Epilog
Es war Zeit zu gehen. Es war schade. Er hatte in Berlin einige gute Jahre verbracht, produktive Jahre und er würde die Stadt vermissen. Aber die Ereignisse der letzten Tage, seine Verstrickung in die Morde an den jungen Frauen und Jochen Schleifers tragischer Tod (denn was war er, wenn nicht tragisch?), machten seinen Aufbruch unumgänglich. Natürlich war ihm nichts nachzuweisen. Er hatte immer den nötigen Abstand gewahrt, sodass sich keinerlei verfängliche Verbindung zwischen ihm und dem glücklosen Serienmörder herstellen ließ. Niemand würde es wagen, ihm, dem renommierten Psychologen, kriminelle Umtriebe zu unterstellen und der Fingerzeig, den er Harder auf seiner Visitenkarte gegeben hatte, reichte nicht aus als haltbares Verdachtsmoment, auf das man eine Anklage gegen ihn aufbauen könnte. Er war sicher, dass auch Harder das wusste, seine Erkenntnis über ihn vielleicht sogar für sich behalten würde, ein kleines Geheimnis, das sie miteinander verband. Aber seine Bekanntschaft mit Naujoks – wer wusste, was der arme Junge in seiner Zelle vor sich hinplapperte? – konnte für Unannehmlichkeiten sorgen, Vermutungen über seine Mitwisserschaft wecken und auch darauf, dass der Professor über Schleifers „Therapie“ Stillschweigen bewahrte, durfte er sich nicht verlassen (obwohl Stechert wusste, dass ein Verrat ihn teuer zu stehen käme). Höchstwahrscheinlich würde die Polizei keine Ermittlungen gegen ihn aufnehmen – schließlich war der Fall gelöst, der Täter tot – und garantiert keine folgenreichen. Aber das hieß nicht, dass er Lust hatte, das Risiko einzugehen, sich unbequemen Fragen auszusetzen oder ins Zentrum der behördlichen Aufmerksamkeit zu rücken. Es hätte ihn daran gehindert oder zumindest dabei eingeschränkt, seiner Arbeit, seiner wahren Arbeit, nachzugehen und er hatte noch so viel Wichtiges vor. Abgesehen davon, dass Harder vielleicht versuchen würde, ihn zu beschatten, so wie er sich nun, nach seiner Abreise, zweifelsfrei Zugang zu seinen Wohnund Praxisräumen verschaffen würde. Es war ihm zuzutrauen, dass er auf den Gedanken kam, ihn zur Rede zu stellen, vielleicht würde er ihm gar drohen, wenn er seiner habhaft würde. Ihm stand nicht der Sinn danach, mit ihm in eine kindische Fehde zu treten. Er sah dem Zeitpunkt, an dem sie erneut aufeinandertrafen, mit Freude und großer Erwartung entgegen. Aber er war noch nicht gekommen.
Er blickte aus dem Fenster. Der Zug hatte die letzten Vororte hinter sich gelassen. Die Bahnstrecke schnitt durch Felder, zwischen denen sich kleine Waldstücke erhoben. Hier und da unterbrach ein einzelnes Haus oder niedriges Gehöft die braungrüne Eintönigkeit der Landschaft, Kühe standen oder lagen träge auf Koppeln herum und auf kaum benutzten Wegen, die vom Nichts ins Nirgendwo führten, konnte man vielleicht mal einen Radfahrer oder einen einsamen Spaziergänger entdecken. Meist aber lagen sie verlassen. Es gefiel ihm, zuzusehen, wie all dies an ihm vorüberzog, hinter ihm zurückfiel, während der ICE ihn mit Höchstgeschwindigkeit seinem Ziel entgegentrug. Außer ihm war niemand in dem Abteil, und er war froh, allein zu sein. Es gab so viel, das ihn beschäftigte. Er legte die Zeitung (Schleifers Foto auf der Titelseite), die er auf dem Schoß gehalten hatte, auf den Sitz neben sich, trank einen Schluck von dem Tee, den er am Hauptbahnhof gekauft hatte, und lehnte den Kopf zurück.
Was seinem Schützling widerfahren war, war ein entsetzlicher Schicksalsschlag und es tat ihm leid, dass es mit dem talentierten jungen Mann, dem eine glorreiche Zukunft bevorgestanden hatte, auf so hässliche Weise zu Ende gegangen war. Aber es war absehbar gewesen. Schleifer hatte sich übernommen, zu viele Opfer in zu kurzer Zeit, eine zu öffentliche Präsentation der Toten, dazu eine Kompromisslosigkeit, die zwar im Allgemeinen begrüßenswert war, aber eben auch fatal enden konnte. Es war nicht zum ersten Mal vorgekommen, dass ein junger Mensch, dem er seine Bestimmung aufgezeigt hatte, in seinem Überschwang alle Vorsicht außer Acht ließ. Für gewöhnlich endete es in einer Katastrophe. Natürlich hatte Schleifer auch Pech gehabt, dass ihn seine früheren Verfehlungen eingeholt hatten, der Blödsinn damals im Tierpark und dem Museum. Aber im Grunde hatte er sein Scheitern selbst zu verantworten. Er hatte sich hinreißen lassen. Wenn er nach dem Debakel auf dem Mittelaltermarkt Ruhe bewahrt hätte, anstatt sich an Harders Nutte zu vergreifen, ihm seinen Aufenthaltsort preiszugeben und sich ihm – was für eine idiotische Idee! – in einem Zweikampf auf Leben und Tod zu stellen, wäre es ihm vielleicht gelungen, sein Werk zu vollenden oder es einem Abschluss zumindest näher zu bringen.
Aber er hatte es ja darauf anlegen müssen, er hatte seine Wut und seinen kleingeistigen Rachedurst überhandnehmen lassen und Hagedorn musste sich eingestehen, dass er mit seiner Einschätzung vielleicht falsch gelegen und Schleifer zu viel Potenzial zugeschrieben hatte. Es war bedauerlich, bedauerlich für Schleifer und bedauerlich für ihn, seinen Förderer. Er hatte so viel Zeit und Mühe in ihn investiert, in seine Formung, seine Ausbildung. Als Schleifers Ziehvater ihn, ein paar Jahre zuvor, in seine Praxis gebracht hatte, damit er ihn von seinen krankhaften Begierden „heilte“, war er nichts als ein verwirrter Junge gewesen, gequält, orientierungslos, verloren. Er, Hagedorn, hatte ihm den Weg gewiesen, hatte ihm beigebracht, dass seine außergewöhnlichen Bedürfnisse nichts waren, wofür er sich schämen musste und ihm gezeigt, wie er seine Fähigkeiten nutzen konnte, um Glück und Erfüllung zu finden. Und dann, als er soweit war, hatte er ihn mit Naujoks zusammengebracht, ihm einen verlässlichen Helfer zur Seite gestellt. Er hatte alles für ihn getan, was ihm möglich gewesen war, ihm die besten Voraussetzungen geschaffen. Gemeinsam, unter seiner Führung, hätten sie so viel erreichen können! Schleifers unseliger Alleingang, seine Missachtung all dessen, was er ihn gelehrt hatte, war ein schmerzlicher Rückschlag. Er erwartete mehr von seinen Schülern. Aber schließlich hatte Schleifer schwer für seinen Fehler gebüßt und bei aller Enttäuschung musste Hagedorn ihm zugutehalten, dass er ihm eine Begegnung mit Harder beschert hatte, und das wog vieles auf. Es lag eine große Verheißung in dieser Bekanntschaft.
