Leseratten Verlag
präsentiert
Backnang Stories 2017
Die 20 besten Geschichten
des Schreibwettbewerbes
aus dem Jahr 2017
Marc Hamacher (Hrsg.)
Backnang Stories 2017
ISBN 978-3-945230-31-2
1. Auflage, Allmersbach im Tal 2017
Alle Rechte und Pflichten der jeweiligen Erzählung liegen beim Autor.
Bild: Tanja Hamacher
Cover: Marc Hamacher
Satz und Layout: Tanja und Marc Hamacher
Lektorat: Carina Bein, Marc Hamacher
Herausgeber: Marc Hamacher
© 2017, Leseratten Verlag, Allmersbach im Tal
www.leserattenverlag.de
Immer schon lagen Schrift und Bild in den Köpfen der Menschen nahe beieinander. Ob die Bilder zur Schrift nun nur in der Fantasie oder aber auf der Kinoleinwand erstrahlen – sie können immer etwas erreichen. Sie können uns träumen oder in andere Welten abtauchen lassen, sie können beflügeln, uns emotional erreichen UND – sie können animieren.
Animieren konnten auch Tanja Kummer und Marc Hamacher vom Leseratten Verlag, indem sie 2014 erstmals einen Schreibwettbewerb für Kurzgeschichten ausriefen, die in irgendeiner Weise einen Bezug zu unserer schönen Heimatstadt Backnang haben sollten. Ob sie da schon ahnten, wie kreativ die Autorinnen und Autoren tatsächlich sind? Dass uns in einem einzigen Buch wie in diesem hier Gespenster, eine Sonnenfinsternis, eine philosophierende volltrunkene Sängerin, Zombies, ein Einhorn, Baileys-Pralinen, mystische Geisterkatzen, Vampire, Mücken auf Blutsaugerurlaub, eine Jugendgang oder eine Hexe im Plattenwald begegnen?
Wir sind schon sehr gespannt auf die Lesungen, die ja immer an ganz verschiedenen Orten stattfinden. Ob in der Stadtbücherei, im Juze, bei Sascha Wolter oder auch bei uns im Kino Universum, wo wir seither viel Spaß hatten. Mal gab es Kurzfilme zwischendrin, mal schneite der Nikolaus herein und dann wieder stellte sich heraus, dass Verleger Marc Hamacher ein Sänger ist, der mal schnell solo oder mit den Autoren Marina Heidrich und Marcus Burkhardt eine musikalische Umrahmung zaubern kann. Multitalente kann man da nur sagen. Besonders überraschend war der (natürlich lautstark musikalische) Auftritt der Lohkästrampler, die schwungvoll den Saal stürmten. Schließlich waren sie die Hauptprotagonisten einer der Gewinner-Geschichten. Welch ein Highlight.
Nun gratulieren wir nicht nur denjenigen ganz herzlich, deren Werke den Weg ins neue Buch gefunden haben, sondern wir bedanken uns bei allen, die ihre Geschichten eingesandt und uns somit an ihrer Fantasie teilhaben lassen. Etwas, das man selbst geschrieben hat, ist zunächst immer etwas ganz Persönliches. Dies mit anderen zu teilen – dazu gehört eine große Portion Mut. Danke, dass ihr alle diesen Mut hattet. So werdet auch ihr animieren: uns dazu, zu lesen und viele andere dazu, es euch gleich zu tun!
Annegret Eppler
Kino Universum Backnang
Der Zustrom an Geschichten für die Backnang Stories ist weiter ungebremst und mit dieser Ausgabe 2017 setzen wir die Tradition so fort, wie wir sie uns gewünscht haben. Vielen Dank an alle Teilnehmer - weiter so, Ihr seid alle super!
Dabei zeigen die Autorinnen und Autoren immer wieder, wie sie am Puls der Zeit hängen. So dürfen aktuell natürlich auch keine Einhörner fehlen. Außerdem haben wir diesmal auch einige eher gruselige Geschichten dabei. Alles in allem zeigt sich wieder die Vielfalt der Fantasie der Backnangerinnen und Backnanger.
Wie immer an dieser Stelle möchte ich mich bei den Sponsoren der Preise für die Gewinnergeschichten bedanken, welche im Buch immer an der entsprechenden Stelle erwähnt werden. Und den vielen Backnanger Einzelhändlern, welche uns bei der Bewerbung unseres Backnang Stories Projektes unterstützen. Ein weiterer Dank geht an die Jury, die sich allen Geschichten angenommen haben. Die Bewertung fand wie immer anonym statt, also ohne dass die Jury wusste, vom wem welcher Beitrag geschrieben wurde. Auf unserer neu erstellten Facebookseite (www.facebook.com/BacknangStories) werden wir zusätzlich zur Verlagshomepage aktuell über das Projekt schreiben, die Autoren, Sponsoren, Jurymitglieder vorstellen, aber natürlich auch über Projektentwicklungen und Termine informieren. Wir würden uns über ein Besuch und ein Like freuen.
