1) Bulgarisch für: ›schwarze Seele‹
2) früher traditionell der Platz für größere Zirkusse
3) Richtige Schreibweise. Im Wienerischen sagt man zum Chinesen schon mal »Chineser«. Und diese Figur, die auch oft »Calafati« genannt wird, hat im Volksmund den Namen »Großer Chineser« abbekommen.
4) ugs. für ›Zwerg‹
Band 52
Und ewig währt die Nacht
von Logan Dee und Michael Marcus Thurner
nach einem Exposé von Uwe Voehl
© Zaubermond Verlag 2017
© "Das Haus Zamis – Dämonenkiller"
by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt
Titelbild: Mark Freier
eBook-Erstellung: Die Autoren-Manufaktur
www.Zaubermond.de
Alle Rechte vorbehalten
Die junge Hexe Coco Zamis ist das weiße Schaf ihrer Familie. Die grausamen Rituale der Dämonen verabscheuend, versucht sie den Menschen, die in die Fänge der Schwarzen Familie geraten, zu helfen. Auf einem Sabbat soll Coco endlich zur echten Hexe geweiht werden. Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie der Dämonen, hält um Cocos Hand an. Doch sie lehnt ab. Asmodi kocht vor Wut – umso mehr, da Cocos Vater Michael Zamis ohnehin mehr oder minder unverhohlen Ansprüche auf den Thron der Schwarzen Familie erhebt.
Nach jahrelangen Scharmützeln scheint endlich wieder Ruhe einzukehren: Michael Zamis und seine Familie festigen ihre Stellung als stärkste Familie in Wien, und auch Asmodi findet sich mit den Gegebenheiten ab. Coco Zamis indes hat sich von ihrer Familie offiziell emanzipiert. Das geheimnisvolle »Café Zamis«, dessen wahrer Ursprung in der Vergangenheit begründet liegt und innerhalb dessen Mauern allein Cocos Magie wirkt, ist zu einem neutralen Ort innerhalb Wiens geworden. Menschen wie Dämonen treffen sich dort – und manchmal auch Kreaturen, die alles andere als erwünscht sind.
Michael Zamis, seine Frau Thekla und Coco reisen nach Rumänien. Dort, auf der Temeschburg, findet die Testamentseröffnung der Fürstin Bredica statt, einer Großtante Michaels. Hier trifft er seine ehemalige Geliebte Florentina wieder – und seine uneheliche Tochter Juna, die er bisher verschwiegen hat. Juna hat eine grausame Vergangenheit hinter sich – die sie nun auf der Temeschburg einzuholen droht. Denn wieder trifft sie auf Thekla Zamis. Diese hat sie schon einmal verbannen wollen: nach Graustedt, einer von Dämonen beherrschten Stadt. Diesmal jedoch trachtet ihr Thekla nach dem Leben. In letzter Sekunde kann Coco sie retten. Gemeinsam mit dem Incubus Stefan streifen Juna und Coco durch die Gänge der Temeschburg. Auf ihrer Flucht hören sie plötzlich Kampfgeräusche, die aus den Grüften dringen, in denen die vampirischen Gäste Unterschlupf gefunden haben …
Und ewig währt die Nacht
von Logan Dee
nach einem Exposé von Uwe Voehl
Gegenwart
Als wir die Tür zu den Grüften öffneten und vorsichtig hineinblickten, glaubte ich einem Höllenszenario beizuwohnen. Die Vampire, die hier untergebracht waren, lieferten sich einen blutigen Kampf. Offensichtlich war unter den verschiedenen Vampirgrüppchen Streit ausgebrochen. Worum es ging, das konnte ich mir denken: um den Schatz, den die verstorbene Fürstin Bredica demjenigen versprochen hatte, der ihr den Kopf ihres Mörders auf einem Tablett servierte. Wie auch immer das funktionieren sollte bei einer Toten.
Wir waren zu dritt: Meine Halbschwester Coco hatte mich dank ihres Zeitzaubers gerade noch rechtzeitig davor bewahrt, ebenfalls das Zeitliche zu segnen. Ihre Mutter Thekla hatte mich in ihrer Eifersucht erdolchen wollen.
Auf unserer Flucht durch die Korridore war uns der schöne Stefan begegnet. Er war ein Incubus und auf unserer Seite. Ihm konnten wir vertrauen – im Gegensatz zu den meisten anderen Gästen auf der Temeschburg, dem Sitz der verstorbenen Fürstin.
Die Hälfte der Vampire war bereits im Kampf gefallen, doch das blutige Gemetzel dauerte noch immer an. Ich wollte den Kopf gerade zurückziehen, als mich einer der Blutsauger bemerkte. Er starrte mir direkt in die Augen. Sein blutüberströmtes Gesicht verzog sich zu einer bösen Fratze. Er schrie etwas in meine Richtung und rannte auf uns zu.
Es war Stefan, der mich mit einem Ruck von der Tür wegbeförderte, und Coco, die sie im nächsten Moment zuschlug und blitzschnell den Riegel vorlegte. Keine Sekunde zu früh, den schon prallte von innen der Vampir mit voller Wucht dagegen.
