Herbert Genzmer
Ursprünge, Entwicklung und
Wandel
Vom Deutschen sagt man, es sei eine merkwürdige
Sprache, denn immer dann, wenn es ernst wird, hört
man die Leute sagen: »Das kann ja heiter werden.«
VORWORT
1. VOM INDOEUROPÄISCHEN ZUM DEUTSCHEN
2. DAS MITTELALTER – ALTHOCHDEUTSCH
3. MITTELHOCHDEUTSCH
4. FRÜHNEUHOCHDEUTSCH
5. DER WEG ZUM NEUHOCHDEUTSCHEN – VON DER AUFKLÄRUNG ZUM ENDE DES 19. JAHRHUNDERTS
6. DAS 20. JAHRHUNDERT BIS HEUTE
EXKURS: DAS VATERUNSER
DEFINITIONEN
BIBLIOGRAPHIE
Die Geschichte der deutschen Sprache ist, wie die Geschichte jeder Sprache, immer die Geschichte der Menschen, die sie sprechen. Menschen schaffen sich einen sprachlichen Raum, in dem sie leben, arbeiten und sich bewegen. Mit diesen Aktivitäten formt sich die Sprache und bricht sich den Raum, in dem sie lebt. So zeigt die Geschichte der Sprachentwicklung, dass verschiedene nebeneinander existierende Sprachen sich durch ihre Sprecher und deren Verkehr untereinander gegenseitig beeinflussen.
Dieses Buch über die deutsche Sprache befasst sich sowohl mit ihrem inneren wie ihrem äußeren Bau, denn beide haben die Sprache gestaltet und zu dem gemacht, was sie heute ist. Im Laufe der Zeit wechseln die Einflüsse, einmal nimmt die Sprache verstärkt äußere Einflüsse auf, dann wieder gewinnt sie an Selbstständigkeit und strahlt nach außen ab. Dieses dynamische Wechselspiel wird aufgezeigt. Dabei soll und kann ein kompaktes Buch wie dieses nicht mehr leisten als eine Einführung in das Thema. Die Darstellung folgt der deutschen Sprache von ihren indoeuropäischen Wurzeln, dem rekonstruierten Germanischen und den Anfängen des Deutschen – wie wir es heute kennen – über das Alt-, Mittel- und Frühhochdeutsche bis zum Deutsch unserer Gegenwart in der Vielfalt seiner Dialekte. Auch die jüngste Variante, das Kiezdeutsch, wird berücksichtigt. Die Textbeispiele geben dabei ein deutliches Bild von Lautstand und Schriftsprache in ihrer jeweiligen Zeit.
Die zahlreichen Fachbegriffe, die in der Linguistik zur Eingrenzung von Spracheigenschaften und -besonderheiten verwendet werden, sind in einem Instrumentarium am Ende des Buches zusammengestellt, sodass Leser es wie ein Glossar der Germanistik oder der Linguistik für sich nutzbar machen bzw. an entsprechender Stelle im Buch direkt nachschlagen können.
Ich danke Dr. Helga Bister-Broosen für ihre Zeit, die Gespräche zum Thema und ihre vielfältigen Anregungen.
Steckbrief: Deutsch
Als westgermanische Sprache ist es eine indoeuropäische Sprache. Deutsch steht auf Platz 10 der meistgesprochenen Sprachen der Welt.
Sprecher des Deutschen weltweit:
ca. 105 Mio. Muttersprachler
ca. 80 Mio. Fremdsprachler, davon 55 Mio. in der EU
Deutsch wird gesprochen in:
Frankreich (Elsass-Lothringen), Italien (Walser und Zimbern), Kanada, Südafrika, Chile, Brasilien, Russland, Kasachstan, Togo, Paraguay (in den Mennonitengemeinden), den USA
Deutsch ist Amtssprache in:
Belgien, Deutschland, Liechtenstein, Luxemburg, Österreich, Schweiz, Südtirol, Italien, der EU (Amts- und Arbeitssprache)
Deutsch ist anerkannte Minderheitensprache in:
− Dänemark, Ungarn, Rumänien, der Slowakei, Tschechien, Südafrika
Deutsch hat eine offizielle Stellung in:
− Namibia (Nationalsprache von 1984–90, Amtssprache)
− Polen (Hilfssprache in zahlreichen Gemeinden)
− Krahule/Blaufuß, Slowakei (Amtssprache auf Gemeindeebene)
− Vatikanstaat (Verwaltungs- und Kommandosprache der Schweizergarde)
»Schon als Tier hatte der Mensch Sprache.«
Johann Gottfried Herder
In der Entwicklung von menschlicher Sprache spielt die Hand als Instrument eine wesentliche Rolle. Die Hand diente den Primaten zur Fortbewegung, als Arbeitsinstrument und war ihr Mittel zur Verständigung, die ursprünglich gestisch gewesen sein muss. Noch wichtiger wurde dieses Glied, als der Mensch die Angewohnheit des kletternden Tiers aufgab und sich aufrichtete: die Hände wurden frei und konnten noch gezielter als Instrumente eingesetzt werden. Da die Hände aber frei waren, setzte gleichzeitig der Prozess der Rückbildung der Kieferknochen ein, denn Mund und Zähne mussten nicht mehr zum Zerreißen der Nahrung dienen – die Voraussetzungen für eine geordnete Lautbildung waren gegeben. Der Artikulationsapparat bildete sich im Zuge dieser Entwicklung derart aus, dass er überhaupt erst in der Lage war, differenzierte Laute zu produzieren.
So postulierte der amerikanische Linguist Philip Lieberman (* 1934) in seinen Studien über die Entwicklung des Vokaltrakts und dessen Verhältnis zur parallelen Entwicklung des Gehirns und der Sprache, der Neandertaler habe nicht die anatomischen Voraussetzungen für die menschliche Sprache besessen. Andererseits verweisen mehrere jüngere genetische und anthropologische Untersuchungen – bspw. an dem 1983 entdeckten Zungenbein eines Neandertalers – auf die potentielle Befähigung des Neandertalers zur Entwicklung einer Sprache. Ebenso verweisen die Herstellung und der Gebrauch ausgefeilter Werkzeuge sowie die Ausformung eigener Bestattungskulturen darauf, wie ähnlich dieser Zweig der Gattung Homo dem anatomisch modernen Menschen war.
