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Buch

Es ist ein ganz normaler Abend in einer ganz normalen Bar in Downtown New York, in der Feierabendgetränke, Meckereien über Chefs und kleine Flirts an der Tagesordnung sind. Alles scheint wie immer – doch dann bricht von einer Minute auf die andere das totale Chaos aus. Zuerst liegt nur eine Art Spannung in der Luft, doch nach nur zwölf Minuten sind achtzig Menschen tot. Eve Dallas ermittelt, spricht mit Augenzeugen, die wirr von Monstern und Bienenschwärmen reden. Sie beschreiben plötzliche, überwältigende Gefühle von Angst und Zorn. Eve findet schließlich heraus, dass den Gästen ein chemischer Drogencocktail serviert wurde, der kurzfristige Wahnvorstellungen auslöst und auch zum Tod führen kann. Aber das erklärt nicht, warum jemand so etwas Schlimmes plante. Und dann wird klar: Die Bar gehört Eves Mann Roarke. Er ist sich sicher, dass dieser Anschlag nicht ihm galt, hier ist etwas Größeres im Gange. Doch trotzdem stellt sich die Frage: Ist auch er in Gefahr?

Au­tor

J. D. Robb ist das Pseudonym der international höchst erfolgreichen Autorin Nora Roberts, einer der meistgelesenen Autorinnen der Welt. Unter dem Namen J. D. Robb veröffentlicht sie seit Jahren erfolgreich Kriminalromane.

Liste lieferbarer Titel

Rendezvous mit einem Mörder · Tödliche Küsse · Eine mörderische Hochzeit · Bis in den Tod · Der Kuss des Killers · Mord ist ihre Leidenschaft · Liebesnacht mit einem Mörder · Der Tod ist mein · Ein feuriger Verehrer · Spiel mit dem Mörder · Sündige Rache · Symphonie des Todes · Das ­Lächeln des Killers · Einladung zum Mord · Tödliche Unschuld · Der Hauch des ­Bösen · Das Herz des Mörders · Im Tod vereint · Tanz mit dem Tod · In den Armen der Nacht · Stich ins Herz · Stirb, Schätzchen, stirb · In Liebe und Tod · Sanft kommt der Tod · Mörderische Sehnsucht · Ein sündiges Alibi · Im Namen des Todes · Tödliche Verehrung · Süßer Ruf des Todes · Sündiges Spiel · Mörderische Hingabe · Verrat aus Leidenschaft · In Rache entflammt · Tödlicher Ruhm

Mörderspiele. Drei Fälle für Eve Dallas

Nora Roberts ist J. D. Robb

Ein gefährliches Geschenk

J. D. Robb

Verführerische

Täuschung

Roman

Deutsch von Uta Hege

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Die Originalausgabe erschien 2011
unter dem Titel »Delusion in Death« bei G. P. Putnam’s Sons,
a member of Penguin Group (USA) Inc., New York.
Copyright der Originalausgabe © 2012 by Nora Roberts
Published by Arrangement with Eleanor Wilder
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Copyright © 2018 für die deutsche Ausgabe
by Blanvalet Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Regine Kirtschig
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Umschlagmotiv: Chris Stein/The Image/Getty Images
LH · Herstellung: sam
Satz: Buch-Werk­statt GmbH, Bad Aib­ling
ISBN: 978-3-641-22277-2
V002
www.blanvalet.de

Und ich sah, und sie­he, ein fah­les Pferd Und der da­rauf saß, des­sen Name war Tod, und die To­ten­welt folg­te ihm nach.

Die Bi­bel, Of­fen­ba­rung

Mord ru­fen und des Krie­ges Hund’ ent­fes­seln.

Will­iam Shakes­peare, Ju­li­us Cä­sar

1

Nach ei­nem mör­de­ri­schen Ar­beits­tag be­ru­hig­te nichts die stra­pa­zier­ten Ner­ven der in Man­hat­tans Lo­wer West Side ar­bei­ten­den An­ge­stell­ten bes­ser als die Hap­py Hour in der an­ge­sag­ten Knei­pe On the Rocks. Bei Drinks zum hal­ben Preis und Reis­bäll­chen mit Käse läs­ter­ten sie über ihre Vor­ge­setz­ten oder fin­gen Flirts mit den Kol­le­gin­nen oder Kol­le­gen an.

Auch hohe Tie­re tauch­ten dort auf, um in der Nähe ih­rer Ar­beits­plät­ze schnell noch et­was zu trin­ken, ehe es zu­rück in schi­cke, in den Vor­or­ten New Yorks ge­le­ge­ne Häu­ser ging.

Zwi­schen halb fünf und sechs dräng­ten sich klei­ne An­ge­stell­te, de­ren Vor­ge­setz­te, Sek­re­tä­rin­nen und As­sis­ten­ten an den nied­ri­gen und ho­hen Ti­schen und der lang­ ge­zo­ge­nen Bar. Man­che die­ser Leu­te stürz­ten sich kopf­ü­ber in das Trei­ben, an­de­re wur­den wie Über­le­ben­de nach ei­nem Schiffs­un­glück he­rein­ge­spült, und wie­der an­de­re woll­ten ein­fach die Er­in­ne­rung an ih­ren Ar­beits­tag in Al­ko­hol er­trän­ken, nach­dem sie sich ei­nen klei­nen Fle­cken Knei­pe müh­se­lig er­o­bert hat­ten.

Ab fünf herrsch­te ein Trei­ben wie in ei­nem Bie­nen­schwarm, und die The­ker und die Ser­vice­kräf­te hat­ten mit den Gäs­ten, die in­zwi­schen ih­ren Ar­beits­tag be­en­det hat­ten, alle Hän­de voll zu tun. Zum Glück hell­te der zwei­te Drink zum hal­ben Preis die Stim­mung der Be­su­cher meis­tens auf, und das an­fäng­li­che Ge­mur­re oder Schimp­fen wur­de durch Ge­läch­ter, fröh­li­che Ge­sprä­che, Au­gen­zwin­kern, Wim­pern­klap­pern und an­de­re Ri­tu­a­le, die zur Paa­rung füh­ren soll­ten, er­setzt.

Ak­ten, Ge­schäfts­bü­cher wur­den ver­drängt, und un­be­ant­wor­te­te Nach­rich­ten ge­rie­ten in dem war­men gol­de­nen Licht, über dem Klir­ren der Glä­ser und den Gra­tis­nüs­sen in den klei­nen Schäl­chen auf den Ti­schen in Ver­ges­sen­heit.