Der Schaffner, der ihn mit seinem langen Hals und den grauen Haaren an einen Reiher erinnerte, stakste über den Gang, warf einen Blick in sein Abteil und nickte ihm zu (seine Fahrkarte hatte er bereits überprüft). Er war ein harmloser Mensch, dachte Hagedorn, und somit langweilig. Es lag keine Dunkelheit in ihm, nur die üblichen blassen Schatten, die jeder in sich trug und die sich höchstens, wenn man ihn entsprechend reizte, in Gewaltfantasien äußerten, denen er niemals nachging, weil Moral und Erziehung ihm darin Einhalt geboten oder er schlichtweg nicht das Zeug dazu hatte. Natürlich konnte Hagedorn sich irren. Aber für gewöhnlich durfte er seinem Instinkt in dieser Hinsicht trauen und nach ihrem kurzen Gespräch und der genauen Beobachtung seines Gesichts (vor allem der Augen), glaubte er nicht, dass dieser Mann, während er Tickets stanzte und Auskünfte über den weiteren Reiseverlauf gab, in genüsslichen Vorstellungen schwelgte, in denen er seinen Fahrgästen die Kehle zudrückte, bis sie in seinem Griff erschlafften, ihnen die Gliedmaßen abtrennte, um sie ausbluten zu lassen oder sie bei lebendigem Leib ausweidete. Der bloße Gedanke an eine solche Tat hätte ihn erschreckt. Von der hohen Kunst eines sorgfältig geplanten und mit Hingabe ausgeführten Ritualmords, von der Heiligkeit, die diesem Akt innewohnte, verstand er nichts und konnte er nichts verstehen. In Hagedorns Welt gab es somit nur eine Funktion, die er erfüllen könnte, die des Opfers, eine wichtige Funktion, zweifelsohne, aber keine, die ihn in diesem Moment für ihn interessant machte. Hagedorn erwiderte seinen Gruß mit einem Lächeln und widmete sich wieder seinen Gedanken.
Harder. Er konnte nicht von ihm lassen. Er hatte schon viele getroffen wie ihn, angeschlagene Seelen, die mit sich selbst im Widerstreit lagen. Aber in keinem von den anderen hatte er diesen Widerstreit in so starker Ausprägung vorgefunden. Harder trug die gleiche dunkle Neigung in sich wie Schleifer, eine innige, unauflösbare Bruderschaft mit dem Tod, und er wusste es. Er wehrte sich gegen sie, versuchte, sie zurückzudrängen (sie auszulöschen war unmöglich), damit sie sich nicht in ihm ausbreitete, ihn vollständig einnahm, sodass er ganz ihr gehörte. Er war stark, es würde ihm noch eine Weile gelingen. Aber über kurz oder lang würde er ihr erliegen. Er würde seinen Kampf verlieren und Schleifers Tod hatte ihn dieser Niederlage ein Stück näher geführt. Er konnte sich einreden, dass es notwendig, vielleicht sogar, dass es richtig gewesen war, ihn zu töten. Aber er würde nicht für immer vor sich verleugnen können, dass noch etwas anderes dabei eine Rolle gespielt hatte: Es hatte ihm gefallen, er hatte es genossen, weil es ihm erlaubte, eine Seite von sich auszuleben, die er ansonsten mühevoll unterdrücken musste. Mit jedem weiteren Tod, den er erlebte und besonders mit denen, die er selbst herbeiführte, würde es schwieriger für ihn werden, vor sich und anderen den Schein zu wahren. Irgendwann würde er erkennen, dass er verloren hatte und nichts mehr übrig war von dem, was er in krampfhafter Verstellung versucht hatte, zu sein. Er würde jemanden brauchen, der ihm durch die Verzweiflung half, die dieser Erkenntnis unvermeidlich folgte, jemanden, der verstand, was in ihm vorging und es ihm erklärte. Wenn es soweit war, würde er, Hagedorn, für ihn da sein, ihn aufnehmen, ihn trösten und ihm den Weg weisen. Einen neuen Weg, fort von allem, das er früher gekannt hatte. Er war begierig darauf, ihn näher kennenzulernen, zu ergründen, wann und unter welchen Umständen diese Dunkelheit in ihn eingezogen war, und ihr eine Richtung zu geben. Harder war noch nicht offen dafür. Noch hielt er Hagedorn für seinen Feind und hätte alles daran gesetzt, ihn zu strafen für die Unterstützung, die er Schleifer gewährt hatte. Wenn er schließlich zu ihm kam, würde all das vergessen sein und auch Hagedorn würde ihm dieses Unrecht nicht verübeln. Er würde ihn willkommen heißen wie ein alles vergebender Vater. Harder würde sich schämen dafür, dass er ihn verkannt hatte, und sich ihm vollends übereignen. Ob es Wochen, Monate oder sogar Jahre dauerte, bis er seinen Irrtum einsah, war nicht von Bedeutung. Er würde auf ihn warten.
Und bis dahin gab es genügend andere, die seine Aufmerksamkeit verdienten.
Er blickte hinauf zur Gepäckablage, wo, neben seinem Rollkoffer und seinem weißen Panamahut mit dem schwarzen Band, seine Aktentasche aus braunem Leder lag. Er hatte sämtliche Patientenakten mitgenommen – sie würden nicht den kleinsten Hinweis finden, wenn sie seine Praxis durchsuchten – zudem die Informationen, die er über jene aussichtsreichen Kandidaten gesammelt hatte, mit denen er noch nicht unmittelbar in Kontakt gekommen war, der Junge in Hamburg etwa, ein Teenager noch, der wegen seiner gewaltverherrlichenden Malereien im Kunstunterricht der Schule verwiesen worden war. Oder das Mädchen aus der Nähe von München, das in einem psychotischen Anfall auf seine Mutter losgegangen und sie mit einer Nagelfeile verletzt hatte. Sie brauchten seine Hilfe, um zu sich zu finden, sich auszusöhnen mit ihren inneren Dämonen. Er würde sich um sie kümmern, so wie er sich um Schleifer und Naujoks gekümmert hatte. Es war immer eine spannende Aufgabe, einen neuen Schüler auszusuchen, und außerdem würde es ihm etwas Sinnvolles zu tun geben während des lang verdienten Urlaubs, den er sich nun endlich gönnte. Er war ewig nicht in Italien gewesen und freute sich darauf, Rom wiederzusehen. Tagsüber würde er sich die Sehenswürdigkeiten anschauen, mal wieder den Petersdom und die Sixtinische Kapelle besichtigen, durch den Garten der Villa Borghese spazieren oder über das Forum Romanum schlendern. Abends dann, in seinem Lieblingscafé an der Piazza Navona, würde er bei einem Glas Chianti in Ruhe seine Unterlagen durcharbeiten und abwägen, wen er für würdig hielt und wer ihn am dringendsten brauchte. In ein paar Monaten oder einem halben Jahr würde er nach Deutschland zurückkehren, mit gefälschtem Pass und äußerlich weit genug verändert, dass ihn selbst langjährige Freunde nicht auf den ersten Blick erkannten. Er würde seine Auserwählten aufsuchen – vielleicht einen, vielleicht auch gleich zwei – sich ihrer annehmen und den langen Prozess beginnen, der aus ängstlichen, vor sich selbst erschrockenen Kindern selbstbewusste, glückliche Mörder machte. Und währenddessen würde er Harder im Auge behalten, seine Entwicklung verfolgen und darauf warten, dass er bereit war.