Der russische Sprachwissenschaftler Nikolai Jakowlewitsch Marr (1865–1934) ging in ähnlicher Weise davon aus, dass Gestik allein nicht zur Verständigung ausreichte, sondern dass sie schon früh und in einer zunehmend komplexer werdenden Umwelt von Lauten begleitet wurde. Diese, zu Beginn noch relativ ungeordneten Laute müssen eine Bestärkung der Geste gewesen sein, eine besondere Hervorhebung. Marr stellte die These auf, Laute hätten sich schließlich auf der Ebene magischer oder kultischer Handlungen weiterentwickelt. Mit dem Mund, der zunehmend dazu in der Lage war, wurden zunächst willkürliche Laute hervorgebracht, die die Tätigkeit der kommunizierenden Hände begleiteten. Lexikalisch waren sie Marrs Meinung nach zunächst ohne Bedeutung, hätten aber durch die ständige Wiederholung im Laufe der Zeit an ritualisierter Bedeutung gewonnen, bis ein bestimmter Laut oder eine bestimmte Lautfolge mit einer gewissen Handlung zusammenfiel, damit assoziiert, wiederholt und systematisiert wurde. Daraus ergab sich, dass der Laut, ohne die Anwesenheit des Dings oder des Sachzusammenhangs vorauszusetzen, auf das oder auf den er Bezug nahm, allein darauf verwies – das sprachliche Zeichen war geboren. Mit zunehmender Komplexität verlangte alsdann auch das Lautsystem eine immer größer werdende Differenzierung und Präzisierung; Vokale und Konsonanten wurden unterschieden – nicht nur gegeneinander, sondern auch innerhalb eines Vokals durch Hervorhebung, Längung und Kürzung.
Den unterschiedlichen Lebensbedingungen mit jeweils anders gearteten territorialen Eigenschaften war es schließlich zu verdanken, dass verschiedene Sprachen entstanden, die alle den einen Apparat zur Produktion von Lauten benutzten, ihn aber unterschiedlich einsetzten. Dagegen führte die zunehmende Mobilität der Menschen dazu, dass sich die Sprachen, so wie auch die Stämme, ihre Träger also, miteinander vermischten. Von nur einer gemeinsamen Ursprache ausgehen zu wollen, kann also nur ein theoretisches Konstrukt bleiben. Kommunikation mag ein Naturgeschenk sein, Sprache ist es aber nicht. Sprache ist das Ergebnis menschlicher Evolution, wenn man will, ist sie eine Schöpfung des Menschen. Er schuf sie sich auf der Grundlage seiner Lebens- und Umweltbedingungen, und je komplexer diese wurden, umso differenzierter gestaltete sich die Sprache.
Wichtige Sprachwissenschaftler des 19. Jahrhunderts und ihre Werke: |
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Friedrich Schlegel: |
Über die Sprache und Weisheit der Inder. 1808 |
Franz Bopp: |
Über das Konjugationssystem der Sanskritsprache in Vergleichung mit jenem der griechischen, lateinischen, persischen und germanischen Sprache. 1816 |
Jacob Grimm: |
Deutsche Grammatik. 1819–34 |
Jacob Grimm: |
Geschichte der deutschen Sprache. 1845 |
Friedrich Dietz: |
Grammatik der romanischen Sprachen. 1836–44 |
Karl Brugmann: |
Kurze vergleichende Grammatik der indogermanischen Sprachen. 1904 |
Die Geschichte der deutschen Sprache beginnt mit den Indoeuropäern und ihrer Sprache, die, da es keine Dokumente aus dieser Sprache gibt, nur in einer theoretischen und rekonstruierten Version existiert. Wie in jener mystischen Zeit vor dem Bau des Turms zu Babel existiert diese Sprache für unseren Sprachraum monolithisch und unantastbar. Mit ihr und ihren Sprechern jedoch begann das, was in der Geschichte vom Turmbau berichtet wird: die Sprache zerfiel in viele miteinander verwandte Fragmente: Einzelsprachen. Gerade deshalb ist Deutsch, wie jede andere Sprache auch, keine isolierte Sprache, sondern das, was sich heute als Deutsch erweist, ist parallel mit anderen Sprachen gewachsen und hat mit vielen anderen Sprachen derselben Familie im asiatischen und europäischen Raum den einen gemeinsamen Ursprung: Indoeuropäisch. Da Sprache nie statisch, sondern stets dynamisch ist, entwickelt sie sich immer weiter, nimmt neue Impulse auf und lässt Überkommenes hinter sich. Die Sprecher des Indoeuropäischen, dieser prähistorischen Grundsprache, wurden nach den östlichen und westlichen Völkern, Indern und Germanen, benannt, die sich ihrer bedienten; allerdings ist es nie gelungen, neben der Sprache eine Urkultur dieser Völkergruppe zu rekonstruieren.
Indoeuropäisch / Indogermanisch: Vor allem früher wurde ausschließlich der Begriff »Indogermanisch« verwendet, der aber heute weitgehend durch »Indoeuropäisch« ersetzt wurde. Innerhalb Deutschlands findet man ihn auch heute noch vereinzelt, auf internationaler Ebene allerdings spricht man durchgängig von Indoeuropäisch.
Einer der ersten Wissenschaftler, der die Beziehungen zwischen einzelnen Sprachen, hauptsächlich zwischen dem Gotischen, Griechischen, Lateinischen, Keltischen und Sanskrit entdeckte bzw. systematisch untersuchte und damit zu einem der bedeutendsten Wegbereiter der Indoeuropäistik/Indogermanistik wurde, war Sir William Jones (1746–1794). Sein Buch »The Sanscrit Language« von 1786 gilt als das erste Werk vergleichender Sprachwissenschaft. Es legte den gemeinsamen Ursprung des Griechischen, Lateinischen und Sanskrit dar und deckte darüber hinaus die Verwandtschaft mit dem Gotischen, den keltischen Sprachen und dem Persischen auf.
