Für Alex






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Birgit Bestvater: „Betula Krummnagel und das Wurmloch des Herrn von Gras“
1. Auflage, Oktober 2017, Periplaneta Berlin, Edition Drachenfliege

© 2017 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden.
Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.

Lektorat: Sarah Strehle (www.lektorat-strehle.de)
Schlusskorrektur: Vanessa Franke
Cover: Katrina Lange (www.katrinalange.de)
Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-95996-065-6
epub ISBN: 978-3-95996-066-3

Birgit Bestvater

Betula

Krummnagel

und das Wurmloch des Herrn von Gras


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Erstes Kapitel

In dem Betula wie andere Kinder ihre Ferien in einem Ferienlager verbringen soll

Betula war gerade dabei, ihren Rucksack für den Flohmarkt zu packen. So wie jeden Sonntag wollte sie gleich nach dem Essen dahin. Erst schepperte es. Dann ertönte ein spitzer Schrei. Betula eilte aus ihrem Zimmer in die Küche, um zu schauen, was passiert war. Ihre Mutter stand an der Spüle, das Gesicht vor Schmerz verzerrt, und hielt eine Hand unter das laufende Wasser.

„Diese dämlichen Topflappen“, jammerte sie. Betulas Mutter hatte sich zum wiederholten Male die Finger an den Kochtopfhenkeln verbrannt und wie immer, wenn das passierte, waren die Kartoffeln im Ausguss gelandet.

„Wozu hat Frau Zwirnfitz diese verflixten Löcher in die Topflappen gehäkelt?“ Betulas Mutter schimpfte verdrossen und die Holzlockenwickler auf ihrem Kopf klapperten, als wollten sie ihr zustimmen.

Betula nahm flugs eine Schüssel aus dem Schrank und sammelte die Kartoffeln aus dem Spülbecken. Dann hob sie die quietschgrünen Topflappen vom Boden auf und betrachtete grinsend das Häkelmuster, welches hauptsächlich aus erbsengroßen Löchern bestand. „Frau Zwirnfitz sagt, Topflappen sind sehr dekorativ“, sagte sie und hielt sich mit vornehm gespreizten Fingern die Topflappen an ihre Ohren. „Genau genommen sind das gar keine Topflappen, sondern ganz entzückende Ohrlappen. Schau doch mal!“ Betula hoffte, mit diesem Spaß ihre Mutter zum Lachen zu bringen. Doch das schien mit den Kartoffeln in die Spüle gefallen zu sein.

Betula senkte betrübt die Hände. „Ich werde Frau Zwirnfitz bitten, ein anderes Muster zu häkeln. Eines ohne Löcher.“ Sie hängte die Topflappen zurück an den Haken. „Wann fahre ich denn nun nach Hintermühlen?“, fragte sie ihre Mutter. Vor zwei Tagen hatten die Sommerferien begonnen und seitdem drückte sich ihre Mutter vor einer Antwort.

Die Mutter gab ihr auch dieses Mal keine Antwort und hielt ihr stattdessen zwei Schüsseln hin. Eine mit Bohnen und eine mit Kartoffeln. „Kannst du die auf den Tisch stellen?“

Betulas Vater betrat im Schlafanzug die Küche. Er hatte kleine müde Augen von der Nachtschicht.

Betula stellte die Schüsseln auf den Tisch und setzte sich zu ihm. „Du bist ganz schwarz im Gesicht“, sagte sie und strahlte ihn an. Ihr Vater arbeitete in der Kokerei des Gaswerkes am Koksofen. Der Ruß der letzten Nacht klebte noch tief in den Poren seiner Wangen. Sie hatte ihn die ganze Woche nicht gesehen und nach einer Nachtschicht war er nie sehr gesprächig.

Die Mutter marschierte mit einer Pfanne brutzelnder Spiegeleier zum Tisch. Sie hatte winzige Schweißperlen auf der Oberlippe. Geräuschvoll stellte sie die Pfanne ab. Der Vater zuckte zusammen.

„Sie hat sich wieder die Finger verbrannt“, flüsterte Betula ihm zu und angelte sich eine zerkochte Bohne aus der Schüssel.

Der Vater nickte, als wollte er sagen: Na, das hab ich mir gedacht. Er griff nach dem Pfannenwender und fuhrwerkte an den Spiegeleiern herum.

Betulas Mutter setzte sich nun ebenfalls an den Tisch und sah sie mit einem Wir-müssen-mit-dir-reden-Blick an. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Oberlippe und dann kam es: „Was würdest du dazu sagen, wenn du in diesem Jahr in ein Ferienlager fährst?“

Betula glitt die Bohne aus den Fingern. „Ich soll in ein Ferienlager?“, rief sie entsetzt.

„Du wirst an die Ostsee fahren und es werden viele Kinder dort sein“, sagte ihre Mutter und fing an, Kartoffeln auf die Teller zu verteilen.

Betula sprang so abrupt vom Stuhl auf, dass ihre Mutter vor Schreck zusammenzuckte. Sie war immer aufs Neue überrascht, wie sehr ihre Tochter in den letzten Wochen gewachsen war.

„Wo alle in drei Minuten eine beste Freundin haben werden, nur ich nicht!“, entgegnete Betula und spürte die Tränen hinter den Augenlidern brennen.

„Es wird dir sicher gefallen“, sagte ihr Vater ruhig.

Betula starrte ihre Eltern an, die es offenbar ernst meinten.

Sie schluckte. „Wie lange geht denn so ein Ferienlager?“

„Drei Wochen!“, antwortete ihr Vater.

„Siebzehn Tage“, korrigierte ihre Mutter.

„Siebzehn Tage? Das heißt, ich werde siebzehn Tage weniger bei Martha und Großvater sein?“

Die Eltern nickten.

„Nein!“, rief Betula, stürzte aus der Küche und rannte in ihr Zimmer. Schluchzend warf sie sich aufs Bett. Warum wollten ihre Eltern nur, dass sie in so ein doofes Ferienlager fuhr? Sie wussten genau, wie sehr sie sich auf Großvater und Martha freute und die Tränen rannen nun wie Bäche über ihr Gesicht. ‚Ja, mit Zehnjährigen kann man das machen‘, dachte sie verzweifelt. Als sie die Stimmen ihrer Eltern durch die dünne Betonwand hörte, setzte sie sich auf und lauschte.

„Das mit dem Ferienlager war wohl keine so gute Idee, Conni.“

„Vielleicht muss sie sich erst einmal an den Gedanken gewöhnen. Wir sollten nicht gleich nachgeben.“

Sie schwiegen kurz und dann hörte Betula ihre Mutter sagen: „Sie geht jetzt sicher wieder zu diesem Flohmarkt, Peter. Sie hat noch nie etwas verkauft. Sie trägt diesen alten Krempel seit Monaten nur hin und her und behauptet, es wären kostbare Geschenke von Großvater und Martha.“ Ihre Mutter schraubte die Stimme nach oben. „Ein kaputter Wecker? Eine Zigarrenschachtel? Eine Flasche Holzwurmtod?“

Der Vater lachte.