Ab und zu wur­de die Tür ge­öff­net, und das On the Rocks nahm ei­nen wei­te­ren Über­le­ben­den des grau­sa­men New Yor­ker Ar­beits­ta­ges in Emp­fang. Zu­sam­men mit dem Lärm der Stra­ße weh­te küh­le Herbst­luft in den Raum, doch kaum klapp­te die Tür zu, wur­de es wie­der warm und schumm­rig, und das Sum­men der zahl­lo­sen Stim­men setz­te er­neut ein.

Mit­ten in der Hap­py Hour, die hier statt ei­ner Stun­de an­dert­halb um­fass­te, bra­chen ei­ni­ge der Gäs­te schon wie­der auf. Ver­pflich­tun­gen, Fa­mi­li­en oder ir­gend­wel­che hei­ßen Dates zo­gen sie zur U-Bahn, ei­nem Pen­del­flie­ger, Taxi oder Ma­xi­bus, wer blieb, nutz­te die Ge­le­gen­heit zum Schwatz mit Freun­den und Kol­le­gen noch ein we­nig aus, be­vor es aus dem war­men gol­de­nen zu­rück ins grel­le Licht der Stadt oder ins abend­li­che Dun­kel ging.

Macie Sny­der hat­te sich mit Travis, der seit ei­nem gu­ten Vier­tel­jahr ihr Freund war, ih­rer bes­ten Freun­din CiCi und mit Travis’ Kum­pel Bren an ei­nem Steh­tisch auf­ge­baut. Sie woll­te CiCi schon seit ei­ner hal­ben Ewig­keit mit Bren ver­kup­peln, denn dann könn­ten sie häu­fi­ger zu­sam­men aus­ge­hen und sich über ihre Freun­de un­ter­hal­ten, wenn sie bei der Ar­beit wa­ren. Sie wa­ren eine gut ge­laun­te, aus­ge­las­se­ne Grup­pe, wo­bei Macie die Fröh­lichs­te von ih­nen war.

Ci­Cis und Brens Kör­per­spra­che und die Bli­cke, die sie mit­ei­nan­der tausch­ten, zeig­ten, dass sie ein­deu­tig Ge­fal­len an­ei­nan­der hat­ten, und da CiCi ihr in­zwi­schen ein paar kur­ze ein­deu­ti­ge Text­nach­richten ge­schrie­ben hat­te, wuss­te Macie, dass ihr Plan, zu­min­dest was die Freun­din an­ging, auf­ge­gan­gen war.

Wäh­rend sie eine zwei­te Run­de kom­men lie­ßen, über­leg­ten sie, im An­schluss an die Hap­py Hour noch zu­sam­men in ein Res­tau­rant zu ge­hen.

Auf ein schnel­les Zei­chen der Freun­din schnapp­te ­Macie ihre Ta­sche und er­klär­te: »Wir sind so­fort wie­der da.«

Sie bahn­te sich ei­nen Weg vor­bei an an­de­ren Ti­schen, und als je­mand an der The­ke auf­stand und ihr in die Que­re kam, be­fahl sie fröh­lich: »Aus dem Weg«, nahm Ci­Cis Hand und zog sie über eine schma­le Trep­pe bis zu der zum Glück nicht all­zu lan­gen Schlan­ge vor dem Klo.

»Ich habe es doch gleich ge­sagt!«

»Ich weiß, ich weiß. Du hast ge­sagt, er wär at­trak­tiv, und hast mir auch ein Bild ge­zeigt, aber dass er so gut aus­sieht, hät­te ich beim bes­ten Wil­len nicht ge­dacht. Vor al­lem ist er wirk­lich wit­zig! Meis­tens sind Blind Dates tod­lang­wei­lig, aber mit Bren ist es echt toll.«

»Ich sage dir, wie’s wei­ter­geht. Wir wer­den ihn und ­Travis dazu über­re­den, dass wir noch ins Nino’s ge­hen. Von dort aus müs­sen Trav und ich nach dem Es­sen in die eine und du in die an­de­re Rich­tung ge­hen. Da­durch be­kommt Bren die Chan­ce, dich heim­zu­brin­gen, und du kannst ihn fra­gen, ob er noch kurz mit rauf­kom­men und was trin­ken will.«

»Ich weiß nicht.« Zö­ger­lich wie eh und je – wes­halb sie auch im Ge­gen­satz zu Macie nicht in fes­ten Hän­den war – knab­ber­te CiCi an der Un­ter­lip­pe und schüt­tel­te un­si­cher den Kopf. »Ich will nichts über­stür­zen.«

»Du brauchst ja nicht mit ihm ins Bett zu ge­hen, wenn du nicht willst.« Macie roll­te ihre run­den blau­en Au­gen him­mel­wärts. »Frag ihn ein­fach, ob er nicht noch ei­nen Kaf­fee bei dir trin­ken möch­te, und dann könnt ihr ja ein biss­chen knut­schen oder so.«

Sie muss­te wirk­lich drin­gend pin­keln, doch be­vor sie in die nächs­te of­fe­ne Ka­bi­ne stürz­te, bat sie ihre Freun­din noch: »Und wenn er passt, schreibst du mir auf der Stel­le, wie’s ge­lau­fen ist. Und zwar in al­len Ein­zel­hei­ten, ja?«

CiCi trat in die be­nach­bar­te Ka­bi­ne und er­leich­ter­te sich dort aus So­li­da­ri­tät mit Macie eben­falls. »Mal se­hen. Lass uns erst gu­cken, wie das Abend­es­sen läuft. Viel­leicht hat er da­nach ja kei­ne Lust mehr, mich heim­zu­brin­gen.«

»Doch, die hat er ganz be­stimmt. Er ist ein ech­ter Schatz, ich wür­de dich schließ­lich nicht mit ei­nem Arsch ver­kup­peln, der dich al­lei­n ge­hen lässt.« Macie trat ans Wasch­be­cken, be­schnup­per­te die Pfir­sichflüs­sig­sei­fe und grins­te die Freun­din an. »Wir wer­den jede Men­ge Spaß zu­sam­men ha­ben, wenn es wie ge­plant läuft. Dann kön­nen wir in Zu­kunft öf­ter alle vier zu­sam­men aus­ge­hen. Wäre das nicht toll?«

»Okay, ich fin­de ihn echt nett. Nur macht es mich im­mer to­tal ner­vös, wenn mir ein Typ sym­pa­thisch ist.«

»Er fährt to­tal auf dich ab.«

»Bist du si­cher?«

»Hun­dert Pro.« Macie bürs­te­te ihr kur­zes son­nen­blon­des Haar und warf ei­nen Sei­ten­blick auf CiCi, die sich den Lip­pen­stift nach­zog. Him­mel, dach­te sie und stell­te plötz­lich fest, dass sie ein biss­chen sau­er auf die Freun­din war. Sie hat­te ein­fach kei­ne Lust mehr, CiCi stän­dig auf­zu­bau­en.

