Buch
John Kott ist einer der besten Scharfschützen, die die U. S. Army jemals hervorgebracht hat. Doch er ist auch ein skrupelloser Mörder, der den französischen Präsidenten erschießen wollte. Das Attentat schlug fehl, aber in Kürze wird er eine neue Gelegenheit haben: der G8-Gipfel in London. Es gibt nur einen Mann, der ihn aufhalten kann. Nur einen, der Kott ebenbürtig ist. Jener Mann, der Kott schon einmal ins Gefängnis brachte: Jack Reacher!
Autor
Lee Child wurde in den englischen Midlands geboren, studierte Jura und arbeitete zwanzig Jahre lang beim Fernsehen. 1995 kehrte er der TV-Welt und England den Rücken, zog in die USA und landete bereits mit seinem ersten Jack-Reacher-Thriller einen internationalen Bestseller. Er wurde mit mehreren hoch dotierten Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem »Anthony Award«, dem renommiertesten Preis für Spannungsliteratur.
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Lee Child
Im Visier
Ein Jack-Reacher-Roman
Deutsch von Wulf Bergner
Für Andrew Grant und Tasha Alexander,
meinen Bruder und meine Schwägerin:
klasse Autoren und klasse Leute
1
Bis vor einer Woche hatten Höhen und Tiefen mein Leben geprägt. Teils war es gut. Teils nicht so gut. Größtenteils war es gleichförmig. Lange träge Perioden, in denen nicht viel passierte, und zwischendurch kurzzeitig hektische Aktivität. Eigentlich wie beim Militär. Und auf diese Weise fanden sie mich. Man kann die Army verlassen, aber sie verlässt einen nie. Nicht endgültig. Nicht vollständig.
Die Fahndung der Army nach mir begann zwei Tage nachdem irgendein Kerl auf den französischen Präsidenten geschossen hatte. Davon hatte ich in der Zeitung gelesen. Ein Attentat aus großer Entfernung mit einem Scharfschützengewehr. Damit hatte ich nichts zu tun. Ich war fast sechstausend Meilen weit entfernt in Kalifornien mit einer jungen Frau zusammen, die ich in einem Bus kennengelernt hatte. Sie wollte zum Film. Ich nicht. Deshalb ging sie nach achtundvierzig Stunden in L. A. ihres Weges, und ich fuhr mit dem Bus weiter. Erst für ein paar Tage nach San Francisco, anschließend nach Portland, Oregon, wo ich drei Tage blieb, und dann weiter nach Seattle. Auf dieser Strecke hielt der Bus an der Abzweigung nach Fort Lewis, wo zwei Frauen in Uniform ausstiegen. Dabei ließen sie auf dem Sitz jenseits des Mittelgangs ein Exemplar der Army Times vom Vortag liegen.
Die Army Times ist eine seltsame alte Zeitung. Sie wurde vor dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen, erscheint weiterhin wöchentlich, ist voller Nachrichten von gestern und bringt alle möglichen praktischen Tipps und Informationen, wie die Schlagzeilen dieser Ausgabe verkündeten: Neue Bestimmungen! Änderungen bei Abzeichen und Aufnähern! Vier weitere Uniformänderungen geplant! Gerüchten nach sind die Nachrichten von gestern, weil sie aus alten AP-Zusammenfassungen abgeschrieben werden, aber wer die Texte genauer analysiert, entdeckt manchmal wirklichen Sarkasmus zwischen den Zeilen. Die Leitartikel sind gelegentlich mutig, die Nachrufe manchmal interessant.
Was der einzige Grund dafür war, dass ich nach der Zeitung griff. Manchmal sterben Leute, deren Tod einen freut. Oder auch nicht. In beiden Fällen muss man davon erfahren. Aber so weit kam ich nie, denn auf der Suche nach den Nachrufen blieb ich bei den Kleinanzeigen hängen. Wie immer suchten dort Veteranen andere Veteranen. In Dutzenden von Anzeigen, alle mit ähnlichem Text.
Darunter eine mit meinem Namen.
Genau mitten auf der Seite standen eingerahmt fünf Wörter in Fettdruck: Jack Reacher Rick Shoemaker anrufen.
Das musste Tom O’Days Werk sein. Allein deshalb kam ich mir später ein bisschen lahm vor. Nicht dass O’Day kein cleverer Typ gewesen wäre. Das musste er sein, denn er hatte lange überlebt. Sogar sehr lange. Ihn gab es seit ewigen Zeiten. Wie ein Hundertjähriger hatte er schon vor zwanzig Jahren ausgesehen. Dieser große, dürre, hagere, ausgezehrte Mann bewegte sich, als könnte er jeden Augenblick wie eine defekte Stehleiter zusammenklappen. Er entsprach niemandes Vorstellung von einem Infanteriegeneral, sondern sah eher wie ein Professor aus. O’Day hätte ein Anthropologe sein können. Seine Überlegung war jedenfalls schlüssig gewesen: Reacher bleibt unter dem Radar, was Busse und Züge, Wartesäle und Schnellrestaurants betrifft, die – zufällig oder nicht – der wirtschaftlich vernünftige Lebensraum von Mannschaftsdienstgraden sind, die im PX eher die Army Times als irgendeine andere Zeitung kaufen und sie um sich herum verbreiten, wie Vögel Beerensamen verbreiten.
Und er konnte damit rechnen, dass mir ein Exemplar in die Hände fallen würde. Irgendwie. Früher oder später. Irgendwann. Weil ich mich informieren wollte. Man kann die Army verlassen, aber sie verlässt einen nie. Nicht vollständig. Betrachtete man die Army Times als Kommunikationsmittel, durch das man mit jemandem Kontakt aufnehmen konnte, musste er sich ausgerechnet haben, dass zehn bis zwölf nacheinander erscheinende Anzeigen eine kleine, aber realistische Chance auf Erfolg hatten.
Aber schon der erste Versuch hatte Erfolg. Einen Tag nach dem Erscheinen der Zeitung. Deshalb kam ich mir später lahm vor.
Ich war berechenbar.
