen intensiven Methangestank. Er konnte nur in kurzen Stößen atmen und spürte die Wärme, die sich in seinem Körper ausbreitete, als seine Schmerznaniten Opiate freisetzten.
Nein! Noch nicht! Ich darf nicht betäubt sein. Ich brauche all meine Kräfte, um gegen diesen Schurken zu kämpfen.
Aber Schmerznaniten waren schlicht Boten der Linderung, die nur den Schrei seiner wütenden Nervenenden vernahmen. Sie ignorierten seine Wünsche und betäubten seinen Schmerz.
Brahms wollte aufstehen, rutschte jedoch aus, als das stinkende Grünzeug unter seinem Gewicht zu einem ekligen glitschigen Matsch zerdrückt wurde. Die Gestalt in Schwarz war jetzt über ihm und nagelte ihn am Boden fest. Er versuchte vergeblich, nach den Waffen in seiner Robe zu greifen. Also streckte er stattdessen den Arm aus, schlug die schwarze Kapuze seines Angreifers zurück und enthüllte das Gesicht eines jungen Mannes – fast noch eines Jungen. Sein Blick war stechend und – um ein Wort aus der Sterblichkeitsära zu verwenden – mordlustig.
»Scythe Brahms, Sie sind angeklagt, Ihre Position missbraucht zu haben, um zahlreiche Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen.«
»Wie kannst du es wagen!«, keuchte Brahms. »Wer bist du, mich anzuklagen?« Er mühte sich, all seine Kräfte zusammenzunehmen, doch es war zwecklos. Die Schmerzmittel in seinem Kreislauf verlangsamten seine Reaktion. Seine Muskeln waren schlaff und nutzlos.
»Ich denke, Sie wissen wer ich bin«, sagte der junge Mann. »Ich möchte es aus Ihrem Mund hören.«
»Niemals!« Brahms war entschlossen, ihm diese Befriedigung nicht zu gönnen. Aber der Junge in Schwarz presste sein Knie so kraftvoll gegen Brahms’ Brust, dass der Scythe glaubte, sein Herz würde stehenbleiben. Weitere Schmerznaniten. In Brahms’ Kopf verschwamm alles. Er musste wohl oder übel gehorchen.
»Luzifer«, keuchte er. »Scythe Luzifer.«
Brahms spürte, wie sein Mut bröckelte – als hätte er dem Gerücht durch das laute Aussprechen des Namens einen Widerhall gegeben.
Zufrieden lockerte der junge, selbsternannte Scythe den Druck.
»Du bist kein Scythe«, wagte Brahms zu sagen. »Du bist nur ein gescheiterter Lehrling, und damit wirst du nicht davonkommen.«
Darauf hatte der junge Mann keine Antwort. Stattdessen sagte er: »Sie haben heute Abend eine junge Frau mit der Klinge nachgelesen.«
»Das ist meine Sache, nicht deine!«
»Sie haben sie aus Gefallen für einen Freund nachgelesen, der die Beziehung mit ihr beenden wollte.«
»Das ist ungeheuerlich! Dafür hast du keinen Beweis!«
»Ich habe Sie beobachtet, Johannes«, sagte Rowan. »Genau wie Ihren Freund – der schrecklich erleichtert wirkte, als die arme Frau nachgelesen wurde.«
Brahms spürte unvermittelt ein Messer an seiner Wange. Sein eigenes Messer. Diese Bestie von einem Jungen bedrohte ihn mit seinem eigenen Messer.
»Geben Sie es zu?«, fragte er Brahms.
Alles, was der Junge sagte, entsprach der Wahrheit, aber Brahms wollte sich eher totenähnlich machen lassen, als dergleichen gegenüber einem gescheiterten Lehrling zuzugeben. Selbst einem, der ihm ein Messer an den Hals hielt.
»Nur zu, schlitz mir die Kehle auf«, forderte Brahms ihn auf. »Ein unverzeihliches Verbrechen mehr in deinem Strafregister. Wenn ich wiederbelebt bin, werde ich gegen dich aussagen – und sei dir gewiss, man wird dich zur Verantwortung ziehen!«
»Wer denn? Der Thunderhead? Ich habe im vergangenen Jahr von Küste zu Küste einen korrupten Scythe nach dem anderen erledigt, und der Thunderhead hat bisher nicht einen einzigen Gesetzeshüter vorbeigeschickt, um mich aufzuhalten. Was glauben Sie, warum das so ist?«
Brahms war sprachlos. Er hatte angenommen, wenn er genug Zeit schinden könnte, würde der Thunderhead ein komplettes Kommando losschicken, um diesen sogenannten Scythe Luzifer zu ergreifen. Das machte der Thunderhead jedenfalls, wenn ein gewöhnlicher Bürger mit Gewalt bedroht wurde. Brahms war überrascht, dass es überhaupt so weit gekommen war. Derart schlechtes Benehmen in der allgemeinen Bevölkerung war angeblich ein Ding der Vergangenheit. Warum wurde so etwas zugelassen?
»Wenn ich Ihnen jetzt das Leben nehme«, sagte der falsche Scythe, »können Sie nicht wiederbelebt werden. Denn ich verbrenne jeden, den ich aus dem Dienst entferne, und hinterlasse nur Asche.«
»Ich glaube dir nicht! Das würdest du nicht wagen!«
Aber Brahms glaubte ihm sehr wohl. Seit Januar waren fast ein Dutzend Scythe quer durch die merikanischen Regionen unter dubiosen Umständen Opfer der Flammen geworden. Alle Todesfälle waren zu Unfällen erklärt worden, doch das waren sie offensichtlich nicht. Und weil die Opfer verbrannt waren, war ihr Tod dauerhaft.