»Am besten verschwinden wir so schnell wie möglich«, schlug Stefan vor. Mittlerweile hatte ich begriffen, dass er nicht gerade der Wagemutigste war.
»Einen Augenblick noch«, sagte Coco. Dem folgten einige unverständliche Worte, die sie leise murmelte, und ich begriff, dass sie einen Zauber wirkte. Lächelnd wandte sie sich danach wieder an uns: »Ich habe die Tür mit einem magischen Siegel versperrt. So leicht kommt keiner der Blutsauger mehr dort heraus.«
»Meinetwegen können sie sich alle gegenseitig an die Kehle gehen«, sagte Stefan. »Um dieses Pack ist es nicht schade.« Insgeheim pflichtete ich ihm bei. Allerdings war mir das Gemetzel, das sie untereinander verübten, zuwider.
»Es kommen immer weniger als Erbe in Betracht. Wir brauchen im Grunde nur abwarten, bis niemand mehr übrig ist.«
»Und wenn der Mörder einer von den Vampiren war?«, fragte ich. »Dann erfahren wir nie, wer die Fürstin umgebracht hat …«
»Und gelangen somit auch nicht an das Erbe«, schlussfolgerte Stefan.
Ich sah ihn scharf an. »Du scheinst sehr versessen darauf zu sein. Was mich angeht, so ist mir nur wichtig, dass ich hier mit heiler Haut rauskomme.«
»Warum verschwindest du dann nicht einfach?«
Wollte er mich loswerden? Wie auch immer, auf seine Frage wusste ich im Grunde keine richtige Antwort. Oder doch: Wo sollte ich hin mitten in der Nacht? Aber auch das war nur ein Vorwand. Die Wahrheit war …
»Juna ist meine Halbschwester. Glaubst du, ich lasse sie so einfach gehen?«, kam mir Coco zuvor. »Sie gehört zu uns!« Sie legte den Arm um meine Taille und drückte mich schwesterlich. Nun ja, halbschwesterlich.
Aber genau das war es, das mich hier hielt: Ich hatte zum ersten Mal im Leben das Gefühl, angekommen zu sein. Mich im Schoße einer Familie zu befinden. Sowohl Coco als auch Michael Zamis hatten mich aufgenommen. Und obwohl mich Thekla Zamis aus Eifersucht hatte umbringen wollen, konnte ich ihr nicht wirklich böse sein – auch wenn es der einzige Wermutstropfen war. Merkwürdigerweise machte es mir auch nicht das Geringste aus, das sie kurz davor meine Mutter erdolcht hatte – ebenfalls aus Eifersucht. Meine Mutter und ich hatten uns ja kaum jemals im Leben gesehen. Und anders als zu meinem Vater hatte ich nie eine Beziehung zu ihr gespürt.
»Am besten gehen wir wieder auf unser Zimmer«, schlug Coco vor. »Wir sorgen dafür, dass niemand hereinkommen kann und warten erst mal die Nacht ab. Vielleicht hat sich dann zumindest meine Mutter etwas beruhigt. Wenn nicht, werde ich mit ihr reden …« Sie bedachte mich mit einem mitleidigen Blick. »Das muss alles furchtbar für dich sein.«
Ich zuckte die Schultern. »Furchtbares bin ich gewohnt. Mein Leben war noch nie so, wie ich es mir gern gewünscht hätte.«
Die Vampire wüteten gegen die Tür. Wer mochte wissen, wie lange sie trotz des Zaubers halten würde? Also sahen wir zu, dass wir wegkamen. Diesmal hatten wir Glück. Niemand kreuzte mehr unseren Weg, und auch die Gänge führten uns nicht mehr in die Irre. Nach kurzer Zeit hatten Coco und ich unser Zimmer erreicht. Stefan wollte uns erneut begleiten, aber diesmal waren wir uns einig, dass wir unter uns bleiben wollten. Coco brachte es ihm schonend bei, und er trollte sich.
Nachdem wir das Zimmer versiegelt und es uns wieder auf dem Sofa bequem gemacht hatten, fragte mich Coco erneut nach meiner Vergangenheit.
»Du hast erzählt, dass meine Mutter dich an diesen entsetzlichen Ort verbannt hat – Graustedt.«
Ich nickte »Ja, es war eine schlimme Zeit für mich …«
Ich kuschelte mich in meine Wolldecke und zog sie mir hoch bis über den Hals. Aber ich fror nicht nur, weil es nach wie vor entsetzlich kalt war. Mir schauderte, wenn ich an Graustedt zurückdachte …
Vergangenheit
»Und jetzt du!«, sagte Onkel Franz, der Schweinedämon, und drückte mir das blutige Schlachtermesser in die Hand, mit dem er zuvor den Freak getötet und fein säuberlich zerlegt hatte.