Jetzt sprach sie wieder leise weiter. „Sie wird bald elf, Peter. Elfjährige tun so etwas nicht. Sie treffen sich mit Freunden, gehen ins Schwimmbad oder ins Kino. Und darum ist ein Ferienlager mit anderen Kindern genau das Richtige für sie.“

Betula nahm ihren Rucksack und schlich sich leise aus ihrem Zimmer und zur Wohnungstür. Obwohl es nicht das erste Mal war, dass sie ihre Mutter so reden hörte, versetzte es ihr einen Stich. Traurig legte sie die Hand auf die Klinke.

„Aber Conni“, entgegnete der Vater beschwichtigend. „Was ist schon dabei? Sie geht eben gern auf den Flohmarkt. Und sie freut sich die ganze Woche darauf.“

Betula seufzte und nickte.

„Ich gehe jetzt!“, rief sie und schloss flugs die Tür hinter sich.

Betula lebte mit ihren Eltern in einem Wohnviertel am Ende der Straßenbahnschienen. Alles war hier neu. Die Hochhäuser, die Spielplätze, die Fußwege, ja sogar die Mülleimer. Vor ihrem Haus verlief ein langer Graben mit schwarzen dicken Kabeln. Ein breites Eichenbrett, dick genug um einen Elefanten zu tragen, lag darüber. Als Betula heute den Graben überquerte, war ihr, als würde es sich unter der Last ihres Herzens biegen. Um die Straßenbahn zu erreichen, hätte sie nicht den Hügel aus aufgeschüttetem Bausand hinaufsteigen müssen. Sie tat es dennoch.

Oben angekommen blieb sie stehen, drehte sich um und ihr Blick kletterte das graue Haus mit seinen hunderten von Fenstern hinauf. ‚Ein riesiger Betonklotz mit viereckigen Schlupflöchern‘, dachte Betula. Sie musste an Sir William, den kleinen schlauen Holzwurm, und an seine nimmersatte Verwandtschaft denken, die sie in den letzten Sommerferien in Marthas Sekretär entdeckt hatte. Und obwohl sie hier schon oft gestanden hatte, war ihr diese Ähnlichkeit noch nie aufgefallen.

Sie zählte die Fenster und stellte sich vor, es wären lauter Bohrlöcher, die von Betonwürmern hineingenagt worden waren. Vierzehntes Loch von rechts und achtzehntes Loch von unten. Das waren die Koordinaten von Sir Williams Schlupfloch in Marthas altem Sekretär gewesen. In dem Haus befand sich an dieser Stelle ein Fenster mit einer rosa Spitzengardine. Betula schmunzelte.

‚Nein, ein Schlupfloch mit rosa Spitzengardine würde Sir William nicht gefallen‘, dachte Betula. ‚Aber ganz sicher der Baronesse. Das heißt, wenn das Fenster nicht so schmutzig wäre. Pfui, würde die Baronesse rufen, wenn sie den Taubendreck am Glas sehen könnte, weil sie es doch so gern sauber hat, in ihrem Schlupfloch.‘

Betula zählte abermals. Zehntes Loch von links und sechstes Loch von unten. Dort wohnte Bettina. Sie war Betulas Freundin und die Einzige, die sie nicht wegen ihrer Größe hänselte und eine Bohnenstange nannte. Nach der Schule trafen sie sich immer hinter der Hauswand. Mit Stöcken zogen sie Striche in den grauen Sand, wo die Bühne sein sollte für ihr Theaterstück, in dem sie beide die Hauptdarsteller waren.

Es quietschte. Die Straßenbahn fuhr in die Wendeschleife! Betula rannte den Hügel hinunter und dann im Zickzack um die frisch angepflanzten Eichen, die kaum dicker waren als Rhabarberstängel.

Völlig außer Atem ließ sie sich auf einen der braunen Kunstledersitze fallen. Den Rucksack hielt sie auf ihrem Schoß mit den Armen fest umschlungen.

Nach fünf Stationen stieg Betula aus.

Zweites Kapitel

In dem Betula auf dem Flohmarkt unerwarteten Besuch bekommt

Schon von weitem konnte sie den Flohmarkt am Menschengewimmel und den Holzbuden erkennen. Er lag am Rande des Stadtparks. Als sie näher kam, wurde sie zuerst vom alten Schrott-Benni begrüßt. Der hatte wieder vom Auspuff bis zur Badewanne seinen ganzen gesammelten Schrott mitgebracht und unter dem Kastanienbaum abgeladen. Sie sah Lumpen-Trude, die zehn Koffer voller Kleider bei einer Versteigerung im Fundbüro für einen Apfel und ein Ei ergattert hatte. Fischbrötchen war auch wieder da. Sie verkaufte frische Brötchen mit sauren Heringen, wenn die Marktbesucher der Hunger überkam. Und es fehlte auch Karton-Ede nicht, der damit prahlte, dass er seine Kartons bis zum Himmel stapeln konnte.

„Hallo, Betula“, begrüßte einer nach dem anderen sie.

Betulas Traurigkeit verzog sich wie eine dunkle Wolke. „Hallo“, rief sie fröhlich zurück.

„Die ersten Käufer warten schon auf dich, du Glückspilz“, verkündete Lumpen-Trude.

„Den Stuhl bringe ich dir, sobald es in deiner Geldbüchse klimpert!“, versprach der alte Schrott-Benni.

Schnurstracks ging Betula zu ihrem angestammten Platz. Eine alte, hohle Eiche. Dort hatten sich bereits ein paar Kinder versammelt. „Da bist du ja endlich“, riefen sie und wie jeden Sonntag verfolgten sie gespannt Betulas Handgriffe. Zuallererst breitete sie die moosgrüne Decke aus und platzierte darauf folgende Gegenstände: drei Postkarten, einen ziemlich ramponierten Wecker, eine braune Flasche mit Holz­wurm­tod, eine Zigarrenkiste mit zehn Glasfläschchen und eine Lupe. Des Weiteren zauberte sie ein kornblumenblaues Häkelgarnknäuel, eine Häkelnadel und eine leere Blechdose aus ihrem Rucksack. Sie betrachtete dabei jeden einzelnen Gegenstand, als wäre er Teil eines Pharaonenschatzes, und die Kinder bestaunten alles mit großen Augen. Vor jedes dieser Dinge stellte sie eine kleine Pappkarte mit der Aufschrift Unverkäuflich. Nur die Blechdose bekam ein Schild, auf das ein Pfeil gemalt war und vier schwarze Buchstaben, alles großgeschrieben: GELD. Dann nahm Betula in der hohlen Eiche Platz.