Rick Shoemaker war Tom O’Days rechte Hand. Inzwischen vermutlich sein Stellvertreter. An sich leicht zu ignorieren. Aber ich war Shoemaker einen Gefallen schuldig, was O’Day offenbar wusste. Deshalb hatte er seinen Namen in die Anzeige gesetzt.
Und deshalb würde ich mich melden müssen.
Berechenbar.
Seattle war trocken, als ich aus dem Bus stieg. Und warm. Und in dem Sinn auf Zack, dass überall Unmengen von Kaffee getrunken wurden, was es zu meiner Art Stadt machte, und in dem Sinn, dass es überall Wifi-Hotspots und Smartphones gab, die mich nicht interessierten, und altmodische Münztelefone an Straßenecken deshalb schwer zu finden waren. Drunten am Fischmarkt gab es jedoch eines, deshalb stand ich von Meeresgerüchen umgeben in der salzhaltigen Brise und wählte eine gebührenfreie Nummer im Pentagon. Eine Nummer, die ich vor vielen Jahren auswendig lernte. Eine spezielle Nummer nur für Notfälle. Weil man nicht immer einen Quarter in der Tasche hatte.
Eine Telefonistin meldete sich. Ich verlangte Shoemaker und wurde weiterverbunden – innerhalb des Gebäudes oder der USA oder weltweit, und nach mehrmaligem Klicken und Zischen und einer langen Pause, in der man gar nichts hörte, war Shoemaker endlich dran und sagte: »Ja?«
»Hier ist Jack Reacher«, sagte ich.
»Wo sind Sie?«
»Haben Sie nicht alle möglichen Geräte, die das automatisch anzeigen?«
»Ja«, sagte er. »Sie sind in Seattle, an einem Münztelefon drunten am Fischmarkt. Aber uns ist’s lieber, wenn Leute solche Auskünfte freiwillig geben. Wir finden, dass das anschließende Gespräch dann flüssiger wird. Weil sie schon kooperieren. Sie beweisen Interesse.«
»Woran?«
»An dem Gespräch.«
»Führen wir ein Gespräch?«
»Eigentlich nicht. Was sehen Sie direkt vor sich?«
Ich sah hin.
»Eine Straße«, sagte ich.
»Links?«
»Fischläden.«
»Rechts?«
»Einen Coffeeshop schräg gegenüber nach der Ampel.«
»Name?«
Ich gab ihn durch.
Er sagte: »Setzen Sie sich dort rein und warten Sie.«
»Worauf?«
»Dass Sie abgeholt werden. Dauert ungefähr eine halbe Stunde«, antwortete er und legte auf.
Niemand weiß wirklich, weshalb Kaffee in Seattle eine so wichtige Rolle spielt. Seattle ist eine Hafenstadt, deshalb war es vielleicht vernünftig, den Kaffee dort zu rösten, wo er ins Land kam, und ihn anschließend auch dort zu verkaufen, was weitere Kaffeeröster anlockte, genau wie die Autobauer alle in Detroit landeten. Oder vielleicht ist das Wasser genau richtig. Oder es liegt an der Ortshöhe, der Temperatur oder der Luftfeuchtigkeit. Jedenfalls gibt es in jedem Straßenblock einen Coffeeshop, und wer gern Kaffee trinkt, muss dafür einen vierstelligen Betrag pro Jahr ansetzen. Der Coffeeshop schräg gegenüber nach der Ampel war beispielhaft. Er hatte kastanienbraune Farbe und Sichtmauerwerk, naturbelassenes Holz und eine Tafel, auf der mit Kreide Dinge angeschrieben waren, von denen neunzig Prozent nicht in einen Kaffee gehörten: Milchprodukte in verschiedenen Geschmacksrichtungen und Temperaturen, seltsame Aromen auf Nussbasis und weitere Verunreinigungen. Ich bestellte die Hausmarke, schwarz, ohne Zucker, in einem mittelgroßen Becher, keinen Grande-Eimer, wie ihn manche Leute mögen, mit einem großen Stück Zitronenkuchen und saß damit allein auf einem harten Holzstuhl an einem Zweiertisch.
Der Kuchen beschäftigte mich fünf Minuten, der Kaffee weitere fünf, und achtzehn Minuten später kam Shoemakers Mann herein. Was bedeutete, dass er bei der Marine war, denn achtundzwanzig Minuten war ziemlich schnell, und die Navy befand sich hier in Seattle. Sein Wagen war dunkelblau. Er fuhr eine Limousine in Einfachausstattung, nicht sehr ansprechend, aber auf Hochglanz poliert. Der Kerl selbst war Anfang dreißig, drahtig und durchtrainiert. Er trug Zivil. Einen blauen Blazer über einem blauen Polohemd, dazu khakifarbene Chinos. Der Blazer war abgewetzt, Hemd und Hose waren schon tausendmal gewaschen worden. Vermutlich ein Senior Chief Petty Officer, ein Hauptbootsmann, wahrscheinlich bei den Special Forces, mutmaßlich ein SEAL, ein Kampfschwimmer, bestimmt an irgendeinem zweifelhaften Unternehmen beteiligt, das unter O’Days Aufsicht stand.
Er betrat den Coffeeshop mit einem raschen, ausdruckslosen Rundblick, als hätte er ungefähr eine Fünftelsekunde Zeit, Freund oder Feind auszumachen, bevor er zu schießen begann. Seine knappe Einweisung, sicher aus einer alten Personalakte, musste mündlich erfolgt sein, aber er hatte die Eckpunkte eins fünfundneunzig und hundertzehn Kilo. Alle anderen Gäste waren Asiaten, überwiegend Frauen, die meisten klein und zierlich. Der Kerl kam geradewegs auf mich zu und fragte: »Major Reacher?«
Ich sagte: »Nicht mehr.«
Er fragte: »Dann Mr. Reacher?«
Ich sagte: »Ja.«
»Sir, General Shoemaker möchte, dass Sie mitkommen.«
Ich fragte: »Wohin?«
»Nicht weit.«
»Wie viele Sterne?