»Du bist hübsch, klug und amü­sant«, er­klär­te sie und dach­te: Schließ­lich hän­ge ich in mei­ner Frei­zeit si­cher nicht mit ir­gend­ei­ner dum­men Tus­se ab. »Wes­halb also soll­test du ihm nicht sym­pa­thisch sein? Mei­ne Güte, CiCi, mach dich end­lich lo­cker, heul mir nicht die Oh­ren voll, und hör vor al­lem end­lich auf, die ner­vö­se Jung­frau raus­zu­keh­ren.«

»Ich keh­re nicht …«

»Willst du jetzt was mit ihm an­fan­gen oder nicht?«, fuhr Macie CiCi der­art un­sanft an, dass der vor Schreck die Kinn­la­de he­run­ter­fiel. »Ich habe mich ganz si­cher nicht der­art ins Zeug ge­legt, um die­ses Date zu ar­ran­gie­ren, da­mit du plötz­lich kneifst.«

»Ich …«

»Ver­dammt«, fiel Macie ihr ins Wort, wäh­rend sie die Hän­de an die Schlä­fen hob. »Jetzt krie­ge ich vor lau­ter Är­ger auch noch Kopf­schmer­zen.«

Die of­fen­sicht­lich ziem­lich hef­tig wa­ren, denn nor­ma­ler­wei­se sprang sie nicht der­art ge­mein mit ih­rer Freun­din um. Und, sag­te sich CiCi, viel­leicht stell­te sie sich wirk­lich ein biss­chen an.

»Bren hat ein net­tes Lä­cheln«, sag­te sie und blick­te Macie in dem schma­len Spie­gel an. »Falls er mich nach Hau­se bringt, wer­de ich ihn fra­gen, ob er noch was bei mir trin­ken will.«

Macie blick­te in die leuch­tend grü­nen Au­gen ih­rer Freun­din, die zu der ka­ra­mell­far­be­nen Haut ein­fach fan­tas­tisch aus­sa­hen, und nick­te zu­frie­den. »Ge­nau.«

Auf dem Weg zu­rück nach oben fand Macie, dass der Lärm dort plötz­lich un­er­träg­lich war. Durch die vie­len Stim­men, das lau­te Klap­pern des Ge­schirrs und das Schar­ren der Stüh­le auf dem Bo­den wur­de die Mig­rä­ne, die sie plötz­lich hat­te, noch ver­stärkt.

Wäh­rend sie sich selbst leicht ver­bit­tert da­von ab­riet, noch et­was zu trin­ken, wur­de ihr für ei­nen kur­zen Au­gen­blick der Weg ver­sperrt. Wü­tend schubs­te sie den blö­den Kerl zur Sei­te, ob­wohl er sich schon bei ihr ent­schul­dig­te und wei­ter Rich­tung Aus­gang ging.

»Arsch­loch«, mur­melte sie wü­tend und be­dach­te ihn mit ei­nem bö­sen Blick, als er noch ein­mal lä­chelnd über sei­ne Schul­ter sah.

»Was ist denn los?«

»Nichts … nur hät­te die­ser Blö­di­an mich bei­nah um­ge­rannt.«

»Geht es dir gut? Ich habe si­cher noch ein paar Tab­let­ten in der Ta­sche, falls dei­ne Kopf­schmer­zen schlim­mer wer­den. Mir tut der Kopf in­zwi­schen auch ein biss­chen weh.«

»Im­mer geht es nur um dich«, mur­mel­te Macie, at­me­te dann aber erst ein­mal tief durch. Schließ­lich wa­ren sie gute Freun­din­nen, und sie wa­ren hier, um sich zu amü­sie­ren.

Als sie wie­der Platz nahm, er­griff Travis wie so häu­fig ihre Hand und zwin­ker­te ihr zu.

»Wir wol­len noch ins Nino’s ge­hen«, er­klär­te sie.

»Viel­leicht ge­hen wir lie­ber ins Tor­tilla Flats. Im Nino’s kriegt man ohne Re­ser­vie­rung si­cher kei­nen Tisch.«

»Wir wol­len aber kei­nen Mist vom Me­xi­ka­ner, son­dern in ein an­stän­di­ges Res­tau­rant. Mei­ne Güte, mei­net­we­gen kön­nen wir die Rech­nung tei­len, wenn das Nino’s dir zu teu­er ist.«

Wie im­mer, wenn sie et­was Dum­mes sag­te, zeich­ne­te sich zwi­schen Travis’ Brau­en eine schma­le Fal­te ab. Sie hass­te es, wenn er auf die­se Wei­se das Ge­sicht ver­zog.

»Das Nino’s ist zwölf Blocks von hier ent­fernt, wäh­rend der Me­xi­ka­ner prak­tisch um die Ecke ist.«

Zit­ternd vor Wut fuhr sie ihn an: »Ver­dammt noch mal, hast du es ei­lig oder was? Viel­leicht könn­te es zur Ab­wechs­lung ja mal nach mir ge­hen statt im­mer nur nach dir.«

»Du hast doch ge­sagt, du willst ins On the Rocks.«

Das Ge­schrei der bei­den wur­de von den durch­drin­gen­den Stim­men all der an­de­ren Gäs­te un­ter­malt, mit in­zwi­schen eben­falls dröh­nen­dem Schä­del wand­te CiCi sich an Bren.

Er saß ihr ge­gen­über, starr­te mit ge­bleck­ten Zäh­nen in sein Glas und mur­mel­te grau­en­haf­te Din­ge vor sich hin.

Er war nicht ein­mal an­satz­wei­se nett. Nein, ge­nau wie Travis war er ein­deu­tig ein bö­ser Mensch. Er war häss­lich und war nur hier, weil er sie fic­ken woll­te. Und wenn sie nicht woll­te, näh­me er sie mit Ge­walt. So­bald er die Ge­le­gen­heit be­kä­me, wür­de er sie erst zu­sam­men­schla­gen und sich dann an ihr ver­ge­hen. Das war auch Macie klar. Sie wuss­te es und wür­de sich nach Kräf­ten amü­sie­ren, wenn es dazu kam.

»Zur Höl­le mit euch bei­den«, fauch­te CiCi Bren und Macie an, warf ei­nen Blick auf Travis und füg­te hin­zu: »Zur Höl­le mit euch drei­en.«

»Guck mich nicht so an, du Freak«, schrie Macie Travis an, er schlug kra­chend mit der Hand auf den Tisch.

