periplaneta
Birgit Bestvater: „Betula Krummnagel und der Fluch des fröhlichen Sargtischlers“
Überarbeitete Neuauflage der Erstausgabe (2014),
Oktober 2017, Periplaneta Berlin, Edition Drachenfliege
© 2017 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
www.periplaneta.com
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.
Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden.
Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.
Lektorat: Sarah Strehle (www.lektorat-strehle.de)
Schlusskorrektur: Vanessa Franke
Cover: Katrina Lange (www.katrinalange.de)
Satz & Layout: Thomas Manegold
print ISBN: 978-3-95996-063-2
epub ISBN: 978-3-95996-064-9
Betula
Krummnagel
periplaneta
„Jetzt schreiben schon die Toten Karten! Da fresse ich doch einen Besen!“, rief die Postfrau aufgeregt, als sie den Hausflur betrat. Sie machte kein Geheimnis daraus, dass sie offenbar einen zu langen Blick auf die Postkarte in ihrer Hand geworfen hatte. Auch gegenüber dem Mädchen nicht, das unter dem Briefkasten hockte und sich einen Holzsplitter aus dem Daumen zog.
„An den Sargtischler Ferdinand Krummnagel“, las sie mit gespielt wichtiger Stimme vor.
„Das dürfen Sie nicht!“, rief Betula, sprang erschrocken auf und riss der Botin die Karte aus der Hand.
„Na und“, erwiderte die Postfrau schnippisch und eilte zur nächsten Tür, hinter der Frau Zwirnfitz wohnte.
Frau Zwirnfitz, die Nachbarin von Ferdinand Krummnagel, war eine kleine, mollige, alte Dame, die in einem fort häkelte. So auch in dem Moment, als sie auf das Klopfen der Postfrau hin die Tür öffnete. Sie trug eine groß geblümte Kittelschürze, deren Taschen mit bunten Garnknäueln vollgestopft waren.
„Frau Zwirnfitz“, begann die Postfrau aufgeregt, „der Herr Krummnagel bekommt demnächst Besuch. Von der toten Martha! Stellen Sie sich das mal vor! Dann kommt die sicher auch zu Ihnen, wo Sie doch in ihrer Wohnung wohnen …“
„Was reden Sie denn für einen Unsinn?“, erwiderte Frau Zwirnfitz gereizt und zupfte unruhig an dem Häkelgarn.
Betula winkte mit der Postkarte. „Sie hat einfach Großvaters Post gelesen!“
Frau Zwirnfitz zischte die Postfrau vorwurfsvoll an: „Schlimm genug, dass Sie so schrecklich neugierig sind. Aber dass Sie auch noch so dumm sind und glauben, dass Tote –“
„Dumm?“, fuhr die Postfrau wütend dazwischen. „Natürlich weiß ich, dass Tote keine Karten schreiben. Ich sage Ihnen mal was. Die Göre hat die Karte selbst geschrieben.“
„Das ist nicht wahr!“, rief Betula empört.
Die Postfrau zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Die Göre lungert doch dauernd im Hausflur herum und brütet irgendwelche Ideen aus. Als ich so alt war wie die, habe ich meine Ferien auf dem Kartoffelacker verbracht. Und ich sage Ihnen noch etwas: Geschadet hat es mir nicht.“
Frau Zwirnfitz unterbrach das Häkeln, was nur äußerst selten vorkam. „Nun ja, das sehe ich etwas anders. Außerdem lungert Betula nicht im Flur herum, sondern kühlt sich hier ab. Schließlich hat sie zwei Stunden in der glühenden Hitze auf dem Hof die dämlichen Würmer aus dem Bauholz gepult.“
Die Postfrau sah Betula argwöhnisch an. „Ich werde die Karte zur Polizei bringen!“, rief sie.
Betula sah mit Schrecken, wie sie schnaufend immer näher kam. Doch ehe die alte Frau ihr Ziel erreicht hatte, war Betula mit der Karte in Großvaters Wohnung verschwunden.
Das war knapp! Sie ließ sich in den alten Fernsehsessel fallen. Ihr weiter Rock blähte sich für einen Moment zu einem fröhlichen, blauen Ballon und brachte Betula zum Lachen. Dann betrachtete sie die Karte. Es handelte sich um eine ganz gewöhnliche Ansichtskarte der Stadt Hintermühlen, in der ihr Großvater seit nunmehr über siebzig Jahren lebte. Nur einen ganz kurzen Blick wollte sie auf die Rückseite werfen. Rasch drehte Betula die Karte herum. Voller Neugierde las sie die Zeilen.