Auch traditionell wird es zwischen Mitte November 2017 bis Mitte Dezember 2017 mehrere Lesungen aus den Backnang Stories 2017 geben. Wir haben einen bunten Strauß an Veranstaltungsorten gebunden und hoffen, dass Sie die Zeit finden, hier und da einfach dabei zu sein, um die Autorinnen und Autoren zu unterstützen.
Abschließend möchte ich an dieser Stelle noch den Hinweis geben, dass es auch 2018 einen Schreibwettbewerb und die Backnang Stories geben wird. Oft wurde ich am Verlagsstand gefragt, ob wir denn auch ein reines Kinderbuch im Programm hätten. Sicherlich sind viele der bisherigen Geschichten aus der Buchreihe auch für Kinder und Jugendliche geeignet, aber eben nicht alle. Deswegen steht die kommende Ausgabe für 2018 unter dem Motto Backnang Stories 4Kids. Wir suchen also bis zum Einsendeschluss am 01. Mai 2018 gezielt Geschichten, die für Kinder und Jugendliche geeignet sind.
So … aber nun viel Spaß mit dem aktuellen Band und den tollen Geschichten.
Marc Hamacher
Leseratten Verlag
Sabine Baumert
Sabine Baumert unterrichtet an der Backnanger Jugendmusikschule, deren zentrales Unterrichtsgebäude im Bandhaus untergebracht ist. Außerdem ist sie als freie Journalistin tätig.
Wenn sie nicht gerade mit Musik oder dem Schreiben beschäftigt ist, erkundet sie gern per Fahrrad die Umgebung oder macht Handarbeiten. In ihrem Haushalt in Kornwestheim leben auch die Wellensittiche Pitti und Krümel.
Backnang, im Juni 1946
Nachdenklich schaut Edda Thiel auf den dicken Brief, der vor ihr auf dem einfachen Küchentisch liegt. Da steht als Empfänger nur: Edda Thiel, Bac-nang. Der Name der Absenderin auf der Rückseite ist ihr vollkommen unbekannt. Gerade ist Max, der junge Postbote, wieder auf seinem klapprigen Fahrrad davongerast.
»Tari, trara, die Post ist da«, hatte er übermütig gerufen, als er ihr den Brief aushändigte. Er war sich sicher, dass sich Edda über diese private Post freuen würde. Sonst brachte er ihr meist offizielle Briefe von Behörden oder Rechnungen.
Andererseits konnte er nur wegen diesen anderen Sendungen überhaupt vermuten, wer mit dem Empfänger gemeint sein könnte. Edda Thiel und ihre Schwester Irmi wohnten noch gar nicht lange in dem beschaulichen schwäbischen Städtchen. Durch Frau Hägele, die neugierige Nachbarin, hatte Max erfahren, dass die beiden Schwestern die einzigen Mitglieder ihrer Familie waren, die die Flucht aus dem weit enfernten Ostpreußen heil überstanden hatten.
»Die schwätzet so komisch, wisset Se«, hatte Frau Hägele dem Max einmal vertraulich zugeflüstert. Und Sachen würden die beiden kochen – das könne er sich gar nicht vorstellen, wie seltsam das manchmal aus der Küche des kleinen Häuschens riechen würde.
»Immerhin ist unser merkwürdiger Name gut dafür, dass man für Briefe an uns keine Straße dazuschreiben muss«, hatte Edda vorhin zu Max gesagt.
Herr Maurer, Max’ Vorgesetzter im großen Backnanger Postamt, war allerdings gar nicht damit einverstanden gewesen, dass Max den Brief zustellte. Schließlich müsse ein Brief ordnungsgemäß mit Namen, Ort und Straße des Empfängers adressiert sein. Sonst sei er an den Absender zurückzuschicken. Doch die jungen Postbeamten hatten schließlich Herrn Maurer dazu überreden können, Max den Brief mit in seine große Posttasche zu geben. Der Brief sah so aus, als habe er schon einen sehr viel weiteren Weg zurückgelegt als nur von Heidelberg nach Backnang. An einigen Stellen war der Umschlag eingerissen, hinten sah er aus, als sei er in einen schweren Regenguss geraten. Nur weil der Absender mit Kugelschreiber geschrieben war, konnte man ihn überhaupt noch lesen. Und dann waren vorn so merkwürdige Zeichen, die aussahen wie kleine quadratische Bilder. Neben dem Empfänger stand in roten Buchstaben: Return to Germany.
»Weiß einer, was das bedeutet?«, fragt Max in die Runde seiner jungen Kollegen.
»Irgendwas Ausländisches«, vermutet der rothaarige Erwin.
»Und, verstehst du es?«, fragt Max.