„Du hast den goldenen Schlüssel vergessen!“, rief ein kleines Mädchen mit roten Zöpfen.

Betula schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. „Stimmt.“ Sie kramte in ihrem Rucksack und zog ihn heraus.

„Der muss zwischen die dritte Postkarte und den Wecker“, diktierte ein Junge mit struppigen, strohgelben Haaren und rückte seine Brille gerade.

Betula hauchte den Schlüssel an, polierte ihn an ihrem Rock, bis er glänzte, und legte ihn an seinen Platz. Jetzt war alles bereit. Es fehlte nur noch ein Käufer.

Alle schauten nun auf einen Jungen, dem eine Tabakpfeife lässig im Mundwinkel klemmte. Der war nämlich neu in der Runde. Prompt fing er laut zu lachen an. „Du bist vielleicht komisch“, rief er prustend, wobei er mit einer Hand seine Pfeife festhielt. „Wofür willst du denn Geld? Deine Sachen sind doch unverkäuflich. Warst du noch nie auf einem Flohmarkt?“

Betula kniff listig die Augen zusammen. „Ich verkaufe eine Geschichte.“

„Pah“, machte der Junge. „Eine Geschichte! Und wozu brauchst du da den ganzen Krempel?“ Er zeigte mit seiner Pfeife auf Betulas Sachen.

Das Mädchen mit den roten Zöpfen rammte ihm den Ellenbogen in die Seite. „Mann! Für einen Detektiv bist du aber ziemlich blöd!“, rief es. „Das ist kein Krempel, sondern das sind Gegenstände, die eine wichtige Rolle in der Geschichte spielen.“

„Na, wenn Pippi Langstrumpf das sagt“, erwiderte der Junge und grinste hämisch.

„Haha“, machte das Mädchen. „Der Witz ist alt. Aber wenn du wissen willst, was es mit dem Wecker auf sich hat oder der Lupe oder der Flasche Holzwurmtod, musst du in diese Blechdose dort ein paar Münzen werfen.“

Der Junge kramte in seiner Hosentasche nach Geld, doch dann zögerte er. „Warum wirfst du nicht dein Geld in die Dose? Ich will mir von meinem lieber ein Schokoladeneis kaufen.“

„Weil ich das letzte Mal bezahlt habe“, erwiderte das Mädchen.

„Und ich das vorletzte Mal“, rief der strohblonde Junge mit der Brille.

Der Junge kaute unschlüssig auf seiner Pfeife herum. „Aber wenn ich da mein kostbares Geld hineinwerfe, kriege ich doch wenigstens eine eigene Geschichte?“

„Mann, du bist echt schwer von Begriff!“, sagte nun wieder das Mädchen. „Du bist auf einem Flohmarkt. Hier gibt es keine neuen Geschichten, nur alte, gebrauchte. Nun mach schon. Es lohnt sich.“

Die Münzen klirrten endlich in der Blechdose. Das war für den alten Schrott-Benni das Signal, den gusseisernen Stuhl zu bringen. „Bitte schön, der Herr“, sagte er zu dem Jungen mit der Pfeife. „Sie sind der Glückliche, der sich heute den Hintern auf dem harten Ding platt sitzen darf.“

Der Junge nickte und nahm Platz.

Betula begann die Geschichte natürlich mit Marthas geheimnisvoller Postkarte an den Sargtischler Ferdinand Krummnagel, Betulas Großvater. Sie erzählte, wie aufgeregt die Postfrau an jenem Morgen über diese Postkarte gewesen war, weil sie geglaubt hatte, Martha sei seit vielen Jahren tot. „Martha ist Großvaters Schwester, wisst ihr“, erzählte Betula. „Und niemals hat er von ihr gesprochen. Nur einen einzigen Satz. ‚Die hat der Teufel geholt!‘ Und darum haben alle geglaubt, sie sei tot. Ich schnappte mir also die Karte und konnte gerade noch rechtzeitig in Großvaters Wohnung verschwinden, bevor mir die Postfrau sie wieder aus der Hand reißen und damit zur Polizei gehen konnte.“ Betula erzählte von Großvaters Nachbarin Frau Zwirnfitz, die ihr verraten hatte, dass Martha sich in einem Altersheim versteckte. Sie habe sich sogleich auf den Weg gemacht, um ihre Großtante kennenzulernen.

„Ein spitzes Ding stach mir in den Rücken“, sprach Betula mit schauriger Stimme. „Und als ich mich umdrehte, sah ich eine große, klapperdürre, alte Frau, die in einem Rollstuhl saß und mit ihrem Spazierstock herumfuchtelte. Sie war hässlich wie die Nacht. Ihr Kinn war so lang und spitz, dass sie mühelos drei Äpfel auf einmal hätte damit aufspießen können und aus ihren Augen sprühten rote Blitze.“ Dann gab Betula vor, sich zu fürchten und machte ein ängstliches Gesicht. „‚Ich will zu Frau Krummnagel‘, habe ich gesagt und vor Angst schlotterten mir die Knie. Zum Glück ließ mich die Alte in Ruhe und setzte ihren Rollstuhl wieder in Bewegung. Aber plötzlich blieb sie stehen und sagte …“ Jetzt knetete Betula an ihrem Kinn herum und schaute so düster in die Runde, wie sie nur konnte.

„Frau Krummnagel bin ich!“, rief da jemand mit einer knarzigen Stimme und es war nicht Betulas. Erstaunt fuhren die Kinder herum. Da stand sie plötzlich. Die große, dürre, alte Frau mit dem spitzen Kinn, die doch eben noch in Betulas Geschichte vorkam. Vor Schreck machten die Kinder einen Satz nach vorn.

Auch Betula wollte ihren Augen nicht trauen. Es war tatsächlich ihre Großtante Martha. Das eisgraue Haar hatte sie wie immer zu einem straffen Dutt nach hinten gebunden. Sie trug eine blaue Pumphose und eine weiße Bluse. Über ihren Schultern hing ein zerknautschtes, zitronengelbes Sommerjackett, das eben noch bei Lumpen-Trude in der Kiste gelegen hatte. In der Hand hielt sie ein Fischbrötchen.

Betula sprang aus der Eiche hervor. „Großtante Martha! Du bist es! Du bist es! Du bist es wirklich!“ Sie klatschte vor Freude in die Hände. Dann schaute sie in die Runde zu den anderen Kindern. Oh, wie sie diese Gesichter genoss. Wie alle ihre Großtante anstarrten, mit heruntergeklappten Kiefern und weit aufgerissenen Augen. Ein Kind streckte Martha seinen Apfel entgegen.

Martha grinste. Doch statt den Apfel zu nehmen, biss sie in das Fischbrötchen, dass es nur so krachte.

Karton-Ede platzte in das allgemeine Staunen hinein. „Einhundert Kartons“, rief er lauthals. „Karton-Ede stapelt heute wieder seine Kartons bis zum Himmel. Wird er es schaffen oder nicht?“

Vor Martha blieb er stehen und schaute zu ihr hinauf, da sie ihn um zwei Köpfe überragte.