Sie gehörten zusammen, auch wenn Harder es noch nicht ahnte.
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1. Auflage November 2017
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ISBN (ePub): 978-3-939990-45-1
1
Der Mord an Veronika Fromm war ein Unfall, daran war nicht zu rütteln, und daran änderten auch die über dreißig Stichwunden nichts, aus denen ihr plumper Körper jetzt langsam auslief und das Parkett einsaute. Jedenfalls schätzte er, dass es über dreißig waren. Er hatte sie nicht gezählt, als er sie ihr verpasst hatte. Das wäre auch zu viel verlangt gewesen. In blinder Raserei hatte er wieder und wieder auf sie eingestochen – „wie ein Irrer“, dachte er kopfschüttelnd –, bis er Atemnot bekommen hatte und ihm der Arm lahm geworden war. Noch immer atmete er schwer, obwohl er jetzt schon ein paar Minuten auf dem Hocker am Küchentresen saß. Auch sein Herz schlug noch schnell, ganz abgesehen davon, dass er vollkommen durchgeschwitzt war. Er schloss die Augen und versuchte, tief und gleichmäßig zu atmen. Langsam kam er zur Ruhe. Er fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und atmete noch einmal durch. Dann stand er auf und ging zurück in den Flur, um sich das Malheur aus der Nähe anzusehen.
Veronika – „Vero“ für ihre Freunde – lag neben der Garderobe. Sie war fast bis zur Tür gekommen. Für ein so schweres Mädchen war sie erstaunlich flink gewesen. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn sie es aus der Wohnung und bis auf die Straße geschafft hätte. Aber zum Glück war ja alles noch mal glimpflich verlaufen. Er hatte Vero gerade noch am Gürtel ihres Kleides zu fassen gekriegt und sie zurückgerissen, bevor sie die Klinke herunterdrücken konnte, und dann hatte er ihr das widerborstige Verhalten gründlich ausgetrieben und ihr gezeigt, dass man so nicht mit ihm umging.
Er blickte verächtlich auf sie hinab. Sie war auf dem Rücken zu liegen gekommen, ein weicher Fleischberg ohne Spannung. Er gab acht, nicht in das Blut zu treten, und beugte sich über sie. Ihr Gesicht, bemitleidenswert hübsch unter der Speckhülle, sah ratlos aus, als begreife sie noch immer nicht, was vor sich gegangen war. Aber wie hätte sie auch erwarten können, dass ihr charmanter Verehrer plötzlich mit einem Messer über sie herfiel? Ihre Augen waren offen und starrten ihn mit glasigem Blick an. Unter dem Blutgeruch meinte er noch eine Spur ihres Parfüms zu riechen, beißend süßer Veilchenduft, so penetrant, dass ihm übel wurde. Wie alle dicken Frauen, die sich noch nicht aufgegeben haben, hatte sie viel Zeit auf Körperpflege, ihre Haut, ihre Haare und ihr Makeup verwandt, um ihr Doppelkinn, das Hüftgold und den zu breiten Hintern wettzumachen. Heute hatte sie sich besonders angestrengt. Sie hatte gut aussehen wollen für ihn. Wahrscheinlich hatte sie im Badezimmer Stunden damit verbracht, sich mit Bürste und Lockenwicklern, Pasten und Cremes für ihn herzurichten. Viel war von ihrer Mühe nicht mehr zu erkennen. Ihre kastanienbraunen Haare waren blutverklebt, Mascara und Lippenstift verschmiert und kein Rouge kam gegen die Leichenblässe an.
Das Messer lag neben ihr auf dem Parkett. Er hatte gar nicht gemerkt, dass er es fallen gelassen hatte. Es war ein billiges Gemüsemesser mit blauem Plastikgriff und kurzer Klinge, beides vollkommen mit Blut überzogen. Auch um Vero herum war alles voller Blut. Bis unter die Garderobe war es gelaufen. Er bräuchte gar nicht erst zu versuchen, die Schweinerei aufzuwischen. Auch seine rechte Hand, stellte er fest, war ganz klebrig davon. Er blickte an sich herunter. Es wunderte ihn, dass sein Anzug einigermaßen sauber geblieben war. Außer ein paar Flecken hatte er nichts abbekommen. Die gingen sicher raus, wenn er ihn zu Hause gleich einweichte. Es war sein bester Anzug. Er hatte sich schick gemacht für diesen Anlass. Es hatte ein besonderer Abend werden sollen. Aber Vero hatte es verbockt. Sie allein war schuld daran, dass sie auf so schmerzhafte und blutige Weise gestorben war. Er hatte sie bloß bewusstlos schlagen wollen. Er hatte sich extra einen nagelneuen Totschläger besorgt und zu Hause an der Sessellehne geübt, bis er einen sauberen Schlag mit ordentlichem Schwung draufhatte, bei dem man die in Leder eingenähte Bleikugel vor dem Aufprall durch die Luft zischen hörte. Er hatte den Zeitpunkt perfekt abgepasst. Vero hatte gerade am Küchentresen gestanden und Möhren für den Salat geschnitten, den sie ihm vorsetzen wollte, als hätte sie ihm dadurch weismachen können, dass nicht Fast Food ganz oben auf ihrem Speiseplan stand. Sie hatte irgendwas von einem Familienrezept für French Dressing gequasselt. Zugehört hatte er ihr nicht. Er war damit beschäftigt gewesen, hinter ihr maßzunehmen und auszuholen. Wenn sie stillgehalten hätte, hätte der Schlag gesessen. Dann wäre alles ganz einfach gewesen. Er hätte sie über den Aufzug nach unten geschafft und in den Kofferraum verfrachtet. Kein Blut, kein Tumult, kein Stress. Eine saubere Sache. Aber die dumme Ziege hatte sich ja ausgerechnet im ungünstigsten Moment umdrehen müssen. Der Schlag hatte sie über dem linken Auge erwischt und war zur Seite abgeglitten. Vero war nicht einmal ins Taumeln geraten. Sie hatte ihm keine Zeit für einen zweiten Versuch gelassen. Sie war sofort durchgedreht, hatte ihn zur Seite gestoßen und war kreischend zur Tür gerannt. Da war er ausgetickt. Er hatte den Totschläger auf den Tresen geworfen, sich das Messer geschnappt und war auf sie losgestürzt. Ihm war klar gewesen, dass er sie unter keinen Umständen entkommen lassen durfte. Aber es war vor allem das Geschrei gewesen, das ihn verrückt gemacht hatte. Geschrei vertrug er nicht. Wenn Vero vernünftig geblieben wäre, hätte sie ihnen beiden viel Ärger erspart. Das hatte sie jetzt davon.