»Sir, ich kann Ihnen nicht folgen.«
»Hat General Shoemaker?«
»Einen, Sir. Brigadegeneral Shoemaker, Sir.«
»Wann?«
»Wann was, Sir?«
»Ist er befördert worden?«
»Vor zwei Jahren.«
»Finden Sie das so ungewöhnlich wie ich?«
Der Kerl schwieg einen Moment, dann sagte er: »Sir, dazu habe ich keine Meinung.«
»Und wie geht es General O’Day?«
Der Mann zögerte nochmals, dann sagte er: »Sir, ich kenne niemanden, der so heißt.«
Der blaue Wagen war ein Chevrolet Impala mit Polizeifelgen und Stoffsitzen. Das Neueste an ihm schien seine Politur zu sein. Der Kerl in dem Blazer fuhr mit mir durch die Innenstadt und auf der I-5 nach Süden. Auf dieser Interstate war ich mit dem Bus nach Seattle gekommen. Wir fuhren wieder am Boeing Field und am Sea-Tac Airport vorbei, weiter in Richtung Tacoma. Der Kerl in dem Blazer sagte nichts. Ich schwieg ebenfalls. Wir saßen beide stumm da, als wollten wir einander beweisen, dass der eine länger schweigen konnte als der andere. Ich sah aus dem Seitenfenster. Hügel und Meer und Bäume, alles grün.
Wir passierten Tacoma und wurden vor der Bushaltestelle langsamer, an der die beiden Soldatinnen ausgestiegen waren und die Army Times zurückgelassen hatten. Wir nahmen dieselbe Ausfahrt. Die Wegweiser zeigten an, dass vor uns nur drei Kleinstädte und ein riesiger Militärstützpunkt lagen. Folglich konnte ich ziemlich sicher davon ausgehen, dass wir nach Fort Lewis wollten. Aber dann zeigte sich, dass wir doch nicht dorthin fuhren. Heute vielleicht theoretisch, aber früher wäre das nicht der Fall gewesen. Wir waren zur ehemaligen McChord Air Force Base unterwegs, jetzt die silberglänzende Hälfte der Joint Base Lewis-McChord. Reformen. Politiker schrecken vor nichts zurück, um ein paar Dollar einzusparen.
Ich erwartete ein kleines Hin und Her am Tor, das von Army und Air Force gemeinsam bewacht wurde, während Wagen und Fahrer zur Navy gehörten und ich ein absoluter Niemand war. Nur das Marinekorps und die Vereinten Nationen fehlten noch. Aber O’Days Einfluss war so groß, dass wir die Geschwindigkeit kaum drosseln mussten. Wir rauschten hindurch, bogen links ab, dann rechts, wurden an einem zweiten Tor durchgewinkt und fuhren aufs Vorfeld hinaus, auf dem riesige Transporter C-17 Globemaster standen, unter denen man sich wie eine Maus im Wald vorkam. Wir rollten unter einer gigantischen grauen Tragfläche hindurch und fuhren über schwarzen Asphalt genau auf ein kleines weiße Flugzeug zu, das auf einer speziell gekennzeichneten Abstellfläche stand. Ein zweistrahliges Geschäftsreiseflugzeug. Ein Learjet oder eine Gulfstream, oder was reiche Leute sich heutzutage sonst zulegten. Die Lackierung glänzte in der Sonne. Die einzige Beschriftung des Flugzeugs war das Kennzeichen auf dem Seitenleitwerk. Kein Name, kein Logo. Nur weißer Lack. Seine Triebwerke brummten im Leerlauf, und unter der offenen Kabinentür war die Fluggasttreppe heruntergeklappt.
Der Kerl in dem Blazer fuhr geschickt einen Halbkreis und kam so zum Stehen, dass meine Tür kaum zwei Meter von der Kabinentreppe entfernt war. Was ich als Wink auffasste. Ich stieg aus und blieb kurz in der Sonne stehen. Der Frühling war endlich da und hatte mildes Wetter mitgebracht. Hinter mir fuhr die Limousine weg. In der ovalen Türöffnung über mir erschien ein uniformierter Steward. Er sagte: »Sir, bitte kommen Sie an Bord.«
Unter meinem Gewicht gab die Treppe leicht nach. Ich musste den Kopf etwas einziehen, um in die Kabine zu gelangen. Während der Steward sich nach rechts verzog, tauchte links von mir ein weiterer Mann in Uniform aus dem Cockpit auf und sagte: »Willkommen an Bord, Sir. Heute wird die Crew ganz von der Air Force gestellt, und wir bringen Sie schnellstens hin.«
Ich fragte: »Wohin?«
»An Ihr Ziel.« Der Mann zwängte sich wieder in seinen Sitz neben dem Kopiloten, und beide fingen an, eine Checkliste abzuarbeiten. Ich folgte dem Steward und fand mich in einer Kabine mit karamellbraunem Leder und Walnusspaneelen wieder. Als einziger Passagier ließ ich mich in den nächstbesten Sessel fallen. Der Steward zog die Fluggasttreppe hoch, verriegelte die Kabinentür und nahm auf dem Klappsitz hinter den beiden Piloten Platz. Zwei Minuten später waren wir in der Luft und stiegen steil weiter auf.
2
Ich rechnete mir aus, dass wir von McChord aus nach Osten flogen. Allerdings blieb uns kaum eine andere Wahl. Im Westen lagen Russland, Japan und China, und ich bezweifelte, dass ein so kleines Flugzeug genug Reichweite gehabt hätte. Als ich den Steward nach unserem Ziel fragte, sagte er, er habe den Flugplan nicht gesehen. Was natürlich Bullshit war. Aber ich bohrte nicht nach. Bei allen anderen Themen erwies er sich als ziemlich redselig. Er teilte mir mit, das Flugzeug sei eine Gulfstream IV, die bei einem betrügerischen Hedgefonds beschlagnahmt und der Air Force übergeben worden war, die sie für VIP-Flüge einsetzte. In diesem Fall konnten die VIPs der Luftwaffe sich glücklich schätzen. Das Flugzeug war sensationell. Es war leise und solide, und die nach allen Richtungen verstellbaren Sessel waren ultrabequem. Und in der Bordküche gab es Kaffee. Ganz altmodisch aufgebrüht. Ich forderte den Mann auf, die Kaffeemaschine laufen zu lassen, und erklärte ihm, ich würde mir meinen Kaffee selbst holen. Das nahm er dankbar zur Kenntnis. Vermutlich hielt er das für einen Beweis meines Respekts. Natürlich war er kein echter Steward, sondern irgendein Sicherheitsmann, der tough genug war, um diesen Job zu bekommen, und stolz darauf, dass ich das wusste.