Ich war keineswegs zartbesaitet. Dazu hatte ich viel zu viel Leiden, Grausamkeit und Tod gesehen und erlebt. Unter den Menschen und Dämonen. Und ich hatte selbst getötet, aber nur, wenn ich selbst angegriffen worden war und mein Leben auf dem Spiel gestanden hatte. Oder wenn ich etwas aus tiefstem Herzen gewünscht hatte. Das Wünschen war mein Fluch. Ich besaß die Gabe, meine Wünsche Wirklichkeit werden zu lassen. Ich hatte stets nur Gutes damit bewirken wollen. Doch zugleich hatte ich damit stets Tod und Verderben ausgelöst.
Fassungslos sah ich Onkel Franz nun an. »Ich – soll …«
»Jetzt nimm es schon, das Messer, du dumme Pute!«, schimpfte Onkel Franz. »Bist du nun eine Dämonin oder nicht?«
Ja, ich war eine Dämonin, wenngleich ich nicht zur Schwarzen Familie gehörte. Und ich war nicht freiwillig in Graustedt und dieser Schlachtfabrik gelandet. Thekla Zamis, von der ich mir Hilfe erhofft hatte, hatte mich nach Graustedt verfrachtet und mich Alfred Rosenkranz »anvertraut«. Der wiederum hatte mich mit Franz bekannt gemacht, den ich Onkel zu nennen hatte. Ich war erst einen Tag hier, aber Graustedt erschien mir jetzt schon wie die Hölle. Dagegen war Wien das Paradies – wenn auch bisher nicht für mich.
»Nimm es!«, wiederholte Onkel Franz drohend, als ich noch immer wie erstarrt vor ihm stand. Ich spürte, wie seine Gedanken nach mir griffen, wie er mich mit roher mentaler Kraft zwingen wollte, ihm zu gehorchen.
In diesem Moment betrat Schlachter Erwin erneut den gekachelten Raum, dessen Boden und Wände rotgetüncht vor Blut waren. Unter dem Arm trug er einen weiteren zappelnden Freak. Der arme Kerl war höchstens einen Meter groß und besaß einen mit Eiterbeulen übersäten Wasserkopf.
Wie zuvor das erste Opfer spannte der Schlachter den Freak in eins der Gestelle, die an den Wänden befestigt waren, und versetzte ihm einen harten Schlag gegen den Schädel. Der Freak kreischte auf, war aber noch bei Bewusstsein. Und das sollte er auch bleiben …
»Mach mir ja nicht schlapp«, sagte der Schlachter, »Schließlich sollst du deine Schlachtung genießen.« Er lachte grausam, wobei sich seine menschliche gallertartige Hülle fast völlig auflöste und darunter die Schweinegestalt wabbelte.
Jetzt erst schien er mich wahrzunehmen. Seine Schweinsäuglein funkelten gierig, als er sagte: »Ah, was haben wir denn da für ein zartes Täubchen?«
»Das Täubchen ist widerspenstig«, sagte nun Onkel Franz. »Es will partout nicht lernen.« Mit dem Messer wies er nun auf seinen Kollegen: »Das ist Erwin. Erwin ist mit Neulingen nicht so nachsichtig wie ich. Willst du, dass ich dich in seine Obhut gebe?«
Erwin grinste nun breit mit seiner Schweineschnauze, und seine Pranke fuhr an sein Gemächt.
»Nein …«, stammelte ich. »Ich – ich will es versuchen …«
»Versuchen will sie es, hört, hört!«, höhnte Onkel Franz und hielt mir erneut das Schlachtermesser hin. Diesmal nahm ich es an mich. Den beiden grausamen Schweinedämonen hatte ich nichts entgegenzusetzen. Aber wenn ich schon töten musste, so wollte ich dem Freak zumindest einen schnellen und, so hoffte ich, weitgehend schmerzlosen Tod bescheren. Der Freak, den Onkel Franz zuerst geschlachtet hatte, hatte lange leiden müssen … Noch immer gellten mir seine Schreie in den Ohren.
»Ich hoffe, du hast dir gemerkt, wo ich vorhin das Messer angesetzt habe«, hörte ich Onkel Franz’ Stimme wie aus weiter Ferne. »Nur dann, wenn sie vor ihrem Tod reichlich Schmerz empfinden, schmeckt ihr Fleisch besonders gut.«
Wieder einmal wurde mir bewusst, wie abartig veranlagt meine Rasse war. Sie wollten die Angst der Geschlachteten auch noch schmecken.
Ich umklammerte den Griff des Messers fester. Die Klinge war noch mit dem Blut des ersten Freaks verschmiert. Und sie war nicht besonders scharf. Sie schien eher stumpf zu sein. Auch das war sicherlich Absicht, damit das Schlachtopfer noch länger zu leiden hatte.
Der Freak sah mir mit vor Angst weit aufgerissenen Augen entgegen. Es waren diese Augen, die mich in ihren Bann zogen. Er mochte ein Freak sein, ein Ausgestoßener aus der Schwarzen Familie, aber er war trotz allem ein Lebewesen. Hinter mir hörte ich Onkel Franz und Erwin hämisch feixen. Entweder, weil sie sich an seiner Angst weideten, oder weil ich in ihren Augen derart zartbesaitet war.