„Oha“, machte er, zog anerkennend seinen Hut, der ebenfalls ein Karton war, und verbeugte sich vor ihr. „Sie könnten mir dabei helfen. Sie haben eine ordentliche Länge, will ich meinen.“ Mit einem Auge zwinkernd hielt er Martha den Hut hin.

Martha starrte irritiert in den Kartonhut, dann zu dem Stapel Kartons, den er in einem Anhänger hinter sich herzog. „Das muss der Kartonfluch sein“, sagte sie und ließ vor Schreck ihr angebissenes Fischbrötchen in seinen Hut fallen.

Betula und die Kinder lachten laut los. Da griff Martha Betula am Arm. „Du musst sofort deine Sachen einpacken“, sagte sie. Das kam so unerwartet und ernst, dass alle erschraken. Sekundenschnell erstarb das Gelächter.

„Aber warum denn?“, fragte Betula verdattert. „Ich dachte, wo du schon mal da bist, könnten wir die Geschichte gemeinsam …“ Noch ehe sie den Satz zu Ende gesprochen hatte, schüttelte Martha den Kopf.

„Wir müssen auf der Stelle los. Wir müssen nach Hintermühlen.“

Die Kinder um sie herum begannen aufgeregt zu tuscheln.

„Das geht nicht. Meine Eltern wollen, dass ich in ein Ferienlager fahre“, sagte Betula bedrückt.

„Ich weiß, ich weiß“, entgegnete Martha. „Deine Mutter hat es mir eben erzählt. Doch das Ferienlager muss ohne dich stattfinden.“ Sie zeigte mit einem Finger auf den kleinen braunen Koffer, der neben ihr stand.

„Das ist mein Koffer!“ Betula riss vor Staunen die Augen auf. „Das heißt, meine Eltern lassen mich mit dir fahren?“

Martha nickte. Betulas Herz klopfte aufgeregt vor Freude. Doch sofort machte sich in ihr auch das Gefühl breit, dass irgendetwas in Hintermühlen nicht stimmte. Martha war sicher nicht ohne Grund so plötzlich hier aufgetaucht.

„Bist du wegen Großvater gekommen?“, fragte sie. Martha antwortete mit einem ernsten Blick. Betula schluckte. „Was ist mit ihm?“, hauchte sie und knackste mit den Fingernägeln. Das tat sie noch immer, wenn sie nervös war.

Martha schauderte. „Das ist widerlich. Du solltest es dir doch abgewöhnen! Dein Fingernagelknacksen klingt wie –“

„Das verfluchte Nagen eines verfluchten Holzwurmes. Ich weiß“, unterbrach Betula sie und versteckte die Hände hinter dem Rücken. „Ich hör ja schon auf. Nun sag doch endlich, was ist mit Großvater?“

Martha riss ihre kleinen Augen auf. Sie waren grau und trüb wie die Kieselsteine an der Spree. „Er hat wieder mit dem Tischlern angefangen“, stieß sie hervor.

„Oh nein! Du meinst, er baut wieder Fenster?“, rief Betula entsetzt.

Martha zog die Luft zischend ein. „Er baut Särge“, sagte sie und es klang so unheilvoll wie nur sonst irgendetwas.

Betula kapierte nichts mehr. „Aber dann ist doch alles gut. Oder etwa nicht?“

Der Junge mit den strohblonden Haaren rief: „Hurra! Der Krummnagelfluch ist zurück und die Holzwürmer in Mar­thas Sekretär können wieder sprechen.“

Das Mädchen mit den roten Zöpfen schlug sich an die Stirn. „Oh Mann! Den Sekretär gibt es doch gar nicht mehr. Aus dem hat der Großvater doch einen Sarg gebaut. Und solange der Großvater Särge baut, kann der Fluch nicht wiederkommen und solange sind die Holzwürmer auch stumm. Irgendetwas anderes muss passiert sein.“

Martha nickte, beugte sich zu Betula und raunte ihr ins Ohr. „In der Stadt erzählt man sich, dass dein Großvater nachts im Altersheim herumschleicht und die Alten aus ihren Betten holt, um ihnen einen Sarg zu verkaufen.“

„Was?“, rief Betula erschrocken. Das klang so seltsam, dass sie es nicht glauben konnte.

„Dein Großvater streitet natürlich ab, jemals im Altersheim gewesen zu sein und behauptet, ein anderer müsse dort unter seinem Namen einen Streich spielen.“

Das klang noch unglaubwürdiger.

„Doch das Schlimmste sind seine Särge.“ Martha schüttelte verzweifelt den Kopf. „Er hat am Sterbebett seines Vaters versprochen, Särge zu bauen. Särge! Särge! Nichts als Särge! Dafür, dass dein Ururgroßvater Max Krummnagel vor einhundertundeinem Jahr den Sarg eines Vampirs zerstört hat. Doch die Särge, die dein Großvater baut, sehen wie scheußliche Kartoffelkisten aus. Er gibt sich einfach keine Mühe. Während er den Hammer schwingt und die Nägel ins Holz klopft, schaut er verträumt den Schwalben beim Nestbauen zu. Und wenn er sein erbärmliches Werk betrachtet, hat er dieses schelmische Grinsen im Gesicht. Der Vampir wird uns mit einem neuen, noch schrecklicheren Fluch strafen. Ich weiß es, Betula. Dieses Mal werden es keine kleinen, sprechenden Chol… Chol…“ Sie räusperte sich. „Holzwürmer sein, die du offenbar ganz niedlich findest.“ Martha zog eine Fratze, als würde sie etwas Übles riechen. „Jede Nacht schleicht sich der Vampir in meine Träume und färbt sie schwarz. Und jede Nacht werden sie ein bisschen schwärzer. Du musst mit Großvater reden“, beschwor sie Betula. „Auf mich hört er nicht.“

Betula schluckte. Martha glaubte offenbar mehr denn je, dass der Krummnagelfluch von einem Vampir stammte. Und wie ängstlich ihre Großtante jetzt aussah. Die Spitze ihres Kinns war so weiß, als hätte sie die eben in Milch getaucht. Obwohl Betula nicht an diesen Vampir glaubte, wusste sie, dass nichts und niemand einfach so durch Marthas Träume schlich, ohne dass es eine Bedeutung hatte.