Sanskrit
»Die Sprache des Sanskrit, wie alt sie auch sein mag, ist von wundervoller Struktur. Sie ist perfekter als das Griechische, ergiebiger als das Lateinische und verfeinerter und kultivierter als beide, obwohl sie mit beiden starke Verwandtschaftsbande sowohl in den Stämmen der Verben als auch in der Form der Grammatik unterhält. Das kann kein Zufall sein. Die Bande sind tatsächlich so stark, dass kein Philologe sie je untersuchen könnte, ohne zu dem Schluss zu gelangen, sie alle müssten von einer gemeinsamen Quelle stammen, die, mag sein, auch nicht mehr existiert.« (Jones 1786)
Aus der Kenntnis dieser und weiterer Sprachen schloss man auf eine ihnen zugrunde liegende Grundsprache, die aus den bekannten Sprachen rekonstruiert wurde. Indoeuropäisch ist also eine von Sprachwissenschaftlern des 19. Jh.s ausschließlich durch Rekonstruktion bekannte prähistorische Sprache. Dokumente in dieser Sprache gibt es nicht.
Bestimmte Zweige der historischen Sprachwissenschaften betrachten Sprache als einen von Sprechern unabhängigen Mechanismus oder gar als eigenständigen Organismus. Dabei sind alle Veränderungen, die Sprachen erleben, unabdingbar verbunden mit den Menschen, die diese Sprachen benutzen. Wie sonst sollte man sich den Zerfall einer Sprache und das Entstehen verschiedener neuer Sprachen aus den Resten der anderen vorstellen? Natürlich dauert ein solcher Veränderungsprozess, denn um einen solchen handelt es sich ja und keineswegs um ein Produkt, wie man oft glauben lassen möchte, lange Zeit. So verhält es sich auch mit dem Indoeuropäischen, der Ursprache zahlloser europäischer und asiatischer Sprachen. Dabei war schon diese vermeintliche Ursprache keine isolierte Sprache, sondern stand bspw. in Kontakt mit dem Babylonischen, von dem sie höchstwahrscheinlich die Ahnen der deutschen Wörter Stern und Beil und überdies die Grundlagen für ihr duodezimales Zählsystem entlehnte.
Seit ca. 2000 v. Chr. drangen indoeuropäische Völker in die Mittelmeerwelt vor und behaupteten sich in Form neuer indoeuropäischer Reiche neben den schwächer werdenden alten. Auch semitische Völker nutzten den Niedergang der herrschenden Mächte und drangen in deren Gebiete vor – eine Zeit großer Auseinandersetzungen im mittelmeerisch-orientalischen Raum begann. Es war eine wesentliche Begleiterscheinung dieser Entwicklung, dass für mehr Menschen weniger Raum zur Verfügung stand und die politisch-kulturellen Verflechtungen von Völkern und Staaten weitaus enger geworden waren als zuvor. Nach dem Jahr 2000 v. Chr. drangen indoeuropäische Stämme wie Ionier und Achäer in Griechenland ein und gründeten Fürstentümer wie Mykene, Tiryns oder Athen. Diese mykenischen Kulturen hatten etwa von 1600–1200 v. Chr. Bestand. Von dort aus begann ein reger Handel mit den umliegenden Inseln. 1425 v. Chr. eroberten die Achäer zudem Kreta. In der Folge wurden stark befestigte Burgen wie Mykene angelegt, mit gewaltigen Kyklopenmauern und Fresken nach kretisch-minoischem Vorbild. Die Toten begrub man nun in Kuppelgräbern. Kreta und der Peloponnes erlebten mit der kretisch-mykenischen Kultur eine Blütezeit.
Kleinasien wurde seit etwa 1200 v. Chr. von Stämmen erobert, die Kleinstaaten gründeten und sich später zum hethitischen Reich zusammenschlossen. Teile der ostindoeuropäischen Arier drangen bis nach Indien vor und unterwarfen dortige Kulturen. Ein anderer Zweig dieser Gruppe, Meder und Perser, siedelten sich in Mesopotamien an, gewannen aber erst circa tausend Jahre später an Bedeutung. Mit der Zweiten Indoeuropäischen Völkerbewegung setzte die Dorische Wanderung ein, die für die Bildung der antiken griechischen Staatenwelt entscheidend werden sollte. Die Dorer unterwarfen die Achäer, während die Ionier sich in Attika behaupteten. Gleichzeitig wurde das hethitische Reich von thrakisch-phrygischen Stämmen vernichtet und das phrygische Reich gegründet, welches wiederum um 700 v. Chr. von den Lydern abgelöst wurde. Nach Abschluss der Zweiten Indoeuropäischen Wanderung waren Griechenland, Kleinasien und Italien besiedelt, und die Grundlage für die griechische und die römische Geschichte war geschaffen.
Zeittafel der Völkerwanderungen |
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seit 2000 v. Chr. |
Erste Indoeuropäische Völkerwanderung |
1800–1200 v. Chr. |
Hethiter in Kleinasien |
seit 1600 v. Chr. |
Wanderung der Arier nach Indien |
1425 v. Chr. |
Die Achäer erobern Kreta |
seit 1200 v. Chr. |
Zweite Indoeuropäische Völkerwanderung |
um 375 n. Chr. |
Einfall der Hunnen ins Siedlungsgebiet der Goten am Schwarzen Meer und Beginn der germanischen Völkerwanderung |
476 n. Chr. |
Zerfall des weströmischen Reichs |
5. Jh. n. Chr. |
Beginn der Besiedlung Britanniens durch die Angelsachsen; Terwingen/Westgoten besiedeln Gallien, werden aber von den Franken nach Hispanien verdrängt |
488–493 n. Chr. |
Einfall der Ostgoten in Italien und Reichsbildung unter Theoderich dem Großen |
um 500 n. Chr. |
Expansion der Franken in Gallien unter Chlodwig I. |
568 n. Chr. |
Die Langobarden besiedeln Oberitalien – die germanische Völkerwanderung endet |
In Bezug auf die Sprachentwicklung ist all dies ein äußerst vielschichtiger und komplizierter Prozess, der nur wenig mit den klaren und sauberen Stammbäumen der Philologen zu tun hat. Verschiedene in Kontakt stehende Sprachen beeinflussten sich gegenseitig durch Entlehnungen, veränderte Aussprache und immer neue Sachzusammenhänge in der Welt.