Ferdinand,
Du kannst mich nicht länger von dem Haus unserer Eltern fernhalten. Ich bin es leid, Dein Schicksal zu leben.
Bis bald.
Deine Schwester Martha
Betula lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Sie hatte ihren Großvater nur ein Mal von seiner Schwester Martha reden hören. Und auch gar nicht viel. Eigentlich nur einen einzigen Satz: „Die hat der Teufel geholt!“
Deshalb hatte sie geglaubt, Martha sei tot. Betula las die Zeilen auf der Karte noch einmal und noch einmal.
Da fiel ihr das Foto an der Wohnzimmerwand ein, von dem es hieß, dies sei Martha. Betula hatte sich nie dafür interessiert, aber nun wollte sie es aufmerksamer untersuchen. Auf dem Foto war ein Mädchen zu sehen, das ungefähr so alt war wie sie selbst. Also zehn. Und wie erschreckend ähnlich es Betula sah! Es hatte ziemlich dünne Arme und eine genauso lange, spitze Krummnagelnase. Das glatte Haar reichte bis zu den Schultern. Welche Farbe es genau hatte, konnte Betula auf der Schwarz-Weiß-Fotografie nicht erkennen. Aber es war auf jeden Fall dunkel. Das Mädchen hielt stolz eine Holzpuppe in ihren Händen, als hätte es diese soeben geschenkt bekommen.
Betula wollte das Bild von der Wand nehmen, doch noch ehe sie es berühren konnte, fiel es herunter.
Erschrocken schaute Betula auf den Boden. Der Holzrahmen war wie poröses Papier in sich zusammengefallen und feines braunes Mehl bedeckte die zersprungene Glasplatte. Vorsichtig fischte Betula mit den Fingerspitzen die Fotografie zwischen den Scherben hervor, pustete den Staub weg und entdeckte, dass auf dem Bauch der Puppe etwas geschrieben stand. Die Fotografie war sehr verblasst und die Buchstaben winzig klein. Mit bloßen Augen konnte sie das Geschriebene nicht erkennen. Flink holte sie die Leselupe ihres Großvaters aus der Kommode und hielt sie über das Bild. Und da las sie – Betula.
Für einen Moment blieb ihr Herz stehen.
„Das … das ist mein Name!“, entfuhr es ihr. Hastig drehte sie die Fotografie um. In Kinder-Handschrift hatte jemand geschrieben:
In Erinnerung an meine liebe Schwester Martha.
Weihnachten 1921
Betula war schaurig und freudig zugleich zumute. Ihr Blick huschte zwischen der Fotografie und der Postkarte hin und her. ‚Du hättest die Karte nicht lesen dürfen‘, dachte sie. Aber wie konnte sie denn ahnen, dass …? Ja, was denn eigentlich? Hatte ihr Großvater ein Geheimnis?
Das Knarren der Holzdielen im Zimmer nebenan ließ Betula zusammenfahren. Deutlich hörte sie die kräftigen Schritte ihres Großvaters und dann stand er auch schon im Türrahmen. Ein paar Hobelspäne hatten sich in seinen Bartstoppeln verfangen, Gesicht und Glatze waren rot und verschwitzt. In seinem Blick lag die mürrische Ungeduld eines Tischlers, der nur widerwillig seine Arbeit unterbrochen hatte.
Steif vor Schreck hielt Betula ihm die Karte hin. Marthas Foto verbarg sie hinter ihrem Rücken.
„Du hast Post“, schoss es aus ihr heraus.
Der Großvater brummte etwas wie: „… wollte nur schnell meine Zigarren holen.“ Er zögerte, doch dann griff er mit seinen leimverklebten Händen nach der Karte. Er hatte keine Eile zu erfahren, wer ihm da geschrieben hatte. Stattdessen betrachtete er die Kirche mit einem ernsten Blick.
„In dieser Kirche haben Elsa und ich vor dreiunddreißig Jahren geheiratet. Sie war eine gute Frau und eine hervorragende Köchin.“ Er hielt inne und blickte Betula in einer Art an, wie er es nur selten tat. Betula spürte ein warmes Kribbeln im Bauch.
„Die schönen braunen Augen, die hast du von ihr“, sagte er und schaute wieder auf die Karte. Großmutter Elsa war gestorben, als Betula noch ganz klein war.