„Wir müssen uns beeilen, Betula“, drängte Martha. „Der letzte Zug nach Hintermühlen fährt in einer Stunde.“

Der Junge mit der Pfeife hatte sich bis jetzt alles schweigend auf Schrott-Bennis Stuhl angehört. Doch als Betula nun eilig die Sachen von der Decke in ihren Rucksack steckte, rief er wütend: „Hey! Was soll das? Ich habe bezahlt. Ich will die Geschichte bis zum Ende hören!“

Betula streckte ihm das Geld hin, das er in die Büchse geworfen hatte. „Du kannst dein Geld wiederhaben.“

„Das Geld will ich aber nicht. Ich will die Geschichte. Sag deiner Oma, dass sie gefälligst warten soll.“

Betula schaute zu Martha. Die Augen ihrer Großtante verengten sich zu schmalen Schlitzen. Dann ging sie langsam auf den Jungen zu und beugte sich so tief zu ihm hinunter, dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten. „Mit meinem Kinn kann ich nicht nur Äpfel aufspießen“, knurrte sie ihn an.

Der Junge lachte unsicher. Dann sprang er vom Stuhl, schnappte sich das Geld und rannte, so schnell er konnte, davon. Betula sah, wie er sich hinter Schrott-Bennis Badewanne versteckte und über den Rand linste.

„In echt sind Sie noch viel grusliger“, flüsterte das Mädchen mit den roten Zöpfen und starrte verzückt auf Mar­thas Kinn.

„Ach was“, sagte Martha und strich sich mit vergnügtem Grinsen eine eisgraue Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Ja. Sie sind wirklich cool“, bestätigte der Junge mit den strohblonden Haaren und schob seine Brille ein Stück zu weit auf die Nase.

Als Betula eine Stunde später neben ihrer Großtante im Zug nach Hintermühlen saß, spürte sie, dass sie geradewegs in ein ungewöhnliches Abenteuer fuhren, und sie nahm sich fest vor, egal wie aufregend es werden würde, auf keinen Fall mit ihren Fingernägeln zu knacksen.

Drittes Kapitel

In dem von Farbklecksen, alten Sargskizzen und Zwiebelsud die Rede ist

Martha und Betula kamen am späten Nachmittag in Hintermühlen an. Anders als sonst hatte niemand ungeduldig am Bahnhof gewartet und auch im Haus duftete es nicht wie gewohnt nach süßer Kirschsuppe. Stattdessen war es still und es roch nach beißendem Lösungsmittel. Offenbar hatte jemand erfolglos versucht, Farbspuren vom Linoleum im Hausflur zu entfernen.

„Lass mich raten“, sagte Betula und zeigte kichernd auf zwei rote Schuhabdrücke. „Tischlerstiefel in der Größe dreiundvierzigeinhalb?“

Martha nickte. „Diese Prachtexemplare stammen von deinem Großvater und kommen aus der Werkstatt.“

Betula trat auf die Terrasse und ihr Blick folgte der roten Stiefelspur rückwärts. Sie führte hinunter auf den Hof, dann hinüber zur Werkstatt und wieder zurück ins Haus. „Die Werkstatt wirkt, als würde sie schlafen, findest du nicht?“, flüsterte Betula. Der Großvater hatte die grünen Weinreben an der Werkstatt lange nicht geschnitten, Backsteine und Fenster waren beinahe zugewachsen. „Ich kann nichts hören. Glaubst du, er ist drin?“, fragte sie Martha.

„Er ist den ganzen Tag da drin. Geh hinein und sieh es dir mit eigenen Augen an, Betula. Es ist die Werkstatt eines verrückten Sargtischlers“, raunte Martha.

„Ach, so schlimm wird es nicht sein. Du übertreibst sicher, Großtantchen“, rief Betula und hüpfte die Stufen zum Hof hinunter. Rasch drückte sie die Klinke hinunter, öffnete die Tür und steckte neugierig ihren Kopf in die Werkstatt. „Wow!“

Nicht einmal im Traum hätte sie sich so etwas ausgemalt. Wände und Fenster waren übersät mit kunterbunten Farbspritzern. Särge in Rot, Grün, Blau und Gelb stapelten sich hoch bis unters Dach. An den Deckenbalken hingen buntgetupfte Schwalbennester. Sogar in den Spinnennetzen hatten sich farbenfrohe Tropfen verfangen.

Betulas Blick wanderte zum Boden. Überall lagen Großvaters Zigarrenstummel und markierten den Weg durch die kniehohen Hügel aus Sägespänen. Großvater stand in einer Ecke und übermalte gerade einen grünen Sarg mit roter Farbe. Mit drei spinatgrünen Holzlocken auf der Glatze und blutroten Streifen im Gesicht sah er aus wie ein Clown mit Kriegsbemalung. „Das muss die Werkstatt eines verdammt fröhlichen Sargtischlers sein“, rief Betula voller Freude in den Raum.

Der alte Mann zuckte zusammen. „Betula!“ Erstaunt sah er sie an. „Wo kommst du denn plötzlich her?“, fragte er und kratzte sich mit einem Pinselstiel am Kopf.

„Es sind doch Ferien“, rief Betula, sprang auf ihn zu und drückte ihm einen Kuss auf seine stopplige Wange. Wie winzige Tannennadeln pikste es an ihren Lippen.

Der Großvater trat erstaunt zurück. „Donnerwetter!“, rief er. „Bist du gewachsen!“ Er zog den Zollstock aus seiner Hosentasche, und während er ein kleines Kunststück zum Besten gab, ließ er verschmitzt seine buschigen Augenbrauen tanzen: Der Zollstock balancierte auf seiner Hand, dann ließ er ihn überschlagen und nach jedem Salto landete er auf einem anderen Finger. In der nächsten Sekunde war der Zollstock auf die ganze Länge auseinandergeklappt. „Du bist jetzt einen Meter und dreiundsechzig“, sagte der Großvater stolz. „Warst du auch schön fleißig in der Schule?“

„Klar doch!“, antwortete Betula.

„Dann lass mal sehen.“

Betula beschloss, ihm ihre Lieblingsfratze zu zeigen. Im Fratzenziehen war sie ziemlich gut. Sie konnte den Kugelfisch, den Briefkasten und den Gorilla. Fratzen waren immer eine tolle Antwort, wenn sie keine Worte auf die gemeinen Hänseleien der anderen Kinder fand. Die Gorillafratze liebte sie am meisten. In Nullkommanichts verwandelte sich ihr schmales Gesicht in das eines Affenmädchens, das eine Kokosnuss zu viel auf den Kopf bekommen hatte.

„Potz Blitz!“, rief der Großvater beeindruckt. „Und ich dachte schon, ihr lernt nur dummes Zeug.“

Betula lachte. „Die da drüben“, sagte sie und zeigte auf den Stapel mit den roten Särgen, „die sollen wohl für den Vampir sein?“

Der Großvater grinste breit. „Gefallen sie dir?“

„Naja, sie sehen ein wenig windschief aus“, sagte Betula kichernd.

„Du hast recht. Aber besser krieg ich sie nicht hin. Sie wollen mir einfach nicht gelingen. Das liegt daran, dass ich sie nur mit dem Verstand baue und nicht mit dem Herzen. Man kann Farbe draufschmieren, soviel man will, es sind und bleiben traurige Totenkisten“, knurrte der Großvater.