Ich schaute aus dem Fenster und betrachtete als Erstes die Rocky Mountains mit den dunkelgrünen Wäldern in niedrigen Lagen und blendend weißen Schneegipfeln in den Höhen. Dann zogen die braungrünen Ebenen des Mittleren Westens vorbei: in winzige Mosaikflächen unterteilt, gepflügt, bestellt und abgeerntet, wieder und wieder, ohne viel Regen abzubekommen. Ich hatte den Eindruck, wir schnitten eine Ecke von South Dakota ab und sähen ein Stück von Nebraska, bevor wir die Etappe über Iowa in Angriff nahmen. Was wegen der geometrischen Kompliziertheit eines Flugs in großen Höhen vermutlich bedeutete, dass unser Ziel weit im Süden lag. Wir flogen auf einer Großkreisroute, die auf einer Landkarte verrückt ausgesehen hätte, aber für einen kugelförmigen Planeten genau richtig war. Unser Ziel war Kentucky, Tennessee oder die Carolinas. Vielleicht sogar Georgia.
Während ich nach und nach eine Kanne Kaffee leerte, brummten wir Stunde um Stunde weiter, bis die Erde wieder näher kam. Anfangs tippte ich auf Virginia, aber dann hielt ich North Carolina doch für wahrscheinlicher. Ich sah zwei Städte, die nur Winston-Salem und Greensboro sein konnten. Sie lagen an Backbord und wurden etwas kleiner, was bedeutete, dass wir uns auf dem Weg nach Südosten befanden. Die nächste Stadt war erst Fayetteville, aber kurz davor kam Fort Bragg. Dort lag das Hauptquartier der Special Forces, Tom O’Days natürlicher Lebensraum.
Wieder falsch. Oder theoretisch richtig, aber nur dem Namen nach. Wir landeten in der Abenddämmerung auf der ehemaligen und inzwischen an die Army übergegangenen Pope Air Force Base. Jetzt hieß der Platz nur Pope Field und war lediglich eine kleine Ecke von Fort Bragg, das ständig weiterwuchs. Reformen. Politiker schrecken vor nichts zurück, um ein paar Dollar einzusparen.
Wir rollten lange, sehr lange, winzig auf Landebahnen und Rollwegen, die man für Transportstaffeln angelegt hatte. Dann kamen wir vor einem kleinen Verwaltungsgebäude zum Stehen, an dessen Fassade 47th Logistics, Tactical Support Command zu lesen war. Die Triebwerke wurden abgestellt, und der Steward öffnete die Kabinentür und klappte die Passagiertreppe aus.
»Welche Tür?«, fragte ich.
»Die rote«, antwortete er.
Ich stieg die wenigen Stufen hinunter und ging über das beleuchtete Vorfeld auf das Gebäude zu. Es hatte nur eine rote Tür, die sich öffnete, als ich bis auf fünf Meter herangekommen war. Eine junge Frau in einem schwarzen Nadelstreifenkostüm erschien. Blickdichte Nylonstrümpfe. Gute Schuhe. Eine noch ziemlich junge Frau. Ich schätzte sie auf Ende zwanzig. Sie hatte blondes Haar und grüne Augen und ein herzförmiges Gesicht, auf dem ein freundliches Willkommenslächeln stand.
Sie sagte: »Ich bin Casey Nice.«
Ich fragte: »Casey was?«
»Nice.«
»Ich bin Jack Reacher.«
»Ja, ich weiß. Ich arbeite im Außenministerium.«
»In D.C.?«
»Nein, hier«, sagte sie.
Was irgendwie logisch war. Die Special Forces stellten den bewaffneten Arm der CIA dar, die wiederum die Einsatztruppe des Außenministeriums war, und es gab bestimmte Entscheidungen, die von allen dreien gemeinsam getroffen werden mussten. Daher ihre Anwesenheit auf dem Stützpunkt, auch wenn sie sehr jung für diesen Job wirkte. Vielleicht war sie ein Verhandlungsgenie. Irgendeine Art Wunderkind. Ich fragte sie: »Ist Shoemaker hier?«
Sie sagte: »Kommen Sie, wir wollen reingehen.«
Sie führte mich in einen kleinen Raum mit Drahtglasfenstern. Möbliert war er mit drei Sesseln, die nicht zusammenpassten, alle ein bisschen traurig und verlassen. Miss Nice bot mir mit einer Handbewegung einen davon an und nahm mir gegenüber Platz.
Ich fragte: »Wozu bin ich hier?«
Sie sagte: »Als Erstes müssen Sie verstehen, dass alles, was Sie ab jetzt hören, streng geheim ist. Auf Verstöße gegen Geheimhaltungsvorschriften stehen schwere Strafen.«
»Wieso sollten Sie mir Geheimnisse anvertrauen? Sie kennen mich überhaupt nicht. Sie wissen nichts über mich.«
»Ihre Personalakte war im Umlauf. Sie hatten eine Sicherheitsfreigabe. Die ist nie widerrufen worden. Sie sind nach wie vor daran gebunden.«
»Kann ich jetzt gehen?«
»Uns wär’s lieber, wenn Sie blieben.«
»Wozu?«
»Wir wollen mit Ihnen reden.«
»Das Außenministerium?«
»Sind Sie bereit, sich an die Geheimhaltungsvorschriften zu halten?«
Ich nickte. »Was will das Außenministerium von mir?«
»Wir haben bestimmte Verpflichtungen.«
»In welcher Beziehung?«
»Jemand hat auf den französischen Präsidenten geschossen.«
»In Paris.«
»Die Franzosen haben um internationale Unterstützung gebeten bei der Fahndung nach dem Täter.«
»Ich war’s nicht. Ich war in L. A.«
»Wir wissen, dass Sie’s nicht waren. Sie stehen nicht auf der Liste.«
»Es gibt eine Liste?«
Statt meine Frage zu beantworten, griff sie in die Innentasche ihrer Kostümjacke und zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier heraus, das sie mir übergab. Es war von ihrem Körper warm und leicht gebogen. Aber es war keine Liste, sondern die Zusammenfassung des Berichts unserer Botschaft in Paris. Vermutlich von dem CIA-Stationsleiter verfasst. Die nüchternen Details des Anschlags.