Endlich drehte der Großvater die Postkarte herum und begann zu lesen. Betula war eine aufmerksame Beobachterin und daher entgingen ihr die Veränderungen im Gesicht ihres Großvaters nicht. Seine Stirn legte sich langsam in Falten und die steingrauen Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen.
„Von wem ist denn die Karte?“, piepste Betula.
„Himmel, Arsch und Wolkenbruch!“, rief er. „Ich kenne diese Person nicht.“ Er öffnete den Wohnzimmerschrank und warf die Karte in eine blaue Metallkassette. Wütend griff er nach seinen Zigarren, die auf dem Beistelltischchen neben seinem Fernsehsessel lagen. Doch ehe er sich eine anzündete, fiel sein Blick auf den zerbrochenen Bilderrahmen.
Der Großvater warf einen schiefen Seitenblick auf Betula. „Wo ist das Bild?“, fragte er in scharfem Ton.
Betula legte das Foto auf den Tisch. „Es ist von der Wand gefallen. Von ganz allein. Plötzlich lag es auf dem Boden“, beteuerte sie und knackste mit den Fingernägeln. Knacks, knacks machte es, weil sie den Nagel des Mittelfingers über den Nagel des Daumens rutschen ließ. Das tat Betula immer, wenn sie sehr aufgeregt war.
Der Großvater zuckte bei dem Geräusch zusammen. „Lass das! Ich mag es nicht, wenn du so mit deinen Fingernägeln knackst. Das klingt wie das verfluchte Nagen eines verfluchten Holzwurmes.“
Betula hörte mit dem Knacksen auf. „Vielleicht war ja in dem Bilderrahmen so ein verfluchter Holzwurm“, sagte sie.
Der Großvater schaute mit ziemlich finsterer Miene auf das Foto, bevor er es nahm, abermals zum Schrank ging und es zu der Postkarte in die Metallkassette steckte. „Diese widerlichen kleinen Würmer. Die fressen alles kaputt“, zischte er dabei.
Betula tänzelte aufgeregt hinter ihm her. „Das Mädchen auf dem Bild … das war doch Martha, deine Schwester, nicht wahr?“
Er nickte.
„Und die Holzpuppe? Sie hält doch eine Holzpuppe in den Händen. Und auf ihrem Bauch … da steht Betula.“
Der Großvater tat, als würde er sie nicht hören und schnupperte an einem alten Stück Apfelseife, das seine Frau Elsa einst zwischen die Handtücher gelegt hatte.
„Betula“, wiederholte Betula ungeduldig. „Das ist zufällig auch mein Name, Großvater.“
Der alte Mann sah seine aufgebrachte Enkelin verwundert an. Er hob seine buschigen Augenbrauen und erklärte ihr ruhig: „Betula ist der lateinische Name des Holzes, aus dem die Puppe geschnitzt wurde und bedeutet nichts anderes als Birke.“
„Du meinst, sie hieß Betula, weil sie aus Birkenholz war?“
„Genau das meine ich“, bestätigte der Großvater.
„Und wenn die Puppe aus Eiche gewesen wäre?“, fragte Betula verdattert.
„Dann hätte man sie vielleicht Quercus genannt.“
„Was?“, erwiderte das Mädchen ungläubig. „Quercus?“
Jetzt wurde der alte Mann ungeduldig. „Ja! Oder Fraxinus oder Pinus. Und nun hör auf, mich zu löchern. Ich muss an die Arbeit. Zuvor zünde ich mir aber endlich eine Zigarre an.“
„Quercus, Fraxinus, Pinus! Ich glaube dir nicht!“, rief Betula und stemmte ihre Hände in die Hüften. „Ich bin doch wohl nicht aus Birkenholz.“
Der Großvater aber schmunzelte nur, zog dabei an seiner Zigarre und stieß eine dicke Rauchwolke in die Luft. „Ich sag dir mal was. Birken wachsen überall. Sogar auf Grönland, wo es wegen der eisigen Kälte kaum andere Bäume gibt. Das liegt an ihrem zähen, harten Holz und an dem weichen Kern. Das sind gute Eigenschaften. Nicht nur für einen Baum. Als alter Tischler sage ich dir, im Leben kommt es vor allem darauf an –“
„Ja, ja, ich weiß. Aus welchem Holz man ist. Das ist doch nur so ein doofes Sprichwort“, rief Betula wütend dazwischen.