„Du Miststück“, sagte er zu Vero. „Geschieht dir recht, du dumme Sau!“
Er richtete sich auf. Er konnte sich neben Vero in dem Spiegel sehen, der neben der Garderobe hing. Er lehnte sich vor, versuchte, in seinem Gesicht Zeichen dafür zu entdecken, dass er gerade getötet hatte. Man sollte meinen, dass es irgendwie sichtbar wurde. Es war jedoch nicht zu erkennen – nur ein bisschen blass war er. Aber das kam wahrscheinlich von der Anstrengung. Außerdem hatte er in der letzten Nacht schlecht geschlafen. Er schlief immer schlecht, wenn am nächsten Tag etwas Großes bevorstand – und das hier war das Größte, das er jemals vollbracht hatte. Er hatte leichte Augenringe, sein Haar war durcheinander von dem Handgemenge und an seinen Wangen klebten ein paar Spritzer von Veros Blut. Ansonsten sah er aus wie immer: ein sympathischer Bursche, der Frauen die Tür aufhielt, entzückte Geräusche machte, wenn er ein Baby oder einen Hundewelpen sah, und alten Leuten in der Bahn seinen Sitzplatz anbot. Er lächelte probeweise. Es war nicht das Grinsen eines Killers. Es war dasselbe freundliche, vertrauenerweckende Lächeln, das auch Vero so gefallen hatte. Er hob die Hand, um seinen Krawattenknoten gerade zu rücken und sein Haar zu richten, erinnerte sich an das Blut an seinen Fingern und ließ es bleiben. Weil er nichts anderes fand, wischte er sich die Hände so gut es ging an einem hellen Mantel ab, der an der Garderobe hing. Vero brauchte ihn nicht mehr, man hätte sie höchstens damit zudecken können, und bestimmt war auch sonst niemand scharf darauf, sich die Klamotten einer Toten anzuziehen.
Er lauschte. Es war sehr still jetzt, wo Vero nicht mehr schrie. Sie verbreitete Stille, so wie sie vorher für Lärm gesorgt hatte. Er mochte diese Stille nicht, er fand sie beklemmend, und er nahm sie Vero übel. Selbst im leblosen Zustand musste sie ihm noch zu schaffen machen. Er wollte etwas sagen, sie weiter beschimpfen, damit die Stille aufhörte. Aber ihm gefiel nicht, wie seine Stimme in der stillen Wohnung klang, irgendwie verloren, als spreche er in ein großes Nichts hinein. Er wunderte sich, dass niemand kam, um sich nach dem Aufruhr zu erkundigen. Es war ihm vorgekommen, als hätte man Veros Gebrüll noch drei Straßen weiter hören können. Aber wahrscheinlich hatten es die übrigen Hausbewohner für nichts weiter als einen handfesten Streit unter Liebenden gehalten, dem eine hingebungsvolle Versöhnung folgte. Er war froh darum. Das Letzte, was er jetzt brauchen konnte, waren neugierige Nachbarn.
Er ging zurück ins Wohnzimmer, griff sich im Vorübergehen eine Möhre vom Schneidebrett und biss krachend ein Stück ab. Darauf herumkauend überlegte er, was er jetzt mit Vero anfangen sollte. Er dachte daran, einfach zu gehen und sie in ihrem Blut verrotten zu lassen. Ein paar Tage in der warmen Wohnung – die Sommerhitze würde sie ordentlich aufheizen – und sie wäre nur noch ein matschiger Batzen Gammelfleisch. Verdient hätte sie es.
Er biss noch einmal in die Möhre und blickte sich im Wohnzimmer um. Von der Einrichtung konnte man Migräne kriegen: ein plüschiger lila Teppich, ein grünes Sofa mit einer knatschgelben Tagesdecke, Kissen in pinken, blauen und roten Bezügen. Man kam sich vor, als laufe man durch einen quietschbunten LSDTrip (er hatte das Zeug früher mal ausprobiert, als er psychisch nicht ganz stabil gewesen war). An den Wänden hingen Poster mit Tierbabys, die putzige Sachen machten, dazwischen ein Kalender mit halb nackten Männern, die ihre Waschbrettbäuche und Brustmuskeln in die Kamera hielten. Auf dem Couchtisch lag eine Reihe Modeund Frauenzeitschriften. Eines der Hefte war auf der Ratgeberseite mit dem PsychoTest aufgeschlagen (Ich verliebe mich immer in den Falschen!), darauf lag eine Schnur, auf die bunte Holzperlen gezogen waren. Eine kleine Schachtel war mit weiteren Perlen gefüllt. Vero bastelte ihren eigenen Schmuck, Zeitvertreib für lange Abende allein. Davon hatte sie viele gehabt, wie man auch an den Kitschromanen und den Liebesschnulzen auf DVD erkennen konnte, mit denen das Regal gefüllt war. Vor den Büchern und Filmen standen, in Glitzerrahmen, Fotos von Vero und ihren Freundinnen, alle ungefähr in der gleichen Gewichtsklasse, in Klubs und Bars, Mädelsabende mit Prosecco und Wodka Bull. Vero lächelte auf allen Fotos. Man war hier von ihrem Lächeln umzingelt, als hätte sie jedem Besucher, wahrscheinlich aber vor allem sich selbst, ständig vor Augen halten wollen, was für ein lebensfroher Mensch sie war und dass es ihr nichts ausmachte, von den nächtlichen Unternehmungen immer wieder ohne Begleitung nach Haus zu kommen. Er verstand das, besser als die meisten. Jeder suchte einen Weg, mit seinen inneren Dämonen fertig zu werden. In ihrer kurzen Beziehung hatte sie dann natürlich von Zuspruch und Bestätigung gar nicht genug kriegen können. Immer wieder hatte er ihr sagen müssen, wie anziehend er sie fand und dass ihm die paar Pfunde zu viel nichts ausmachten. Im Gegenteil, hatte er behauptet: Eine richtige Frau brauche Kurven, ein Mann wünsche sich was zum Anfassen und so weiter und so fort. Es war nervtötend. Frauen, für die sich niemand interessierte, waren immer auf sich selbst fixiert (es galt wohl auch für Männer, aber damit hatte er weniger Erfahrung). Man brauchte sich nur zwei Folgen einer Seifenoper anzusehen, um zu wissen, was man ihnen erzählen musste. Er fand es überheblich, dass Vero geglaubt hatte, jemand wie er könne sich ohne Hintergedanken zu ihr hingezogen fühlen. Aber man konnte den Leuten alles weismachen, solange es ihnen schmeichelte. Sie bettelten geradezu danach, dass man ihnen Wertschätzung vorgaukelte, damit sie sich einbilden konnten, bewundert, begehrt und vor allem geliebt zu werden. Er verurteilte das nicht. Es war ihr gutes Recht, sich belügen zu lassen. Aber dann mussten sie eben auch mit den Konsequenzen leben – oder, siehe Vero – daran sterben.