Die Entfernung war ungewöhnlich gewesen. Der dreizehnhundert Meter entfernte Balkon einer Wohnung war als Versteck des Schützen identifiziert worden. Der französische Präsident hatte im Freien auf einem Podium hinter dicken Panzerglasscheiben gestanden. Aus irgendeinem verbesserten neuen Material. Außer ihm selbst hatte niemand den Schuss gesehen. Er hatte einen unwahrscheinlich fernen Mündungsblitz wahrgenommen – klein, hoch und weit links –, und drei Sekunden später war auf dem Glas ein winziger weißer Stern erschienen. Ein weiter, weiter Schuss. Aber das Glas hatte gehalten und das einschlagende Geschoss sofortige Reaktionen ausgelöst: Der Präsident wurde augenblicklich unter einer Traube von Leibwächtern begraben. Später waren Metallsplitter gefunden worden, die auf ein panzerbrechendes Geschoss Kaliber .50 schließen ließen.
Ich sagte: »Ich stehe nicht auf der Liste, weil ich nicht gut genug bin. Bei einem nur kopfgroßen Ziel sind dreizehnhundert Meter eine verdammt weite Entfernung. Das Geschoss ist volle drei Sekunden lang in der Luft. Als ließe man einen Stein in einen sehr tiefen Brunnen fallen.«
Casey Nice nickte. »Die Liste ist sehr kurz. Deshalb sind die Franzosen besorgt.«
Sie waren nicht gleich besorgt gewesen. Das war offensichtlich. Dem Bericht nach hatten sie die ersten vierundzwanzig Stunden damit verbracht, sich zu ihren Absperrmaßnahmen, die eine so große Schussentfernung erzwungen hatten, und ihrem neuen Panzerglas zu gratulieren. Dann hatte die Realität sich durchgesetzt, und sie begannen hektisch herumzutelefonieren. Wer kannte einen Scharfschützen, der so gut war?
»Bullshit«, sagte ich.
Casey Nice fragte: »Welcher Teil?«
»Sie machen sich nichts aus den Franzosen. Nicht so viel. Sie hätten vielleicht ein paar mitfühlende Worte gefunden und Praktikanten eine Ausarbeitung darüber schreiben lassen. Aber dieser Bericht hat O’Day vorgelegen. Mindestens fünf Sekunden. Was bedeutet, dass die Sache wichtig ist. Und dann haben Sie binnen achtundzwanzig Minuten einen SEAL auf mich angesetzt und mich danach mit einer Privatmaschine quer über Amerika geflogen. Der SEAL und das Flugzeug haben offensichtlich in Bereitschaft gestanden, aber ebenso offensichtlich wussten Sie nicht, wo ich mich aufhielt oder wann ich anrufen würde, sodass überall im Land Tag und Nacht SEALs und Privatjets bereitgestanden haben müssen. Für alle Fälle. Und wenn Sie diesen Aufwand für mich getrieben haben, bin ich nicht der Einzige. Hier läuft das volle Programm ab.«
»Es würde alles komplizieren, wenn der Schütze ein Amerikaner wäre.«
»In welcher Beziehung?«
»Wir hoffen, dass es keiner war.«
»Was kann ich also für Sie tun, das ein Privatflugzeug wert ist?«
Ihr Handy klingelte in ihrer Tasche. Sie meldete sich, hörte kurz zu und steckte das Smartphone wieder ein. Sie sagte: »Das erklärt Ihnen General O’Day. Er hat jetzt Zeit für Sie.«
3
Casey Nice führte mich in ein Dienstzimmer im ersten Stock. Das Gebäude war abgenutzt, schien nur vorübergehend eingerichtet zu sein. Ein Kerl wie O’Day war ständig unterwegs. Einen Monat hier, einen Monat dort, in provisorischen Unterkünften mit sinnlosen Bezeichnungen wie 47th Logistics, Tactical Support Command. Für den Fall, dass jemand ihn beobachtete. Oder weil jemand ihn beobachtete, würde er sagen. Irgendjemand beobachtete einen immer. Trotzdem hatte er lange überlebt.
Er saß hinter einem Schreibtisch, an dessen Seite Shoemaker Platz genommen hatte, wie es einem guten Stellvertreter zustand. Shoemaker war zwanzig Jahre gealtert, was mich nicht verwunderte, weil ich ihn vor zwanzig Jahren zuletzt gesehen hatte. Er hatte zugenommen. Sein rotblondes Haar war jetzt eher aschblond und sein pausbäckiges Gesicht gerötet. Er trug einen Kampfanzug mit Tarnmuster und einem auffällig großen Stern auf den Schulterklappen.
O’Day schien überhaupt nicht gealtert zu sein. Er sah noch immer wie hundert aus. Und er trug, was er immer getragen hatte: einen fadenscheinigen schwarzen Blazer über einem Pullover mit V-Ausschnitt, der ebenfalls schwarz und schon so oft gestopft war, dass die geflickten Stellen überwogen. Das bewies, dass auch Mrs. O’Day gesund und munter war, denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass irgendjemand für ihn Nadel und Stopfgarn in die Hand genommen hätte.
Auf seinem hohlwangigen Gesicht lag ein schwaches Lächeln, als er mich mit ausdruckslosem Blick betrachtete und sagte: »Freut mich, Sie wiederzusehen, Reacher.«
Ich sagte: »Ihr Glück, dass ich keinen wichtigen Termin hatte. Sonst würde ich mich beschweren.«
Er äußerte sich nicht dazu. Ich setzte mich auf einen Metallklappstuhl, anscheinend aus Navy-Beständen, und Casey Nice nahm neben mir Platz.
O’Day fragte: »Hat sie Ihnen gesagt, dass dies alles geheim ist?«
»Ja«, erwiderte ich, und Casey Nice nickte nachdrücklich, als wollte sie bestätigen, dass sie seinen Auftrag ausgeführt hatte. So wirkte O’Day auf Untergebene.