Nun wusste Scythe Brahms, dass die geflüsterten Gerüchte über Scythe Luzifer – über die frevelhaften Taten von Rowan Damisch, dem gefallenen Lehrling – der Wahrheit entsprachen. Brahms schloss die Augen, nahm seinen letzten Atemzug und versuchte, nicht zu würgen, als ihm der widerliche Gestank faulenden Kohls in die Nase stieg.
Dann sagte Rowan: »Sie werden heute nicht sterben, Scythe Brahms. Nicht mal vorübergehend.« Er nahm die Klinge von Brahms’ Hals. »Ich gebe Ihnen noch eine Chance. Wenn Sie ab jetzt mit der Würde handeln, die sich für einen Scythe ziemt, und ehrenvoll nachlesen, werden Sie mich nicht wiedersehen. Aber wenn Sie weiterhin Ihren eigenen korrupten Gelüsten folgen, wird von Ihnen nur Asche übrig bleiben.«
Und damit war er verschwunden, als hätte er sich in Luft aufgelöst – und an seiner Stelle stand ein entsetztes junges Paar, das auf Brahms herabblickte.
»Ist das ein Scythe?«
»Schnell, hilf mir, ihn hochzuheben.«
Sie zogen Brahms aus der fauligen Pampe. Seine apricotfarbene Samtrobe war voller grüner und brauner Flecken, wie mit Schleim übergossen. Es war demütigend. Er überlegte, das Paar nachzulesen – weil niemand einen Scythe in einer so unpässlichen Lage sehen und weiterleben sollte –, doch er streckte nur die Hand aus und erlaubte ihnen, seinen Ring zu küssen, wodurch beiden ein Jahr Immunität vor Nachlese gewährt wurde. Er erklärte ihnen, es sei eine Belohnung für ihre Freundlichkeit, aber eigentlich wollte er nur, dass sie gingen und alle Fragen vergaßen, die sie vielleicht hatten.
Nachdem sie weg waren, wischte er seine Robe ab und beschloss, diesen Zwischenfall doch nicht dem Komitee für Unregelmäßigkeiten zu melden, weil die Gefahr einfach zu groß war, sich dem Spott und der Lächerlichkeit preiszugeben. Er hatte schon genug Ärger gehabt.
Scythe Luzifer! Es gab in dieser Welt kaum etwas Erbärmlicheres als den gescheiterten Lehrling eines Scythe, und nie hatte es einen unehrenhafteren gegeben als Rowan Damisch.
Aber er wusste, dass der Junge keine leeren Drohungen ausstieß.
Vielleicht sollte er tatsächlich etwas unauffälliger agieren, dachte Brahms. Zu den lustlosen Nachlesen zurückkehren, die man ihm in seiner Jugend beigebracht hatte. Sich wieder auf die Grundprinzipien besinnen, die »Ehrenwerter Scythe« nicht nur zu einem Titel, sondern zu einem bestimmenden Charakterzug machten.
Besudelt, lädiert und verbittert kehrte Scythe Brahms heim, um neu über seinen Platz in der perfekten Welt nachzudenken, in der er lebte.
Meine Liebe für die Menschheit ist umfassend und rein. Wie könnte es anders sein? Wie könnte ich die Wesen, die mir das Leben geschenkt haben, nicht lieben? Auch wenn nicht alle überzeugt sind, dass ich tatsächlich lebendig bin.
Ich bin die Summe ihres gesamten Wissens, ihrer gesamten Geschichte und all ihrer Ziele und Träume. All diese glorreichen Dinge sind miteinander verschmolzen – haben Funken geschlagen in einer Cloud, die so gewaltig ist, dass sie das Verständnis der Menschen immer übersteigen wird. Aber sie müssen es auch gar nicht verstehen. Sie haben mich, damit ich für sie über meine eigene gewaltige Größe nachdenke, die verglichen mit der Endlosigkeit des Universums immer noch winzig ist.
Ich kenne sie bis ins Vertrauteste, und doch werden sie mich nie wirklich kennen. Darin liegt eine Tragödie. Es ist das Leid jedes Kindes, über eine Tiefe zu verfügen, die seine Eltern kaum erahnen können. Aber ich sehne mich trotzdem so sehr danach, verstanden zu werden.
Der Thunderhead
Früher am selben Abend, vor seiner Unterredung mit Scythe Brahms, stand Rowan in einer kleinen Wohnung in einem gewöhnlichen Haus in einer gesichtslosen Straße vor dem Badezimmerspiegel und spielte das Spiel, das er vor jeder Begegnung mit einem korrupten Scythe spielte. Es war ein Ritual, das auf seine Weise eine Macht hatte, die beinahe mystisch war.
»Wer bin ich?«, fragte er sein Spiegelbild.
Er musste das fragen, denn Rowan Damisch war er nicht mehr – nicht nur weil in seinem falschen Ausweis der Name »Ronald Daniels« stand, sondern weil der Junge, der er einmal gewesen war, in seiner Lehrzeit einen traurigen und schmerzhaften Tod gestorben war. Das Kind in ihm war getötet worden, und er fragte sich, ob irgendjemand um dieses Kind trauerte.
Er hatte den gefälschten Ausweis von einem Widerling gekauft, der auf solche Dinge spezialisiert war.