In den folgenden Jahrhunderten gelangten andere Gruppen von Stämmen wie Chauken, Angrivarier, Hermunduren, Semnonen oder Cherusker nach Nordwesteuropa, in die westliche Gegend der Ostsee, nach Südschweden, Dänemark und Schleswig-Holstein. Hier entwickelte sich im Laufe der Zeit aus dem Dialekt und der Dialektmischung dieser Stämme eine neue Sprache: das Germanische. Zugleich ereignet sich eine ähnliche Entwicklung wie im Süden und Südosten: Es müssen bereits Stämme ansässig gewesen sein, die die Sprache der Eroberer lernten und durch ihren eigenen Sprachgebrauch gleichzeitig veränderten. Zunächst für sich, dann, im Außenkontakt, immer umgreifender.
Völkerwanderungen und die Mischung von Stämmen gab es bis ins Mittelalter hinein, man bezeichnet das 5. Jh. als Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter, eine historische Konstante – vom Einfall der Hunnen ins Gotenreich 375 n. Chr. über die Besiedlung Britanniens durch ein Völkergemisch aus Angeln, Sachsen und Jüten, bis zum Zug des germanischen Stamms der Langobarden nach Italien im Jahr 568 n. Chr. Die Ursachen, die zu dieser lang andauernden, gewaltigen und umwälzenden Bewegung der Völker führten (und heute in neuer Dimension immer noch führen), die Kulturen und Sprachen mischten, gründeten und zerstörten, sind vielseitig: beschleunigtes Bevölkerungswachstum, kriegerische Konflikte mit anderen Völkern oder die Anziehungskraft, die durch die Wirtschafts- und Kulturräume der Griechen und Römer ausgeübt wurde, sind nur einige davon. In der ausgehenden Spätantike ist dieser Prozess zudem gekoppelt an den Zerfall der römischen Verwaltungs- und Militärstrukturen bzw. an das dadurch entstehende Machtvakuum in vielen Teilen Europas.
Germanische Stämme (eine Auswahl)
CHATTEN, lat. Chatti, siedelten im Bereich der Täler von Eder, Fulda und Lahn, also in dem, was heute Nordhessen ist. Möglicherweise – denn die Schreibung ›Ch‹ wurde /x/ gesprochen –, leitet sich der Name »Hessen« von diesem Stamm her.
CHAUKEN, lat. Chauci, siedelten beidseits der Weser. Laut Tacitus gehörten sie zur Gruppe der Ingaevonen.
ANGRIVARIER (oder Engern), lat. Angarii, siedelten an der mittleren Weser und an der Aller, also nördlich der Chauken, in dem, was heute als Lüneburger Heide bekannt ist.
BRUKTERER, lat. Bructeri, lebten im 1. Jh. ursprünglich zwischen Ems und Lippe. Sie waren ein kriegerischer Stamm, der aber zum Teil im fränkischen Stammesverband aufging.
HERMUNDUREN siedelten am Oberlauf der Elbe. Sie zählen zur Gruppe der Elbgermanen oder Hermionen, die den Römern verbunden waren. In ihrer Nachbarschaft siedelten laut Tacitus (Germania, 42) Markomannen und Quaden.
USIPETER, lat. Usipetes, sind ein in Julius Caesars Buch »De Bello Gallico« belegter Stamm, der auf der rechten Rheinseite dem Niederrhein gegenüber siedelte.
SEMNONEN, lat. Semnones, waren nach Tacitus (Germania, 39) das Stammvolk der elbgermanischen Sueben. Ab dem 3. Jh. zogen sie zum Oberrhein und gingen im Stammesverband der Alemannen, den späteren Schwaben, auf.
TRIBOKER siedelten etwa ab 70 v. Chr. in der Gegend des heutigen Straßburg am Rhein, in Nachbarschaft zum Schwarzwald (s. auch das heutige Triburg).
CHERUSKER, lat. Cherusci, siedelten beidseits der oberen Weser und bis zur Elbe, dem heutigen Westfalen. Über die Etymologie des Worts »Cherusker/ Herusker« gibt es verschiedene Theorien. Martin Luther glaubte, das Wort leite sich von »Härzer« her, aus dem Harz(gebirge) stammend. Jakob Grimm hingegen sah seinen Ursprung im gotischen Wort hairus, Schwert, verkörpert. Die Cherusker sind deshalb von großer Beachtung im deutschen Raum, weil sie durch die Varusschlacht 9 n. Chr, in deren Verlauf sie unter ihrem Führer Arminius drei römische Legionen schlugen, schon früh zur Mythenbildung über »die Germanen« beitrugen.
ANGELSACHSEN waren ein Verband verschiedener Stämme, der sich hauptsächlich aus Angeln und Sachsen, aber auch aus Jüten, Friesen und Niederfranken zusammensetzte. Zu Beginn des 5. Jhs. begannen sie Britannien zu besiedeln und verdrängten oder vermischten sich mit der dort ansässigen römisch-keltischen Bevölkerung. In der Geschichte Großbritanniens bezeichnet man die Zeit bis 1066 als angelsächsische Periode. Danach folgte die Eroberung und Landnahme durch die Normannen unter Wilhelm dem Eroberer.
LANGOBARDEN, lat. Langobardi, waren ein Teilstamm der Sueben, verwandt mit den Semnonen. Sie siedelten an der unteren Elbe und galten als kriegerisches Volk, das ab dem 1. Jh. fast durch ganz Europa zog. Im 6. Jh. zogen sie über die Alpen nach Italien und besetzten dort große Teile des erst kurz zuvor von Ostrom eroberten Italiens. Im 8. Jh. eroberten die Franken unter Karl dem Großen Norditalien sowie die langobardische Hauptstadt Pavia. Der Stammesname wurde später namensgebend für die heutige norditalienische Region der Lombardei.