»Nun setz den ersten Schnitt schon an!«, drängte Erwin, »wir haben heute Morgen noch einige weitere Schlachtungen vorzunehmen!«
Und wieder sah ich in die Augen des Freaks, versank nahezu darin und spürte seine Todesangst plötzlich am eigenen Leibe. Ich merkte, wie ich zitterte, so sehr, dass das Messer meinen Fingern entglitt und klirrend zu Boden fiel.
Zugleich mit der Angst, die von dem Freak auf mich übergesprungen war, fühlte ich Wut und Hass auf die beiden Schlächter. Ihre Grausamkeit widerte mich an.
»Nun heb das Messer schon wieder auf, du erbärmliche Trampelsau!«, schrie Onkel Franz. »Gleich mach ich dir Beine!«
Ich will, dass du stirbst!
Kaum hatte ich den Wunsch gedacht, bereute ich ihn. Und rasch korrigierte ich mich:
Nein, ich will nicht, dass überhaupt jemand stirbt!
Aber es war zu spät, den ersten Wunsch zu korrigieren. Außerdem war er so stark, dass ich das Bild des sterbenden Onkel Franz’ direkt vor mir sah. Ja, ich wünschte nach wie vor mit ganzem Herzen seinen Tod! Und möglichst qualvoll sollte er sein! So, wie er zuvor den Freak gequält und getötet hatte!
»Jetzt werd ich dir mal am eigenen Leib zeigen, wie sich so ein Messer im Fleisch anfühlt!«, schrie Onkel Franz. Seine Wut hatte sich zur Raserei gesteigert. Er würde mich wohl kaum umbringen, aber sicherlich Schmerzen zufügen. Ich sah den Geifer aus seiner Schweineschnauze tropfen.
»Ja, zeig’s der kleinen Anfängerin, wie sie zu parieren hat!«, stachelte Erwin ihn an.
»Und ob, verlass dich drauf!« Onkel Franz bückte sich nach dem Messer und ergriff es. Aber da geschah es: In dem Moment, wo er sich wieder aufrichtete, rutschte er auf dem glitschigen Boden aus. Er versuchte sich noch zu fangen, fiel aber aufgrund der Schwerkraft nach vorn. Warum er nicht das Messer fallen ließ, weiß ich nicht. Jedenfalls fiel er so unglücklich, dass die Messerspitze direkt durch die Gallertschicht in seinen Schweinekörper fuhr und sich darin bis zum Heft versenkte. Mitten in sein schwarzes Herz.
Zwei, drei Sekunden lang blieb er reglos liegen. Dann ging ein Zittern durch seinen massigen Körper. Mühsam hievte er sich hoch, bis er auf allen vieren vor mir stand. Seine menschliche Hülle hatte er abgelegt. Der Schweinedämon zeigte sich mir nun ungeniert in seiner wahren Gestalt. Mit roten Augen starrte er mich hasserfüllt an: »Das wirst du büßen!«
Mit sichtlicher Anstrengung zog er sich das Messer aus dem Fleisch. Ich wich einen Schritt zurück und befürchtete, dass er mich angriff. Aber er warf das Messer nur auf den Boden.
»Halt die Schnauze!«, brüllte Onkel Franz, und Erwin schwieg tatsächlich eingeschüchtert.
Onkel Franz aber blieb auf dem Boden hocken, den Blick auf mich gerichtet. Und darin las ich nur eins: Rache! Rache für diese Demütigung!
Den Rest des Tages wurde ich weitgehend in Ruhe gelassen. Dafür musste ich die widerwärtigsten Arbeiten verrichten: Schlachtabfälle entsorgen, Blut und Fäkalien aufputzen – und aus den Ställen, Pferchen und Zellen drangen immer wieder die Schreie der gemarterten Tiere und Freaks an meine Ohren. Und auch Menschen glaubte ich herauszuhören. Ich versuchte, mich weitgehend davon abzuschotten, die fürchterlichen Laute nicht an mich heranzulassen, aber es gelang mir kaum. Dazwischen ertönten die Stimmen und das Gelächter der Schlachter. Ab und zu hörte ich jemanden laut schimpfen und fluchen – wahrscheinlich über eine unfähige Hilfskraft wie mich, die nicht so spurte, wie sie sich das vorstellten. Graustedt war schon schlimm, sozusagen die Vorhölle. Aber die Schlachtfabrik war die Hölle selbst – und dabei hatte ich bisher nur an der Oberfläche gekratzt.
Als ich abends endlich in mein Bett fiel, war ich völlig erschöpft. Doch die Erschöpfung war nicht nur körperlich, sie betraf auch meinen Geist. Wieder einmal war ich gegen meinen Willen in einem Albtraum gelandet. Und diesmal sah ich keinen Ausweg, ihm zu entkommen.