„Was fangen wir jetzt mit dir an, Vero-Maus?“, murmelte er. „Wie bringen wir dieses Chaos in Ordnung?“
Aber Vero ließ sich nicht dazu herab, ihm bei diesem Problem behilflich zu sein, obwohl sie selbst die größte Verantwortung dafür trug.
Er trat ans Fenster. Der Vorhang, türkis mit Blumenmuster, war zugezogen. Er hatte sofort für Privatsphäre gesorgt, nachdem Vero ihn hereingelassen und ihm mit ihren Schwulstlippen einen Schmatzer auf die Wange gedrückt hatte, bei dem er sich beherrschen musste, sie nicht von sich zu stoßen. Lieber hatte er ihr Blut im Gesicht als ihren Speichel. Er schob den Vorhang ein Stück beiseite und schaute hinaus. Es hatte sich endlich ausgeregnet. Jetzt, zum Abend hin, kam sogar noch mal die Sonne raus. Ein paar Leute waren unterwegs. Ein Junge und ein Mädchen zockelten Arm in Arm den Bürgersteig hinab. Eng aneinandergeschmiegt staksten sie im Zickzack um die Pfützen. Ein Rentner mit karierter Schirmmütze schleifte einen ergrauten Dackel spazieren. Vor dem Kiosk gegenüber stand ein Türke mit Schnurrbart, rauchte einen Zigarillo und las in der Hürriyet. Es gefiel ihm, ihnen zuzusehen und zu wissen, dass sie ihn nicht bemerkten, keine Ahnung davon hatten, was er in dieser Wohnung trieb, dass er gerade getötet hatte und ein paar Meter hinter ihm eine Leiche auf dem Boden lag. Der Gedanke brachte ihm zum Lächeln.
Er ließ den Vorhang zurückfallen, drehte sich um und lehnte sich an die Fensterbank. Er blickte auf den VeroHaufen im Flur. Er war ihr nicht mehr böse. Seine schlechte Laune war verflogen. Er fühlte sich gut und ausgeglichen. Er hatte es geschafft, den ersten wichtigen Schritt. Zwar war nicht alles so gelaufen, wie er es sich vorgenommen hatte. Aber es brachte nichts, sich über verschüttete Milch – oder vergossenes Blut – aufzuregen. Besser, sich auf das zu konzentrieren, was als Nächstes kam. Er tadelte sich für die abwegige Idee, unverrichteter Dinge abzuhauen. Es wäre Verschwendung gewesen, Vero hier zu lassen, nach all dem Ärger, den er mit ihr gehabt hatte. Natürlich würde es nicht leicht sein, diesen Fleischberg nach unten zu bringen, vor allem in einem Stück (er wollte sie ungern zerteilen; das könnte er später nur schwer wieder richten). Aber er würde es schaffen. Er war nicht allein. Sie waren bei ihm, sie würden ihn stärken, ihn schützen. Mit ihrer Unterstützung – und mithilfe einiger Müllsäcke und Bettlaken – würde er den Schwertransport bewerkstelligen, ohne dass jemand etwas mitbekam und ohne dass er im Hausflur und dem Aufzug allzu viele Spuren hinterließ, die Scherereien nach sich zögen. Er würde das Beste aus einer schwierigen Lage machen, darin war er schon immer gut gewesen, und er würde sich nicht mehr darüber ärgern, dass er Vero erlaubt hatte, ihn um seine Beherrschung zu bringen. Er war lediglich in alte Muster zurückgefallen. Das konnte jedem passieren. Sie würden das verstehen. Und beim nächsten Mal würde er es anders anstellen, sorgfältiger vorgehen.
Aller Anfang war bekanntlich schwer.
2
Die Schlampe wollte nicht ficken. Max kam immer noch nicht darauf klar. Den ganzen verdammten Abend baggerte er an ihr rum, mixte ihren bescheuerten Gin Tonic, spendierte ihr Kippen, nickte und lächelte zu ihrem Endlos-Gelaber über Design und Marketing, obwohl ihm das völlig am Arsch vorbeiging – und was kam dabei rum? Nichts außer ein bisschen Geknutsche im Flur, als er sie auf dem Weg von der Toilette abgepasst hatte, um endlich zu klären, was ging. Am Anfang war sie noch voll drauf eingestiegen, hatte sich an ihn gedrückt, als wollte sie ihn gleich durch seine Hose hindurch bumsen. Aber kaum hatte er sich eine ihrer Titten gegriffen, war sie auf Abstand gegangen und hatte gemeint, sie sollten lieber zurück ins Wohnzimmer zu den anderen. Machte einen auf Klosterschülerin. Katja, die Unberührbare! Aber von Carsten ließ sie sich knallen, dem behinderten Spasti. Wobei man nicht wissen konnte, ob da was dran war. Der Typ laberte viel, vor allem, wenn er dicht war. Max hoffte, dass es nur Gelaber war. Es hätte ihm nicht gefallen, wenn Katja einfach mit jedem gevögelt hätte. Aber ihn hätte sie schon ranlassen können, wo er den ganzen Abend so scheißnett gewesen war …
Er lehnte sich über den Lenker und stemmte sich fester in die Pedale. Das UraltRad krachte und klapperte, als wollte es jeden Moment unter ihm zusammenbrechen. Er ärgerte sich, dass er am Nachmittag nicht wenigstens die Reifen aufgepumpt hatte. Auf dem Hinweg war es noch einigermaßen gegangen. Jetzt waren sie so platt, dass er fast auf den Felgen fuhr. Er hoffte, dass wenigstens nicht wieder die Kette raussprang. Die kriegte er im Dunkeln nie wieder reingefummelt. Wenn sie raussprang, beschloss er, würde er den Blechhaufen einfach am Straßenrand liegen lassen und zu Fuß weitergehen. Das Teil war eh nicht mehr zu gebrauchen. Der Dynamo schleifte lose am Hinterreifen, die Vorderlampe flackerte matt und das Rücklicht hatte schon lange den Geist aufgegeben. Die Straße, zwischen zwei Wohngebieten, war nicht gut beleuchtet und in seiner dunklen Jeans und dem schwarzen Kapuzenpulli hatte er nicht gerade Signalfarben an. Er wartete nur darauf, dass irgendein Vollpfosten ihn zwischen zwei Straßenlaternen mit seinem BMW bei achtzig Sachen ins Gebüsch semmelte. Er hielt sich möglichst dicht am Fahrbahnrand – einen Radweg gab es hier nicht – und zwang die Schrottmühle vorwärts.