Betula verschränkte die Hände hinter dem Rücken und lief zwischen den Sägespänehaufen herum, um die anderen Särge zu begutachten. Sie waren ebenso schief wie die roten. „Wolltest du nicht aufhören? Mit dem Tischlern, meine ich“, fragte sie.

„Das sag mal dem Herrn Tinnitus“, entgegnete der Großvater. Er tippte mit dem Pinselstiel an sein rechtes Ohr. „Je länger ich nichts tat, um so lauter wurde der, bis ich am Ende dachte, mir wachsen Flöten aus den Ohren.“ Er machte drei große Schritte hin zur Hobelbank. Die Zigarrenstummel knisterten wie trockenes Laub unter seinen Stiefeln. „Als ich dann aber ein Stück Holz in die Hand nahm und meinen Hobel darüber zog, wurde das Pfeifen leiser.“ Er streichelte einen Holzklotz, als wäre er ein kleines Tierchen.

Betula hörte Geschirrgeklapper und hüpfte zurück zur Tür. „Martha und ich waren beim Bäcker Krümel und haben deinen Lieblingskuchen mitgebracht. Steht sicher schon alles auf dem Tisch. Kommst du?“, fragte sie.

„Spritzkuchen?“ Der Großvater warf einen prüfenden Blick auf seinen neuen Werkstattwecker. Er schüttelte den Kopf. „Für Kaffee ist es zu spät und für das Abendessen viel zu früh. Das solltest du doch wissen!“ Geschäftig tauchte er den Pinsel in die Farbdose.

„Och, nun komm schon“, drängelte Betula. „Du bist doch jetzt Sargtischler. Deine neue Kundschaft hat es nicht so eilig.“ Sie feixte. „Oder ich muss die Kuchen alle allein essen!“

Platsch machte es da. Der rote Farbeimer war zu Boden gefallen. Der Pinsel flog mit einem Plog hinterher.

„Ist Frau Zwirnfitz nicht zu Hause?“, fragte Betula, als sie sich setzte. Martha hatte den kleinen Tisch auf der Terrasse mit nur drei Tellern gedeckt. Betula schaute hinüber zum Küchenfenster. Es war geschlossen und die Gardinen waren zugezogen. „Ist sie verreist?“

Martha hob ihre Tasse und nippte am Tee. „Um diese Zeit ist Frau Zwirnfitz im Altersheim und trainiert für den Häkelwettbewerb.“

Der Großvater nickte zustimmend und griff mit einer großen, mit Farbe vollgeschmierten Hand nach einem Spritzkuchen. „Der Sieger soll eine Goldene Häkelnadel bekommen“, sagte er und lachte. Zwischen seinen Zähnen steckten winzige schwarze Kaffeekrümel.

„Ist die Häkelnadel wirklich aus echtem Gold?“, fragte Betula kauend.

„Gold hin oder her. Ich finde den Häkelwettbewerb überflüssig“, knurrte der Großvater. „Denn leider kocht sie nun auch nicht mehr für uns. Kirschsuppe können wir uns für diesen Sommer abschminken. Und Martha kann nur Bohnensuppe kochen.“

Betula schluckte. Bohnensuppe? Jetzt fand sie den Häkelwettbewerb auch blöd.

Ein kühler Windstoß wehte vom Garten herüber und fegte eine grüne Holzlocke von Großvater Kopf. Sie fiel direkt in seinen Kaffeepott. Er grinste und wischte sich auch noch den Rest von seiner verschwitzten Glatze. Staub und Späne rieselten herunter und landeten auf seinem Teller. Martha schaute pikiert zu.

Plötzlich erhob sich eine Krähe höhnisch kichernd aus der Birke. Sie rauschte herüber, schnappte mit ihren Krallen eine Holzlocke vom Teller und flatterte wieder davon. „So eine freche Krähe“, rief der Großvater und ballte die Faust. Martha starrte ihr voller Angst hinterher. „Was ist los, Martha? Es war doch nur eine Krähe“, sagte der Großvater feixend.

„Krähen sind Unglücksboten“, raunte Martha mit versteinertem Blick. „Deine Särge sind grauenvoll, Ferdinand. Sie gefallen ihm nicht. Niemand wird jemals darin seine letzte Reise antreten wollen.“

Großvaters Augen funkelten streitlustig. „Ach, das hat dir wohl die Krähe gerade erzählt. Und gleich behauptest du, dass die Krähe ihm gehört. Dem Vampir.“

Vor Zorn bekam Martha rote Flecken im Gesicht.

Betula schluckte. Sie wollte nicht, dass Martha und Großvater sich stritten. „Aber dein Vater hat dir doch das Sarg­tisch­lern beigebracht, Großvater. Seine Särge sollen so schön gewesen sein, dass sie berühmt waren. Ihr habt mir erzählt, dass er immer den schönsten Sarg vor dem Haus auf den Bürgersteig gestellt hat.“

Da begann Martha mit verzücktem Blick zu erzählen: „Daneben stellte unser Vater ein Schild mit der Aufschrift: Praktisch denken, Särge schenken! Die Leute blieben vor dem Sarg stehen und dachten darüber nach, was für einen Sarg sie sich wünschen würden. Der Gemüsehändler Knackig war der Erste in der Stadt, der sich traute. Er wünschte sich einen orangefarbenen Sarg mit vielen Möhren darauf. Das war eine Beerdigung! Die Leute tanzten und sangen um den Möhren­sarg herum und klapperten dabei mit Gemüsemessern, genauso wie es sich Herr Knackig gewünscht hatte. Und dann trauten sich auch die anderen. Der Herr aus der Schokolaterie Schmelz zum Beispiel wollte einen Sarg so braun wie Schokolade. Und statt salziger Tränen gab es süße Pralinen am Grab.“ Martha schaute zu ihrem Bruder. „Und all das hat unser Vater dir beigebracht, während ich die Wäsche waschen musste.“

„Unser Vater hatte Talent. Ich habe keins“, sagte der Großvater schroff.

„Wir brauchen nur seine Skizzen. Er hat jeden seiner Handgriffe darauf festgehalten“, erwiderte Martha. „Den Rest kriegen wir schon hin.“

„Wo sind denn die Skizzen?“, fragte Betula neugierig.

Der Großvater hob die Hände, als lohnte es sich nicht, ein weiteres Wort darüber zu verlieren. „Die habe ich vergraben. Irgendwo im Garten“, entgegnete er.

„Dann graben wir sie eben wieder aus“, schlug Betula vor.