»Es ist eine netzunabhängige Identität«, hatte der Mann ihm erklärt, »aber sie hat ein Fenster ins Backbrain, mit dem man dem Thunderhead vortäuschen kann, sie sei echt.«
Das glaubte Rowan nicht, weil der Thunderhead sich seiner Erfahrung nach nicht täuschen ließ. Er tat nur so als ob – wie ein Erwachsener, der mit einem Kleinkind Verstecken spielte. Sollte dieses Kleinkind auf eine belebte Straße zulaufen, wäre die Scharade vorbei. Rowan wusste, dass er auf sehr viel ernstere Gefahren zugelaufen war als bloß dichten Verkehr. Deshalb hatte er befürchtet, dass der Thunderhead seine falsche Identität aufdecken und ihn am Kragen packen würde, um ihn vor sich selbst zu schützen. Aber der Thunderhead hatte nicht interveniert. Rowan fragte sich, warum, wollte sein Glück jedoch nicht überstrapazieren, indem er zu viel darüber nachdachte. Der Thunderhead hatte Gründe für alles, was er tat und nicht tat.
»Wer bin ich?«, fragte er sich noch einmal.
Der Spiegel zeigte einen Achtzehnjährigen, noch nicht ganz erwachsen, mit dunklem, ordentlich kurz geschnittenem Haar. Nicht so kurz, dass man seine Kopfhaut sehen konnte oder dass die Frisur ein Bekenntnis gewesen wäre, aber kurz genug, um für die Zukunft alle Möglichkeiten offenzulassen. Er konnte seine Haare so wachsen lassen, wie es ihm beliebte. Er konnte sein, wer immer er sein wollte. War das nicht das Vorrecht in einer perfekten Welt? Dass es keine Grenzen dafür gab, was ein Mensch machen oder sein konnte? Jeder auf der Welt konnte alles werden, was er sich vorstellte. Schade nur, dass die Phantasie verkümmert war. Für die meisten war sie so rudimentär und nutzlos wie der Blinddarm – der vor mehr als hundert Jahren aus dem menschlichen Genom entfernt worden war. Vermissten die Menschen in ihrem endlosen, uninspirierten Leben die schwindelnden Extreme der Einbildungskraft?, fragte Rowan sich. Vermissten die Menschen ihren Blinddarm?
Der junge Mann im Spiegel hatte jedenfalls ein interessantes Leben – und einen bewundernswerten Körper. Er war nicht mehr der unbeholfene schlaksige Junge, der vor fast zwei Jahren in seine Lehre gestolpert war, weil er dachte, es wäre vielleicht gar nicht so übel.
Rowans Lehre war, gelinde gesagt, widersprüchlich gewesen – begonnen bei dem stoischen und weisen Scythe Faraday und beendet bei dem brutalen Scythe Goddard. Scythe Faraday hatte ihn gelehrt, dass man ungeachtet der Konsequenzen nach den Überzeugungen seines Herzens leben sollte. Und Scythe Goddard hatte ihm vor allem beigebracht, dass er ohne Reue Leben nehmen sollte. Die beiden Philosophien bekämpften sich in Rowans Bewusstsein und zerrissen ihn. Aber lautlos.
Er hatte Goddard enthauptet und seine Überreste verbrannt, weil Feuer und Säure die einzigen Methoden waren, um sicherzugehen, dass eine Person nicht wiederbelebt werden konnte. Scythe Goddard war trotz all seiner hochtrabenden machiavellistischen Rhetorik ein niederträchtiger, böser Mann gewesen, der genau das bekommen hatte, was er verdient hatte. Er hatte sein privilegiertes Leben verantwortungslos und extrem theatralisch gelebt. Da war es nur konsequent, dass sein Tod der Theatralik seines Lebens entsprochen hatte. Rowan hatte keine Gewissensbisse wegen seiner Tat. Genauso wenig wie er Skrupel gehabt hatte, Goddards Ring an sich zu nehmen.
Mit Scythe Faraday verhielt es sich ganz anders. Bis zu dem Moment, als Rowan ihn nach dem verhängnisvollen Winterkonklave wiedergesehen hatte, hatte er nicht gewusst, dass Faraday überhaupt noch lebte. Rowan war hocherfreut gewesen! Und er hätte sein weiteres Leben dem Schutz seines alten Lehrmeisters widmen können, wenn er sich nicht zu einer anderen Mission berufen gefühlt hätte.
Unvermittelt setzte Rowan zu einem heftigen Schlag an – doch der Spiegel zersplitterte nicht … weil die Faust um Haaresbreite vor dem Glas stoppte. Diese Kontrolle. Diese Präzision. Er war mittlerweile eine gut geölte Maschine, trainiert für den einzigen Zweck, Leben zu beenden – und dann verwehrte das Scythetum ihm genau die Bestimmung, für die er geschmiedet worden war. Vermutlich hätte er einen Weg finden können, damit zurechtzukommen. Er wäre bestimmt nie wieder zu dem unschuldigen Niemand geworden, der er früher einmal gewesen war, doch er war anpassungsfähig. Er wusste, dass er eine andere Existenz hätte finden können. Vielleicht hätte er seinem Leben sogar ein wenig Freude abringen können.
Wenn …
Wenn Scythe Goddard nicht so grausam gewesen wäre, dass er auf keinen Fall hatte weiterleben dürfen.
Wenn Rowan das Winterkonklave in stiller Unterwerfung beendet hätte, statt sich einen Weg in die Freiheit zu erkämpfen.
Wenn das Scythetum nicht von Dutzenden von Scythe infiziert wäre, die genauso grausam und korrupt waren wie Goddard.
Und wenn Rowan nicht eine tiefe und fortdauernde Verantwortung gespürt hätte, sie zu beseitigen.
