Arthur Conan Doyle

Sherlock Holmes' Buch der Fälle

Erzählungen.

Erzählungen

Neu übersetzt von Henning Ahrens

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Arthur Conan Doyle

Arthur Conan Doyle, geboren am 22. Mai 1859 im schottischen Edinburgh, absolvierte dort ein Medizinstudium und unterhielt kurzlebige Praxen in Plymouth und Southsea. Aus Patientenmangel begann er zu schreiben, ab 1887 verfasste er Geschichten um die Detektivfigur Sherlock Holmes, die in den 1890er Jahren enorme Popularität erlangten. Außerdem verfasste er zahlreiche historische Romane und ab 1912 auch Science-Fiction. Doyle engagierte sich politisch und sozial, 1902 wurde er geadelt. Er starb am 7. Juli 1930 in Crowborough/Sussex.

 

Henning Ahrens lebt als Schriftsteller und Übersetzer in Frankfurt am Main. Er veröffentlichte die Lyrikbände ›Stoppelbrand‹, ›Lieblied was kommt‹ und ›Kein Schlaf in Sicht‹ sowie die Romane ›Lauf Jäger lauf‹, ›Langsamer Walzer‹ und ›Tiertage‹. Für S. Fischer übersetzte er Romane von Richard Powers, Kevin Powers, Khaled Hosseini und Jennifer Egan. Zuletzt erschien ›Glantz und Gloria. Ein Trip‹, 2015, der mit dem Bremer Literaturpreis ausgezeichnet wurde.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Zwölf neue Abenteuer voller kriminologischer Überraschungen.

 

Das große Finale fesselt einmal mehr mit mysteriösen Figuren und Plots: Doyle erweckt eine blutsaugende Vampirin zum Leben, erzählt von den verstörenden Auswirkungen eines Verjüngungsserums und den tödlichen Gefahren durch ein bizarres Wasserwesen. Geleitet von seinem einzigartigen Instinkt und scharfsichtig wie eh und je, führt Meisterdedektiv Sherlock Holmes kaltblütige Verbrecher mithilfe einer lebensechten Puppe in die Irre oder mimt einen Schwerkranken. Er befreit eine Frau aus den Fängen ihres brutalen Verlobten und löst Rätsel um das Schicksal eines Lepra-Kranken und die Folgen eines seltsamen Testaments.

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Die englische Originalausgabe

erschien erstmals 1927 unter dem Titel

»The Case-Book of Sherlock Holmes«.

 

Für die Übersetzung:

© 2019 Henning Ahrens

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2019 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung: bürosüd, München

Coverabbildung: David Ridley/Arcangel Images

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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ISBN 978-3-10-490466-5

Sherlock Holmes’ Buch der Fälle

Mr Sherlock Holmes, befürchte ich, gleicht inzwischen einem jener beliebten Tenöre, die der Verlockung erliegen, ihrem geneigten Publikum immer neue Abschiedsvorstellungen zu geben, obwohl ihre Zeit längst abgelaufen ist. Damit muss jetzt Schluss sein, Sherlock Holmes muss den Weg allen Fleisches gehen, ob im konkreten oder im übertragenen Sinn. Es wäre schön, wenn es einen phantastischen Limbus für die Kinder der Phantasie gäbe, einen ebenso verrückten wie unwirklichen Ort, an dem Fieldings Beaus den Belles von Richardson weiter den Hof machen, Scotts Helden weiter stolz einherschreiten, Dickens’ wunderbare Cockneys weiter ihr Gelächter anstimmen und Thackerays Weltlinge ihre verwerflichen Karrieren weiterverfolgen. Vielleicht finden ja auch Sherlock und sein Watson in einem solchen Walhalla vorübergehend einen kleinen Winkel, während ein noch klügerer Spürhund und sein noch begriffsstutzigerer Kompagnon die Lücke füllen, die beide auf der Bühne hinterlassen haben.

Er blickt auf eine lange Karriere zurück – die man aber auch überschätzen kann; auf betagte Herren, die mir erklären, die Lektüre seiner Abenteuer habe ihre Jugendjahre geprägt, reagiere ich offenbar nicht wie erwartet. Sie sind nicht

Nachdem ich Die Memoiren geschrieben hatte, war ich fest entschlossen, mit Holmes endgültig abzuschließen, weil ich es falsch fand, meine schriftstellerische Energie in nur einen Kanal fließen zu lassen. Das blasse, scharf geschnittene Gesicht und die schlaksige Gestalt beanspruchten meine Phantasie viel zu stark. Gesagt, getan – aber zum Glück bekam kein Coroner den Toten zu Gesicht, und deshalb fiel es mir nach einer langen Pause leicht, auf die schmeichelhaften Bitten einzugehen und meine übereilte Tat für aus der Welt zu erklären. Ich habe das nie bereut, denn diese Fingerübungen

Und somit, Leser, adieu Sherlock Holmes! Ich danke dir für deine langjährige Treue und kann nur hoffen, dass du einen Gewinn davon hattest, in dieser Form von den Alltagssorgen abgelenkt und auf neue Gedanken gebracht zu werden, eine Form, wie sie nur im Märchenreich der Literatur zu finden ist.

 

Arthur Conan Doyle

»Kann jetzt auch nicht mehr schaden«, lautete die Erwiderung von Mr Sherlock Holmes, als ich ihn zum zehnten Mal in zehn Jahren bat, diese Geschichte ans Licht bringen zu dürfen. So kam es, dass mir schließlich doch noch gestattet wurde, das festzuhalten, was in mancher Hinsicht den Höhepunkt der Karriere meines Freundes darstellt.