FRANKEN, lat. Franci (»mutig, kühn«, »frank und frei« engl. frank), sind ein germanischer Stammesverband, der sich wahrscheinlich aus dem Zusammenschluss verschiedener anderer Stämme wie den Saliern und Rheinfranken herausbildete. Erstmals in römischen Quellen erwähnt werden sie im 2./3. Jh. Im 5. Jh. wurden unter Chlodwig I. aus der Dynastie der Merowinger weite Teile Galliens erobert und damit faktisch das Fränkische Reich gegründet (heute Frankreich). Dieses sollte allerdings erst im 9. Jh. unter Karl dem Großen seine größte Ausdehnung erreichen. Franken und einheimische Bevölkerungsgruppen vermischten sich im Laufe der Zeit sprachlich und kulturell. Im Westen dominierte dabei die galloromanische Sprache, im Osten das Fränkische (heute noch Rhein- und Moselfränkisch). Im 9. Jh. bildete sich schließlich eine Sprachgrenze zwischen beiden Reichshälften heraus. Die Salfranken gingen im Volk der Franzosen und Wallonen auf, während die Salfranken am Niederrhein, an Mosel etc. ihre fränkischen Dialekte behielten. Aus ihnen wurden in der Neuzeit Lothringer, Niederländer und Flamen. Die Bevölkerung im nördlichen Bayern bezeichnet sich heute noch als Franken. Ob es eine direkte Verwandtschaft zu den Franken der Spätantike und des frühen Mittelalters gibt, ist unklar. Eine sprachliche Verwandtschaft existiert jedenfalls nicht.
GOTEN waren ein ostgermanischer Stamm. Tacitus sprach erstmals von Gotonen (Gutonen; vermutlich von gotisch giutan, gießen oder gutans,gegossen). Im Laufe der spätantiken Völkerwanderung und bedingt durch den Einfall der Hunnen in der zweiten Hälfte des 4. Jh.s entwickelten sich zwei getrennte Stammesverbände, die Ostgoten (Ostrogothi) und die Westgoten (Visigothi). Beide Stammesverbände etablierten eigene Reiche auf dem Gebiet des ehemaligen weströmischen Reichs. Mit den Terwingen (später Westgoten) schlossen die Römer 382 n. Chr. die ersten Verträge, sie wurden sog. foederati. Anfang des 5. Jh.s siedelten sie in Gallien, wurden aber von den eindringenden Franken nach Hispanien verdrängt, wo sie das Toledanische Reich gründeten. Dieses erlag erst 711 n. Chr. der arabischen Expansion. Auch die Ostgoten wurden zunächst als Foederaten im Römischen Reich aufgenommen, wenn auch erst in der zweiten Hälfte des 5. Jh.s, und siedelten sich auf Teilen des Balkans an. 488 n. Chr zogen sie im Auftrag des oströmischen Kaisers Zenon nach Italien, eroberten Ravenna und errichteten ein eigenes Reich, das sich vom Balkan und den Alpen über ganz Italien bis nach Sizilien erstreckte. Das Reich der Ostgoten ging schließlich im Zuge der Rückeroberung Italiens durch Ostrom 553 n. Chr. unter.
Viele der ursprünglich zur Sprachfamilie des Indoeuropäischen gehörende Sprachen sind untergegangen und können nur durch die innere Rekonstruktion (zur Begriffserklärung s. Definitionen S. 214) teilweise wieder sichtbar gemacht werden. Die Existenz des Indoeuropäischen lässt sich einerseits durch die Verwandtschaft zu anderen Sprachen derselben Familie nachweisen oder aber durch Abgrenzung gegen Sprachen anderen Ursprungs. Auf diese Weise kann jene hypothetische Ursprache in Grenzen – auch regionale Grenzen – verlegt und eingeordnet werden. Der Grad der Ähnlichkeit zwischen verschiedenen Sprachen ermöglicht der Untersuchung eine weitere Einteilung in Unter- und Obergruppen. Die rekonstruierte Grundsprache des Indoeuropäischen verfügt über ein Flexionssystem und kennt den Ablaut (s. S. 198). Heute unterteilt man die Sprachen dieser Familie gemeinhin in west- und ostindoeuropäische Sprachen (früher war hingegen eine Unterteilung in Kentum- und Satemsprachen üblich).
Die indoeuropäischen Sprachen gliedern sich in die folgenden großen Untergruppen und Einzelsprachen:
− Albanisch
− Armenisch
− Baltische Sprachen (Lettisch, Litauisch)
− Germanische Sprachen (Dänisch, Deutsch, Englisch, Färöisch, Friesisch, Isländisch, Jiddisch, Niederländisch, Norwegisch, Schwedisch)
− Griechisch
− Iranische und Indische Sprachen
− Keltische Sprachen (Bretonisch, Gälisch, Irisch, Kornisch [Cornwall], Kymrisch [Wales])
− Lateinisch und die daraus hervorgegangenen romanischen Sprachen (Französisch, Italienisch, Katalanisch, Portugiesisch, Rätoromanisch, Rumänisch, Spanisch)
− Slawische Sprachen (Polnisch, Slowakisch, Tschechisch; Bulgarisch, Russisch, Serbokroatisch, Slowenisch, Ukrainisch)
Die Verwandtschaft zwischen diesen Sprachen und Sprachgruppen zeigt sich in Wortschatz, Lautstand und in der grammatischen Struktur. Nehmen wir das Wort Vater in seiner Geschichte und Verbreitung: dt. Vater, niederl. vader, engl. father, schwed. Fader. Aber auch in nichtgermanischen Sprachen treten ähnliche Formen auf: lat. pater, griech. patér, altind. pitá, altirisch āthir.