Er fragte mich: »Haben Sie den zusammenfassenden Bericht gelesen?«
Ich sagte: »Ja«, und Casey Nice nickte nochmals.
Er sagte: »Was halten Sie davon?«
Ich sagte: »Der Kerl ist ein verdammt guter Schütze, denke ich.«
»Stimmt«, meinte O’Day. »Das muss er sein, wenn er seinen Auftraggebern einen garantierten Treffer mit nur einem Schuss aus dreizehnhundert Metern verkauft hat.«
Das war eine für O’Day typische Äußerung. Sokratisch nannte man so was im College. Ein intellektuelles Hin und Her, um Wahrheiten zu verkünden, die jedem vernunftbegabten Wesen bewusst waren. Ich sagte: »Er hat nicht einen Treffer mit nur einem Schuss garantiert. Geplant waren zwei mit zwei Schüssen. Der erste sollte das Glas zersplittern lassen, der zweite tödlich treffen. Wäre das Glas zersplittert, hätte er noch mal geschossen. Eine blitzschnell zu treffende Entscheidung. Noch mal abdrücken oder verschwinden. Eine eindrucksvolle Leistung. War das Geschoss tatsächlich panzerbrechend?«
O’Day nickte. »Das hat die Untersuchung mit dem Gaschromatografen ergeben.«
»Haben wir solches Glas für unseren Präsidenten?«
»Das bekommen wir morgen.«
»Hatte es wirklich Kaliber .50?«
»Auch das ist nachgewiesen.«
»Das macht alles noch eindrucksvoller. Dafür braucht man ein großes hässliches Gewehr.«
»Das Ziele noch in sechzehnhundert Metern Entfernung treffen kann, in Afghanistan einmal sogar aus über zwei Kilometern Entfernung. Also sind dreizehnhundert Meter vielleicht doch nicht so sensationell.«
Sokratisch.
Ich sagte: »Zweimal aus dreizehnhundert Metern zu treffen, ist weit schwieriger als einmal aus größerer Entfernung, denke ich. Hier geht’s um Wiederholbarkeit. Der Kerl hat Talent.«
»Genau«, sagte O’Day. »Glauben Sie, dass er irgendwo beim Militär war?«
»Natürlich. Nur dort kann man so gut werden.«
»Glauben Sie, dass er noch irgendwo beim Militär ist?«
»Nein. Das würde ihn zu sehr einengen.«
»Ganz Ihrer Meinung.«
Ich fragte: »Wissen wir bestimmt, dass er seine Leistung verkauft hat?«
»Wie groß ist die Chance, dass ein Wutbürger früher mal ein erstklassiger Scharfschütze war? Wahrscheinlicher ist, dass dieser Wutbürger auf dem freien Markt etwas Geld ausgegeben hat. Vielleicht eine kleine Gruppe von Wutbürgern. Mit anderen Worten eine Interessengruppe. Die dann natürlich mehr Geld aufbringen könnte.«
»Was kümmert uns das? Die Zielperson war ein Franzose.«
»Das Geschoss war amerikanisch.«
»Woher wissen wir das?«
»Das sagt uns der Gaschromatograf. Vor einigen Jahren ist eine Vereinbarung getroffen worden, von der die Öffentlichkeit nicht viel erfahren hat. Tatsächlich überhaupt nichts. Jeder Hersteller verwendet eine bestimmte Legierung. Die Unterschiede sind gering, aber messbar. Wie eine Signatur.«
»Die halbe Welt kauft amerikanische Munition.«
»Dieser Kerl ist neu in der Szene, Reacher. Sein Profil ist noch nirgends aufgetaucht. Dies war sein erster Job. Er macht sich hier einen Namen. Mit einem verdammt schwierigen Auftrag. Er muss mit einer Kaliber-fünfzig-Kanone zweimal rasch nacheinander aus dreizehnhundert Metern Entfernung treffen. Schafft er das, ist er für den Rest seines Lebens in der Major League. Trifft er nicht, bleibt er ewig in der Bush League. Das ist viel zu riskant. Der Einsatz ist einfach zu hoch. Aber er schießt trotzdem. Was bedeutet, dass er wusste, dass er treffen würde. Zweimal mit totalem Selbstvertrauen aus dreizehnhundert Metern. Wie viele Scharfschützen dieser Klasse gibt es?«
Das war eine sehr gute Frage. Ich sagte: »Ehrlich? Unter uns? So gut? Ich glaube, dass wir uns glücklich schätzen könnten, in jeder Generation einen bei den SEALs, zwei bei den Marines und zwei in der Army zu haben. Also fünf in allen Teilstreitkräften.«
»Aber Sie haben eben bestätigt, dass er nicht beim Militär ist.«
»Deshalb gibt es fünf weitere Männer aus der vorigen Generation: noch nicht lange draußen, alt genug, um nichts mit sich anzufangen zu wissen, aber noch jung genug, um gut zu funktionieren. Das sind die Kerle, nach denen Sie fahnden sollten.«
»Das wären Ihre Kandidaten? Die vorige Generation?«
»Ich sehe nicht, wer sonst dafür geeignet wäre.«
»Und wie viele Staaten kommen tatsächlich für solche Jobs infrage?«
»Mit uns vielleicht fünf.«
»Bei durchschnittlich fünf Kandidaten in jedem Land wären das weltweit fünfundzwanzig. Korrekt?«
»Grob geschätzt.«
»Durchaus nicht. Fünfundzwanzig ist die exakte Anzahl von ehemaligen Elitescharfschützen, die Geheimdiensten in aller Welt bekannt ist. Glauben Sie, dass ihre Regierungen sie penibel überwachen lassen?«
»Bestimmt.«
»Und wie viele dieser Männer hätten Ihrer Meinung nach für jeden beliebigen Tag ein felsenfestes Alibi?«
Weil sie sehr sorgfältig überwacht wurden, sagte ich: »Zwanzig?«
»Einundzwanzig«, antwortete O’Day. »Also haben wir’s mit vier Kerlen zu tun. Und damit beginnen die diplomatischen Probleme. Wir gleichen vier Kerlen in einem Raum, die sich gegenseitig anstarren. Und ich kann’s nicht brauchen, dass die Munition von hier war.«
»Einer der unseren ist nicht nachweisbar?«
»Nicht hundertprozentig.«
»Wer?«
»Wie viele so gute Scharfschützen kennen Sie?«
»Keinen«, sagte ich. »Ich hänge nicht mit Scharfschützen rum.«
»Wie viele haben Sie jemals gekannt?«
»Einen«, sagte ich. »Aber der war’s offenbar nicht.«
»Und das wissen Sie, weil?«
»Weil er im Gefängnis sitzt.«
»Und das wissen Sie, weil?«
»Weil ich ihn hinter Gitter gebracht habe.«
»Er hat fünfzehn Jahre bekommen, richtig?«
»Meiner Erinnerung nach.«
»Wann?«
Sokratisch. Ich rechnete im Kopf nach. So viele Jahre. So viel Wasser unter der Brücke. So viele verschiedene Orte, verschiedene Leute. Ich sagte: »Scheiße.«
O’Day nickte.