Holmes und ich hatten eine Schwäche für das türkische Bad. Wenn wir angenehm entspannt im Ruheraum rauchten, kam er mir menschlicher und zugänglicher vor als irgendwo sonst. Im Obergeschoss des Hammam in der Northumberland Avenue gibt es eine abgeschiedene Ecke mit zwei Liegen, und dort ruhten wir uns am dritten September 1902 aus, dem Tag, an dem meine Geschichte beginnt. Ich hatte ihn gefragt, ob sich etwas tue, und er hatte als Antwort einen langen, schmalen, nervösen Arm aus den Decken schießen lassen, in die er sich gehüllt hatte, und einen Umschlag aus der Innentasche des neben ihm hängenden Mantels gezogen.

»Könnte sich um einen wichtigtuerischen, übergeschnappten Dummkopf handeln; könnte aber auch eine Sache von Leben und Tod sein«, sagte er, als er mir den Umschlag reichte. »Ich weiß auch nicht mehr, als in diesem Brief steht.«

Dieser stammte aus dem Carlton Club und war am Vorabend aufgegeben worden. Ich las Folgendes:

»Ich muss wohl nicht extra erwähnen, dass ich zugesagt habe, Watson«, sagte Holmes, als ich den Brief zurückreichte. »Haben Sie schon mal von diesem Damery gehört?«

»Ich weiß nur, dass sein Name in höheren gesellschaftlichen Kreisen sehr bekannt ist.«

»Nun, ich weiß etwas mehr. Er hat sich den Ruf erworben, Angelegenheiten zu regeln, die in der Presse keine Erwähnung finden dürfen. Sie erinnern sich vielleicht, dass er im Fall des Hammerford-Testaments mit Sir George Lewis verhandelte. Er ist ein weltläufiger Mann und ein diplomatisches Naturtalent. Ich gehe also davon aus, dass es sich nicht um einen Fehlalarm handelt, sondern dass er tatsächlich unsere Hilfe braucht.«

»Unsere?«

»Vorausgesetzt, Sie sind so freundlich, Watson.«

»Es wäre mir eine Ehre.«

»Sie wissen, wann er kommt – um halb fünf. Bis dahin können wir die Sache aus unseren Gedanken verbannen.«

Damals bewohnte ich in der Queen Anne Street eigene Räumlichkeiten, war aber schon vor der verabredeten Stunde in der Baker Street. Punkt halb fünf wurde Colonel Sir James Damery angekündigt. Unnötig, ihn zu beschreiben, denn man erinnert sich bestimmt an diese beeindruckende, offene

»Ich war natürlich darauf vorbereitet, Dr. Watson anzutreffen«, bemerkte er mit einer höflichen Verbeugung. »Seine Mitarbeit könnte von großem Nutzen sein, denn wir haben es mit einem Mann zu tun, für den Gewalt alltäglich ist und der buchstäblich vor nichts zurückschreckt, Mr Holmes. Ich glaube, in ganz Europa gibt es keinen gefährlicheren Mann.«

»Ich hatte mehrere Gegenspieler, die man so schmeichelhaft charakterisiert hat«, erwiderte Holmes lächelnd. »Sie rauchen nicht? Mit Ihrer Erlaubnis zünde ich eine Pfeife an. Sollte Ihr Mann wirklich gefährlicher sein als der verstorbene Professor Moriarty oder der quicklebendige Colonel Sebastian Moran, dann wäre es ein Gewinn, ihn kennenzulernen. Darf ich seinen Namen erfahren?«

»Haben Sie jemals von Baron Gruner gehört?«

»Sie meinen den österreichischen Mörder?«

Colonel Damery lachte auf und warf die Hände hoch, die noch in Lederhandschuhen steckten. »Immer eine Nasenlänge voraus, Mr Holmes! Herrlich! Sie haben ihn also schon als Mörder eingestuft?«

»Die Verbrechen auf dem Kontinent genau zu verfolgen, gehört zu meinem Beruf. Wer hätte von den Ereignissen in

»Nein, die Sache ist viel ernster. Ein Verbrechen zu sühnen ist wichtig, aber eines zu verhüten ist noch wichtiger. Wenn man mitansehen muss, Mr Holmes, wie alles auf ein schreckliches Ereignis, auf eine furchtbare Situation zusteuert, dann ist das grauenvoll, zumal, wenn man genau weiß, wie es enden wird, ohne etwas dagegen tun zu können. Gibt es eine quälendere Ausgangslage?«

»Wohl kaum.«

»Dann haben Sie sicher vollstes Verständnis für den Klienten, dessen Interessen ich vertrete.«

»Mir war nicht klar, dass Sie nur der Mittler sind. Wer ist die Hauptfigur?«

»Ich muss Sie bitten, nicht auf dieser Frage zu beharren, Mr Holmes. Der Mann muss die Gewissheit haben, dass sein ehrbarer Name nicht in diese Sache hineingezogen wird. Seine Motive sind absolut ehrenhaft und ritterlich, aber er möchte nicht genannt werden. Ich muss wohl nicht extra betonen, dass Sie ihr Honorar garantiert erhalten und freie Hand haben. Der echte Name des Klienten tut wenig zur Sache, nicht wahr?«

»An einem Ende meiner Fälle steht immer ein Geheimnis, das bin ich gewohnt«, sagte Holmes, »aber an beiden Enden?