»Halt dein ver­damm­tes Maul.«

»Auf­hö­ren, habe ich ge­sagt.« Krei­schend schnapp­te sie sich eine Ga­bel, ramm­te sie ihm in das lin­ke Auge. Mit ei­nem lau­ten Heu­len, das Ci­Cis Hirn durch­bohr­te, sprang Travis auf, stürz­te sich auf ihre Freun­din …

… und lös­te ein Blut­bad in der Knei­pe aus.

Lieute­nant Eve Dal­las stand im On the Rocks und sah sich das Ge­met­zel an. Es gab doch im­mer wie­der et­was Neu­es, dach­te sie. Im­mer wie­der ir­gend­et­was, das so­gar noch ein biss­chen grau­en­haf­ter als die schlimms­ten Fan­ta­si­en hart­ge­sot­te­ner Po­li­zis­ten war.

Bis zum Herbst 2060 war sie als er­fah­re­ne Mor­der­mitt­le­rin schon oft ge­nug durch den stin­ken­den Mo­rast New Yorks ge­wa­tet, aber so et­was wie hier hat­te sie nie zu­vor ge­se­hen.

Lei­chen trie­ben in ei­nem See aus Blut, Er­bro­che­nem und Al­ko­hol, kau­er­ten wie Raub­tie­re kurz vor dem Sprung un­ter ge­bors­te­nen Ti­schen oder hin­gen schlaff wie Lum­pen­pup­pen über der mit Scher­ben über­sä­ten lan­gen Bar. Die Scher­ben auf dem Bo­den und auf dem, was von den Ti­schen und den Stüh­len üb­rig war, fun­kel­ten wie tod­brin­gen­de Di­a­man­ten, was, da sie teil­wei­se mit Blut und Ein­ge­wei­den ver­schmiert wa­ren oder in den Lei­chen steck­ten, of­fen­kun­dig auch zu­traf.

Der Ge­stank, der in der Luft hing, ließ sie an die Auf­nah­men von Schlacht­fel­dern aus al­ten Zei­ten den­ken, ehe die Ver­letz­ten und die To­ten der Ge­met­zel ohne ein­deu­ti­gen Sie­ger ein­ge­sam­melt wor­den wa­ren.

Lee­re Au­gen­höh­len, auf­ge­ris­se­ne Häl­se, zer­fetz­te Ge­sich­ter, Kno­chen­stück­chen und die graue Mas­se, die aus ein­ge­schla­ge­nen Schä­deln quoll, ver­stärk­ten noch den Ein­druck, dass in die­sem Etab­lis­se­ment ein Krieg vom Zaun ge­bro­chen und ver­lo­ren wor­den war. Ei­ni­ge der Op­fer wa­ren nackt oder zum Teil ent­blößt, und ihre Haut war wie die Haut von al­ten Krie­gern sorg­fäl­tig mit Blut be­malt.

Sie hät­te nicht ge­dacht, dass ir­gend­et­was sie noch scho­ckie­ren könn­te, doch der An­blick, der sich ihr hier bot, brach­te sie aus dem Gleich­ge­wicht. Dann aber straff­te sie die Schul­tern, spann­te ih­ren hoch­ge­wach­se­nen, schlan­ken Kör­per an, wand­te sich an den Kol­le­gen, der als Ers­ter vor Ort ge­we­sen war, und sah ihn reg­los aus ih­ren brau­nen Au­gen an.

»Was wis­sen Sie?«

Er hol­te zi­schend Luft, und sie ließ ihm ein we­nig Zeit, da­mit er sei­ne Stim­me wied­er­fand.

»Mein Part­ner und ich wa­ren ge­ra­de in der Pau­se in dem Di­ner ge­gen­über. Als ich wie­der raus­kam, fiel mir auf, dass eine Frau von viel­leicht Ende zwan­zig rück­wärts aus der Tür der Knei­pe kam. Sie hat ge­schrien wie am Spieß, als ich sie er­reich­te, hat sie im­mer noch ge­schrien.«

»Wann war das ge­nau?«

»Wir sind um 17.45 Uhr in die Pau­se ge­gan­gen, und ich schät­ze, dass wir höchs­tens fünf Mi­nu­ten in dem Di­ner wa­ren, Ma’am.«

»Okay. Fah­ren Sie fort.«

»Die Frau war viel zu auf­ge­regt, um ei­nen ge­ra­den Satz he­raus­zu­brin­gen, also hat sie ein­fach auf die Tür ge­zeigt. Mein Part­ner hat ver­sucht, sie zu be­ru­hi­gen, wäh­rend ich die Tür ge­öff­net habe, um zu se­hen, wes­halb die Frau so pa­nisch war.« Er räus­per­te sich kurz und fuhr mit rau­er Stim­me fort: »Ich bin seit zwei­und­zwan­zig Jah­ren bei der Trup­pe, Lieute­nant, aber so was habe ich noch nie ge­se­hen. Über­all wa­ren Lei­chen, ei­ni­ge der Men­schen ha­ben noch ge­lebt. Sie sind auf al­len vie­ren durch den Raum ge­kro­chen, ha­ben ge­weint, ge­schluchzt, ge­stöhnt. Ich habe die Sa­che um­ge­hend ge­mel­det und ge­sagt, dass man uns eine Rei­he Kran­ken­wa­gen schi­cken soll. Es war un­mög­lich, nichts am Tat­ort zu ver­än­dern, Ma’am. Die Leu­te wa­ren da­bei zu ster­ben, wir muss­ten et­was für sie tun.«

»Ver­ste­he.«

»Acht bis zehn der Leu­te ha­ben wir, das heißt die Sa­ni­tä­ter, raus­ge­holt. Tut mir leid, dass ich es nicht ge­nau­er sa­gen kann. Die Leu­te wa­ren in ei­nem ziem­lich schlim­men Zu­stand, also ha­ben die Sanis sie erst mal hier ver­sorgt und da­nach ins Ge­sund­heits­zent­rum Tri­beca ge­schafft. Wir ha­ben den Ort so gut ge­si­chert, wie es ging, aber die Sa­ni­tä­ter wa­ren über­all, Lieute­nant, weil es selbst in der Kü­che und auf den Toi­let­ten noch Ver­letz­te gab.«

»Hat­ten Sie Ge­le­gen­heit, die Über­le­ben­den zu fra­gen, was hier vor­ge­fal­len ist?«

»Wir ha­ben ein paar Na­men. Die Aus­sa­gen der Op­fer, die noch spre­chen konn­ten, ha­ben über­ein­ge­stimmt. Sie alle ha­ben aus­ge­sagt, die an­de­ren hät­ten sie er­mor­den wol­len.«

»Wel­che an­de­ren?«

»Alle an­de­ren, die hier wa­ren, Ma’am.«

»Okay. Jetzt müs­sen wir erst ein­mal ver­hin­dern, dass je­mand den Raum be­tritt.«

Auf dem Weg zur Tür ent­deck­te Dal­las ihre Part­ne­rin. Sie hat­te noch Pa­pier­kram durch­ge­hen wol­len, als Pea­body vor we­ni­ger als ei­ner Stun­de auf­ge­bro­chen war, und war selbst auf dem Weg in die Ga­ra­ge des Re­viers ge­we­sen, um heim­zu­fah­ren, als die Mel­dung von dem Vor­fall in der Knei­pe bei ihr ein­ge­gan­gen war.