Daraufhin verließ der Großvater lachend das Zimmer. Betula schaute ihm wütend nach. Irgendetwas stimmte nicht. Und sie war fest entschlossen herauszufinden, was es war.
Wenig später saßen Betula und der Großvater am Mittagstisch. Es gab Kirschsuppe mit Vanilleklößchen. Es war immer das Gleiche mit den beiden. Kaum dass sich am Kirschbaum die Äste mit den prallen, blutroten Früchten zur Erde bogen, standen Betula und der Großvater auch schon in der Küche der alten Dame und lugten hungrig in den großen grünen Suppentopf. Frau Zwirnfitz, die viel lieber häkelte als kochte, konnte den beiden den Wunsch nach ihrer Lieblingsspeise nie ausschlagen. Und so hatte sie auch heute wieder zwei Portionen gebracht.
Während der Großvater über seinem Suppenteller grübelte – vermutlich dachte er über die passenden Maße eines Fensterrahmens nach – schielte Betula zur Schranktür hinüber, hinter der Großvaters Metallkassette stand. Natürlich war ihr in der kurzen Zeit noch kein genialer Wie-komme-ich-hinter-Großvaters-Geheimnis-Plan eingefallen, doch eines stand für sie fest: Ihre Nachforschungen mussten hinter dieser Tür beginnen.
Der Großvater lehnte sich zufrieden und satt in seinen Sessel zurück und zog ein kleines, braunes Apothekenfläschchen mit der Aufschrift Feines Pfefferminzöl aus seiner Hemdtasche. Er ließ ein paar Tropfen in seine geöffnete Hand fallen und verrieb sie mit gleichmäßig kreisenden Bewegungen auf seinem kahlen Kopf.
Betula grinste und fragte: „Was tust du da?“
„Es pfeift in meinem alten Schädel. Manchmal knackt es. Sogar klopfen hab ich es schon gehört“, erklärte er ernst.
„Es pfeift und knackt in deinem Kopf? Und sogar klopfen hast du es schon gehört?“ Betula glaubte, dass der Großvater scherze, doch sein Blick blieb ernst. Nur schwer konnte sie sich das Grinsen verkneifen, als sie den alten Mann so sah. „Deine Glatze glänzt jetzt wie ein polierter Apfel.“
„Dann ist es gut!“, erwiderte der Großvater zufrieden, stand auf und ging Richtung Tür.
„Wo gehst du hin?“, erkundigte sich Betula, aber nur um sicherzugehen, dass der Großvater tat, was er immer tat um diese Zeit.
„Ich tue das, was ich immer tue um diese Zeit“, entgegnete der Großvater und gähnte. „Ich werde mein Mittagsschläfchen halten, und zwar draußen im Hof in meinem Liegestuhl.“
Auf diesen Moment hatte Betula nur gewartet. Als Großvaters Schritte im Haus verklungen waren, sprang sie auf und mit einem Satz stand sie vor dem Wohnzimmerschrank. Sie hielt inne. So entschlossen sie eben noch gewesen war, so unsicher fühlte sie sich nun. Nein! Nein! Sie sollte die Finger von der Metallkassette lassen und sich ablenken.
Die beste Ablenkung wäre eine sinnvolle Beschäftigung, dachte sie sich und ihr fiel auch gleich etwas ein. Die Werkstatt müsste mal wieder ausgefegt werden. Die Sägespäne könnte sie dann in den Speicher bringen und anschließend darin herumtoben. Das machte Spaß. Doch allein war das langweilig.
Oder aber sie könnte aus Großvaters Fernsehsessel das Sägemehl klopfen. Und dann gab es in der Werkstatt auch noch haufenweise krumme Nägel, die sie gerade biegen könnte. Aber wie viel aufregender wäre es, jetzt diese Schranktür zu öffnen!
Betula konnte nicht länger widerstehen. Ranziger Seifenduft strömte aus Großmutters feinen Sonntagsdecken, die der Großvater hier wie einen Schatz aufbewahrte. Und da war auch die Metallkassette. Betula nahm sie heraus und stellte sie auf den Esstisch. Mit zitternden Händen öffnete sie den Deckel und fand drei Postkarten. Sie legte sie in einer Reihe vor sich hin. Was auf der dritten Karte stand, wusste sie ja bereits, deshalb begann sie mit der zweiten.