»Vor sechzehn Jahren«, sagte er. »Wie die Zeit verfliegt, wenn man sich gut amüsiert.«
»Er ist wieder draußen?«
»Seit einem Jahr.«
»Wo ist er?«
»Nicht zu Hause.«
4
John Kott war der einzige Sohn eines tschechischen Emigrantenpaars, das im Kalten Krieg vor dem kommunistischen Regime flüchtete und sich in Arkansas niederließ. Seine drahtige osteuropäische Erscheinung passte gut zu den ärmlichen einheimischen Jugendlichen, mit denen er als einer der ihren aufwuchs. Sah man von seinem Namen und seinen slawischen Wangenknochen ab, hätte er ein Cousin fast aller sein können. Mit sechzehn konnte er Eichhörnchen, die außer ihm fast keiner sah, von weit entfernten Bäumen schießen. Mit siebzehn erschoss er seine Eltern – zumindest nach Überzeugung des County Sheriffs. Es gab keinen handfesten Beweis, aber reichlich Verdachtsmomente. Das alles schien den Werber der U. S. Army, bei dem er ein Jahr später unterschrieb, nicht sonderlich zu stören.
Kott war für einen hageren, drahtigen Kerl außergewöhnlich ruhig und still. Er konnte seinen Puls auf wenig über dreißig absenken und stundenlang in Stellung liegen, ohne sich zu bewegen. Er sah übermenschlich gut. Mit anderen Worten: Er war der geborene Scharfschütze. Das erkannte sogar die U. S. Army. Er wurde auf mehrere Spezialschulen geschickt und anschließend zur Delta Force versetzt. Dort baute er seine Talente durch unermüdliche harte Arbeit aus und entwickelte sich in dieser zwielichtigen Black-ops-Welt zu einem Star.
Für einen Soldaten der Special Forces ungewöhnlich war jedoch, dass in seinem Kopf die Trennung zwischen dienstlichen und privaten Belangen nicht hundertprozentig funktionierte. Um einen Menschen aus tausend Metern zu erschießen, braucht man mehr als nur Talent und sportliche Fähigkeiten. Dazu benötigt man die Erlaubnis des ältesten Teils des Gehirns, in dem grundlegende Hemmungen entweder verstärkt oder gelockert werden. Der Schütze muss wirklich glauben: Das ist in Ordnung. Er ist dein Feind. Du bist besser als er. Du bist der Weltbeste. Wer sich dir entgegenstellt, verdient zu sterben. Die meisten Kerle verfügen über einen Ausschalter. Doch Kotts Schalter schloss nicht ganz.
Drei Wochen nachdem in Kolumbien ein Mann in einem Gebüsch hinter einer abgelegenen Bar mit durchschnittener Kehle aufgefunden worden war, lernte ich ihn kennen. Bei dem toten Kerl handelte es sich um einen Ranger, einen Sergeant der U. S. Army. Die Bar war das Stammlokal einer von der CIA geführten Einheit der Special Forces, deren Soldaten dort ihre Freizeit verbrachten, wenn sie nicht im Dschungel Jagd auf Kartellangehörige machten. So beschränkte sich der Kreis der Verdächtigen auf sehr wenige und äußerst schweigsame Personen. Ich war damals beim 99th MP und bekam den Auftrag, den Fall aufzuklären. Aber nur, weil der Tote ein amerikanischer Militärangehöriger gewesen war. Bei einem einheimischen Zivilisten hätte das Pentagon sich das Flugticket gespart.
Alle redeten viel, aber keiner packte aus. Ich wusste, wer sich in der Bar aufgehalten hatte, ließ mir von allen den Abend schildern und erfuhr von jedem irgendeine Kleinigkeit. So konnte ich mir allmählich ein Bild machen. Ein Kerl tat dieses, ein anderer jenes. Dieser Typ ging um elf, jener um Mitternacht. Der andere saß neben dem ersten, der kein Bier, sondern Rum trank. Und so weiter und so fort. Ich legte mir die Choreografie im Kopf zurecht und passte sie immer wieder neu an, bis sich ein stimmiger Ablauf ergab.
Bis auf John Kott, der kaum mehr als ein Loch in der Luft war.
Niemand hatte besonders viel über ihn gesagt. Nichts darüber, wo er gesessen, was er getan und mit wem er geredet hatte. Er blieb mehr oder weniger unerwähnt. Das konnte alle möglichen Gründe haben – möglicherweise auch den, dass ihn zwar niemand aus seiner Einheit verpfeifen, aber auch keiner irgendwelche Dinge für ihn erfinden wollte. Irgendeine Art Ehrenkodex. Oder Mangel an Fantasie. In beiden Fällen eine kluge Wahl. Erfundene Storys werden unweigerlich enttarnt. Da ist’s besser, nichts zu sagen. So konnte in einem hypothetischen Fall ein erbitterter Streit mit einem später ermordet aufgefundenen Kerl zu … nichts werden. Zu nichts weiter als einem Loch in der Luft.
Ein schwacher Fall mit unbewiesenen Schlussfolgerungen und einem Star in der Schattenwelt geheimdienstlicher Operationen – aber zur Ehre der Army muss gesagt werden, dass sie ihn sich ansah. Und ganz richtig feststellte, dass wir ohne Geständnis nicht weiterkommen würden.