Zu­min­dest hat­te sie zur Ab­wechs­lung ein­mal da­ran ge­dacht, Roarke eine kur­ze Text­nach­richt zu schi­cken, um zu sa­gen, dass es bei ihr – wie­der ein­mal – spä­ter wür­de als ge­dacht.

Ei­lig trat sie in die Tür und fing Pea­body dort ab.

Na­tür­lich war ihr klar, dass Pea­body trotz ih­rer pin­ken Cow­girlstie­fel, ih­rer re­gen­bo­gen­far­be­nen Son­nen­bril­le und des kur­zen, sanft wip­pen­den Pfer­de­schwan­zes al­les an­de­re als zart­be­sai­tet war. Doch die Din­ge, die in die­sem Raum ge­sche­hen wa­ren, hat­ten auch sie selbst und ei­nen Strei­fen­po­li­zis­ten, der seit über zwan­zig Jah­ren Dienst in sei­nen har­ten, schwar­zen Schu­hen tat, vo­rü­ber­ge­hend aus dem Gleich­ge­wicht ge­bracht.

»Fast hät­te ich’s ge­schafft«, er­klär­te Pea­body. »Ich war auf dem Weg nach Hau­se noch im Su­per­markt, denn ich woll­te McNab mit ei­nem selbst­ ge­koch­ten Abend­es­sen über­ra­schen.« Sie hielt eine klei­ne Ein­kaufs­tü­te hoch. »Nur gut, dass ich nicht schon mit Ko­chen an­ge­fan­gen habe. Also, wo­rum geht’s?«

»Es ist echt schlimm.«

Peab­odys Lä­cheln schwand. »Wie schlimm ge­nau?«

»Be­ten Sie zu Gott, dass Sie nie­mals was Schlim­me­res zu se­hen be­kom­men wer­den, und sprü­hen Sie erst mal Ihre Hän­de und die Stie­fel ein.« Eve warf ihr eine Dose mit Ver­sie­ge­lungs­spray zu. »Wir ha­ben meh­re­re Lei­chen, die zer­stü­ckelt und zer­hackt, de­nen die Schä­del ein­ge­schla­gen und die Häl­se durch­ge­schnit­ten wor­den sind. Am bes­ten stel­len Sie erst ein­mal Ihre Tüte weg, und falls Sie kot­zen müs­sen, ge­hen Sie raus. Hier drin­nen ist schon jede Men­ge Kotze, und ich will nicht, dass sich Ihr Er­bro­che­nes da­mit ver­mischt. Der Tat­ort weist be­reits ge­nü­gend frem­de Spu­ren auf. Das ließ sich nicht ver­mei­den, denn die Po­li­zis­ten, die als Ers­te hier wa­ren, und die Sa­ni­tä­ter muss­ten sich um die Ver­letz­ten küm­mern und ha­ben sie zum Teil noch hier vor Ort ver­sorgt.«

»Es wird schon ge­hen.«

»Rek­or­der an.« Mit die­sen Wor­ten ging Eve wie­der in die Bar und hör­te das er­stick­te Keu­chen ih­rer Part­ne­rin di­rekt hin­ter sich.

»Hei­li­ge Mut­ter Got­tes. Him­mel. Oh mein Gott.«

»Rei­ßen Sie sich zu­sam­men, Pea­body.«

»Was in al­ler Welt ist hier pas­siert? Wes­halb sind alle die­se Leu­te tot?«

»Um das he­raus­zu­fin­den, sind wir da. Wir ha­ben eine Zeu­gin, die drau­ßen im Strei­fen­wa­gen sitzt. Neh­men Sie ihre Aus­sa­ge ent­ge­gen.«

»Kei­ne Angst, ich kom­me hier schon klar, Dal­las.«

»Auf je­den Fall«, stimm­te sie ton­los zu. »Aber trotz­dem neh­men Sie jetzt die Aus­sa­ge der Frau ent­ge­gen und in­for­mie­ren Ba­xter, True­heart, Jen­kin­son und Rei­ne­ke. Wir brau­chen hier mehr Hän­de und mehr Au­gen, denn wir ha­ben es mit über acht­zig To­ten und zwei Handvoll Über­le­ben­der im Kran­ken­haus zu tun. Au­ßer­dem möch­te ich Mor­ris am Tat­ort ha­ben«, füg­te sie hin­zu und fuhr ent­schlos­sen fort: »Hal­ten Sie die Spu­ren­si­che­rung zu­rück, bis wir mit den Lei­chen fer­tig sind. Fin­den Sie den Ei­gen­tü­mer die­ses La­dens so­wie alle An­ge­stell­ten, die heu­te nicht hier wa­ren, las­sen Sie die An­woh­ner be­fra­gen, und dann kom­men Sie wie­der rein und ge­hen mir hier zur Hand.«

»Wenn Sie mit der Zeu­gin spre­chen wür­den, könn­te ich die an­de­ren Din­ge über­neh­men, und dann fan­gen wir zu­sam­men hier drin­nen an.« Un­si­cher, ob sie sich nicht wo­mög­lich doch noch über­ge­ben müss­te, sah sich Pea­body vor­sich­tig in der Knei­pe um. »Für Sie al­lein ist das zu viel.«

»Ich sehe mir die Lei­chen ein­fach nach­ei­nan­der an. Also zie­hen Sie los und fan­gen Sie mit der Ar­beit an.«

Dann stand Eve wie­der al­lei­n in dem schreck­lich stil­len Raum und ver­schloss ihre Nase vor dem ek­lig süß­li­chen Ge­ruch der Ein­ge­wei­de und des Bluts, der ihr ent­ge­gen­schlug.

Sie war eine gro­ße Frau in aus­ge­latsch­ten Boots und ei­ner teu­ren Le­der­ja­cke, kurz ge­schnit­te­nem Haar im sel­ben Bern­stein­ton wie ihre Au­gen so­wie vol­len Lip­pen, die sie fest zu­sam­men­press­te, wäh­rend sie das Mit­leid und das Grau­en un­ter­drück­te, das in ih­rem In­nern auf­ge­stie­gen war.