Ferdinand,
unsere Tage sind bald gezählt. Wenn Du mich nicht ins Haus lässt, wird Dich die Reue eines Tages wie ein Schlag treffen. Dafür werde ich sorgen. Dann möge auch Dich der Teufel holen.
Martha
Dann las sie auch noch die erste Karte.
Ferdinand,
seit Deiner Hochzeit vor elf Jahren habe ich unser Elternhaus nicht mehr betreten dürfen. Doch jetzt muss ich noch einmal in das Haus.
Ich flehe Dich an, verwehre mir diese Bitte nicht.
Martha
Auf allen drei Karten war eine Ansicht der Kirche, in der vor dreiunddreißig Jahren der Großvater die Großmutter Elsa geheiratet hatte. Die erste und die zweite Karte sahen schon ziemlich alt aus. Alle drei Poststempel trugen das Stadtwappen der Stadt Hintermühlen.
Betula zupfte an ihrer Unterlippe und überlegte laut vor sich hin: „Die drei Karten wurden hier in Hintermühlen in den Briefkasten gesteckt.“ Betula warf noch einmal einen Blick auf das Datum der Poststempel. „Man muss kein Rechenass sein, um darauf zu kommen, dass die Postkarten auf den Tag genau im Abstand von elf Jahren verschickt worden waren.“
Doch das war noch längst nicht alles, was sie feststellte. Die Handschrift auf der ersten Karte war dieselbe wie auf der zweiten. Sie zeichnete sich durch große, geschwungene Bögen aus und wirkte sehr elegant. Beide Karten stammten offensichtlich von ein und derselben Person. Die dritte Karte schien auf den ersten Blick eine andere Schrift aufzuweisen. Doch bei genauerem Hinsehen erkannte Betula, dass es dieselbe war, nur waren die Buchstaben hier eckig und kantig, ja, beinahe kritzlig. Aber auch dafür könnte es eine Erklärung geben: das Alter der Absenderin. Zwischen dem Versenden der ersten und der letzten Karte lagen genau zweiundzwanzig Jahre! Martha musste ungefähr so alt sein wie Betulas Großvater. Und damit war sie eine alte Dame von über siebzig Jahren. Da kann einem die Hand schon ordentlich zittern.
Für Betula gab es keinen Zweifel mehr daran, dass Martha am Leben war. Aber warum wollte sie unbedingt in das Haus? Warum schickte sie ihre Karten immer im Abstand von elf Jahren ab? Ein lautes Klopfen ließ Betula vor Schreck erstarren.
„Huhu? Betula? Bist du da?“ Es war Frau Zwirnfitz.
„Ja!“, rief Betula, warf die Postkarten zurück in die Kassette und eilte zur Tür.
Frau Zwirnfitz hatte sich mit einem großen, gelben Sonnenhut herausgeputzt. Ein Beutel voller Einkäufe hing an einer Hand. „Da bist du ja, Betula. Hast du nicht Lust, zu mir rüberzukommen? Wir könnten doch was Hübsches häkeln.“
„Och …“, entgegnete Betula.
Frau Zwirnfitz machte ein enttäuschtes Gesicht und wandte sich zum Gehen.
„Also gut“, willigte Betula ein, nahm der alten Dame den Beutel ab und folgte ihr nach nebenan.
Kurz darauf saßen die beiden an dem kleinen, viereckigen Holztisch in Frau Zwirnfitz’ Wohnzimmer. In der Mitte des Tisches stand eine Steinschale mit bunten Garnknäueln.
„Nimm dir eins“, sagte Frau Zwirnfitz. „Ich hab neue Farben gekauft: Kirschrot, Pflaumenblau, Apfelgrün, Zitronengelb, Kornblumenblau und Haselnussbraun.“
Betula überlegte nicht lange. Ihr gefiel das kornblumenblaue Garn und sie griff danach.
„DAS kannst du leider nicht haben. Es ist mein einziges von dieser Farbe. Nimm doch das apfelgrüne Knäuel. Und schau mal hier!“ Frau Zwirnfitz zeigte auf eine große, bauchige Damenhandtasche unter dem Tisch. „Die ist auch voller Garn! Ich hab mir nämlich einen Topflappengroßauftrag geangelt. Du kannst also jederzeit vorbeikommen und mir beim Häkeln helfen.“ Frau Zwirnfitz setzte ihre Brille auf. Dann legte sie Betula das apfelgrüne Garn hin und kramte einen halbfertigen Topflappen unter dem Tisch hervor. Mit flinken, geübten Bewegungen zwirbelte sie den Faden um den gestreckten Zeigefinger und begann zu häkeln.