Unser Besucher war sehr verstört. Enttäuschung und andere Emotionen verdunkelten sein großes, sensibles Gesicht.

»Sie ahnen nicht, was Ihre Forderung bedeutet, Mr Holmes«, sagte er. »Sie bringt mich in eine schlimme Zwickmühle. Ich bin überzeugt, dass Sie diesen Fall mit Stolz übernehmen würden, sobald Sie die Fakten kennen, auch wenn ich aufgrund meines Versprechens nicht alle offenbaren kann. Darf ich wenigstens schildern, was mir gestattet ist?«

»Unbedingt. Sie müssen aber zur Kenntnis nehmen, dass ich mich dadurch zu nichts verpflichte.«

»Das nehme ich zur Kenntnis. Ich gehe davon aus, der Name General de Merville sagt Ihnen etwas?«

»De Merville, der Held vom Chaiber-Pass? Ja, der Name sagt mir etwas.«

»Er hat eine Tochter, Violet de Merville, jung, reich, schön und formvollendet, in jeder Hinsicht die perfekte Frau. Und diese Tochter, dieses wunderbare, unschuldige Mädchen, müssen wir unbedingt aus den Klauen eines Schurken retten.«

»Sie steht also unter dem Bann von Baron Gruner?«

»Unter dem stärksten Bann, was Frauen betrifft – dem der Liebe. Sie wissen vielleicht, dass der Mann blendend aussieht und eine extrem faszinierende Art, eine sanfte Stimme und die romantische, geheimnisvolle Ausstrahlung hat, die Frauen so hinreißt. Angeblich liegt ihm die ganze Weiblichkeit zu Füßen, was er auch weidlich ausgenutzt hat.«

»Wie konnte der Mann Bekanntschaft mit einer Dame vom Rang Miss Violet de Mervilles schließen?«

»Auf einer Yacht, während einer Mittelmeer-Kreuzfahrt. Eine exklusive Gesellschaft, nur vermögende Leute. Die Veranstalter haben das wahre Wesen des Barons zweifellos zu

»Ist sie über den Vorfall in Österreich informiert?«

»Dieser gerissene Teufel hat ihr alle widerwärtigen Skandale gebeichtet, in die er verwickelt war, aber stets so, dass er als unschuldiger Märtyrer dastand. Sie akzeptiert seine Versionen ohne Wenn und Aber und will nichts anderes hören.«

»Du liebe Güte! Aber Sie haben den Namen Ihres Klienten gerade aus Versehen preisgegeben, nicht wahr? Es kann nur General de Merville sein.«

Unser Besucher rutschte auf seinem Stuhl herum.

»Ich könnte das bejahen, um Sie zu täuschen, Mr Holmes, aber es wäre nicht die Wahrheit. De Merville ist ein gebrochener Mann. Die Ereignisse haben den wackeren Soldaten vollkommen demoralisiert. Er hat die Nerven verloren, die ihn auf dem Schlachtfeld nie im Stich gelassen haben, und ist jetzt ein schwacher, klapperiger, alter Mann, der einem brillanten, forschen Schuft wie diesem Österreicher nicht die Stirn bieten kann. Mein Klient ist ein alter Freund, der den General seit vielen Jahren kennt und schon ein väterliches Interesse an der jungen Frau zeigte, als sie noch mit Puppen spielte. Er will nicht tatenlos zusehen, wie sich die Tragödie vollendet, sondern wenigstens versuchen, sie zu verhindern. Scotland Yard hat hier keine Handhabe. Der Vorschlag, Sie mit dem Fall zu betrauen, stammt von ihm, wenn auch – wie

Holmes lächelte verschmitzt.

»Das kann ich Ihnen fest versprechen, denke ich«, sagte er. »Ich möchte ergänzen, dass mich der Fall interessiert. Ich übernehme ihn gern. Wie halten wir Kontakt?«

»Im Carlton Club weiß man immer, wo ich bin. Für den Notfall habe ich auch eine private Telefonnummer, ›XX31‹.«

Holmes notierte das und saß lächelnd da, das aufgeschlagene Merkheft auf den Knien.

»Und die aktuelle Adresse des Barons?«

»Vernon Lodge, bei Kingston. Ein großes Haus. Er ist durch dubiose Spekulationen und mit Glück zu Reichtum gelangt, was ihn natürlich zu einem noch gefährlicheren Gegenspieler macht.«

»Hält er sich momentan zu Hause auf?«

»Ja.«

»Haben Sie Informationen, die über das hinausgehen, was Sie mir bereits über den Mann berichtet haben?«

»Er hat teure Vorlieben. Er ist ein Pferdenarr. Er hat eine Weile Polo im Hurlingham Club gespielt, musste aber gehen, als seine Prager Affäre ruchbar wurde. Er sammelt Bücher und Gemälde. Er hat ein ausgeprägtes künstlerisches Naturell. Er ist ein anerkannter Experte für chinesisches Porzellan und hat ein Buch zu diesem Thema veröffentlicht.«

»Ein komplexer Geist«, meinte Holmes. »Das gilt für alle großen Kriminellen. Mein alter Freund Charlie Peace war

Nachdem unser Besucher gegangen war, saß Holmes so lange und so tief in Gedanken versunken da, dass ich glaubte, er hätte mich vergessen. Aber dann kehrte er ruckartig in die Realität zurück.

»Na, Watson, haben Sie eine Meinung zu all dem?«, fragte er.