Mit Mit­leid und Ent­set­zen wäre all den To­ten, über de­nen sie hier stand, ganz si­cher nicht ge­dient.

»Lieute­nant Eve Dal­las«, sprach sie in das Auf­nah­me­ge­rät. »Wir ha­ben es mit ge­schätz­ten acht­zig Op­fern mit ver­schie­de­nen Ver­let­zun­gen zu tun. Ver­schie­de­ne Ras­sen und ver­schie­de­ne Al­ters­stu­fen, so­wohl Män­ner als auch Frau­en. Die Sa­ni­tä­ter, die die Über­le­ben­den be­han­delt und ge­bor­gen ha­ben, ha­ben ge­nau­so Spu­ren am Tat­ort hin­ter­las­sen wie die Po­li­zis­ten, die zu­erst vor Ort ge­we­sen sind. Sie ha­ben die To­ten und die Über­le­ben­den cir­ca 17.50 Uhr ent­deckt. Op­fer Num­mer eins …« Sie hock­te sich ne­ben den ers­ten To­ten und zog ih­ren Un­ter­su­chungs­beu­tel auf.

»Männ­lich, meh­re­re Ge­sichts- und Kopf­ver­let­zun­gen, Stich­wun­den in Hals, Hän­den, Ar­men, Bauch.« Sie press­te sei­ne Fin­ger auf den Fin­ger­ab­druck­le­ser und fuhr fort: »Es han­delt sich um Jo­seph Catt­ery, ei­nen ge­mischt­ras­si­gen Mann von ach­tund­drei­ßig Jah­ren, ver­hei­ra­tet, ein Sohn und eine Toch­ter, ge­mel­det in Brook­lyn, Vize­lei­ter Mar­ke­ting bei Steven­son und Ree­de. Das Un­ter­neh­men ist zwei Blocks von hier ent­fernt. Dann hast du also noch auf ei­nen Drink hier rein­ge­schaut.« Der Lieute­nant seufz­te.

»Haut­res­te un­ter den Fin­ger­nä­geln.« Sie nahm eine klei­ne Pro­be, tüt­ete sie ein und fuhr mit kal­ter Stim­me fort: »Er trägt ei­nen gol­de­nen Ehe­ring und eine gol­de­ne Arm­band­uhr. Au­ßer ei­ner Brief­ta­sche mit sei­nen Ini­ti­a­len, in der ein paar Kre­dit­kar­ten, ein biss­chen Bar­geld und sein Aus­weis ste­cken, Schlüs­sel­kar­ten so­wie ei­nem Handy hat er nichts wei­ter da­bei.«

Auch die­se Ge­gen­stän­de tüt­ete sie ein, be­schrif­te­te die Beu­tel und sah sich den To­ten noch ein­mal ge­nau­er an.

Sie klapp­te sei­ne auf­ge­schnit­te­ne Ober­lip­pe hoch. »Sei­ne ab­ge­bro­che­nen Zäh­ne deu­ten da­rauf hin, dass je­mand ihm mit al­ler Kraft in das Ge­sicht ge­schla­gen hat. Wahr­schein­lich hat ihn die Ver­let­zung sei­nes Schä­dels um­ge­bracht, wo­bei der Pa­tho­lo­ge das bis­her noch nicht be­stä­tigt hat.« Sie zog ein an­de­res Mess­ge­rät her­vor. »Der To­des­zeit­punkt ist 17.45 Uhr, das heißt, dass er nur fünf Mi­nu­ten vor dem Ein­tref­fen der Po­li­zei ge­stor­ben ist.«

Fünf Mi­nu­ten? Fünf Mi­nu­ten be­vor der Kol­le­ge von der Strei­fe in der Tür er­schie­nen war. Das konn­te doch kaum sein.

Sie brauch­te nur den Kopf zu dre­hen, um sich die zwei­te Lei­che an­zu­se­hen. »Op­fer Num­mer zwei«, setz­te sie an und war beim fünf­ten To­ten an­ge­langt, als Pea­body er­neut den Raum be­trat.

»Die an­de­ren sind un­ter­wegs«, er­klär­te ihre Part­ne­rin in ru­hi­gem Ton. »Mit der Zeu­gin habe ich ge­spro­chen. Sie hat aus­ge­sagt, sie wäre mit zwei Freun­din­nen ver­ab­re­det ge­we­sen, wäre aber bei der Ar­beit auf­ge­hal­ten wor­den und des­we­gen spä­ter als die bei­den an­de­ren hier auf­ge­taucht. Sie sagt, dass sie mit ei­ner die­ser Freun­din­nen, ei­ner Gwen Tal­bert, auf dem Weg hier­her ge­spro­chen hat. Ge­gen halb sechs, was mir die Über­prü­fung ih­res Links be­stä­tigt hat. Da war al­les noch gut. Als sie dann ge­gen zehn vor sechs hier an­kam, sah es schon so aus wie jetzt. Es pas­sier­te, wäh­rend sie die Tür ge­öff­net hat. Sie ist pa­ni­sch rück­wärts auf den Bür­ger­steig ge­tau­melt und hat so lan­ge ge­schrien, bis die Of­fic­ers Franks und Ri­ley bei ihr wa­ren.«

»Gwenn­eth Tal­bert, Op­fer Num­mer drei. Ge­bro­che­ner Arm – auf dem an­schei­nend ir­gend­wer he­rum­ge­tram­pelt ist – und durch­ge­schnit­te­ner Hals.«

»Wie konn­te das al­les in der­art kur­zer Zeit pas­sie­ren? Wie kann es sein, dass in­ner­halb von nicht ein­mal zwan­zig Mi­nu­ten je­mand alle die­se Leu­te at­ta­ckiert und ab­ge­schlach­tet hat?«

Eve stand wie­der auf. »Se­hen Sie sich den Tat­ort an. Ich habe bis­her fünf Lei­chen un­ter­sucht und gehe da­von aus, dass je­der die­ser Men­schen ganz spon­tan mit ei­ner Waf­fe, die sich ge­ra­de an­bot – ei­ner Fla­sche, ei­nem Kü­chen­mes­ser oder auch mit blo­ßen Hän­den – an­ge­grif­fen wor­den ist. Da drü­ben liegt ein Typ, in des­sen Auge eine Ga­bel steckt, und eine tote Frau um­klam­mert im­mer noch das Tisch­bein, mit dem sie an­schei­nend auf den Mann an ih­rer Sei­te los­ge­gan­gen ist.«

»Aber …«

Manch­mal war die ein­fachs­te Er­klä­rung viel­leicht furcht­bar, aber trotz­dem wahr.