Betula schlang ein paar apfelgrüne Luftmaschen.
„Wie lange verbringst du deine Ferien hier?“, fragte Frau Zwirnfitz und musterte die Maschen, die an Betulas Häkelnadel herunterhingen.
„Zwei Wochen“, antwortete Betula.
„Dein Großvater wird wie immer keine Zeit haben, wie?“
„Ist schon in Ordnung.“ Betula zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Meine Eltern müssen auch arbeiten. Wir sind doch in diesem Jahr in die neue große Wohnung gezogen. Und nun haben sie keinen einzigen Urlaubstag mehr, weil meine Mutter unbedingt die Wände hellgrün streichen wollte …“
„Aber dein Großvater ist ein alter Mann. Ich lebe seit mehr als dreißig Jahren hier und er hat sich noch nie einen Tag Ruhe gegönnt“, sagte Frau Zwirnfitz kopfschüttelnd.
Betula horchte auf. „Sie leben schon über dreißig Jahre in dieser Wohnung? Haben Sie Martha noch kennengelernt?“
Die alte Dame geriet für einen Moment aus dem Häkeltakt. Sie schüttelte den Kopf. „Als ich hier einzog, war sie schon weg. Dein Großvater hatte sie am Tag seiner Hochzeit hinausgeworfen.“
„Was ist denn an diesem Tag passiert?“, fragte Betula und knackste nervös mit den Fingernägeln. Knacks, knacks.
„Schrecklich, wie neugierig du bist“, sagte Frau Zwirnfitz. Sie schob sich die Brille auf die Nasenspitze und schaute streng über deren Rand zu den Luftmaschen, die an Betulas Häkelnadel baumelten. „Du musst den Faden gleichmäßig straff halten. Sieh doch nur, wie hässlich die Maschen sind.“
Betula zog rasch den Faden straff. „Waren Sie zur Hochzeit eingeladen?“, fragte sie.
„Ich?“ Frau Zwirnfitz häkelte ein paar schnelle Maschen. „Nein. Wieso? Ich bin doch nicht mit deinem Großvater verwandt. Ich kannte ihn noch nicht einmal. Den Tag hab ich mir eben … einfach so gemerkt.“
Betula rutschte nach vorn auf die Sesselkante. „Aber Sie wissen, was passiert ist, oder?“
„Du meinst in der Kirche? Natürlich! Jeder in der Stadt sprach darüber.“
„Nun sagen Sie doch schon. Was haben die Leute sich erzählt? Ich platze sonst vor Neugierde!“, erwiderte Betula aufgeregt.
Frau Zwirnfitz’ Blick wanderte an die Zimmerdecke. „Als Martha vor dem Kirchenaltar kniete, soll dein Großvater gebrüllt haben ‚Du hast doch den Verstand verloren, Martha!‘.“
Betula schaute sie mit offenem Mund und großen Augen an. „Aber warum? Was war so schlimm daran? Viele Menschen knien sich vor den Kirchenaltar.“
„Da hast du recht. Aber diese Menschen behaupten nicht, Stimmen im Kirchenaltar zu hören. Deshalb dachte dein Großvater, Martha sei übergeschnappt.“
„Sie meinen, Martha hörte Stimmen, die außer ihr niemand hören konnte?“, flüsterte Betula. „Das ist unheimlich.“
„Es wird gleich noch unheimlicher.“ Frau Zwirnfitz gluckste und zog den Kopf zwischen die Schultern wie eine Schildkröte. „Martha behauptete doch allen Ernstes, dass diese Stimmen im Kirchenaltar Holzwürmer wären und dass sie mit ihr redeten. Deinem Großvater war das äußerst peinlich. Deshalb wollte er, dass sie die Kirche verlässt, aber da beschimpfte sie ihn auf das Übelste.“ Frau Zwirnfitz hielt inne.
„Bitte erzählen Sie weiter! Was hat sie gesagt?“, flehte Betula.
„Du Betrüger“, wisperte Frau Zwirnfitz.
„Betrüger?“, fragte Betula ungläubig nach.
„Und Erbschleicher“, fügte die alte Dame hinzu.
„Betrüger und Erbschleicher“, wiederholte Betula langsam.