Der Großvater schüttelte den Kopf. „Ich habe alles, was mit der Sargtischlerei meines Vaters zu tun hatte, vergraben. Das Werkzeug, die Bücher und auch die Skizzen. Das ist über dreißig Jahre her. Die Würmer haben den Sarg und die Skizzen längst gefressen. Und damit ist nichts mehr übrig als ein paar Sägespäne, wie hier auf meinem Teller.“

Martha reckte dem Großvater ihr Gesicht entgegen. Ihr dürrer Hals war ganz lang. „Du hast es vielleicht vergessen, Ferdinand. Aber unser Vater hat seine Skizzen in Zwiebelsud getaucht. Er hat sie …“ Dann benutzte Martha dieses Wort, das Betula nur von Mischgemüse in Dosen kannte. Sie sprach es geheimnisvoll aus: „Konserviert.“

„Konserviert?“, fragte Betula. „Soll das heißen, du glaubst, sie sind noch frisch?“

Martha nickte. Der Großvater schaute zu Martha und dann zu Betula. Er begriff, dass es keinen Sinn hatte zu widersprechen. „Also gut“, sagte er schnaufend. „Wir können ja morgen mal nachschauen. Ihr zwei lasst ja sonst nicht locker.“

Viertes Kapitel

In dem sich der Großvater zum fröhlichen Sargtischler herausputzt

Am frühen Morgen weckte Betula ein Geräusch, ein seltsames Poltern und Scheppern. Durch die geöffnete Wohnzimmertür sah Betula Großvaters zurückgeschlagene Bettdecke. Als Martha im letzten Jahr vom Altersheim zurück ins Haus gezogen war, hatte der Großvater sein Schlafzimmer im Obergeschoss für sie geräumt und sich sein Bett auf der Couch im Wohnzimmer hergerichtet.

Bevor sich Betula fragen konnte, was den Großvater so früh aus dem Bett geholt hatte, hörte sie durch das geöffnete Fenster, wie sich Martha beschwerte. „Typisch. Nichts als Krempel. Womit sollen wir bloß nach dem Sarg graben, Ferdinand?“

Nach dem Sarg graben? Na klar! Heute wollten sie im Garten den Sarg ausgraben! Betula sprang aus dem Bett, schlüpfte in ihre Sandalen und stürzte hinaus auf die Terrasse. Martha und Großvater stiegen gerade die Stufen zum alten Sarglager hinauf. „Hey, ihr wollt doch nicht etwa ohne mich anfangen!“, rief Betula und stemmte die Hände in die Hüften.

„Anfangen?“ Gereizt drehte sich Martha zu ihr um. „Seit einer Stunde suchen wir schon nach einem brauchbaren Spaten.“

„Sie sind alle verrostet“, bemerkte der Großvater kichernd und verschwand mit Martha im alten Sarglager. Betula eilte ihnen hinterher. Als sie durch die Tür trat, nahm sie einen tiefen Atemzug. Es gab keinen schöneren Geruch als den nach altem, staubigem Holz. Bevor Betula Martha und Großvater bei ihrer Suche half, sah sie zuerst in ihrem Kuschelsarg nach dem Rechten. Am Fußende stehend beugte sie sich darüber und warf einen prüfenden Blick hinein.

Es bot sich ihr das gleiche Bild wie die anderen Male. Sie schüttelte besorgt den Kopf. In der linken Seite, wo die nimmersatte Verwandtschaft Sir Williams wohnte, wurde mit viel zu viel Appetit gefressen. Das sah man an den Bohrmehlhäufchen, die sich auf den Kissen gebildet hatten. Sie waren viel größer als die auf der rechten Seite. Hier wohnten Sir William, die Baronesse, der Vetter und das Tenörchen und denen schien seit dem letzten Sommer der Appetit vergangen zu sein. ‚Liegt es vielleicht daran, dass sie jetzt in einem Sarg leben und nicht mehr in einem Sekretär?‘, fragte sich Betula. ‚Aber es ist doch dasselbe Holz! Großvater und Martha haben nur den alten Sekretär auseinandergebaut und zu einem Kuschelsarg zusammengenagelt. Deshalb muss man doch nicht gleich eine Diät machen!‘ Betula kicherte, weil sie in ihren Gedanken die Baronesse rufen hörte: ‚Pfui, das Auge isst aber mit. Das weiß doch jeder Wurm. Und ein Sarg sieht soo unappetitlich aus.‘

Betulas Blick blieb an einem eigenartigen Pfropfen hängen, der in der Mitte des Sarges lag. Sie nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn. Er war hart und braun wie Holz, aber er war nicht aus Holz. Er war aus Kitt, wie Großvater ihn benutzte, wenn er ein Loch im Holz verschmierte.

„Mal sehen“, murmelte Betula. Sie suchte den Sarg ab und fand in seiner Wand tatsächlich ein passendes Loch von der Größe einer Haselnuss. Sie steckte den herausgefallenen Pfropfen wieder hinein. Dann schüttelte sie die Kissen aus, dass es ordentlich staubte. Ein halber vertrockneter Spritzkuchen flog heraus. ‚Soso‘, dachte Betula schmunzelnd. ‚Der ist doch ganz sicher von Martha. Dabei ist sie es, die immer meckert, wenn man im Sarg herumkrümelt. Wegen der kleinen Viecher, die die Krümel anziehen.‘

„Ferdinand! Hast du einen Spaten gefunden?“ Marthas Stimme hatte so etwas Schrilles, dass der Großvater rasch die Büchse mit der getrockneten Ostereierfarbe abstellte, in der er gerade gedankenversunken mit einem Spachtel herumgekratzt hatte. „Äh, nein!“, rief er.

„Dann müssen wir weiter suchen.“

„Ja, ja.“

Betula bückte sich tief in den Sarg und linste in das Loch mit dem Bleistiftkreuz, in dem ihr kleiner Freund Sir William wohnte. Seit einem Jahr hatte sie weder ihn noch irgendein anderes Würmchen gesehen. Manchmal hatte sie in den letzten Tagen der vergangenen Sommerferien noch ein leises Knacksen gehört. Aber nie, wenn Martha oder Großvater in der Nähe war.

Auch wenn die Würmer stumm geblieben waren, hatte Betula nicht aufgehört, mit ihnen zu reden. Martha hatte es anfangs tapfer ertragen. Mit blassen Lippen und viel Augenrollen hatte sie dann neben ihr zwischen den Kuschelkissen gelegen. Bis zu dem Tag, an dem sie ein Buch gemeinsam lasen, in dem eine Ziege das Sprechen lernte, nur weil man dauernd auf sie einredete. „Das ist doch nur ein Märchen“, hatte Betula Martha widersprochen. Aber Martha hatte darauf beharrt, dass in jeder Geschichte ein Fünkchen Wahrheit stecke. Betula musste damals Martha versprechen, nicht mehr mit den Würmern zu reden. Doch wenn sie allein beim Sarg gewesen war, passierte es trotzdem und ganz ohne Absicht. Eben so wie andere Kinder mit ihrem Lieblingsteddy reden oder alte Damen mit ihrem Hund.

„Typisch. Nichts als Krempel“, moserte Martha.