»Über­all hier lie­gen Brief- und Ak­ten­ta­schen, Schmuck und Geld he­rum, und im Re­gal hin­ter dem Tre­sen ste­hen noch ein paar Fla­schen durch­aus teu­ren Al­ko­hols. Wenn hier eine Hor­de Jun­kies aus­ge­ras­tet wäre, wä­ren sie zum ei­nen nicht be­reits nach ei­ner Vier­tel­stun­de wi­eder ab­ge­hau­en und zum an­de­ren hät­ten sie die Wert­sa­chen nicht ein­fach lie­gen las­sen, son­dern mit­ge­nom­men, um da­mit die nächs­ten Pil­len zu be­zah­len. Und eine Grup­pe Amok­läu­fer auf der Su­che nach dem gro­ßen Kick? Sie hät­ten die Tür ver­rie­gelt und wahr­schein­lich eine Rie­sen­par­ty stei­gen las­sen, wenn sie mit den Leu­ten durch ge­we­sen wä­ren. Vor al­lem hät­te man, um acht­zig Leu­te ab­zu­schlach­ten und zehn wei­te­re schwer zu ver­let­zen, eine Rie­sen­gang ge­braucht. Au­ßer­dem ist nie­mand raus­ge­kom­men, nie­mand hat sich ir­gend­wo ver­steckt, und nie­mand hat über sein Handy ei­nen Not­ruf ab­ge­setzt.«

Eve schüt­tel­te den Kopf. »Vor al­lem bist du selbst, wenn du so vie­le Leu­te mas­sak­rierst, über und über mit Blut be­deckt. Franks hat­te Blut an sei­ner Uni­form, an sei­nen Schu­hen und an sei­nen Hän­den, ob­wohl er le­dig­lich den Sa­ni­tä­tern bei den Über­le­ben­den zur Hand ge­gan­gen ist.«

Sie starr­te in die trü­ben Au­gen ih­rer Part­ne­rin. »Die­se Men­schen ha­ben sich ge­gen­sei­tig um­ge­bracht. Sie ha­ben ei­nen Krieg ge­führt, bei dem es nur Ver­lie­rer gab.«

»Aber … wie? Wa­rum?«

»Kei­ne Ah­nung.« Doch sie fän­de es, ver­dammt noch mal, he­raus. »Wir müs­sen alle Op­fer auf Spu­ren von Dro­gen un­ter­su­chen. Müs­sen er­fah­ren, ob sie et­was ein­ge­wor­fen ha­ben, das sie alle Hem­mun­gen hat ver­lie­ren las­sen. Die Spu­ren­si­che­rung soll das Lo­kal ge­nau un­ter die Lupe neh­men, weil viel­leicht et­was im Es­sen oder in den Ge­trän­ken war. Viel­leicht hat je­mand ab­sicht­lich et­was hi­nein­ge­tan.«

»Ich kann mir nicht vor­stel­len, dass je­der hier die­sel­ben Spei­sen oder Drinks zu sich ge­nom­men hat.«

»Viel­leicht ha­ben ja ge­nü­gend Gäs­te von dem­sel­ben Zeug ge­trun­ken, oder viel­leicht wur­de auch mehr als ein Ge­tränk mit ir­gend­was ver­setzt. Wir fan­gen erst mal mit den Op­fern an – Na­men, To­des­ur­sa­che und To­des­zeit­punkt, die Be­zie­hun­gen, die sie un­ter­ei­nan­der hat­ten, wo sie ge­wohnt ha­ben und auch, wo sie ge­ar­bei­tet ha­ben. Dazu ge­hen wir alle Spu­ren hier am Tat­ort durch. Wir brin­gen alle Glä­ser, Fla­schen, Tel­ler, Kühl­schrän­ke, den Grill, die Au­to­Chefs und was auch im­mer ins La­bor, oder wir ho­len die La­bo­ran­ten hier­her. Au­ßer­dem müs­sen wir gu­cken, ob et­was im Was­ser, in der Lüf­tung, in den Spül­mit­teln oder im Putz­zeug war.«

»Dann ist die­ses Zeug viel­leicht noch hier ge­we­sen, und Sie sel­ber wa­ren kurz nach Ende des Ge­met­zels hier.«

»Ja, auf den Ge­dan­ken bin ich auch schon ge­kom­men, als ich mit den ers­ten bei­den Lei­chen fer­tig war. Also habe ich die Kli­nik an­ge­ru­fen, doch die Sa­ni­tä­ter, die die Über­le­ben­den be­han­delt ha­ben, ha­ben mir er­klärt, es gin­ge ih­nen gut. Was auch im­mer hier pas­siert ist, ist sehr schnell ge­gan­gen. Alle die­se Leu­te sind in ei­nem Zeit­raum von knapp über ei­ner Vier­tel­stun­de der­art aus­ge­ras­tet, aber ich bin jetzt be­reits viel län­ger hier.«

»Am wahr­schein­lichs­ten ist mei­ner Mei­nung nach, dass ir­gend­was in den Ge­trän­ken war. Selbst wenn nur die Hälf­te die­ser Leu­te et­was da­von ab­be­kom­men hät­te, ha­ben sie die an­de­ren viel­leicht ein­fach über­rascht.« Eve schüt­tel­te den Kopf, als sie das ge­ron­ne­ne, in­zwi­schen kal­te Blut an ih­ren Hän­den sah. »Die Vor­stel­lung ge­fällt mir ganz und gar nicht, aber mög­lich wäre es. Und jetzt se­hen wir uns die nächs­ten Lei­chen an.«

Noch wäh­rend sie dies sag­te, trat Chef­pa­tho­lo­ge ­Mor­ris durch die Tür.

Er war an­schei­nend nicht im Dienst, denn er trug Jeans zu ei­nem kra­gen­lo­sen, pflau­men­blau­en Sei­den­hemd und hat­te sich das schwar­ze Haar zu ei­nem schlich­ten Pfer­de­schwanz ge­bun­den, der die in­te­res­san­ten Züge sei­nes kan­ti­gen Ge­sichts be­son­ders gut zur Gel­tung kom­men ließ. Er sah sich um. Eve nahm erst den Schock und dann das Mit­leid in den dunk­len Au­gen wahr.

»Ei­nen sol­chen Hau­fen Op­fer ha­ben Sie mir bis­her noch nie be­schert.«

»Das war je­mand an­de­res. Ich …«, setz­te sie an, brach aber wie­der ab, als hin­ter Mor­ris Roarke den Raum be­trat.