Frau Zwirnfitz nickte heftig mit dem Kopf, sodass kein Zweifel an der Richtigkeit dieser Worte bestehen konnte. „Dann schrie dein Großvater: ‚Das muss ich mir von dir nicht sagen lassen. Du verlässt auf der Stelle mein Haus.‘“
„Das hat er gesagt?“ Betula schaute sie entsetzt an.
„Aber ja. Und einen Tag später verließ sie wirklich das Haus und er erzählte allen, die habe der Teufel geholt. Das Einzige, was sich von ihr noch in seinem Haus befindet, ist der alte Schreibschrank, drüben im alten Sarglager.“
„Sie meinen den schönen, alten Sekretär?“, schwärmte Betula. „Och, wie gern hätte ich den Schlüssel dazu. Sie haben ihn wohl nicht zufällig?“
„Nein!“, rief Frau Zwirnfitz entsetzt. „Wo denkst du hin? Und ich rate dir, lass die Finger von diesem Schrank. Martha hatte sicher gute Gründe, warum sie ihn hier zurückgelassen hat.“
„Dann ist Martha also nicht tot?“, fragte Betula, denn sie sah Frau Zwirnfitz an, dass sie noch mehr über Martha wusste.
Frau Zwirnfitz legte das Häkelzeug beiseite und verschränkte ihre kurzen, dicken Arme. „Nun ja. Viele glauben es, weil man sie seit einer halben Ewigkeit nicht mehr gesehen hat.“
„Und was glauben Sie?“
Frau Zwirnfitz kicherte. „Also ich glaube ja vieles, wenn der Tag lang ist. Aber dass Tote Karten schreiben? Daran glaube ich nicht.“
„Dann war die Karte von Martha?“, hakte Betula noch einmal nach.
Frau Zwirnfitz holte tief Luft, sodass ihr üppiger Busen mächtig anschwoll. „Also gut, du kleine Nervensäge“, seufzte sie. „Du lässt ja sonst nicht locker. Aber kein Wort darüber zu deinem Großvater. Wir müssen seine Entscheidung akzeptieren.“
Betula nickte.
„Deine Großtante Martha lebt“, flüsterte Frau Zwirnfitz und machte eine geheimnisvolle Pause. „Vor drei Monaten ist sie zurückgekehrt. Sie wohnt am Rande der Stadt im Altersheim.“
Nachdem Frau Zwirnfitz ihr verraten hatte, wo Martha lebte, wollte Betula nicht eine ordentliche Masche mehr gelingen. Und weil sie nur noch ungeduldig im Sessel herumzappelte, schickte Frau Zwirnfitz sie in den Garten.
Betula blieb vor dem Gartentor stehen und schaute zurück zu Frau Zwirnfitz Küchenfenster. Es war geschlossen und die Gardinen waren zugezogen. Der Großvater hantierte in der Werkstatt. Das war deutlich zu hören.
‚Ich könnte mich einfach vom Hof schleichen‘, dachte Betula. ‚Die Stadt Hintermühlen ist klein. Bis zum Rande der Stadt kann ich laufen, ohne dass mir die Füße wehtun.‘ Und während sie über den Hof hinaus auf die Straße ging, beschloss sie, eine kleine Erkundungstour zu machen.
Als sie den Marktplatz und den alten Güterbahnhof hinter sich gelassen hatte, sah sie einen fünfstöckigen Betonklotz, von dem sie wusste, dass dies das Altersheim der Stadt war.
‚Dort also wohnt meine Großtante Martha‘, dachte Betula und spürte ein Kribbeln im Bauch. Wenige Augenblicke später stand sie am Eingang und las neugierig, was auf einem großen, weißen Blatt stand, das an der Tür klebte.
Zwanzig Jahr? Und kaum ein Haar?
Das war einmal!
Ich lade alle feierlustigen Heimbewohner zu meinem Geburtstag ein. Lasst uns ab heute 54 Tage lang das Tanzbein schwingen. Treffpunkt im Speisesaal täglich um 14:00 Uhr.
Ihr Herr Meridiani
Betula musste kichern, als sie die ulkige Ankündigung las, und betrat das Gebäude. Fragend schaute sie sich um und sah nichts als ellenlange Flure mit vielen Türen. Wie sollte sie ihre Großtante hier finden? Gab es denn niemanden, den sie fragen konnte? Der Stuhl hinter dem Rezeptionstresen war jedenfalls leer. Außerdem könnte Martha geheiratet haben. Dann hatte sie einen anderen Namen und Betula würde sie niemals ausfindig machen, denn Großtanten gab es hier sicher so viele wie Zuckerdöschen. Es blieb ihr nur die Hoffnung, dass ihre Großtante noch immer Martha Krummnagel hieß.