Das Rad zu nehmen, war eine Schnapsidee gewesen. Aber er hatte halt fest damit gerechnet, dass Katja ihn bei sich pennen lassen würde. Die Art, wie sie ihn neulich in der Bar immer wieder angesehen hatte, und dazu dieses Lächeln – er war doch nicht völlig behämmert, dass er das falsch verstanden hatte. Wenn er nicht früher weggemusst hätte wegen der Scheißklausur am nächsten Tag, wäre sie an dem Abend mit ihm abgestürzt, anstatt mit SpackoCarsten. Er war sicher gewesen, dass sie heute nachholen würden, was doch, wenn auch nur mit Blicken, zwischen ihnen ausgemacht gewesen war. Aber nichts, keine schnelle Handnummer oder ein bisschen Lutschen auf dem Klo, kein Vertrösten auf später, nicht mal irgendeine Ausrede von wegen Periode und so. Für die nächste Stunde nach dem Knutschen, in der er sich flirttechnisch noch mal richtig verausgabt hatte, war sie unnahbar gewesen, als hätte sie sich den Keuschheitsgürtel umgeschnallt, und nachher hatte sie sich von ihm verabschiedet wie von irgendeinem Dämlack, der nicht schnallte, dass sie keinen Bock auf ihn hatte. Scheiß Weiber! Die wussten nicht, was sie wollten. Wenn er geahnt hätte, dass sie ihn am ausgestreckten Schwanz verkümmern lassen würde, wäre er mit den Öffentlichen gefahren und hätte den letzten Nachtbus nach Hause genommen. Oder er hätte sich ihre verkackte WGParty gleich ganz geschenkt. Es waren sowieso fast nur Spaten von der Designhochschule da. Mit denen konntest du nicht mal in Ruhe ein Bier trinken, ohne dass sie dir erklärten, welche brillante Strategie hinter der Gestaltung des Flaschenetiketts steckte. Als ob das irgendwen juckte. Katja wurde auch immer mehr so. Man konnte sich keine fünf Minuten mit ihr unterhalten, ohne dass sie mit der Großkotzerei anfing. Eine aufgeblasene Tussi, mehr war sie nicht. Und wegen der durfte er sich jetzt hier abstrampeln.
Zu allem Überfluss musste es auch noch anfangen zu schiffen. Regenjacke? Fehlanzeige. Als er losgefahren war, war es noch richtig schön gewesen. Da hatte man bloß ein TShirt gebraucht. Aber jetzt … Immerhin hatte er sich beim Losfahren vorsorglich den Kapuzenpulli auf den Gepäckträger geklemmt, zu der Sechserpackung Beck’s Lemon, die er für die Party besorgt hatte. Er war froh gewesen, was zum Überziehen zu haben, als er von Katja aufgebrochen war. Es hatte sich echt abgekühlt. Aber auf Regen war er nicht eingestellt gewesen, noch ein Punkt, bei dem er falsch kalkuliert hatte (der Wetterdepp im Fernsehen übrigens auch). Er stülpte sich die Kapuze über und zog den Kopf ein. Aber der Regen fiel schräg und klatschte ihm voll ins Gesicht. Es war kein heftiger Regen, eher ein stetiges Gepisse. Aber es reichte, um ihn von oben bis unten einzusiffen und das Radfahren wurde dadurch auch nicht spaßiger. Die Lenkergriffe wurden glitschig. Seine Turnschuhe rutschten von den Pedalen. Die Reifen hatten kaum Profil und kamen leicht ins Schlingern. Es fehlte noch, dass er sich hier auf die Schnauze legte. Es hätte gepasst. Eine richtige Scheißnacht war das! Und als ob nicht schon alles ätzend genug war, musste er auch noch ständig an Katjas Titte denken, wie passgenau sie in seiner Hand gelegen hatte, wenn auch nur kurz. Er hatte längst einen Steifen, trotz Regen und Sturzgefahr, und da half es auch nichts, auf Katja sauer zu sein. Titten trumpften Großkotzerei und schlechtes Wetter allemal. Das Ding ragte schief in sein Hosenbein und drückte unangenehm bei jedem Tritt. Er dachte daran, anzuhalten und sich schnell Erleichterung zu verschaffen. Aber die Vorstellung, sich im nächtlichen Berliner Regen an der Leitplanke einen runterzuholen, war wenig verlockend. So weit war er noch nicht, bei aller Geilheit. Ein bisschen Würde hatte er noch übrig. Außerdem hatte er es bald geschafft. Nur noch um die Kurve, durch die Fußgängerunterführung und ein Stück die Straße runter, dann war er zu Hause, konnte aus den nassen Klamotten raus und sich im Bett anständig einen schubbern, während er sich vorstellte, wie er Katja flachlegte und sie konnte nichts dagegen machen.
Ein Auto raste so dicht an ihm vorbei, dass er vor Schreck den Lenker verriss. Es fehlte nicht viel und er hätte das Rad auf die Grasnarbe neben der Fahrbahn gesteuert – und wäre unvermeidbar im Dreck gelandet. Im letzten Moment kriegte er es wieder unter Kontrolle.
„Danke, Arschloch“, murmelte er, während er die Rücklichter um die Kurve verschwinden sah. Ein fetter Audi, na klar! Wer so was fuhr, sah Fahrradfahrer bloß als lästige Verkehrshindernisse, die gefälligst aufpassen mussten, dass sie ihm nicht im Weg waren, und wenn er sie in den Graben rammte, hatten sie eben Pech gehabt. Als er um die Biegung klapperte, war von dem Wagen nichts mehr zu sehen. Vor ihm lag nur die verlassene Straße. Der Asphalt schimmerte im Licht einer bleichen Straßenlaterne wie schwarzes Wasser, in dem er versinken würde. Regentropfen prallten darauf nieder, zerplatzten und sprangen zurück wie Gischt. Zu beiden Seiten ballte sich Finsternis, in der Büsche und Bäume nur als groteske Schatten zu erkennen waren. Von der Stadt war nichts zu sehen, keine Häuser, keine erleuchteten Fenster. Nur Nacht, ein Himmel aus dunklem Nichts, nasse Kälte und das Flüstern und Rascheln des Regens. Öde Einsamkeit, wie auf dem Land. Man hätte sich nicht gewundert, einen Wolf heulen zu hören.
Max hängte sich noch mal rein. Nur noch ein Stück.
Die Unterführung tat sich neben der Straße auf wie eine Höhle, der Eingang eines kilometerlangen unterirdischen Tunnelsystems. Ein mattgelber flackernder Lichtschein drang daraus hervor. Max hörte auf zu treten und ließ das Rad rollen. Wahrscheinlich hatten sich da drinnen mal wieder Obdachlose für die Nacht eingerichtet und ein Lagerfeuer gemacht, um sich aufzuwärmen. Er überlegte, ob er nicht besser außenrum fahren sollte. Diese Typen konnten echt aggro werden, wenn man sie störte, vor allem, wenn sie einen sitzen hatten, und sie hatten fast immer einen sitzen. Er war schon einmal in der Unterführung mit einem von ihnen aneinandergeraten, einem Fettsack im verfilzten Mantel und mit struppigem Bart, der aussah wie der König der Kloake und auch so roch. Der hätte ihm fast seine Pulle Billigbier übergezogen, weil er aus Versehen über eine Ecke seines Schlafsacks gefahren war. Das musste er nicht noch mal haben.