Ich war so müde, dass ich selbst den bohrenden Hunger in meinen Eingeweiden ignorierte. Auch in der Schlachtfabrik hatte ich nichts angerührt. In der Kantine hatte es für jeden die gleiche Kost gegeben: einen blutigen Brei mit Knorpelstücken. Während die meisten Arbeiter ihn gierig heruntergeschlungen hatten, hatte ich mich fast darüber erbrochen.
Die Tür wurde aufgerissen, und Alfred Rosenkranz stand im Türrahmen. »Was hast du dir da heute Morgen in der Fabrik geleistet?«, fragte er mich mit zornbebender Stimme. Ich war aufgesprungen und sah ihn ängstlich an.
»Ich habe doch gar nichts getan!«, versuchte ich mich zu verteidigen. Denn strenggenommen hatte ich das auch nicht. Niemand wusste, dass ich Onkel Franz den Tod gewünscht hatte. Und immerhin hatte dieser ihn ja auch gar nicht ereilt. So gesehen konnte mir eigentlich niemand etwas vorwerfen …
»Du hast Onkel Franz’ Anweisungen nicht befolgt!«, schrie er.
»Er … er ist nicht mein Onkel!«, widersprach ich. Es widerte mich an, ihn so zu nennen, und ich schwor mir in diesem Moment, es auch nicht mehr zu tun. »Und ich habe nichts verbrochen!«, setzte ich hinzu.
»Wegen dir hat er sich das Messer ins Herz gestoßen. Das kann noch böse Folgen haben!«
»Es tut mir leid, dass das passiert ist«, heuchelte ich. »Aber ich bin nun mal keine gute Schlachterin.«
»Jeder lernt es mit der Zeit – auch du!«, grollte er, aber ich hatte das Gefühl, dass seine Wut schon wieder verraucht war. »Hier habe ich dein Abendbrot«, fuhr er schließlich fort. »Schließlich sollst du uns nicht vom Fleisch fallen.«
Erst jetzt bemerkte ich die dampfende Suppentasse in seinen Händen. Es war die gleiche eklige Brühe wie am Tag zuvor, doch jetzt dominierte mein Hunger gegen die Müdigkeit, und ich riss ihm die Tasse praktisch aus den Händen.
Diesmal versuchte er nicht wieder, mich zu begrabschen. Ich war froh darüber, denn wahrscheinlich hätte ich kaum mehr Kraft gehabt, mich gegen seine Attacken zu wehren.
Ich atmete auf, als er sich brummend verabschiedete und die Tür hinter sich schloss.
Nachdem ich die Suppe ausgelöffelt hatte, fiel ich in einen tiefen, traumlosen Schlummer.
Die Tage in Graustedt glichen sich wie einer dem anderen. Frühmorgens ging es ohne Frühstück in die Fabrik, und abends fiel ich todmüde ins Bett. Nach wie vor wurde ich für die niedrigsten und schmutzigsten Arbeiten herangezogen, aber im Gegensatz zum ersten Tag hatte sich etwas geändert: Niemand verlangte mehr von mir, jemanden zu schlachten. Auch Franz war verschwunden. Ich schnappte Gerüchte auf, die besagten, dass er sich eine Blutvergiftung zugezogen habe und es ihm von Tag zu Tag schlechter ging. Da musste ich an den Fluch denken, meinen Wunsch. Würde er doch in Erfüllung gehen? Ich hoffte es nicht.
Mittlerweile ging ich jeden Morgen allein zur Fabrik, ohne dass Alfred Rosenkranz mich begleitete. Als ich diesmal über den Fabrikhof ging, um mich bei einem der Vorarbeiter zu melden, lernte ich Sophia kennen. Bisher waren mir die anderen Arbeiter aus dem Weg gegangen. Jeder, der in der Schlachtfabrik beschäftigt war, schien mit sich selbst beschäftigt. Es gab keine Grüppchen oder jemanden, der sich mit dem anderen unterhielt. Wie auch, es gab ja bis auf den Mittag keine Pausen, und die Arbeit war hart. Gespräche schienen generell verpönt zu sein. Und auch während der Mittagsfütterung, wie ich sie insgeheim nannte und bei der ich nach wie vor keinen Bissen herunterbekam und nur etwas trank, herrschte Schweigen, das nur unterbrochen war von dem gierigen Schlürfen, Schmatzen und den Rülpsern der Belegschaft. Wir Hilfsarbeiter bekamen ausschließlich die widerliche Blutsuppe vorgesetzt, während Dämonen wie Erwin große rohe Fleischbrocken vertilgten und die gierigen, hungrigen Blicke der anderen dabei noch zusätzlich genossen. Manchmal warf einer der Schweinedämonen einen halbabgenagten Knochen fort, und sofort balgten sich ein paar hungrige Mäuler darum.
Sophia war mir bisher nicht aufgefallen, aber wieso auch? Es gab bestimmt hundert Arbeiter, und viele waren in meinem Alter. Und wie Graustedt selbst, so schienen mir auch ihre Bewohner, zu denen auch ich mich nun zählte, ihre Farbe abgelegt zu haben. In unseren grauen, blutbefleckten Arbeitskitteln sahen wir alle gleich aus.