»Ich denke, Sie sollten die junge Dame persönlich aufsuchen.«

»Mein lieber Watson, was sollte ich, ein Fremder, ausrichten können, wenn es nicht einmal ihrem alten, gebrochenen Vater gelingt, sie umzustimmen? Ihr Vorschlag hat trotzdem etwas für sich, jedenfalls, wenn alles andere scheitert. Nein, ich glaube, wir müssen den Hebel zunächst an anderer Stelle ansetzen. Ich habe das Gefühl, dass Shinwell Johnson dabei von Nutzen sein könnte.«

Ich hatte noch nie Gelegenheit, Shinwell Johnson in diesen Memoiren zu erwähnen, weil ich selten Fälle aus der späten Karrierephase meines Freundes aufgegriffen habe. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts mauserte er sich zu einem wertvollen Assistenten. Bedauerlicherweise machte Johnson zunächst als extrem gefährlicher Schurke von sich reden und verbüßte zwei Haftstrafen in Parkhurst. Danach zeigte er Reue und verbündete sich mit Holmes. Er agierte als sein Agent in der weitverzweigten kriminellen Unterwelt Londons und konnte immer wieder entscheidende Informationen

Ich konnte die nächsten Schritte meines Freundes nicht verfolgen, weil ich eigene Angelegenheiten regeln musste, aber wir verabredeten uns für den Abend im Simpson’s, wo er mich auf den neuesten Stand brachte, an einem kleinen Tisch vor der dem großen Fenster sitzend, das einen Blick auf das lebhafte Treiben auf der Strand bot.

»Johnson ist auf der Pirsch«, sagte er. »Vielleicht liest er in den dunklen Winkeln der Unterwelt etwas Unrat auf, denn genau dort, zwischen den finsteren Wurzeln des Verbrechens, müssen wir Jagd auf die Geheimnisse des Mannes machen.«

»Warum sollte sich die Lady, die alle bekannten Tatsachen ignoriert, durch neue Enthüllungen von ihrem Vorhaben abbringen lassen?«

»Wer weiß, Watson. Fühlen und Denken der Frauen sind für uns Männer unlösbare Rätsel. Ein Mord kann vergeben oder entschuldigt werden, aber ein kleineres Vergehen könnte an ihr nagen. Wie Baron Gruner mir gegenüber bemerkte …«

»Ihnen gegenüber bemerkte!«

»Ah, richtig, ich hatte Sie gar nicht in meine Schlachtpläne eingeweiht. Nun, Watson, ich stehe einem Gegner gern von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Ich suche ihn gern persönlich auf, um mir selbst ein Bild davon zu machen, aus welchem Holz er geschnitzt ist. Nachdem ich Johnson Anweisungen gegeben hatte, fuhr ich mit einer Droschke nach

»Hat er Sie erkannt?«

»Sicher, denn ich habe meine Karte abgegeben. Er ist ein absolut glänzender Kontrahent, kalt wie Eis, mit seidiger Stimme, einlullend wie einer der Berater, die heutzutage so in Mode sind, und giftig wie eine Kobra. Er hat Format – ein wahrer Aristokrat des Verbrechens, jemand, der höflich zum Nachmittagstee bittet, während er alle Grausamkeiten des Grabes im Hinterkopf hat. Ja, ich bin froh, dass man meine Aufmerksamkeit auf Baron Adelbert von Gruner gelenkt hat.«

»Sie sagen, er sei liebenswürdig gewesen?«

»Eine schnurrende Katze, die glaubt, potenzielle Mäuse vor sich zu haben. Die Liebenswürdigkeit mancher Menschen ist gefährlicher als die Brutalität grobschlächtigerer Geister. Seine Begrüßung sagte schon alles: ›Ich habe geahnt, dass ich Ihnen früher oder später begegne, Mr Holmes‹, sagte er. ›Sie wurden sicher von General de Merville engagiert, um meine Heirat mit seiner Tochter Violet zu verhindern. So ist es doch, nicht wahr?‹

Ich bestätigte das.

›Guter Mann‹, sagte er, ›Sie werden Ihren wohlverdienten Ruf ruinieren. Diesen Fall schließen Sie ganz sicher nicht erfolgreich ab. Sie bemühen sich umsonst, von der Gefahr, die Sie eventuell eingehen, ganz zu schweigen. Ich lege Ihnen äußerst dringend ans Herz, sofort die Finger von dieser Sache zu lassen.‹

›Schon sonderbar‹, erwiderte ich, ›denn das wollte ich Ihnen auch raten. Ich respektiere Ihre Intelligenz, Baron, und mein erster Eindruck Ihrer Persönlichkeit hat diesen Respekt nicht gemindert. Ich will es von Mann zu Mann sagen: Niemand

Der Baron trägt einen schmalen, gewachsten Schnurrbart, der an kurze Insektenfühler erinnert. Diese bebten vor Vergnügen, während er zuhörte, und dann musste er leise lachen.