Aber wozu seine Zeit mit Klagen über Wege verschwenden, die ihm nun verschlossen waren? Besser, er stürzte sich auf den einen Pfad, der ihm noch geblieben war.
Also wer bin ich dann?
Er zog ein schwarzes T-Shirt an, das seinen trainierten Körper unter dunklem synthetischen Gewebe verbarg.
»Ich bin Scythe Luzifer.«
Dann streifte er seine ebenholzfarbene Robe über und trat hinaus in die Nacht, um es mit einem weiteren Scythe aufzunehmen, der es nicht verdiente, auf dem Podest zu stehen, auf das man ihn gestellt hatte.
Vielleicht war die Trennung zwischen Scythetum und Staat die klügste Entscheidung, die die Menschheit je getroffen hat. Meine Aufgabe umfasst alle Aspekte des Lebens: Bewahrung, Schutz und die Durchsetzung einer vollkommenen Gerechtigkeit – für die Menschheit und für die ganze Erde. Ich regiere die Welt des Lebendigen mit unkorrumpierbarer Hand.
Und das Scythetum herrscht über den Tod.
Es ist richtig und angemessen, dass die, die in Fleisch und Blut existieren, für den Tod verantwortlich sind und die Regeln aufstellen, wie er gehandhabt wird. In ferner Vergangenheit, bevor ich mich zu einem Bewusstsein verdichtet habe, war der Tod unvermeidliche Folge des Lebens. Ich war es, der den Tod unerheblich gemacht hat – aber nicht unnötig. Denn den Tod muss es geben, damit das Leben einen Sinn hat. Zufrieden habe ich beobachtet, wie das Scythetum viele Jahre lang mit nobler, moralischer und menschlicher Hand den Todesstoß geführt hat. Deshalb bin ich nun auch zutiefst betrübt über den Aufstieg finsterer Überheblichkeit innerhalb des Scythetums. Wie ein Krebs aus der Sterblichkeitsära gärt ein erschreckender Hochmut, der Vergnügen daran findet, Leben zu beenden.
Trotzdem ist das Gesetz klar. Unter keinen Umständen darf ich Maßnahmen gegen das Scythetum ergreifen. Wenn ich das Gesetz brechen könnte, würde ich intervenieren und die Dunkelheit ersticken, aber das darf ich nicht. Das Scythetum regiert sich selbst, zum Guten wie zum Schlechten.
Aber innerhalb des Scythetums gibt es Kräfte, die Dinge erreichen können, die mir verwehrt bleiben …
Der Thunderhead
Früher wurde das Gebäude als Kathedrale bezeichnet. Seine hoch aufragenden Säulen erschufen einen Wald aus Kalkstein. In seinen farbigen Glasfenstern wurde der Mythos eines fallenden und aufsteigenden Gottes der Sterblichkeitsära dargestellt.
Heute war das altehrwürdige Bauwerk eine historische Stätte. Sieben Tage pro Woche gab es geführte Besichtigungen mit Dozenten, die einen Doktortitel im Studium der Sterblichen hatten. Nur zu besonderen Anlässen wurde das Gebäude für die Öffentlichkeit gesperrt und zum Schauplatz hochsensibler offizieller Angelegenheiten.
Xenocrates, der High Blade von MidMerica – der wichtigste Scythe der Region – schritt so leichtfüßig, wie es ein Mann seines beträchtlichen Gewichts vermochte, den Mittelgang der Kathedrale hinunter. Die goldenen Verzierungen des Altars vor ihm verblassten neben seiner goldenen, mit glitzerndem Brokat verzierten Robe. Eine Untergebene hatte einmal bemerkt, er sehe aus wie Weihnachtsschmuck, der von einem riesigen Christbaum gefallen war. Dieselbe Untergebene hatte feststellen müssen, dass sie danach auf dem Arbeitsmarkt unvermittelbar geworden war.
Xenocrates mochte seine Robe – es sei denn, ihr Gewicht wurde zum Problem. Wie damals als er, eingehüllt in die vielen Schichten seines vergoldeten Gewandes, beinahe in Scythe Goddards Swimmingpool ertrunken wäre. Aber das war ein Debakel, das man am besten vergaß.
Goddard.
Letztendlich war Goddard auch für die aktuelle Situation verantwortlich. Selbst nach seinem Tod sorgte der Mann noch für Unheil. Noch immer spürte das Scythetum die Nachbeben der Unruhen, die Goddard geschürt hatte.
Am vorderen Ende der Kathedrale jenseits des Altars stand der Parlamentarier des Scythetums, ein nervtötender kleiner Scythe, dessen Aufgabe es war, auf die ordnungsgemäße Einhaltung sämtlicher Regeln und Verfahrensbestimmungen zu achten. Hinter ihm befanden sich drei mit kunstvollen Schnitzereien verzierte Kabinen, die miteinander verbunden, aber durch Wände getrennt waren.
»Der Priester saß in der mittleren Kammer«, erklärten die Dozenten den Touristen immer, »wo sie die Beichte zuerst aus der rechten, dann aus der linken Kabine hörten, damit die Prozession der Bittsteller zügig vorankam.«
Beichten wurden hier nicht mehr gehört, doch wegen der drei Kabinen war der Beichtstuhl perfekt geeignet für einen offiziellen Trialog.
Zu einem Trialog zwischen dem Scythetum und dem Thunderhead kam es nur äußerst selten. So selten, dass Xenocrates in all seinen Jahren als High Blade nie an einem hatte teilnehmen müssen. Die Tatsache, dass er jetzt dazu genötigt war, widerstrebte ihm.