Kentum- und Satemsprachen: In der vergleichenden Sprachwissenschaft wurde aufgrund von Lautrekonstruktionen eine Unterteilung in eine westliche und eine östliche Sprachgruppe vorgenommen, die nach ihrer Bezeichnung für »hundert« unterschieden wurden: »hundert« ist im Lateinischen centum, in Sanskrit satám. Daraus entwickelten sich die sogenannten Kentumsprachen (Germanisch, Lateinisch, Griechisch, Keltisch etc.) und die danach benannten Satemsprachen (Albanisch, Indisch, Iranisch, Slawisch etc.). Als Gesetzmäßigkeit wurde postuliert, dass der palatale Verschlusslaut [k] durchgängig dem [s] der Satemsprachen entspricht. Diese postulierte Gesetzmäßigkeit wurde durch die Entdeckung und Entschlüsselung zweier Sprachen widerlegt:
− Hethitisch (entdeckt Anfang des 20. Jhs.) – eine hauptsächlich in Kleinasien verbreitete und inzwischen ausgestorbene Sprache mit den ältesten Schriftbelegen aus dem 18. Jh. v. Chr.
− Tocharisch (entdeckt Ende des 19. Jhs.) – eine aus dem Tarimbecken (heute autonomes Gebiet Xinjiang im Westen der Volksrepublik China) überlieferte Sprache, deren zahlreiche Handschriftenfragmente überwiegend aus dem 5. bis 8. Jh. n. Chr. stammen.
Beide Sprachen waren in Asien beheimatete Kentumsprachen, wodurch die Unterteilung in geographische und phonologische (s. S. 213) Sprachgruppen weitgehend widerlegt wurde.
Die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den einzelnen Sprachen des Indoeuropäischen wurden 1853 erstmals von dem deutschen Sprachwissenschaftler August Schleicher (1821–1868) in einem Stammbaum dargestellt, wie er in der Biologie z. B. von Charles Darwin (1809–1882) als schematisierendes Mittel verwendet wurde, um Beziehungen zwischen verschiedenen Arten zu zeigen. Sprache unterlag für Schleicher, ebenso wie biologische Zusammenhänge, der Gesetzmäßigkeit der natürlichen Evolution, weshalb er die Linguistik als einen Teil der Naturwissenschaften betrachtete und, daraus folgend, Sprache als natürlichen Lebensbestandteil. Von Schleicher stammen die noch heute verwendeten Bezeichnungen wie »Abstammung« oder »Verwandtschaft« in Bezug auf Sprache und deren Entwicklung.
Demnach bildeten die oskisch-umbrischen Dialekte gemeinsam mit dem Lateinischen das Ur-Italische. Diese Sprache wurde aus dem Vergleich der beiden vorgenannten rekonstruiert. Da aber die oskisch-umbrischen Dialekte nur aus vereinzelten Inschriften und aus Angaben bei griechischen und römischen Autoren bekannt sind, bleibt die rekonstruierte Ursprache nur fragmentarisch. Bereits an dem Wenigen aber, was sich rekonstruieren lässt, zeigt sich deutlich, dass Griechisch und Ur-Italisch in »geschwisterlicher Verbindung« zueinander stehen.
Aus dieser naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise von »Familienzugehörigkeit« in jener Zeit um die Mitte des 19. Jh.s., wie sie Schleicher prägte, bildeten sich auch andere grammatische Bezeichnungen und Begriffe wie »Geschlecht – weiblich, männlich, sächlich« etc., die gerade heute in einer neuen und zeitgemäßen Betrachtung von Geschlecht und Gender oft zu Verständniskomplikationen führen.
Bei allgemeinen sprachwissenschaftlichen Betrachtungen über die Ursprache geht man ebenfalls von einem sogenannten Urvolk aus, dessen Sprache Indoeuropäisch war. Es bleibt jedoch zweifelhaft, ob es sich dabei um ein Volk im modernen Verständnis des Wortes handelte, also um eine Gruppe von Menschen, die durch eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsame Kultur verbunden war. Wie bereits weiter oben dargelegt wurde, lässt sich nämlich keine gemeinsame Urkultur historisch bzw. archäologisch nachweisen bzw. aus der rein linguistischen Rekonstruktion erschließen.
Der russische Sprachforscher Nikolai Sergejewitsch Trubetzkoy (1890–1938), dessen Hauptverdienst es war, die Linguistik um die Phonologie bereichert zu haben, kam durch komparative Studien zu dem Ergebnis, die Urheimat der indoeuropäischen Sprachgruppe müsse zwischen Nordsee und Kaspischem Meer angesiedelt werden, zwischen den finno-ugrischen und den mediterranen oder kaukasisch-semitischen Sprachgruppen. Geographisch befindet sich der Kern dieses Gebiets nördlich und westlich des Schwarzen Meers und um die beiden Flüsse Dnjepr und Donau. In der Archäologie bringt man die spätsteinzeitliche Schnurkeramik mit diesem indoeuropäischen Urvolk in Verbindung. Sprachlich sind überdies die Verbreitung von Flussnamen und die Bezeichnungen für Flora und Fauna wegen ihrer großen Ähnlichkeiten im bezeichneten Gebiet auffällig.
Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kann man davon ausgehen, dass es keine schriftlichen Funde über die Zeit des indoeuropäischen Urvolkes und aus dieser Zeit geben wird, darum stehen für eine Bestimmung dessen, was das Volk ausmacht, seine Sprache und seine Kultur, fast ausschließlich linguistische Kriterien zur Verfügung. Sprachwissenschaftler gehen davon aus, dass bestimmte Wörter schon bei diesem Urvolk vorgekommen sein mussten, wenn sie später in anderen indoeuropäischen Sprachen weiter existierten. Man vermutet, dass das Urvolk den Wagen und das Rad kannte, denn Wörter wie Nabe, Rad, Wagen gehen aus einer gemeinsamen Wurzel hervor. Auch das Pferd muss nicht nur als Arbeitstier, sondern darüber hinaus als Streitross wichtig gewesen sein. Überhaupt existierte ein großer gemeinsamer Wortschatz aus dem Bereich der Viehzucht und der Tierhaltung allgemein (Vieh, Kuh, Stier, Ochse, Pferd, Fohlen, Schwein, Hund, Biene, Gans, Ente, Herde, Wolle, melken, etc. – nicht dagegen Katze und Esel), der darauf schließen lässt, dass man es mit einer Hirtenkultur zu tun hat. Zur Erhärtung dieser Vermutung kann man aus der Herleitung von lat. pecus, Vieh, zu lat. pecunia, Geld, ersehen, dass Reichtum über den Besitz von Vieh angezeigt wurde. Da es keinen gemeinsamen Wortschatz von Bäumen, Wald, Nutzholz etc. gibt, liegt die Vermutung nahe, dass es sich um ein Volk handelte, dass in Savannen- oder Heidegebieten lebte. Es gab zudem Wörter für Gold und Silber, doch für Eisen existierte kein gemeinsames Wort. Die Verarbeitung von Eisen muss demnach aufgekommen sein, als die Trennung zwischen verschiedenen Teilen jenes Volkes schon weit vorangeschritten war, wodurch sich Begriff und Wort separat formierten. Aus archäologischen Funden weiß man, dass Eisen um ca. 2000 v. Chr. aufgekommen sein muss. Das legt den Schluss nahe, dass das Indoeuropäische spätestens zu diesem Zeitpunkt keine gemeinsame und einheitliche Sprache mehr war.
Der Linguist Paul Thieme (1905–2001) siedelte in den 1950er- Jahren die Urheimat der indoeuropäischen Ursprache im Gebiet der in die Nord- und Ostsee mündenden Lachsflüsse an und begründete diese Theorie mit der auffallenden Gemeinsamkeit des Wortes für Lachs, *laksos, in räumlich sehr weit voneinander entfernt liegenden indoeuropäischen Sprachen. Für diese Annahme sprechen auch die oben erwähnten zahllosen Beispiele von Gemeinsamkeiten der Gewässernamenskunde (Hydronymie). Die Gewässernamenskunde dringt bis zu den ältesten überlieferten Namen vor, nämlich bis an den Zeitpunkt, als die verschiedenen Einzelsprachen sich aus der angenommenen Ursprache ausgliederten. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass dieser Zeitpunkt nicht bei allen Einzelsprachen gleich war. Beispiele für Flüsse sind Rhein (*reinos), Main (*moin), Elbe (*albia), Oder (*odra), Weser (*wisura), Saale (*sala) oder Flussnamen keltischer Herkunft wie Donau (*danovios) oder Inn (*enos). Diese gehen auf indoeuropäische Flussnamen zurück und müssen somit von vorgermanischen bzw. vorkeltischen Bewohnern stammen. Sie sind folglich älter als die älteste uns bekannte Sprache in diesem geographischen Raum. Dabei sind die Namen von Gewässern relativ beständig. Flüsse, vor allem große Flüsse, waren immer starke und oft unüberwindliche Grenzen, nicht nur für Menschen, sondern auch für deren Kultur und deren Sprache. An den Ufern der Flüsse hingegen siedelten von alters her Menschen. Auch wenn diese Siedlungen natürlich häufig keine Siedlungskontinuität aufwiesen, so hatten die Wasserläufe selbst dennoch stets Bestand. Flüsse waren allerdings nicht nur natürliche Grenzen sondern auch Transportwege, an denen entlang sich auch Verkehrswege für Menschen, Waren und Sprachen bildeten. Ihre Namen überdauerten – wenn auch bisweilen in verschiedenen Abschnitten –, selbst wenn neue Siedler hinzukamen oder alte abwanderten bzw. verdrängt wurden (z. B. während der Völkerwanderung). Kamen neue Siedler, so übernahmen sie die bereits existierenden Namen und auf diese Weise blieben sie über Jahrtausende im Sprachgebrauch erhalten. Erst in späteren und neueren Jahrhunderten standardisierte man die Namen, aber die Namen der Abschnitte lassen sich weiterhin aufspüren. Ein Beispiel für einen Abschnittsnamen ist die Gera, die durch Erfurt fließt:
»Aufgrund alter Belege für den Ortsnamen Erfurt (1244 Erphort, 742 Erphesfurt), Vergleichsnamen (die Flüsse Erf und Erfa), sprachgeschichtlicher Gesetzmäßigkeiten und dem Wissen um das Wesen der Gewässernamen ließ sich für Erfurt eine alte Form Erpesa rekonstruieren. Die logische Folgerung war, dass Erfurt die Furt durch die Erpesa ist. Erpesa war also ein früherer Abschnittsname des Flusses Gera. (Die Wurzel ›erph‹ deutet dabei auf ein bräunliches, dunkles Gewässer hin.)« (s. http://www.onomastik.com/gn_besonderheiten_alter.php)
Die folgenden Beispiele verdeutlichen durch Rekonstruktion die nachgewiesenen Verwandtschaftsbeziehungen zwischen wichtigen indoeuropäischen Sprachen:
Bei frühen Arbeiten der Philologie legte man besonderes Augenmerk auf die Lautveränderung bei der Entwicklung von einer Sprache in eine andere. Man ging davon aus, dass diese Veränderungen bestimmten Gesetzmäßigkeiten unterlagen, die, wie Naturgesetze, fast als unabhängig von den jeweiligen Sprechern der Sprache zu existieren schienen. Jedes Auftreten einer Ausnahme von der Regel erklärte man durch Analogien (s. Definitionen S. 198).
In den 70er-Jahren des 19. Jh.s formierte sich in Leipzig eine Gruppe von Sprachwissenschaftlern, die als Leipziger Schule oder Junggrammatiker bekannt wurde. Ihre Hauptvertreter waren Karl Brugmann (1849–1919), Eduard Sievers (1850–1932), Hermann Paul (1846–1921), Wilhelm Braune (1850–1926), Hermann Osthoff (1847–1909), Otto Behaghel (1854–1936), Karl Verner (1846–1896), Sophus Bugge (1833–1907) und Graziadio Isaia Ascoli (1829–1907). Die Untersuchung von Sprache mittels der Beschreibung ihres geschichtlichen Wandels war das Hauptziel der Gruppe. Im Zuge dessen stellten die verschiedenen Vertreter die Gesetze des Lautwandels auf und postulierten deren Ausnahmslosigkeit. Die Ergebnisse, zu denen man dabei kam, beruhten auf dem Vergleich verschiedener Sprachen sowohl in dem zur Zeit der Junggrammatiker angewandten Zustand als auch auf früheren Stufen.