›Verzeihen Sie, Mr Holmes‹, sagte er, ›aber es ist schon amüsant, wie Sie versuchen, mit einem wertlosen Blatt zu punkten. Das könnte niemand besser, davon bin ich überzeugt, und trotzdem ist es lächerlich. Sie haben keine Trümpfe auf der Hand, Mr Holmes, sondern nur das Wertloseste vom Wertlosen.‹

›Wenn Sie meinen.‹

›Ich weiß es. Lassen Sie mich eines deutlich sagen, denn mein Blatt ist so gut, dass ich es mir erlauben kann, meine Karten zu zeigen. Ich hatte das große Glück, die Zuneigung dieser Dame zu gewinnen, und zwar mit Leib und Seele. Diese wurde mir gewährt, obwohl ich sie ausführlich über die unglücklichen Vorfälle in meiner Vergangenheit aufgeklärt habe. Ich habe sie auch davor gewarnt, dass gewisse bösartige und verschlagene Personen – ich hoffe, Sie erkennen sich selbst wieder – ihr von alledem berichten werden, und ich habe ihr eingeschärft, wie sie mit diesen Personen umzugehen hat. Sie haben zweifellos von der posthypnotischen Suggestion gehört, Mr Holmes? Nun, Sie werden noch

Tja, Watson, was sollte ich da noch erwidern? Ich habe mich möglichst kühl und würdevoll verabschiedet, aber als ich meine Hand auf den Türgriff legte, bremste er mich.

›Ach, übrigens, Mr Holmes‹, sagte er, ›kannten Sie Le Brun, den französischen Ermittler?‹

›Ja‹, sagte ich.

›Wissen Sie, was ihm widerfahren ist?‹

›Soweit ich weiß, wurde er auf dem Montmartre von Schlägern überfallen und zum Krüppel geprügelt.‹

›Sehr richtig, Mr Holmes. Wie es der Zufall wollte, hatte er eine Woche zuvor seine Nase in meine Angelegenheiten gesteckt. Tun Sie das nicht, Mr Holmes, denn es könnte böse enden. Das hat schon so mancher zu spüren bekommen. Mein letzter Rat: Gehen Sie Ihres Weges und lassen Sie mich meinen Weg gehen. Adieu!‹

Nun wissen Sie Bescheid, Watson. Sie sind auf dem neuesten Stand.«

»Der Mann ist gefährlich, scheint mir.«

»Extrem gefährlich. Großmäuler ignoriere ich, aber er ist einer der Männer, die weniger sagen, als sie meinen.«

»Müssen Sie sich denn einmischen? Wäre die Heirat tatsächlich so schlimm?«

»Wenn man bedenkt, dass er seine letzte Frau ermordet hat, wäre das tatsächlich sehr schlimm. Außerdem ist da noch unser Klient! Gut, gut, darüber müssen wir nicht diskutieren. Wenn Sie den Kaffee ausgetrunken haben, begleiten Sie mich am besten nach Hause, denn der wackere Shinwell wird schon dort sein, um Bericht zu erstatten.«

»Miss Kitty Winter«, sagte Shinwell Johnson und schwenkte eine fette Pranke. »Was sie nich’ weiß – na, das kann sie ja selbst erzählen. Habe sie eine knappe Stunde nach dem Erhalt Ihrer Nachricht aufgegabelt, Mr Holmes.«

»Man findet mich leicht«, sagte die junge Frau. »Ja, Teufel, London packt mich jedes Mal. Porky Shinwell kennt meine Adresse. Wir sind seit langem befreundet, Porky, du und ich. Aber Menschenskinder! Es gibt jemanden, der in einer noch tieferen Hölle schmoren müsste als wir, wenn es auf der Welt so was wie Gerechtigkeit gäbe! Das ist der Mann, den Sie im Visier haben, Mr Holmes.«

Holmes lächelte. »Ich entnehme Ihren Worten, dass Sie uns viel Erfolg wünschen, Miss Winter.«

»Wenn ich helfen kann, ihn an den Ort zu befördern, an den er gehört, dann bin ich die Ihre, mit Haut und mit Haar«, sagte unsere Besucherin voll glühendem Zorn. Aus ihrem bleichen, starren Gesicht und den lodernden Augen sprach ein Hass, wie Frauen ihn selten, Männer nie entwickeln. »Mein Vorleben kann Ihnen egal sein, Mr Holmes. Das spielt hier keine Rolle. Aber was ich bin, das hat Adelbert Gruner aus mir gemacht. Wenn ich ihn vernichten könnte!« Sie gestikulierte, als wollte sie ihn zerfetzen. »Oh, könnte ich ihn

»Sie wissen, worum es geht?«

»Porky Shinwell hat es mir erzählt. Der Mann ist wieder hinter einer Närrin her, nur will er sie jetzt heiraten. Sie möchten das verhindern. Tja, Sie wissen sicher genug über diesen Teufel, um ein braves Mädchen, das noch bei Trost ist, davon abzuhalten, mit ihm vor den Traualtar zu treten.«

»Sie ist nicht bei Sinnen. Sie ist verrückt vor Liebe. Man hat ihr alles über ihn erzählt. Es ist ihr egal.«

»Sie weiß auch von dem Mord?«

»Ja.«

»Mein Gott, die hat ja wirklich Nerven!«

»Sie tut alles als Verleumdung ab.«

»Können Sie ihr denn keine Beweise vor die dummen Augen führen?«

»Vielleicht könnten Sie uns dabei helfen?«

»Ich bin der lebende Beweis! Wenn ich vor ihr stünde und erzählen würde, wie er mich missbraucht hat …«

»Das würden Sie tun?«

»Ob ich das tun würde? Na, sicher!«

»Gut, es wäre einen Versuch wert. Andererseits hat er ihr fast alle Sünden gebeichtet, und sie hat ihm verziehen, und wenn ich es richtig verstehe, will sie nichts weiter davon hören.«