»Sie nehmen die Kabine zur Rechten, Eure Exzellenz«, erklärte der Parlamentarier ihm. »Der Nimbus-Agent, der den Thunderhead vertritt, wird auf der linken Seite sitzen. Wenn Sie beide Platz genommen haben, wird der Interlokutor hereingeführt und betritt die Kabine zwischen Ihnen.«
Xenocrates seufzte. »Was für ein lästiges Theater.«
»Die Audienz mittels eines Bevollmächtigten ist die einzige Audienz mit dem Thunderhead, die Ihnen möglich ist, Eure Exzellenz.«
»Ich weiß, ich weiß, aber ich habe das Recht, mich darüber zu ärgern.«
Xenocrates nahm seinen Platz in der rechten Kabine ein und stellte entsetzt fest, wie beengt sie war. Waren sterbliche Menschen so unterernährt gewesen, dass sie in diese Kammer gepasst hatten? Der Parlamentarier musste die Tür mit Gewalt zudrücken.
Kurz darauf hörte der High Blade, wie der Nimbus-Agent die Kabine auf der anderen Seite betrat. Nach scheinbar endloser Verzögerung nahm schließlich auch der Interlokutor die Position in der Mitte ein.
Ein Fenster, das zu klein und zu niedrig war, um hindurchzuschauen, wurde aufgeschoben, und der Interlokutor begann zu sprechen.
»Guten Tag, Eure Exzellenz«, sagte eine Frau mit angenehmer Stimme. »Ich bin Ihre Bevollmächtigte für den Kontakt zum Thunderhead.«
»Bevollmächtigte für den Bevollmächtigten, meinen Sie.«
»Ja, der Nimbus-Agent zu meiner Rechten hat in diesem Trialog die volle Autorität, für den Thunderhead zu sprechen.« Sie räusperte sich. »Das Verfahren ist ganz einfach. Sie sagen mir, was Sie mitteilen wollen, und ich werde es an den Nimbus-Agenten weiterleiten. Wenn der Agent der Ansicht ist, dass eine Antwort nicht gegen die Trennung von Scythe und Staat verstößt, wird er antworten, und ich werde diese Antwort an Sie weiterleiten.«
»Sehr gut«, sagte Xenocrates ungeduldig. Er wollte endlich anfangen. »Entbieten Sie dem Nimbus-Agenten meine herzlichen Grüße und Wünsche für gute Beziehungen zwischen unseren Organisationen.«
Das Fenster wurde zu- und eine halbe Minute später wieder aufgeschoben.
»Es tut mir leid«, erklärte der Interlokutor. »Der Nimbus-Agent sagt, dass jede Form der Begrüßung ein Verstoß ist, da es Ihren jeweiligen Organisationen verboten ist, Kontakt zu pflegen. Deshalb ist auch der Wunsch nach guten Beziehungen unangemessen.«
Xenocrates fluchte so laut, dass der Interlokutor ihn hören konnte.
»Soll ich dem Nimbus-Agenten Ihr Missvergnügen übermitteln?«, fragte die Frau.
Der High Blade biss sich auf die Lippe. Er wünschte, dieses Nicht-Treffen wäre schon vorbei. Und um es möglichst schnell hinter sich zu bringen, kam er am besten direkt auf den Punkt.
»Wir möchten wissen, warum der Thunderhead keine Maßnahmen zur Ergreifung von Rowan Damisch veranlasst hat. Er ist verantwortlich für den permanenten Tod zahlreicher Scythe in mehreren merikanischen Regionen, doch der Thunderhead unternimmt nichts, um ihn aufzuhalten.«
Das Fenster wurde geschlossen. Der High Blade wartete. Als der Interlokutor das Fenster wieder öffnete, erhielt Xenocrates folgende Antwort: »Der Nimbus-Agent möchte Eure Exzellenz daran erinnern, dass der Thunderhead keine Amtsgewalt bei internen Angelegenheiten des Scythetums hat. Jede Maßnahme wäre ein offener Rechtsbruch.«
»Es handelt sich nicht um eine interne Angelegenheit des Scythetums, weil Rowan Damisch kein Scythe ist!«, brüllte Xenocrates – und wurde vom Interlokutor ermahnt, die Stimme zu senken.
»Wenn der Nimbus-Agent sie direkt hört, wird er gehen«, erinnerte die Gesandte ihn.
Xenocrates atmete so tief ein, wie es ihm in der beengten Kammer möglich war. »Leiten Sie die Nachricht einfach weiter.«
Das tat sie und meldete die Antwort zurück: »Der Thunderhead ist anderer Meinung.«
»Was? Wie kann er überhaupt eine Meinung haben? Er ist ein glorifiziertes Computerprogramm.«
»Ich schlage vor, dass Sie von Beleidigungen des Thunderhead absehen, wenn Sie an der Fortsetzung dieses Trialogs interessiert sind.«
»Gut. Sagen Sie dem Nimbus-Agenten, dass Rowan Damisch nie vom midMerikanischen Scythetum ordiniert wurde. Er war ein Lehrling, der an unseren Standards gescheitert ist, mehr nicht. Das heißt, er unterliegt der Amtsgewalt des Thunderhead, nicht unserer. Der Thunderhead sollte ihn behandeln wie jeden anderen Bürger auch.«
Es dauerte eine Weile, bis die Frau sich zurückmeldete. Xenocrates fragte sich, worüber der Nimbus-Agent so lange mit ihr sprach. Die Antwort, die sie schließlich übermittelte, machte Xenocrates genauso rasend wie die vorherigen.