Aber außenrum zu fahren war ein ziemlicher Umweg. Ihm war arschkalt. Sein Gesicht war klatschnass und auch sein Pullover und die Jeans waren inzwischen aufgeweicht. Die Feuchtigkeit drang ihm bis auf die Knochen, und der Wind, der den Regen immer wieder in Stößen auf ihn zutrieb, fror ihm die Finger steif (und das nannte sich Sommer!). Er hatte keinen Bock, sich wegen dieser Saufsäcke eine Lungenentzündung einzufangen. Außerdem wäre er sich wie eine Pussy vorgekommen, wenn er vor ein paar Pennern gekniffen hätte, und sein Selbstwertgefühl hatte heute – dank Katja – schon genug gelitten. Er trat wieder an. Gas geben, Kopf runter und einfach schnell durch. Er wäre drüben wieder raus, bevor die in ihrem Schnapsdusel überhaupt was merkten.
Er holte Schwung, duckte sich hinter den Lenker und sauste den seichten Hang hinab, der in die Unterführung führte, hinein in das flackernde gelbe Licht. Er strampelte weiter, um möglichst schnell auf die andere Seite zu kommen. Muffige Luft und der Gestank von alter Pisse schlugen ihm entgegen. Er versuchte, nicht zu atmen, bis er wieder im Freien war. Die Graffiti, mit denen die rissigen Betonwände beschmiert waren, und die alten Plakate, die in Fetzen von ihnen herunterhingen, nahm er nur als buntes Flimmern am Rande wahr. Auf dem Boden lagen leere Dosen, zerknüllte Zeitungen, Zigarettenstummel und benutzte Spritzen, die zeigten, dass auch Junkies hier gerne unterkrochen. Er war so darauf konzentriert, nicht mit dem Vorderrad in den Müll zu geraten und trotzdem sein Tempo zu halten, dass er erst im letzten Moment bemerkte, woher der Lichtschein kam. Und dann haute es ihn so um, dass ihm nicht einfiel, die Bremsen zu ziehen. Es waren keine Obdachlosen hier. Auch keine Junkies oder Punks. In der Mitte des Tunnels stand, im warmen Lichtkreis etlicher Kerzen, eine Frau. Sie war in einen weiten Umhang gehüllt und hatte eine Kapuze über den Kopf gezogen, die ihr Gesicht verbarg. Sie schien vor ihm zu schweben, regungslos, die Arme ausgebreitet, als habe sie ihn erwartet.
Und er hielt genau auf sie zu.
„Fuuuuuuck!“
Sein Schrei vervielfältigte sich in einem hohlen Echo, mit dem die Wände auf ihn einbrüllten. Er riss den Lenker herum und zerrte an der Bremse. Das Rad stellte sich quer, der Hinterreifen rutschte weg und er krachte auf die Fresse. Er schlug hart mit dem Ellenbogen auf und quetschte sich das Bein unter dem Fahrrad ein. Er achtete nicht darauf. Er hätte nicht mal darauf geachtet, wenn sich bei dem Aufprall ein halbes Dutzend AIDSverseuchter Spritzen durch seine Haut gebohrt hätten. Das Einzige, worauf er achtete, worauf er achten konnte, war die Gestalt in dem Kapuzenumhang, die über ihm stand und auf ihn niederzublicken schien. Es war tatsächlich eine Frau. So viel war sicher. Und noch etwas war sicher: Die Alte war hin. Aber so was von. Den Puls brauchte man gar nicht erst zu checken. Er starrte in die Augen hinter der Maske – war es eine Maske? Es musste eine Maske sein! – und die Augen, meinte er, starrten zurück. Er spürte die Kälte ebenso wenig wie den Schmerz in seinem Arm und seinem Bein. Sein Schwanz schrumpelte zusammen. Auf einmal musste er tierisch pissen. Es war nicht nur der Schreck, plötzlich eine Tote vor sich zu haben. Es war Angst, richtige Scheißangst, wie er sie zum letzten Mal als Kind gehabt hatte, als er heimlich einen Horrorfilm geschaut hatte und danach die ganze Nacht nicht schlafen konnte, weil er sicher war, dass das Monster käme, um ihn zu holen. Ihm ging dermaßen die Pumpe, dass jeder Herzschlag seinen ganzen Körper zum Beben brachte. Aus der Wunde am Ellenbogen lief das Blut seinen Arm herunter. Sein Knie war verdreht. Aber er wagte nicht, sich zu bewegen. Es war ihm, als würde sich die Tote, wenn er nur mit dem Finger zuckte, zu ihm herunterbeugen, ihn aufheben und ihn an sich ziehen. Dann würde sie ihre Hände um seinen Hals legen und ihm die Kehle zudrücken, fester und immer fester, bis er so tot war wie sie.
Er wusste nicht, wie lange er auf dem kalten Boden zwischen dem Unrat gesessen und die Tote angeglotzt hatte, bis er begriff, dass nichts passieren würde. Sie konnte ihm nichts tun. Sie war tot und würde tot bleiben. Er hatte nichts von ihr zu befürchten. Er stieß das Fahrrad beiseite, rappelte sich auf und trat ein paar Schritte zurück, um sie besser betrachten zu können.
„Krasse Scheiße!“, murmelte er.
Er schaute sich um. Es war niemand hier außer ihm. Niemand sprang aus einem Versteck, schrie „Verarscht!“ und lachte sich über ihn schlapp. Er war allein mit der Toten. Es war nichts zu hören außer dem Plätschern und Glucksen des Regens draußen. Die Kerzen flackerten und veranstalteten ein Schattenspiel an den grauen Wänden, sodass es aussah, als tanze sein Schatten mit dem Schatten der Toten. Max fummelte sein Handy aus der Tasche. Zwar zitterten ihm die Hände, als er die PIN eingab. Aber er konnte wieder klar denken, und er wusste, es gab nur eins, das jetzt zu tun war: Er schaltete auf Kamera, zoomte, bis die Tote das Display ausfüllte und betätigte den Auslöser. Er zögerte, stellte sich neben sie – wobei er achtgab, ihr nicht zu nahe zu kommen oder eine von den Kerzen umzustoßen – und machte ein Selfie. Posten konnte er das nicht, das gäbe nur Stress. Aber ein bisschen vor den Kumpels damit protzen war drin. So was Geiles hatte noch keiner von denen erlebt. Er fühlte sich entschädigt für den ganzen Mist, der vorher passiert war. Das hier war sogar besser, als Katja zu ficken. Er checkte das Foto, vergewisserte sich, dass nichts verwackelt und vor allem auch die Möpse im Bild waren.
Dann rief er die Bullen.