»Jede Wette, dass er nicht alles erzählt hat«, sagte Miss Winter. »Der eine Mord hat für viel Furore gesorgt, aber ich weiß von ein, zwei anderen. Zuerst hat er mit samtiger Stimme von jemandem erzählt, und dann hat er mir fest in die Augen gesehen und gesagt: ›Einen Monat später war er tot.‹ Und das war keine heiße Luft. Mich hat das nicht weiter interessiert – denn ich habe ihn damals ja geliebt! Was auch immer er getan

»Und was enthält das Buch?«

»Ich sage Ihnen, Mr Holmes, der Mann sammelt Frauen, und er ist so stolz auf seine Sammlung wie jemand, der Motten oder Schmetterlinge zusammenträgt. Das Buch enthält alles über seine Frauen. Schnappschüsse, Namen, Einzelheiten. Ein wirklich abscheuliches Buch – niemand würde so etwas anlegen, nicht einmal jemand, der aus der Gosse stammt. Und trotzdem ist es das Buch von Adelbert Gruner. ›Seelen, die ich zerstört habe‹, das könnte er als Titel auf den Einband drucken lassen. Aber gut, das tut wohl nichts zur Sache, denn das Buch hilft Ihnen jetzt auch nicht, und wenn Sie es verwenden wollten, würden Sie nicht rankommen.«

»Wo ist es?«

»Woher soll ich das wissen? Ich habe ihn vor über einem Jahr verlassen. Ich weiß natürlich, wo er es damals aufbewahrt hat. Er ist in vieler Hinsicht so akkurat und penibel wie eine Katze, es wäre also denkbar, dass es noch immer in der Ablage des alten Schreibtisches im hinteren Arbeitszimmer liegt. Kennen Sie sein Haus?«

»Ich war in seinem Arbeitszimmer«, antwortete Holmes.

»Ach, ja? Wenn Sie tatsächlich erst heute Vormittag losgelegt haben, sind Sie wahrhaftig kein Faulenzer. Vielleicht ist der gute Adelbert dieses Mal an einen Ebenbürtigen geraten. Das vordere Arbeitszimmer erkennen Sie an dem chinesischen Porzellan – zwischen den Fenstern steht eine große

»Fürchtet er denn keine Einbrecher?«

»Adelbert ist kein Feigling. Das könnte nicht einmal sein ärgster Feind behaupten. Nachts ist die Alarmanlage eingeschaltet. Und was gäbe es für Einbrecher schon zu holen – außer sie machen sich mit seinem edlen Geschirr aus dem Staub?«

»Taugt nichts«, sagte Shinwell Johnson in dem entschiedenen Ton eines Fachmanns. »Kein Hehler will Krimskrams, den man weder einschmelzen noch verkaufen kann.«

»Sehr richtig«, sagte Holmes. »Nun gut, Miss Winter, vielleicht schauen Sie morgen um siebzehn Uhr noch einmal hier vorbei. In der Zwischenzeit denke ich darüber nach, ob es sinnvoll ist, dass Sie die Dame persönlich aufsuchen. Für Ihre Hilfe bin ich Ihnen jedenfalls zu tiefem Dank verpflichtet. Ich muss wohl nicht extra sagen, dass sich mein Klient als sehr großzügig …«

»O nein, Mr Holmes«, rief die junge Frau. »Mir geht es nicht um Geld. Sorgen Sie dafür, dass der Mann am Boden liegt, das wäre mir Belohnung genug – am Boden, mit meinem Fuß in seiner verfluchten Visage. Das ist meine Bedingung. Solange Sie gegen ihn ermitteln, stehe ich jederzeit zur Verfügung. Porky weiß, wo ich zu finden bin.«

Ich bekam Holmes bis zum nächsten Abend, als wir in unserem Restaurant in der Strand zu Abend aßen, kaum zu Gesicht. Er zuckte nur mit den Schultern, als ich wissen wollte, ob seine Unterredung erfolgreich gewesen sei. Er antwortete mit dem Bericht, den ich hier leicht abgewandelt wiedergebe, denn ich musste seinen trockenen, harschen Worten etwas Leben einhauchen.

Ich weiß nicht, wie ich sie beschreiben soll, Watson. Vielleicht begegnen Sie ihr ja noch, und dann können Sie Ihr schriftstellerisches Talent darauf verwenden, sie zu schildern. Sie ist schön, aber es ist die ätherische Schönheit einer Fanatikerin, die nicht von dieser Welt ist und verstiegenen Idealen folgt. Gesichter wie das ihre kenne ich von Gemälden mittelalterlicher Meister. Wie ein Raubtier von Mann ein so vergeistigtes Geschöpf in die Fänge bekommen konnte, übersteigt meine Vorstellungskraft. Wie Ihnen vielleicht aufgefallen ist, ziehen sich Extreme an – das Geistige strebt zum Animalischen, der Höhlenmensch zum Engel. Einen so extremen Fall haben Sie aber sicher auch noch nie erlebt.

Sie wusste natürlich, warum wir da waren – dieser Schurke hatte keine Sekunde gezögert, ihren Geist uns gegenüber zu vergiften. Miss Winters Erscheinen hat sie wohl verblüfft, aber sie zeigte auf die Stühle, auf denen wir Platz nehmen sollten, wie eine ehrwürdige Äbtissin, die zwei bettelnde Leprakranke empfängt. Würden Sie zur Aufgeblasenheit neigen, Watson, dann dürfte Miss Violet de Merville Sie rasch kurieren.