Sophia war plötzlich an meiner Seite und sprach mich an: »Hi, woher kommst du eigentlich?«
Ich war so in Gedanken versunken gewesen und so überrascht, dass mich ernsthaft jemand beachtete, dass ich zusammenzuckte.
Sophia war in meinen Alter. Sie hatte rotgefärbte, struppige Haare und ein Lausbubengesicht. Nase und Ohren waren gepierct. Das fand ich nicht nur außergewöhnlich, sondern auch sehr mutig.
»Aus Wien«, sagte ich. »Und du?«
»Aus Köln. Hat man dich auch mit dem Versprechen hierhergelockt, dass du hier einiges lernen kannst?«
»Nein, ich bin hier, weil man mich wohl aus dem Verkehr ziehen wollte.« Mehr brauchte sie nicht zu wissen. »Und was sollte man hier schon lernen? Zu töten vielleicht? Zu quälen und die Schlachtopfer möglichst lange leiden zu lassen?«
»Mir hat man vorgegaukelt, in Graustedt meine Fähigkeiten als Hexe erweitern zu können.« Sie seufzte. »Aber wahrscheinlich war es wie bei dir: Meine Familie wollte mich nur loswerden, weil ich aus der Art geschlagen bin, wie sie immer sagen.«
»Dann bist du so was wie das schwarze Schaf?«
»Eher das rote«, grinste sie und wies auf ihre gefärbten Haare. »Auf jeden Fall hasse ich es, Fleisch zu essen. Ich bin Vegetarierin, musst du wissen …«
Ich war so erstaunt, dass ich anhielt und sie erstaunt ansah. »Aber wie überlebst du dann hier?« Ich hatte bisher außer Fleisch keine andere Nahrung erhalten.
»Das war am Anfang nicht leicht. Ich bin jetzt seit einem Jahr in Graustedt. Aber es gibt Möglichkeiten … Die Freaks kommen manchmal nach draußen und schmuggeln etwas herein. Außerdem ist mein Spezialgebiet Kräuterkunde. Wenn du länger hier bist, wirst du sehen, dass es noch ein paar andere Möglichkeiten gibt … Du magst auch kein Fleisch, oder?«
»Fleisch schon, aber nicht dieses widerliche Zeug, das sie uns hier vorsetzen.«
»Ich habe dich die letzten Tage beobachtet«, gab das Mädchen zu. »Du rührst nichts an, trinkst nur was. Und wirst immer dünner dabei.«
»Abends würg ich zumindest die Suppe hinunter, die mir Rosenkranz vorsetzt.«
Sie verzog den Mund. »Du wohnst bei diesem Fettsack?«
»Wohnen kann man das kaum nennen. Eher hausen. Kennst du Rosenkranz?«
»Ich hab am Anfang auch bei ihm – gehaust. Er hat mir ständig nachgestellt. Dann hat er mich an einen anderen Haushalt verliehen, weil ich, wie er es nannte, zu widerspenstig war. Jedenfalls gehört ihm ein Großteil der Fabrik. Er ist ziemlich einflussreich. Wenn du es einigermaßen bequem haben willst, brauchst du dich nur gut mit ihm zu stellen.«
»Will ich aber nicht. Ich finde ihn genauso widerwärtig wie du.«
»Aber wenn du überleben willst, musst du mehr essen.« Sie wühlte in ihrer Kitteltasche. »Hier, ich habe dir etwas mitgebracht. Aber pass auf, dass es keiner der Schinder sieht!«
Sie drängte sich an mich und schob mir schnell ein kleines Päckchen zu, das ich ebenso schnell in meiner Kitteltasche verschwinden ließ. Dann beschleunigte sie ihren Schritt, drehte sich jedoch noch einmal um und rief mir laut zu: »Dumme Pute!«
Erst jetzt sah ich das feiste Gesicht eines Schweinedämons hinter der schmierigen Glasscheibe des Pförtnerhäuschens rosa aufblitzen. Wahrscheinlich hatte er uns die ganze Zeit beobachtet.
Ich tat, als sei nichts gewesen, ging an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten, und meldete mich bei einem der Vorarbeiter zum Dienst an.
Aber ich konnte es kaum erwarten, endlich irgendwann unbeobachtet zu sein und nachzuschauen, was mir das fremde Mädchen zugesteckt hatte. Ich wickelte es aus und fand ein Butterbrot in dem Papier vor. Neugierig lüftete ich die obere Scheibe und sah, dass es mit dicker Butter, Käse und sogar einem Salatblatt belegt vor. Voller Heißhunger biss ich hinein und verschlang es gierig.
Von dem Tag an steckte mir Sophia, wie meine neue heimliche Freundin hieß, jeden Tag ein Butterbrot zu, und ich sehnte den Moment stets herbei. Ich nahm zwar nicht zu, aber ich magerte auch nicht weiter ab.