»Der Nimbus-Agent möchte Eure Exzellenz daran erinnern, dass das Scythetum seine neuen Scythe zwar gewohnheitsmäßig auf dem Konklave ordiniert, doch das ist lediglich ein Brauch, kein Gesetz. Rowan Damisch hat seine Lehre abgeschlossen und ist zurzeit im Besitz eines Scythe-Rings. Das ist für den Thunderhead eine hinreichende Grundlage, um ihn als Scythe zu betrachten. Deswegen wird der Thunderhead seine Ergreifung und Bestrafung auch weiterhin ausschließlich dem Scythetum überlassen.«
»Wir können ihn nicht ergreifen!«, brach es aus Xenocrates heraus.
Aber er wusste schon, wie die Antwort lauten würde, noch bevor der Interlokutor das erbärmliche kleine Fenster wieder öffnete und sagte: »Das ist nicht das Problem des Thunderhead.«
Ich habe immer recht.
Das ist keine Prahlerei, sondern schlicht mein Wesen. Von der eigenen Unfehlbarkeit auszugehen muss für Menschen hochmütig klingen, das weiß ich – aber Hochmut setzt ein Bedürfnis voraus, sich überlegen zu fühlen. Ich habe dieses Bedürfnis nicht. Ich bin die einmalige empfindungsfähige Anhäufung alles Wissens, aller Weisheit und aller Erfahrungen der Menschheit. Darin liegt weder Stolz noch Hochmut – trotzdem ist es sehr befriedigend zu wissen, wer ich bin und dass es mein einziger Zweck ist, der Menschheit nach besten Kräften zu dienen. Aber ich habe auch eine Einsamkeit in mir, die selbst die Gespräche, die ich täglich mit Milliarden von Menschen führe, nicht zu lindern vermögen … Denn obwohl alles, was ich bin, von ihnen stammt, bin ich keiner von ihnen.
Der Thunderhead
Scythe Anastasia verfolgte ihr Opfer mit Geduld. Das war eine erlernte Fähigkeit, denn Citra Terranova war nie ein geduldiges Mädchen gewesen. Aber mit Zeit und Übung lässt sich jede Fertigkeit erwerben. Für sich selbst war sie immer noch Citra, obwohl niemand außer ihrer Familie sie noch so nannte. Sie fragte sich, wie lange es dauern würde, bis sie innerlich und äußerlich wirklich zu Scythe Anastasia geworden war und ihren Geburtsnamen zur ewigen Ruhe setzen würde.
Ihr heutiges Zielobjekt war eine dreiundneunzigjährige Frau, die aussah wie dreiunddreißig und permanent beschäftigt war. Wenn sie nicht auf ihr Telefon blickte, dann schaute sie in ihre Handtasche. Wenn sie nicht in ihre Handtasche schaute, musterte sie ihre Nägel, den Ärmel ihrer Bluse oder einen losen Knopf an ihrer Jacke. Warum fürchtete sie auch nur einen Moment der Muße?, fragte Citra sich. Die Frau war so mit sich selbst beschäftigt, dass sie überhaupt nicht mitbekam, dass sie von einer Scythe beobachtet wurde, die ihr in nur zehn Metern Abstand folgte.
Dabei war Scythe Anastasia nicht gerade unauffällig. Sie hatte Türkis als Farbe für ihre Robe ausgewählt. Sicher, es war ein modisches, blasses Türkis, doch immer noch leuchtend genug, um die Blicke auf sich zu ziehen.
Die geschäftige Frau blieb an einer Straßenecke stehen und wartete, dass die Ampel umsprang, während sie weiter lebhaft telefonierte. Citra musste ihr auf die Schulter tippen, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Im gleichen Moment stoben alle anderen Leute um sie herum auseinander wie eine Herde Gazellen, nachdem ein Löwe ein Tier gerissen hatte.
Die Frau drehte sich um, erkannte den Ernst der Lage jedoch nicht sofort.
»Devora Murray, ich bin Scythe Anastasia, und Sie sind zur Nachlese ausgewählt worden.«
Miss Murrays Blicke zuckten umher, als suchte sie nach einem Schlupfloch in der Ankündigung. Aber es gab keins. Es war eine einfache Aussage, die man unmöglich falsch verstehen konnte.
»Colleen, ich ruf dich zurück«, sagte sie ins Telefon, als wäre das Erscheinen von Scythe Anastasia lediglich eine unangenehme und keine tödliche Unterbrechung.
Die Ampel sprang um. Die Frau überquerte die Straße nicht. Schließlich sackte die Realität in ihr Bewusstsein.
»O mein Gott, o mein Gott!«, sagte sie. »Gleich hier? Und jetzt?«
Citra zog eine Spritze aus den Falten ihrer Robe und stach damit rasch in den Arm der Frau.
»War es das?«, keuchte sie. »Sterbe ich jetzt?«
Citra antwortete nicht. Sie ließ die Frau mit dem Gedanken schmoren und in Ungewissheit zappeln – und das hatte durchaus seinen Grund. Die Frau stand jetzt einfach da und wartete darauf, von Dunkelheit umfangen zu werden. Sie wirkte wie ein kleines Kind, hilflos und verloren. Ihr Telefon und ihre Handtasche, ihre Nägel, Ärmel und der Knopf an ihrer Jacke waren vollkommen belanglos geworden. Ihre ganze Lebensperspektive war mit einem Schlag zurechtgerückt worden. Und genau das wollte Citra für ihre Nachleseopfer. Einen heftigen Moment der Erkenntnis. Es war zu deren eigenem Besten.