„Dann kann ich ja jetzt in meine Werkstatt gehen.“ Der Großvater ließ die Schraubzwinge zurück ins Regalfach fallen, die er gerade in der Hand hielt, und marschierte zur Tür.

Betula stellte sich ihm rasch in den Weg. „Nein. Nein. Du hast versprochen mit uns den Sarg auszugraben. Und darum werden wir in die Stadt gehen und drei Spaten kaufen“, sagte sie so entschlossen, dass der Großvater spürte, jeglicher Widerspruch war zwecklos.

Betula brauchte eine Minute, um sich ein Apfelmusbrot zu schmieren, eine weitere Minute, um es hinunterzuschlingen und noch eine, um in ihr T-Shirt und ihren Ballonrock zu schlüpfen. Doch da hielt sie inne und schaute an sich herunter. War das wirklich ihr Lieblingsrock? Er war blau und reichte bis zu den Knien. Aber was war das? Ihre Mutter hatte tatsächlich eine blöde Rüsche drangenäht! Und breit war die! Mindestens zehn Zentimeter. Genau die zehn Zentimeter, die Betula seit dem letzten Jahr gewachsen war. Mit einem Murren nahm Betula es hin.

„Verflixt, die Hose passt mir nicht mehr“, murrte Großvater vor dem Wohnzimmerschrank, warf sie in das Fach zurück und stieg wieder in seine staubige Tischlerhose. Dann zottelte er ein schwarzes Jackett hervor und schüttelte es, als wolle er die Knitterfalten herausschütteln.

„Dein Hochzeitsjackett?“, fragte Betula verwundert. Sie erkannte es, weil es das einzige Jackett war, das ihr Großvater besaß. „Willst du das jetzt anziehen? Wir wollen doch nur einen Spaten kaufen.“

„Für einen Sargtischler ist jeder Spaziergang in die Stadt ein Geschäftsgang, hat mein Vater gesagt“, gab er zur Antwort.

„Ein Geschäftsgang?“ Betula hatte keine Ahnung, was der Großvater damit meinte.

Doch er sah sie mit wichtiger Miene an. „Jeder, den wir in der Stadt treffen, ist früher oder später unser Kunde, Betula.“ Er machte eine Pause. „Selbstverständlich hört das keiner gern. Und erst recht verschwendet keiner auch nur den klitzekleinsten Gedanken daran, wie einmal sein Sarg aussehen soll.“ Er zog eine Augenbraue hoch. „Doch wenn unsere Kunden erst mal tot sind, können wir sie nicht mehr fragen. Das verstehst du doch?“ Er zog sich das zerknitterte Jackett über. „Heute will ich dir zeigen, wie man sich als Sargtischler seinem zukünftigen Kunden nähert“, verkündete er feierlich. „Du wirst sehen, es ist nicht leicht. Unser Geschäft erfordert ein feines Fingerspitzengefühl“, betonte er und starrte für einen Moment versunken auf seine verhornten Hände.

Betula sprang aufgeregt um den alten Mann herum. Der schob sie beiseite und ging noch einmal zum Schrank.

„Och, was brauchst du denn jetzt noch?“, fragte Betula ungeduldig.

Der Großvater beugte sich über ein Schubfach mit allerlei nützlichem Tischlerkram. Betula linste ihm neugierig über die Schulter. Sie sah, wie er ein Notizbuch und einen Bleistift herausnahm. Das Notizbuch steckte er in die Hosentasche zum Zollstock. Den Zimmermannsbleistift klemmte er sich hinter sein rechtes Ohr. Dann stellte er sich vor seine Enkelin. „Sind wir bereit?“

Betula kniff die Augen zusammen, musterte ihren Großvater von Kopf bis Fuß und konnte sich dabei ein Grinsen nicht verkneifen. Er sah so lustig aus in seinem schwarzen Hochzeitsjackett, seinem alten Tischlerhemd und in der mit Farbe vollgeklecksten Hose.

„Wir sind bereit“, sagte Betula. „Das heißt, etwas fehlt noch.“

Der Großvater runzelte die Stirn. „So? Was denn?“

„Ich hätte auch gern so ein Tischlerhemd.“ Betula setzte ihr schönstes Lächeln auf. „Bitte. Das wünsche ich mir schon so lange.“

„Du sollst es bekommen. Ich werde dir eins kaufen, gleich, wenn wir in der Stadt sind“, versprach der alte Mann feierlich.

Daraufhin hüpfte Betula an der Seite ihres Großvaters hinaus in die Julisonne.

Fünftes Kapitel

In dem Betula ihre erste Lektion im Sargtischlern erhält

„Jeder Spaziergang ist ein Geschäftsgang und jeder gute Geschäftsgang beginnt mit einer Portion Eis“, erklärte der Großvater und hielt Kurs auf die Eisbude.

„Dann könnte die Eisfrau doch unsere erste Kundin sein?“, schlug Betula vor. Der Großvater willigte ein.

‚Schade, dass Martha nicht mitgekommen ist‘, dachte Betula. Doch sie gehe nicht mehr in die Stadt, hatte Martha gesagt. Sie ertrage das Getuschel und Starren der Leute nicht.

Betula trat mit einem Räuspern an den Tresen und bestellte vier Kugeln Erdbeereis für sich, jedoch ohne ein Wort über ihre Verkaufsabsichten zu äußern. Sie wollte so dem Großvater beweisen, dass auch sie durchaus feines Fingerspitzengefühl für das Sarggeschäft besaß. Und das hieß zuallererst einmal, den richtigen Moment abzuwarten.

„Vier Kugeln?“, staunte die Eisfrau und klapperte mit dem Eiskratzer. „Du warst wohl heute schon mächtig fleißig.“ Ihr Gesicht war kugelrund und auch die Augen und die Nase. Irgendwie war alles rund an ihr, so wie die leckeren Eiskugeln, die sie verkaufte. „Wie viele Holzwürmer musstest du denn dafür aus dem Holz pulen, du armes Ding? Schade, dass die nicht von selbst aus ihren Löchern kriechen, wie? Wegen der Hitze, meine ich. Also Schnecken tun das, wenn es ihnen in ihrem Haus zu heiß wird. Und ich halte es auch kaum noch in meiner Bude aus“, plapperte sie und fuhr sich mit ihrem dicken Unterarm über die verschwitzte Stirn. „Na, deinen Großvater möchte ich jedenfalls nicht geschenkt haben“, fügte sie noch hinzu, bevor sie auf ihrer kleinen, runden Hand eine Muschel-Waffel mit vier Kugeln Erdbeereis über den Tresen balancierte. Offenbar hatte sie den Großvater neben Betula nicht erkannt.

du

Betula schob ihren Arm unter seinen und der Großvater drückte ihn fest an sich. Dann zündete er sich eine Zigarre an und mit der ersten Qualmwolke war der Ärger verpufft.