Sie tat mir leid, Watson. Ich sorgte mich um sie, wie ich mich um eine eigene Tochter gesorgt hätte. Ich bin nicht immer wortgewandt. Ich benutze den Kopf, nicht das Herz. Trotzdem habe ich mit den wärmsten Worten an sie appelliert, die mir einfielen. Ich schilderte ihr die schreckliche Situation einer Frau, die den wahren Charakter ihres Mannes erst nach der Hochzeit erkennt – einer Frau, die es erdulden muss, von blutigen Händen und lüsternen Lippen liebkost zu werden. Ich habe ihr nichts erspart – die Scham, die Angst, die Qualen, die Hoffnungslosigkeit der ganzen Sache. Aber meine leidenschaftlichen Worte konnten nicht einmal einen Hauch von Farbe auf diese elfenbeinweißen Wangen, kein einziges Aufblitzen von Gefühlen in diese abwesenden Augen zaubern. Ich musste daran denken, was mir der Schurke über den posthypnotischen Einfluss erzählt hatte. Man hatte wirklich den Eindruck, dass sie sich, über der Erde schwebend, in einem ekstatischen Traum befand. Ihre Antworten waren trotzdem sehr dezidiert.

›Ich habe Ihnen geduldig zugehört, Mr Holmes‹, sagte sie. ›Die Wirkung auf mich ist genau wie vorhergesagt. Mir ist bewusst, dass Adelbert, mein Verlobter, ein bewegtes Leben geführt hat, in dem er erbitterten Hass und absolut ungerechtfertigte Vorwürfe auf sich gezogen hat. Sie sind der Letzte in einer ganzen Reihe von Leuten, die mir ihre Verleumdungen zu Gehör gebracht haben. Vielleicht meinen Sie

Ich wollte gerade etwas dazu sagen, als das Mädchen wie ein Wirbelwind dazwischenging. Ich weiß nicht, ob Sie je erlebt haben, wie sich Feuer und Eis gegenüberstehen, aber so war es im Fall dieser beiden Frauen.

›Ich will Ihnen sagen, wer ich bin‹, rief sie und sprang mit leidenschaftlich verzerrtem Mund vom Stuhl auf, ›ich war seine letzte Geliebte. Ich bin eine von hundert Frauen, die er verführt und benutzt und ruiniert und auf den Müllhaufen geworfen hat, und so wird er es auch mit Ihnen machen. Ihr Müllhaufen wird wahrscheinlich ein Grab sein, und vielleicht wäre das gut so. Wenn Sie diesen Mann heiraten, Sie Närrin, dann bedeutet das Ihren Tod, lassen Sie sich das gesagt sein. Vielleicht sterben Sie an einem gebrochenen Herzen, vielleicht an einem gebrochenen Hals, aber er wird Sie auf die eine oder andere Art loswerden. Und ich sage das nicht, weil Sie mir etwas bedeuten. Ob Sie leben oder sterben, schert mich einen Dreck. Ich sage das, weil ich ihn hasse, weil ich ihm schaden will, weil er für das büßen soll, was er mir angetan hat. Aber was soll’s. Sie müssen mich nicht so anstarren, piekfeine Lady, denn am Ende könnten Sie noch tiefer gesunken sein als ich.‹

›Drei Phasen!‹, schrie meine Begleiterin. ›Närrin! Sie sind eine unbeschreibliche Närrin!‹

›Mr Holmes, ich bitte Sie, das Gespräch hiermit zu beenden‹, erklärte die eisige Stimme. ›Ich habe dem Wunsch meines Vaters entsprochen und Sie empfangen, aber das Gerede dieser durchgedrehten Person muss ich mir nicht anhören.‹

Miss Winter sprang sie fluchend an. Sie hätte diese Frau, die einen wahrlich in den Wahnsinn treiben kann, bei den Haaren gepackt, wenn ich sie nicht festgehalten hätte. Ich schaffte sie zur Tür und konnte froh sein, sie ohne öffentliche Szene wieder in die Droschke gesetzt zu haben, denn sie schäumte vor Wut. Auch ich war auf kalte Art zornig, Watson, denn die Arroganz und die Selbstgefälligkeit der Frau, die wir retten wollen, waren unerhört provozierend. Nun sind Sie auf dem neuesten Stand, und ich muss mir dringend einen neuen Eröffnungszug überlegen, denn meine Strategie läuft ins Leere. Wir bleiben in Kontakt, Watson, denn Sie kommen eventuell noch ins Spiel. Vielleicht tut unser Gegner aber auch den nächsten Zug, nicht wir.«

So kam es dann auch. Sie schlugen zu, besser gesagt: Er schlug zu, denn dass die junge Dame eingeweiht war, mochte ich nicht glauben. Ich könnte Ihnen noch die Pflastersteine zeigen, auf denen ich stand, als ich bei einem Blick auf die Werbung für eine neue Zeitungsausgabe von Entsetzen durchzuckt wurde. Das geschah zwischen dem Grand Hotel und

Mörderischer Überfall auf Sherlock Holmes

Ich stand eine ganze Weile da wie vor den Kopf gestoßen. Ich erinnere mich dunkel daran, nach einer Zeitung gegriffen zu haben und vom Verkäufer angeblafft worden zu sein, weil ich nicht bezahlt hatte, und dann daran, im Eingang einer Drogerie gestanden zu haben, während ich den verhängnisvollen Bericht aufschlug. Er lautete wie folgt:

Wie wir zu unserem Bedauern erfahren, wurde Mr Sherlock Holmes, der bekannte Privatdetektiv, heute Vormittag Opfer eines brutalen Überfalls, der ihn in heikler Verfassung zurückließ. Noch gibt es keine verlässlichen Informationen, aber der Vorfall trug sich offenbar gegen Mittag vor dem Café Royal in der Regent Street zu. Mr Holmes wurde von den Tätern mit Holzknüppeln attackiert und erlitt laut der Ärzte schwere Verletzungen an Kopf und Oberkörper. Er wurde zunächst zum Charing Cross Hospital gebracht, bestand aber darauf, in seine Wohnung in der Baker Street gefahren zu werden. Die ehrbar gekleideten Täter flohen durch das Café Royal und von dort in die rückwärtige Glasshouse Street. Sie gehören vermutlich der kriminellen Vereinigung an, die oft Anlass hatte, die Ermittlungstätigkeit und die Genialität des Verletzten zu beklagen.

»Keine akute Gefahr«, lautete seine Zusammenfassung. »Zwei Schürfwunden am Kopf und schwere Prellungen. Ich musste mit mehreren Stichen nähen. Ich habe ihm Morphium verabreicht, und Ruhe ist dringend geboten, aber ein kurzes Gespräch will ich trotzdem nicht strikt verbieten.«

Mit seiner Erlaubnis stahl ich mich in das dunkle Zimmer. Der Kranke war hellwach, und ich hörte ihn heiser meinen Namen flüstern. Die Jalousie war zu drei Vierteln geschlossen, aber ein Lichtstrahl fiel auf den verbundenen Kopf des Verletzten. In der weißen Leinenkompresse zeichnete sich ein roter Fleck ab. Ich setzte mich neben Holmes und senkte den Kopf.

»Schon gut, Watson, schauen Sie nicht so verängstigt drein«, murmelte er mit sehr schwacher Stimme. »Alles halb so wild.«

»Gott sei Dank!«

»Wie Sie wissen, bin ich im Kampf mit Holzknüppeln eine Art Experte. Ich konnte die meisten Schläge abwehren, aber es war ein Mann zu viel.«

»Was soll ich tun, Holmes? Diese Schläger haben natürlich im Auftrag dieses Schufts gehandelt. Ich werde ihm die Seele aus dem Leib prügeln, wenn Sie möchten.«

»Braver alter Watson! Nein, wir können nichts tun, außer die Polizei fasst die beiden Täter. Sie hatten ihre Flucht allerdings sehr gut vorbereitet. Warten Sie erst einmal ab, denn ich habe Pläne. Zuerst müssen wir die Schwere meiner Verletzungen übertreiben. Man wird Sie bestimmt ansprechen, um

»Und Sir Leslie Oakshott?«

»Oh, keine Sorge. Ich sorge dafür, dass er mich in schlimmster Verfassung erlebt.«

»Sonst noch etwas?«

»Ja. Shinwell Johnson soll das Mädchen in Sicherheit bringen. Die zwei Hübschen sind zweifellos hinter ihr her. Sie wissen sicher, dass sie mir geholfen hat. Wenn sie es schon wagen, mich zusammenzuschlagen, werden sie auch die junge Frau nicht verschonen. Geben Sie Johnson noch heute Abend Bescheid. Es eilt.«

»Ich breche sofort auf. Noch etwas?«

»Legen Sie meine Pfeife auf den Tisch – und den Hausschuh mit dem Tabak. Perfekt! Kommen Sie jeden Morgen bei mir vorbei, wir schmieden dann Pläne für unseren Feldzug.«

Ich bat Johnson noch am gleichen Abend, Miss Winter in einen stillen Vorort zu bringen und dafür zu sorgen, dass sie in ihrem Versteck blieb, bis die Gefahr ausgestanden war.

Die Öffentlichkeit hatte sechs Tage den Eindruck, dass Holmes auf der Schwelle des Todes stand. Die Berichte klangen ernst, die Zeitungen brachten düstere Artikel. Meine regelmäßigen Besuche bewiesen aber, dass es nicht ganz so schlimm stand. Seine eiserne Konstitution und sein starker Wille wirkten Wunder. Er genas rasant, und ich hatte mitunter den Verdacht, dass er sich sogar rascher erholte, als er zugab. Der Mann neigte zu einer Geheimnistuerei, die oft für dramatische Effekte sorgte, aber sogar seine engsten Freunde über seine genauen Pläne im Dunkeln ließ. Er trieb den

Am siebten Tag wurden die Fäden gezogen, obwohl die Abendzeitungen von einer Wundrose wissen wollten. Die gleichen Abendzeitungen enthielten eine Information, die ich meinem Freund, ob krank oder gesund, unbedingt zur Kenntnis bringen musste. Sie lautete, dass sich unter den Passagieren an Bord der Ruritania, ein Dampfer der Cunard Line, der am Freitag in Liverpool ablegen sollte, auch Baron Adelbert Gruner befinde, der wichtige finanzielle Angelegenheiten in den Staaten regeln müsse, bevor er die Ehe schließe, dies mit Miss Violet de Merville, einzige Tochter etc. etc. etc. Der bleiche Holmes lauschte dem mit einer kalten, konzentrierten Miene, die mir verriet, dass die Neuigkeit ein schwerer Schlag für ihn war.

»Freitag!«, rief er. »Nur noch drei Tage. Ich glaube, der Schuft möchte jedes Risiko ausschließen. Aber das wird nicht klappen, Watson! Beim Beelzebub, das wird misslingen! Gut, Watson – ich möchte, dass Sie etwas für mich tun.«