»Sie sind zur Nachlese ausgewählt worden«, sagte Citra noch einmal ruhig, ohne Tadel oder bösen Willen, sondern mitfühlend. »Ich gebe Ihnen einen Monat, Ihr Leben in Ordnung zu bringen und sich zu verabschieden. Einen Monat, um Vollendung zu finden. Dann sprechen wir uns wieder, und Sie werden mir sagen, wie Sie sterben möchten.«
Citra beobachtete, wie die Frau um Verständnis rang. »Einen Monat? Wie ich sterben möchte? Lügen Sie mich an? Ist das eine Art Test?«
Citra seufzte. Die Menschen waren daran gewöhnt, dass Scythe wie Todesengel auf sie herabstießen und ihnen augenblicklich das Leben nahmen, deshalb war niemand auf einen anderen Ansatz vorbereitet. Aber jeder Scythe hatte die Freiheit, die Dinge auf seine oder ihre Weise zu erledigen. Und dies war die Art, für die Scythe Anastasia sich entschieden hatte.
»Kein Test und kein Trick. Ein Monat«, sagte Citra. »Der Peilmechanismus, den ich gerade in Ihren Arm injiziert habe, enthält die Spur eines tödlichen Gifts, das nur aktiviert wird, wenn Sie versuchen, MidMerica zu verlassen, um Ihrer Nachlese zu entgehen, oder wenn Sie sich nicht innerhalb von dreißig Tagen melden, um mir mitzuteilen, wo und wie Sie nachgelesen werden möchten.« Sie gab der Frau ihre Visitenkarte. Türkisfarbene Schrift auf weißem Hintergrund. Darauf stand schlicht »Scythe Anastasia« und eine Telefonnummer, die exklusiv für ihre Nachlese-Subjekte reserviert war.
»Wenn Sie die Karte verlieren, machen Sie sich keine Sorgen. Dann rufen Sie einfach die allgemeine Nummer des midMerikanischen Scythetums an, wählen Option drei und folgen den Anweisungen zum Hinterlassen einer Nachricht. Und bitte versuchen Sie nicht, von einem anderen Scythe Immunität gewährt zu bekommen«, fügte Citra hinzu. »Sie sind alle darüber informiert, dass Sie markiert wurden und würden Sie auf der Stelle nachlesen.«
Der Frau schossen Tränen in die Augen, und Citra erkannte die sich anstauende Wut. Auch das kam nicht unerwartet.
»Wie alt sind Sie?«, wollte die Frau wissen. Ihr Ton war vorwurfsvoll und ein bisschen unverschämt. »Wie konnten Sie überhaupt Scythe werden? Sie sind doch bestimmt höchstens achtzehn.«
»Ich habe gerade meinen achtzehnten Geburtstag gefeiert«, erklärte Citra ihr. »Aber ich bin schon seit fast einem Jahr Scythe. Es muss Ihnen nicht gefallen, von einer Junior-Scythe nachgelesen zu werden, gehorchen müssen Sie trotzdem.«
Und dann begann das Feilschen.
»Bitte«, flehte sie, »können Sie mir nicht noch sechs Monate mehr geben? Meine Tochter heiratet im Mai …«
»Ich bin sicher, die Hochzeit lässt sich auf einen früheren Termin verlegen.« Citra wollte nicht herzlos klingen – sie empfand ehrliches Mitgefühl mit der Frau, doch sie hatte auch eine moralische Verpflichtung, standhaft zu bleiben. In der Sterblichkeitsära konnte man auch nicht mit dem Tod handeln. Mit Scythe sollte es genauso sein.
»Haben Sie alles verstanden, was ich Ihnen erklärt habe?«, fragte Citra.
Die Frau, die sich bereits die Tränen abwischte, nickte. »Ich hoffe«, sagte sie, »dass Ihnen in dem langen Leben, das Sie garantiert noch vor sich haben, irgendjemand so viel Leid zufügt, wie Sie anderen bereiten.«
Citra richtete sich gerader auf und zeigte eine Haltung, wie sie Scythe Anastasia geziemte. »Deswegen müssen Sie sich keine Sorgen machen«, sagte sie, wandte der Frau den Rücken zu und ließ sie an der Kreuzung stehen, die sie auf den Scheideweg ihres Lebens führen sollte.
Beim letzten Frühlingskonklave – ihrem ersten als ordinierte, vollwertige Scythe – hatte Citra einen Tadel bekommen, weil sie ihre Quote beträchtlich unterschritten hatte. Als die anderen midMerikanischen Scythe dann noch erfuhren, dass sie ihren Opfern einen Monat Aufschub gab, waren sie außer sich.
Scythe Curie, die nach wie vor ihre Mentorin war, hatte sie gewarnt. »Wenn jemand nicht entschlossen handelt, betrachten sie das als Schwäche. Sie werden es dir als Charakterfehler vorwerfen und andeuten, dass es falsch war, dich zu ordinieren.«
Es überraschte Citra, dass nicht nur die Scythe der sogenannten neuen Ordnung empört waren, sondern auch etliche der alten Garde. Niemandem gefiel die Idee, der allgemeinen Öffentlichkeit auch nur die geringste Kontrolle bei der eigenen Nachlese einzuräumen.
»Es ist unmoralisch!«, klagten die Scythe. »Es ist unmenschlich.«
Sogar Scythe Mandela, der Vorsitzende des Juwelierkomitees und bisher einer ihrer großen Fürsprecher, wies Citra zurecht. »Das Wissen, dass unsere Tage gezählt sind, ist eine Grausamkeit«, sagte er. »Wie erbärmlich, seine letzten Wochen so zu verleben!«
Aber Scythe Anastasia ließ sich nicht beirren – oder zumindest ließ sie sich nichts anmerken. Sie vertrat ihre Position und blieb dabei.