Er trug im­mer noch den schwar­zen Maß­an­zug­, den er am Mor­gen an­ge­zo­gen hat­te und der sei­nen lan­gen, durch­trai­nier­ten Kör­per vor­teil­haft be­ton­te, wäh­rend sei­ne dich­te schwar­ze Mäh­ne leicht zer­zaust, als hät­te eine Wind­böe da­rin ge­tanzt, auf sei­ne Schul­tern fiel.

Wäh­rend Mor­ris’ Züge in­te­res­sant und selt­sam sexy wa­ren, wirk­ten Roar­kes Ge­sicht und sei­ne leuch­tend blau­en Au­gen wie von Got­tes­hand ge­mei­ßelt.

Die bei­den Män­ner stan­den ne­ben­ei­nan­der, doch ne­ben Schock und Mit­ge­fühl ver­riet die Mie­ne ih­res Gat­ten tod­brin­gen­den Zorn.

Dann blick­te er sie an, und als er »Hal­lo, Lieute­nant« sag­te, hör­te sie den me­lo­di­ö­sen Klang von Ir­land, der in sei­ner Stim­me lag.

Ent­schlos­sen trat sie auf ihn zu. Nicht, um ihn zu grü­ßen, und auch nicht, um ihm den Blick auf das Ge­sche­he­ne zu ver­sper­ren, weil er schließ­lich be­reits un­zäh­li­ge an­de­re grau­en­haf­te Din­ge hat­te se­hen müs­sen, son­dern weil sie hier das Sa­gen hat­te und dies nicht der rech­te Ort für Zi­vi­lis­ten oder Ehe­män­ner war.

»Du hast hier nichts ver­lo­ren.«

»Doch«, ver­bes­ser­te er sie, »denn mir ge­hört die­ses Lo­kal.«

Das hät­te sie sich den­ken kön­nen, denn schließ­lich gab es auf der Welt und selbst im Uni­ver­sum kaum et­was, was er nicht be­saß. Wort­los wand­te sie sich ab und be­dach­te Pea­body mit ei­nem durch­drin­gen­den Blick.

»Tut mir leid. Ich habe ganz ver­ges­sen, Ih­nen zu er­zäh­len, dass ich bei der Su­che nach dem Ei­gen­tü­mer die­ser Bar auf Roarke ge­sto­ßen bin.«

»Ich wer­de mit dir re­den müs­sen, aber erst ein­mal muss ich mit Mor­ris spre­chen. War­te also bit­te drau­ßen, ja?«

»Ich wer­de ganz be­stimmt nicht drau­ßen war­ten«, gab er kalt zu­rück.

Sie wünsch­te sich, sie könnte ihn nicht der­art gut ver­ste­hen. In den zwei­ein­halb Jah­ren, seit sie sich kann­ten, hat­te sie ge­lernt, ihn bes­ser zu ver­ste­hen, als für sie als Po­li­zis­tin gut und rich­tig war. Sie un­ter­drück­te das Ver­lan­gen, ihn, ob­wohl sie mo­men­tan im Dienst war, zu be­rüh­ren, und mur­mel­te: »Hör zu, hier herrscht im Au­gen­blick to­ta­les Cha­os.«

»Ach.«

»Halt dich also bit­te erst mal et­was ab­seits.«

»Wenn es das ist, was du willst.« An­schei­nend war er nicht der An­sicht, dass eine Be­rüh­rung sich nur au­ßer­halb des Diensts ge­hör­te, denn ob­wohl sie sich da­ge­gen sträub­te, drück­te er ihr kurz die blut­ver­schmier­te Hand. »Trotz­dem wer­de ich be­stimmt nicht drau­ßen war­ten, wäh­rend du durch ei­nen Alb­traum wa­test, der sich in ei­nem Lo­kal, das mir ge­hört, er­eig­net hat.«

»War­te«, bat sie ihn und wand­te sich dem Pa­tho­lo­gen zu. »Ich … habe die To­ten, die wir iden­ti­fi­ziert und un­ter­sucht ha­ben, num­me­riert. Wenn Sie schon mal mit dem Ers­ten an­fan­gen, kom­me ich so­fort dazu.«

»Okay.«

»Es müss­ten je­den Au­gen­blick noch zu­sätz­li­che Leu­te kom­men, um sich ei­ner­seits den Tat­ort und zum an­de­ren die Op­fer an­zu­se­hen.«

»Dann fan­ge ich am bes­ten schon mal an.«

»Geh du bit­te zu Pea­body«, wand­te sich Eve er­neut an Roarke. »Die elekt­ro­ni­schen Er­mitt­ler sind zwar noch nicht da, aber viel­leicht kannst du ihr schon mal zei­gen, wie die Bar ge­si­chert war.«

»Es gibt hier drin­nen kei­ne Ka­me­ras. Wenn die Leu­te her­kom­men, um was zu trin­ken, ha­ben sie kei­ne Lust, dass man sie da­bei filmt.«

Sie woll­ten sich ent­span­nen und viel­leicht ei­nen pri­va­ten Au­gen­blick mit ei­nem an­de­ren Men­schen tei­len, ohne dass sie da­bei auf­ge­nom­men wur­den. Da­mit, dass sie je­mand über ih­rem Fei­er­abend­bier er­mor­den wür­de, rech­ne­ten sie nicht.

»Na­tür­lich haben wir eine Ka­me­ra am Ein­gang«, fuhr er fort. »Und dann noch ein paar an­de­re Ka­me­ras für drau­ßen, wenn die Bar ge­schlos­sen ist. Aber Auf­nah­men aus dem Lo­kal, die dir zei­gen könn­ten, was ge­nau pas­siert ist, gibt es lei­der nicht.«

Da sie kei­ne Ka­me­ras im In­ne­ren der Bar ent­deckt hat­te, war sie be­reits da­von aus­ge­gan­gen, dass es kei­ne Bil­der gäbe, jetzt rieb sie sich die Au­gen, um zu­min­dest sel­ber wie­der klar­ zu ­se­hen. »Wir brau­chen eine Lis­te al­ler An­ge­stell­ten und den Schicht­plan.«

»Bei­des habe ich da­bei. Nach Peab­odys An­ruf habe ich die Un­ter­la­gen raus­ge­sucht.« In dem Be­mü­hen zu ver­ste­hen, was un­vor­stell­bar war, und zu ak­zep­tie­ren, was nie hät­te pas­sie­ren sol­len, sah er sich noch ein­mal um.

»Ich habe das Lo­kal vor ein paar Mo­na­ten ge­kauft und al­les so ge­las­sen, wie es war. So­weit ich weiß, lief er bis­her sehr gut. Aber na­tür­lich wer­de ich er­grün­den, ob es viel­leicht doch Prob­le­me gab.«

»In Ord­nung. Gib die Un­ter­la­gen Pea­body, okay? Ich muss zu Mor­ris.«