Betula begann, die Namen auf den Schildern an den Türrahmen zu lesen. Herr und Frau Zander, Frau Grimm, Frau Gulasch, Frau Kramer, Frau Kleinfuß, Frau Ast. Es gab auch eine Frau Nagel. Fehlte nur das Krumm. Frau Pfefferkorn, Frau Löffelholz, Frau Kannwischer. Namen an Namen, die sich scheinbar endlos aneinanderreihten.
Betula war bereits in der dritten Etage angekommen. Herr Neuneier, Frau Feldhahn, Frau Rummschüssel, Frau Rosengrün, Herr und Frau Semmel, Herr Dreizack, Frau Schachtschabe, Herr Meridiani, Frau Krummnagel.
Da stand es! In großen schwarzen Druckbuchstaben. Frau Krummnagel. Betulas Herz schlug schneller. Sie hatte Martha gefunden. Doch wie weiter? Sollte sie einfach anklopfen und sich vorstellen? Das hatte irgendwie keinen Stil. Da pikte ihr plötzlich etwas Spitzes in den Rücken.
„Wer bist du?“, fragte eine knarzige Stimme, die ganz offensichtlich zu dem Ding gehörte, das in Betulas Rücken stach.
Betula drehte sich um und erblickte eine klapperdürre, alte Frau mit langem Hals und spitzem Kinn, die in einem Rollstuhl saß. Ihre kleinen, eng beieinanderliegenden Augen wurden von einem braunen Brillengestell umrahmt. Ihr Haar hatte die Farbe von Pfeffer und Salz und war straff nach hinten gebunden. Sie trug eine bunt karierte Bluse und blaue Baumwollhosen. Ihre Füße, die von stattlicher Größe waren, steckten in mausgrauen Pantoffeln. Das Ding, das sie in Betulas Rücken gebohrt hatte und das immer noch auf Betula zeigte, war die Spitze eines Spazierstockes.
„Bist du taub?“, zischte die Alte und fuchtelte mit dem Stock vor Betulas Nase herum.
„Ich … ich … wollte gerade wieder gehen“, stotterte Betula.
Die Alte schaute sie voller Misstrauen an. „Hab ich dich also auf frischer Tat ertappt. Letzte Woche hast du meinen linken Hausschuh versteckt. Und was sollte es heute sein?“
Betula wurde ganz blass vor Schreck. „Sie irren sich … Ich möchte eigentlich jemanden besuchen“, stammelte sie. „Ich möchte … zu Frau Krummnagel.“
„So, so.“ Die Alte senkte den Stock. „Eigenartig, dass ich dich hier noch nie gesehen habe“, sagte sie mürrisch und setze ihren Rollstuhl in Bewegung.
Betula trat erleichtert einen Schritt beiseite und versuchte zu lächeln.
„Frau Krummnagel bin ich“, sagte die Alte hölzern und Betula konnte es nicht fassen. ‚Das ist Martha, meine Großtante‘, hämmerte es in ihrem Kopf.
Die Alte schien nicht weniger überrascht. Sie schaute Betula eindringlich und ausdauernd an. Dann erhob sie sich aus ihrem Sitz und versetzte Betula in Staunen: Normalerweise sind alte Damen klein, vor allem kleiner als Betula, aber ihre Großtante überragte sie. Martha begann, um das Mädchen herumzuschleichen. Ihren Kopf streckte sie weit nach vorn. Mit ihrem langen Hals sah sie aus wie ein Greifvogel, der seine Kreise zieht, kurz bevor er zum Angriff auf seine Beute hinabstürzt.
Betula hielt den Atem an. Gerade in dem Moment, in dem sie glaubte, dieser Musterung nicht länger standhalten zu können, vollzog sich eine plötzliche Wandlung in der Alten. Ihre Mundwinkel begannen zu zucken und ihre Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln. Für Betula sah das sehr gequält aus, als versuchte Martha unsichtbare Gewichte mit den Mundwinkeln nach oben zu ziehen.
„Du wolltest mich also besuchen, mein Kindchen“, sagte Martha.
Poch … Poch … Poch
„Lass mich mal nachdenken.“