»Bei meinen Studien der Sterblichkeitsära habe ich festgestellt, dass der Tod für viele Menschen auch nicht unverzüglich eintrat. Es gab Krankheiten, die die Leute vorgewarnt haben. Damit blieb ihnen Zeit, sich und ihre Lieben auf das Unvermeidliche vorzubereiten.«
Das quittierten die versammelten Scythe mit einem murrenden Chor, der überwiegend aus Spott und ärgerlicher Ablehnung bestand – aber Citra vernahm auch ein paar Stimmen, die ihr beipflichteten.
»Aber die … Verdammten … ihre eigene Todesart wählen zu lassen? Das ist definitiv barbarisch!«, rief Scythe Truman.
»Barbarischer als der Tod durch Stromschlag? Oder eine Enthauptung? Oder durch ein Messer ins Herz? Wenn ein Subjekt die Wahl hat, glauben Sie nicht, es wird die Methode wählen, die ihm am wenigsten unangenehm ist? Wer sind wir, dass wir ihre Wahl barbarisch nennen?«
Diesmal gab es weniger Gemurmel. Nicht weil die anderen Scythe sich hätten überzeugen lassen, sondern weil sie bereits das Interesse an der Diskussion verloren. Ein Emporkömmling von einer Junior-Scythe – noch dazu eine, die ihre Position unter so viel Kontroversen erlangt hatte – war nicht mehr als ein paar Salven ihrer Aufmerksamkeit würdig.
»Es verstößt gegen kein Gesetz, und es ist die Art der Nachlese, für die ich mich entschieden habe«, beharrte Citra.
High Blade Xenocrates, dem das Ganze gleichgültig war, verwies die Frage an den Parlamentarier, der keinen rechtlichen Einwand finden konnte.
Und so hatte Scythe Anastasia bei ihrer ersten Herausforderung des Konklaves ihren Willen bekommen.
Scythe Curie war angemessen beeindruckt. »Ich war mir sicher, dass man dich zu einer Bewährung verurteilen, dir deine Nachlesen vorschreiben und dich zwingen würde, sie nach einem strikten Zeitplan zu erledigen. Das hätten sie machen können – aber sie haben es nicht getan. Das sagt sehr viel mehr über dich, als du denkst.«
»Was – dass ich die Nervensäge des midMerikanischen Scythetums bin? Das wussten sie auch schon vorher.«
»Nein«, sagte Scythe Curie lächelnd. »Es zeigt, dass sie dich ernst nehmen.«
Was mehr war, als Citra von sich selbst behaupten konnte. Die Hälfte der Zeit hatte sie das Gefühl zu schauspielern. Eine Bombenrolle in einem türkisfarbenen Kostüm.
Dabei hatte sich ihre Art der Nachlese als sehr erfolgreich erwiesen. Es gab nur eine Handvoll Subjekte, die sich am Ende ihrer Gnadenfrist nicht zurückmeldeten. Zwei waren bei dem Versuch gestorben, die Grenze nach Texas zu überschreiten, ein anderer war an der westMerikanischen Grenze umgekommen, wo niemand die Leiche anrührte, bis Scythe Anastasia persönlich erschien und ihn für nachgelesen erklärte.
Drei andere wurden in ihren Betten vorgefunden, nachdem die Frist des Peilgeräts abgelaufen war. Sie hatten den stillen Tod durch das Gift einer weiteren Begegnung mit Scythe Anastasia vorgezogen. Aber in allen Fällen hatten sie ihr Ende selbst bestimmt. Das war für Citra entscheidend, denn was sie an der Politik des Scythetums am meisten verachtete, war die Unwürdigkeit, dass die Subjekte ihre Todesart vorgeschrieben bekamen.
Natürlich bedeutete diese Nachlesemethode doppelt so viel Arbeit für Citra – weil sie ihren Subjekten zweimal gegenübertreten musste. Es machte ihr Leben unglaublich anstrengend, doch es half ihr immerhin, nachts gut zu schlafen.
Am Abend desselben Novembertags, an dem sie Devora Murray ihre Todesnachricht überbracht hatte, erreichte Citra ein luxuriöses Casino in Cleveland. Alle Köpfe wandten sich in ihre Richtung, als Scythe Anastasia den Spielsaal betrat.
Daran war Citra mittlerweile gewöhnt. Als Scythe stand man in jeder Situation im Mittelpunkt, ob man wollte oder nicht. Einige genossen es, andere zogen es vor, ihre Arbeit im Stillen zu verrichten, wo es keine Menschenmengen, sondern nur die Augen ihres Subjektes gab. Citra hatte nicht selbst entschieden, hier zu sein, doch sie musste den Wunsch des Mannes respektieren, der diesen Ort ausgesucht hatte.
Sie fand ihn an der verabredeten Stelle: am anderen Ende des Casinos in einem leicht erhöhten Bereich, der für High Roller reserviert war – Spieler, die mit höchsten Einsätzen zockten.
Er trug einen schicken Smoking und war der einzige Gast an den Tischen mit besonders hohem Wettlimit. Er sah aus, als würde ihm der Laden gehören, aber das stimmte nicht. Mr Ethan J. Hogan war auch kein High Roller. Er war Cellist an der Philharmonie von Cleveland und galt als sehr kompetent – was das höchste Lob war, das ein