Diese sogenannte diachrone Sprachbetrachtung der Junggrammatiker ging davon aus, dass es zum Verstehen einer Sprache in ihrer aktuellen Form nicht ausreiche, ihre gegenwärtige Erscheinung aufzuzeigen, man müsse vielmehr ihre Entwicklung betrachten, um verbindliche Aussagen machen zu können. Systemwidrigkeiten – das sind Ungereimtheiten und Unregelmäßigkeiten – sind nur einzuordnen und zu verstehen, wenn man begreifen und analysieren kann, dass sie oftmals auf althochdeutsche oder gar germanische Zeiten zurückgehen. Die Sprachwissenschaft der Junggrammatiker wollte also das Werden und die Entwicklung von Sprache allgemein ebenso sichtbar machen wie konkret bei einer Sprache.
Ferdinand de Saussure (1857–1913)
Der Genfer Linguist Ferdinand de Saussure gilt als der Gründer der modernen Linguistik. In seinem postum herausgegebenen Hauptwerk »Cours de linguistique générale« (1916) entwickelte er nicht nur eine allgemeine Theorie von Sprache, die sich deutlich von der rein historischen Betrachtung der Junggrammatiker absetzt, sondern darüber hinaus eine brauchbare
Methode, Sprache als systematisches Zeichensystem zu analysieren. So unterscheidet er langage (Sprache) nach drei wesentlichen Dichotomien (Zweiteilung, Gliederung nach zwei Gesichtspunkten):
a) die von Konventionen gesteuerte und als soziales Produkt gewachsene, aber nicht unmittelbar sichtbare langue im Gegensatz zu den tatsächlichen Äußerungen von Sprechern, parole;
b) die Teilung des Zeichens in eine Wechselbeziehung von Signifikat (Bezeichnetes = Objekt oder Sachverhalt in der Wirklichkeit) und Signifikant (Bezeichnendes = sprachliches Zeichen); Bedeutung existiert ausschließlich im Kontrast zu anderen Zeichen und nicht in den Objekten und Sachverhalten der Wirklichkeit;
c) synchrone Sprachbetrachtung, d. h. zu einem bestimmten Punkt in der Zeit, vs. diachrone Sprachbetrachtung, d. h. die historischen Entwicklung über einen Zeitraum hinweg.
Für Saussure ist das sprachliche Zeichen die Verbindung aus der geistigen Vorstellung eines Symbols und dem Lautbild, das mit diesem Symbol verbunden ist.
Das sprachliche Zeichen hat zwei Eigenschaften, es ist willkürlich und linear.
Willkür bedeutet für Saussure, dass es keine natürliche Beziehung zwischen den Lauten und dem Bezeichneten gibt. Auf dieser Basis erklärt er die Existenz mehrerer Sprachen. Gleichzeitig jedoch fußt die Verbindung auf Konventionen, denn eine einmal zugewiesene Lautfolge ist für jeden Sprecher einer Sprache verbindlich und muss eingehalten werden; z. B.: Es gibt keinen nachvollziehbaren Grund, warum ein »Tisch« »Tisch« heißt, soll die Kommunikation aber funktionieren, kann und darf er nicht willkürlich »Stuhl« genannt werden.
Sprachwandel und die damit verbundene Veränderung von Sprache, ihren Formen oder z. B. auch ihrer Aussprache, ist immer zeitlich bedingt. Saussure nennt diese Entwicklung »linear«.
Die Germanen als ein Volk mit einem Staat, einer Sprache und einer Identität im modernen Verständnis, das sich auch selbst so bezeichnet hätte, hat es nie gegeben. Im Gegenteil: Die verschiedenen Stämme, die unter diesem Überbegriff zusammengefasst werden, bekämpften sich untereinander über Jahrhunderte hinweg.
Das Wort Germanen taucht zum ersten Mal um das Jahr 80 v. Chr. bei dem griechischen Geschichtsschreiber Poseidonios (135–51 v. Chr.) auf und wird seitdem verwendet; vor allem aber fand es durch die Aufzeichnungen von Gaius Julius Cäsar (100–44 v. Chr.) über den Gallischen Krieg (58–51/50 v. Chr.), »De bello gallico« (geschrieben 52/51 v. Chr.), Verbreitung. »Cäsar hat die Germanen erfunden« sagt Mischa Meier, Professor für Alte Geschichte (Plötz 1991:28–37).
Dabei waren es nicht nur »Barbaren«, die sich dort im feindlichen (aus römischer Sicht) Norden Europas befanden. Es war eine Gesellschaft, die sich in Gefolgsverbänden organisierte. Sie bestand aus freien Bauern und Viehzüchtern, die aber nie ein Volk im heutigen Sinn darstellten. Die Beziehung zwischen beiden Teilen – dem Norden und dem Süden – war mehrschichtig. Einerseits lud der durch seinen Reichtum lockende Süden mit seiner wirtschaftlichen Überlegenheit immer wieder zu Raubzügen ein, andererseits waren die »Barbaren« des Nordens, wie sie jene Menschen nannten – wobei Barbar zunächst nur einen Menschen bezeichnete, der nicht der griechischen bzw. der lateinischen Sprache mächtig war – auch Handelspartner Roms. So traten bereits früh Germanen in den römischen Militärdienst, sicherten dessen Grenzen und Außenposten und stützten somit den römischen Herrschaftsanspruch. Dennoch wussten die südeuropäischen Hochkulturen der Griechen und Römer nur verhältnismäßig wenig über diese »Barbaren« des Nordens. Lediglich militärische und kriegerische Auseinandersetzungen gab es relativ häufig, wenngleich, wie gesagt, auch andere, bspw. wirtschaftliche Kontakte existierten.