3
Harder stürzte noch einen Shot und wartete, dass Sergejs Kopf explodierte. Der Russe hatte Schnappatmung. Sein Gesicht war rot und nass, als käme er grad aus der Sauna. Er schwitzte den Wodka, den er kippte, gleich literweise wieder aus. Der Revolver zitterte in seiner fleischigen Hand, die mit kyrillischen Schriftzeichen tätowiert war. Er machte das nicht zum ersten Mal. Aber man gewöhnte sich schwer daran, eine geladene Wumme an der Schläfe zu haben, auch wenn man den eigenen Finger am Abzug hatte. Es sah aus, als würde ihm der Schädel auch so in absehbarer Zeit platzen. Aber so lange wollte niemand warten. Eine Kugel würde die Sache schneller und verlässlicher erledigen.
Das Publikum hoffte und fürchtete es. Niemand wagte zu blinzeln, aus Angst, den Sekundenbruchteil zu versäumen, in dem Sergej sich endlich überwand. Die Zigarren hingen auf halbem Weg zu den Lippen in der Luft. Die Hände erstarrten auf den Frauenärschen, die sie eben noch getätschelt hatten. Kein Gläserklirren, keine Kaugeräusche, kein Schlucken, Husten oder Räuspern rührten an der Stille, die den Raum füllte. Nichts war zu hören außer dem Knurren, das zwischen Sergejs zusammengepressten Zähnen hervordrang, während er seinen Überlebensinstinkt niederkämpfte, der ihm befehlen wollte, die Scheißkanone verdammt noch mal in eine andere Richtung zu halten, in der sein kantiger Kopf mit den Glubschaugen, dem Fischmaul und den Flügelohren dem Projektil nicht im Weg war.
Harder lehnte sich vor und beobachtete das verzerrte Gesicht, in dem vor Anspannung die Muskeln zuckten. Er kam nicht darauf, was Sergej ritt, sich diesen Krampf anzutun. Wer so am Leben hing, musste sich fragen, ob Russisch Roulette der richtige Zeitvertreib für ihn war. Trotzdem saß Sergej immer wieder hier und spielte sein eigenes Erschießungskommando. Es konnte nicht bloß das Geld sein, das ihn herzog. Dafür war es dann doch zu wenig. Vielleicht hatte er Scheiße gebaut, und Rasputin ließ ihn büßen. Oder es war der Ruhm.
Im Kreml war Sergej eine Legende.
Es war, soweit Harder wusste, der einzige Laden in Berlin, der dieses Spektakel auf dem Programm hatte. Von außen sah das Lokal, mit seinem abblätternden roten Anstrich, den staubigen Fenstern und dem verwitterten Schild mit Hammer und Sichel, nach nicht viel aus. Von innen nach noch viel weniger. Im Gastraum hockten, zwischen kommunistischen Propagandapostern und beaufsichtigt von StalinPorträts an den roten Wänden und LeninBüsten in den Fensterbänken, kräftige Kerle an einfachen, mit roten Decken versehenen Tischen, tranken warmen Wodka, futterten Salzgurken oder Piroggen mit Schmand, würfelten, spielten Karten oder plauderten, als wären sie gerade von ihrer Schicht im Stahlwerk des Industriekombinats gekommen. Wer aus Versehen oder aus Neugier hier reinkam, musste glauben, dass er im falschen Sektor (und dreißig Jahre in der Vergangenheit) gelandet war. Von den Attraktionen im Hinterzimmer war vorne nichts zu merken. Jenseits einer mit rotem Vorhang verhängten, mit „Büro“ gekennzeichneten und einem Sehschlitz ausgestatteten Tür sorgten schwere Ledersessel für Bequemlichkeit, dunkles Parkett, goldene Lüster und Beistelltische aus Marmor für das entsprechende Ambiente und eine mit Luxusspirituosen bestückte Bar für das leibliche Wohl. Bei hochkarätigen Pokerspielen häuften sich hier Millionen auf dem Filz. Aufstrebende russische Filmsternchen, extra eingeflogen, boten erotische Extravaganzen feil. Alle sechs Monate konnte man erleben, wie sich irgendein armes Schwein das Hirn wegballerte und manchmal, wenn es Zeit war, mal wieder melancholisch der alten Heimat zu gedenken, hockte ein schnurrbärtiger Bänkelsänger im Trachtengewand auf einem Schemel, zupfte die Balalaika und säuselte russisches Liedgut, bis seinen Zuhörern der Wodka aus den Augen lief.
Die Klientel dieser exquisiten Veranstaltungen bestand vornehmlich aus russischen Geschäftsleuten, Oligarchen, Industriemagnaten und DumaAbgeordneten auf Urlaub, denen fette Goldketten vom Hals und mindestens eine Edelnutte an jedem Arm hing. In zwei Halbkreisen – an den Seiten, wo die Kugel einschlüge, ließen sie wohlweislich Lücken – umstanden sie den Tisch in der Mitte des Raumes, an dem Harder und Sergej einander gegenübersaßen, vor sich, zur Motivation, den braunen Umschlag mit dem Preisgeld. Rasputin präsidierte der Vorführung in einem Ledersessel auf dem Podest, auf dem an ruhigeren Abenden die Musikund Tanzdarbietungen stattfanden und das beim Roulette als Tribüne für ihn und einige Ehrengäste diente. Der Sessel wirkte zu breit für seinen gedrungenen Körper mit dem gemütlichen Bäuchlein und in seinem Smoking, obwohl maßgeschneidert, wirkte er wie ein speckiges Jüngelchen bei der Erstkommunion. Die Hängebacken und die Glatze trugen ebenfalls nicht dazu bei, dass einem bei seinem Anblick die Muffe ging und seine Fistelstimme reizte zum Lachen. Aber es war fatal, diesem Reiz zu erliegen. Unter seinem Anzug trug Rasputin auf Brust, Schultern und Rücken die höchsten Rangabzeichen der Russenmafia eintätowiert und es hieß, dass er sich jedes einzelne mit einer Brutalität und Skrupellosigkeit verdient hatte, die locker wettmachten, was ihm an Kraft und Größe fehlte. Woher er seinen Spitznamen hatte, wussten nur wenige, und noch weniger wussten, wie er wirklich hieß. Es konnte ungesund sein, sich zu sehr dafür zu interessieren. Dem Spiel folgte er mit der Miene eines Cäsaren bei einem Arenagemetzel. In seinen Stummelfingern hielt er, wie die meisten anderen, eine Champagnerflöte. Neben ihm prangte auf einer Säule ein ausladender Sektkühler aus Kristall, der mit grünen Flaschen bestückt war, von denen eine einzige mehr kostete, als Harder durch den Verkauf seiner sämtlichen Organe zusammengebracht hätte (was allerdings nicht viel heißen wollte; für seine Leber zum Beispiel hätte er wahrscheinlich noch draufzahlen müssen). Hostessen machten die Runde und sorgten dafür, dass es in jedem Glas unablässig prickelte. Die Spieler wurden mit Wodka verköstigt, um ihre Moral aufrechtzuhalten. Der Gewinner durfte mit Rasputin anstoßen, ein paar Hände schütteln und sich auf die Schulter klopfen lassen. Außerdem kriegte er zu seinem Preisgeld eine Dose Stör-Eier, eine Flasche KrimSekt und eine Stunde mit einer der käuflichen Damen. Der Verlierer kriegte einen schwarzen Plastiksack und eine Fahrt zur Mülldeponie.