Sie ließ mich Kott in Untersuchungshaft stecken.
Bei Vernehmungen kommt es entscheidend darauf an, sich die Antworten anzuhören, und ich hörte Kott lange zu, bevor ich zu dem Schluss kam, der Mann werde von einer unglaublichen Arroganz gesteuert. Und er konnte nicht zwischen Dienst und Privatleben unterscheiden. Wer sich dir entgegenstellt, verdient zu sterben, ist ein Schlachtruf, kein Motto für den Alltag.
Aber mit solchen Leuten hatte ich mein Leben lang zu tun. Ich war das Produkt solcher Leute. Sie wollen einem alles darüber erzählen. Sie wollen, dass man ihre Motive versteht. Sie wollen, dass man sie billigt. Okay, vielleicht hatten sie theoretisch gegen irgendeine dumme kleinliche Vorschrift verstoßen, aber sie waren wichtiger als solche Bestimmungen. Das waren sie doch? Richtig?
Ich ließ ihn reden, dann trieb ich ihn in die Enge und rang ihm das Geständnis ab, irgendwann an diesem Abend mit dem später Ermordeten geredet zu haben. Daraus ergab sich zügig alles Weitere. Aber die Sache war keineswegs ein Selbstläufer, sondern erforderte weiter harte Arbeit.
Zwei Stunden später unterschrieb er eine lange, detaillierte Aussage. Der später Ermordete hatte ihn im Prinzip einen Schlappschwanz genannt. Dummes Gerede, das aus dem Ruder gelaufen war. Irgendeine Reaktion hätte erfolgen müssen. Manche Dinge waren einfach unentschuldbar. Stimmt’s?
Weil Kott ein Star und dies ein Geheimunternehmen war, profitierte er von einem Deal: Geständnis gegen mildere Strafe. Fünfzehn Jahre für Totschlag im Affekt. Mir war das nur recht. Weil es kein Kriegsgerichtsverfahren gab, verbrachte ich die gewonnene Woche auf den Fidschiinseln und lernte dort eine unvergessliche Australierin kennen. Also hatte ich keinen Grund, mich zu beschweren.
O’Day sagte: »Wir dürfen nicht von unbewiesenen Annahmen ausgehen. Nichts deutet darauf hin, dass er jemals wieder eine Waffe auch nur angesehen hat.«
»Aber er steht auf der Liste?«
»Logischerweise.«
»Wie hoch sind die Chancen?«
»Eins zu vier, versteht sich.«
»Würden Sie darauf wetten?«
»Ich behaupte nicht, dass er unser Mann ist. Ich stelle nur fest, dass er mit fünfundzwanzigprozentiger Wahrscheinlichkeit der Täter ist.«
»Wer steht noch auf der Liste?«
»Ein Russe, ein Israeli, ein Brite.«
Ich sagte: »Kott hat fünfzehn Jahre lang gesessen.«
O’Day nickte und meinte: »Überlegen wir also, wie sich das bei ihm ausgewirkt haben dürfte.«
Wieder eine sehr gute Frage. Was konnten fünfzehn Jahre hinter Gittern einem Scharfschützen antun? Gutes Schießen basiert auf allen möglichen Voraussetzungen. In der Haft konnte seine Körperbeherrschung gelitten haben. Gutes Schießen setzt voraus, dass man weich und hart zugleich ist. Weich genug, um winzige Zitterbewegungen abzufangen; hart genug, um eine gewaltige Detonation zu kontrollieren. Auch seine körperliche Verfassung konnte Schaden genommen haben, denn zu dem Deal gehören ebenso langsamer Herzschlag und gutes Lungenvolumen.
Letztlich sagte ich jedoch: »Sehvermögen.«
O’Day fragte: »Weil?«
»Was er in den letzten fünfzehn Jahren zu sehen bekommen hat, war alles sehr nahe. Hauptsächlich Mauern. Selbst beim Hofgang. Seit er ein junger Mann war, haben seine Augen kein weit entferntes Objekt mehr fixiert.« Das klang gut, fand ich. Mir gefiel die mentale Vorstellung. Kott, der weich geworden war, jetzt vielleicht sogar ein bisschen zittrig, leicht gebeugt und mit Brille.
Dann las O’Day mir eine Passage aus dem Entlassungsbericht vor.
Auch wenn John Kott aus Tschechien stammte und in Alabama aufgewachsen war, hatte er seine fünfzehn Jahre hinter Gittern wie ein mythischer orientalischer Weiser verbracht. Er hatte Yoga und Meditation praktiziert, täglich ein wenig trainiert, um kräftig und beweglich zu bleiben, aber auch stundenlang kaum atmend mit dem leeren Tausendmeterblick dagesessen, den er laut eigener Aussage üben musste.
O’Day erklärte: »Ich habe ein bisschen herumgefragt. Vor allem bei den Frauen, die hier arbeiten. Sie sagen, dass Kotts Yoga auf Stille und entspannter Kraft basiert. Man blendet sich immer weiter aus, dann nimmt man – peng! – die nächste Stellung ein. Das gilt auch für seine Meditation. Vergiss, was dich bedrückt. Stell dir deinen Erfolg vor.«
»Soll das heißen, dass er besser aus dem Gefängnis raus- als reingegangen ist?«
»Er hat fünfzehn Jahre hart an sich gearbeitet. Auf einzigartig konzentrierte Weise. Und ein Gewehr ist schließlich nur ein Werkzeug aus Metall. Erfolg entsteht durch das Zusammenwirken von Geist und Körper.«
»Wie hätte er nach Paris kommen können? Besitzt er überhaupt einen Reisepass?«
»Denken Sie an die Gruppe Unzufriedener. Denken Sie an ihre gebündelte Finanzkraft. Ein gefälschter Reisepass ist ihr geringstes Problem.«
»Als ich ihn zuletzt gesehen habe, hat er sein Geständnis unterschrieben. Das war offenbar vor über sechzehn Jahren. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen jetzt helfen könnte.«
»Ich darf nichts unversucht lassen.«
»Und was könnte ich dazu beitragen?«
»Sie haben ihn schon einmal geschnappt«, sagte O’Day. »Notfalls schaffen Sie das wieder.«