Zumindest ab und an konnten wir ein paar Worte wechseln. Unsere Aufseher sahen es nicht gern, wenn wir herumstanden und Maulaffen feilhielten. Solange wir in der Schlachtfabrik waren, fühlte ich mich eh die ganze Zeit über wie aus unsichtbaren Augen beobachtet.
Sophia war es, die mir vorschlug, uns nach Feierabend zu treffen.
»Dürfen wir denn das?«, fragte ich ängstlich. Bis dahin hatte ich außer der Fabrik und meiner Behausung nicht sehr viel von Graustedt gesehen – bis auf den Tag meiner Ankunft – und auch keinerlei soziale Kontakte geknüpft.
»Wer fragt denn danach? Die Schweine interessiert nur, ob wir auch arbeiten – solange sie uns lassen.«
»Was willst du damit sagen?«, fragte ich, aber sie winkte ab und fragte erneut: »Also, was ist? Treffen wir uns nach Feierabend hinter der Fabrik?«
Sie hatte recht. Ich war schließlich keine Sklavin. Allerdings hatte ich noch einen Grund gehabt, mich nicht aus meiner Deckung hervorzuwagen. Es hieß, dass Franz im Sterben lag. In der Kantine hatte ich den schrecklichsten Gerüchten gelauscht. Eines davon besagte, dass die Blutvergiftung seinen Körper wie einen Ballon hatte anschwellen lassen. Ein anderes, dass er zwar noch lebe, aber bei lebendigem Leibe verfaule. Natürlich war ich schuld daran, und es tat mir keine Sekunde leid, dass ich ihn verflucht hatte. Aber ich wartete noch auf den Preis dafür. Es wäre zu schön gewesen, wenn er diesmal folgenlos bleiben sollte. Doch das war mein Fluch: Wenn ich etwas wünschte, so ging es zumeist in Erfüllung. Doch gleichzeitig geschah etwas Schreckliches, Unvorhersehbares, sodass ich das Wünschen weitgehend vermied.
Als wir uns nach Feierabend hinter der Fabrik trafen, war es schon dunkel. Schwarze Wolken trieben am Himmel und verdeckten den Vollmond. Es nieselte und war ungemütlich kalt. Eigentlich war es nicht das richtige Wetter, um sich draußen herumzutreiben. Sophia hatte einen Rucksack dabei, den ich am Morgen noch nicht bemerkt hatte.
Sie nahm meine Hand und zog mich mit sich fort.
»Wohin gehen wir?«, fragte ich neugierig.
»Ich zeig dir, wie man in Graustedt Spaß haben kann«, sagte sie.
Spaß und Graustedt – das erschien mir unvereinbar zu sein. Auch auf den Gehsteigen, die mich Sophia nun entlangführte, kamen uns die meisten Passanten mit ausdrucksloser Miene entgegen. Manche schienen sogar innere Qualen zu erleiden – Qualen, die sich auf ihrem Gesicht regelrecht abzeichneten: dunkle Augenringe, dicke Tränensäcke, eingefallene Wangen, verkniffene Münder … und alle hatten sie das Grau, das diese Stadt beherrschte, geradezu aufgesogen, waren selbst ein Teil davon geworden.
Auch der Straßenverkehr bot kein bunteres Bild. Die wenigen Wagen, die an uns vorbeifuhren, hatten ihre Lackierung längst eingebüßt. Die Insassen darin wirkten wie verblasste Gespenster, die teilnahmslos geradeaus starrten. Es gab kaum Personenwagen, wenn doch, dann saß hinter dem Steuer ein Dämon. Die Lieferwagen waren in der Überzahl. Überall in Graustedt wurden Waren verarbeitet, und es herrschte ein reger Austausch.
Schließlich hielten wir an einer Straßenbahnhaltestelle an. Ein paar weitere Leute warteten dort bereits. Männer und Frauen, die in den umliegenden Fabriken arbeiteten.
Mir fiel plötzlich ein, dass ich gar kein Geld dabeihatte. Das, was mir Thekla Zamis zugesteckt hatte, lag gut versteckt unter einer losen Bodendiele in meiner Hütte. Es war mir zu gefährlich erschienen, Bargeld mit in die Fabrik zu nehmen.
»Ich kann mir keinen Fahrschein kaufen«, klärte ich Sophia auf, aber sie hatte dafür nur ein müdes Lächeln über.
»Man merkt, dass du wirklich noch nicht lange in Graustedt bist. Hast du bei Rosenkranz deine Unterkunft je mit Geld bezahlen müssen? Oder in der Kantine, auch wenn du bisher keinen Bissen herunterbekommen hast?«
»Ich würde lieber bezahlen und dafür etwas Vernünftiges zu essen kriegen.«
»Darum geht es nicht, Juna. Wir zahlen hier nur mit unserem Körper. Indem wir in der Fabrik schuften zum Beispiel. Und die widerlichen Schweinedämonen uns bei jeder Gelegenheit nachstellen und uns mit ihren Pfoten betatschen. Und sie sich über unseren Ekel erheitern, wenn sie uns die widerlichsten Schlachtabfälle vorsetzen.«
Und sich an unserem Entsetzen weiden, wenn wir ihre Grausamkeiten mitansehen müssen …
Unsere Unterhaltung wurde jäh abgeschnitten, als die Straßenbahn mit kreischenden Bremsen anhielt. Sie kam mir vor wie ein feuerspeiendes Ungetüm. Solch ein öffentliches Verkehrsmittel hatte ich noch nie gesehen. Es war schwarz lackiert, aber von einem Schwarz, das zu vibrieren schien, zu flackern, wie wenn man in ein tiefes, dunkles Loch schaut, das sich irgendwo in der Tiefe verliert.
»Komm schon!«, drängte Sophia, »Sonst fährt sie ohne uns weiter!«
Wir waren die Letzten, die einstiegen, aber dennoch setzte ich nur zögernd einen Fuß auf die Stufen. Alle meine ansonsten eher kümmerlich ausgeprägten Hexensinne schlugen Alarm.
»I… ich weiß nicht recht«, sagte ich, aber da schob mich Sophia schon weiter.
Ich war überrascht, dass es keinen Fahrer gab, und offensichtlich auch sonst niemanden, der die Fahrscheine verkaufte.
»Müssen wir denn nicht zahlen?«, fragte ich erstaunt.
»Natürlich müssen wir das. Ich sagte doch, dass die Schweine uns für alles zahlen lassen …«
Die Sitze waren fast sämtlich belegt. Niemand beachtete uns weiter. Die stumpfsinnigen Blicke, mit denen die Graustedter ins Leere schauten, fand ich fast schon beängstigend, und ich fragte mich, was wohl in den Köpfen vorgehen musste. Sie kamen mir vor wie eine Roboterarmee. Würde ich auch so werden wie sie, wenn ich länger in Graustedt blieb? Andererseits war auch Sophia nach eigenen Angaben schon ein Jahr hier, und sie wirkte im Gegensatz zu den anderen erfrischend selbstbewusst und lebendig.
Wir zwängten uns durch den engen Gang und ergatterten zwei Plätze nebeneinander. Als ich mich jedoch in den Sitz fallen ließ, schrie ich auf. Es war, als hätten sich Hunderte winziger Nadeln in meine Oberschenkel und meinen Po gebohrt. Unwillkürlich wollte ich aufspringen, aber ich war wie fixiert.
Gleichzeitig setzte sich die Straßenbahn mit lautem Schrillen in Bewegung.
»Bleib gang ruhig sitzen, dann schmerzt es am wenigsten«, sagte Sophia, die bemerkt hatte, dass mit mir etwas nicht stimmte.
»Aber was ist es?«, fragte ich. »Es ist – schrecklich!«
»Das ist der Preis«, erklärte Sophia. »Der Blutzoll. Während die Straßenbahn uns an ihr Ziel bringt, schöpft sie unser Blut. Keine Angst, es tut nur beim ersten Mal etwas mehr weh und hört auch gleich wieder auf …«
Sie hatte recht. Bereits nach einer Minute verwandelte sich der Schmerz in ein Kribbeln, das mich eher an tausend Nadelstiche erinnerte. Nach einer weiteren Minute empfand ich es sogar als angenehm. Ich entspannte mich allmählich. Dabei wunderte ich mich selbst, dass ich mir keine größeren Sorgen um diese ungewöhnlichste Art von Blutraub machte, die ich bisher erlebt hatte. Im Grunde war diese Straßenbahn nichts anderes als ein riesiger Vampir. Und auch Vampire machten ihre Opfer willenlos …
»Wohin fahren wir eigentlich?«, fragte ich Sophia.
»Lass dich überraschen. Ich werde dich ein paar meiner Freunde vorstellen.«
Freunde? Gab es etwa noch andere Menschen in Graustedt, die so herrlich normal waren wie Sophia? Nach den vielen Tagen und Nächten, in denen ich mich völlig isoliert gefühlt hatte, spürte ich eine regelrechte Vorfreude, weitere Verbündete zu finden. Freunde!
Immer wieder hielt die Straßenbahn an. Fahrgäste stiegen aus, andere strömten herein. Sie alle sahen erschöpft und müde aus. Graustedter eben. Auch herrschte in der Straßenbahn eine fast schon bleierne Stille, die nur ab und zu von einem Seufzer unterbrochen wurde. Wenn dieser nicht eh von dem kreischenden Lärm, den die Straßenbahn während ihrer rasenden Fahrt verursachte, übertönt wurde.
Ich schaute aus dem beschlagenen Fenster und versuchte, etwas mehr zu sehen. Ein paarmal glaubte ich, einen vertrauten Straßenzug zu erkennen, aber ich war mir nicht sicher. Aber endlich hielt die Straßenbahn erneut, und diesmal wusste ich, wo wir uns befanden: Direkt vor dem Bahnhofsgebäude. Wenn man so wollte, so hatte hier meine Leidenszeit in Graustedt begonnen.