»Noi, i kann a bissle Hochdeitsch, des langt mer«, findet Erwin. Und überhaupt, klar sei der Brief von weit her, schließlich käme er aus dem Land der Gelbfüßler.
Nun sitzt die junge Frau mit dem dunklen Lockenkopf und den braunen Augen, in die Max ewig schauen könnte, in ihrem Häuschen und überlegt, was sie mit dem Brief machen soll. Einerseits brennt sie vor Neugier, ihn gleich zu öffnen. Andererseits möchte sie ihre Schwester Irmi an der Aufregung teilhaben lassen. Also warte ich lieber, bis Irmi von der Arbeit nach Hause kommt, denkt Edda. Die hat im Gegensatz zu ihr gleich Arbeit in einer Lederfabrik unten an der Murr gefunden und hat heute Frühschicht. In einer Stunde müsste sie zu Hause sein. So lange werde ich es schon noch aushalten, denkt Edda. Sie verbringt sowieso viel Zeit mit Warten. Denn die württembergische Schulbehörde tut sich offenbar schwer damit, Eddas Abschluss als ausgebildete Erzieherin von einer angesehenen ostpreußischen Fachschule anzuerkennen. Solange sie von dort keinen Bescheid hat, betreut Edda Peter, Ruth und Jochen, die Kinder der Nachbarsfamilie, die die junge Frau sofort in ihr Herz geschlossen haben.
Januar 1946, Nanchang in China
»Schau mal, was da für ein merkwürdiger Brief bei uns eingegangen ist«, wendet sich die junge Postbeamtin Yulan an ihren gleichaltrigen Kollegen Tian. Dessen Name bedeutet Himmel und ihrer Magnolie. Beides passt insofern sehr gut zusammen, als Tian immer im siebten Himmel schwebt, wenn er in Yulans Mandelaugen schaut. Sie sieht so zart und zerbrechlich aus, dass Tian den Namen einer zarten Frühlingsblüte absolut passend für sie findet. Leider ist Yulan an der Arbeit weitaus mehr als an ihrem Kollegen interessiert. Obwohl sie den schon sehr nett findet. Aber Privates hat nun mal in der nüchternen Poststation nichts zu suchen. Tian seinerseits steigt unwillig von Wolke sieben ein paar Stufen tiefer in die Niederungen des chinesischen Postleralltags. Auch er inspiziert den Brief aus merkwürdigem Papier, der auch so seltsam verschlossen ist.
»Stimmt, so etwas habe ich auch noch nie gesehen«, pflichtet er Yulan bei.
Es ist den beiden ein Rätsel, wie die Sendung mit den seltsamen Zeichen auf der Vorderseite überhaupt in die große Stadt im Südosten Chinas gelangen konnte. Wie die chinesische Bilderschrift sehen die jedenfalls keinesfalls aus. Da würde man den zweiten Namensbestandteil von Nanchang mit Schriftzeichen schreiben, die ein wenig so aussehen wie ein kleiner Stapel Bücher.
»Aber irgendwie müssen wir den Brief ja zustellen«, sagt Tian, der zwar nicht sonderlich ehrgeizig ist, aber immerhin einer Familie mit vielen Postbeamten entstammt, der Pflichterfüllung über alles geht.
Der Abteilungsleiter der beiden ist gerade auf einer Schulung. Er hat gesagt, er habe großes Vertrauen zu seinen jungen Beamten. »Entscheidet ihr ruhig auch einmal etwas alleine.«
»Ich habe auch schon eine Idee, wer uns da weiterhelfen könnte«, freut sich Yulan. Ihre jüngste Schwester arbeitet am Hauptbahnhof im Fahrkartenverkauf und hat ab und zu mit ausländischen Fahrgästen zu tun, die auf der Hauptstrecke von der Hauptstadt Peking in die große südchinesische Stadt Nanchang unterwegs sind. »Meine Familie müsste jetzt eigentlich zu Hause sein«, überlegt Yulan. »Dann können wir sie gleich mal fragen, und ich kann dich meiner Familie vorstellen. Die fragen sowieso schon immer, mit wem ich denn da arbeite.«
Da ist Tian wieder auf seiner Wolke sieben angekommen. Dass er so schnell einmal zu Yulan nach Hause kommen könnte, hätte er sich in seinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt.
Bei Yulan zu Hause wird er freundlich begrüßt. Ihre Eltern und Geschwister freuen sich, jemanden von ihrer Arbeitsstelle kennenzulernen, denn sie arbeitet noch nicht lange dort. Nun hält auch Tian eine Schale mit dampfendem Tee in der Hand.
»Hast du schon einmal so etwas gesehen?«, fragt Yulan ihre Schwester Ling.
»Doch, ich weiß zwar nicht, was es bedeutet. Aber ich weiß, dass Menschen aus Europa so schreiben. Manchmal kommen Fahrgäste zu uns, die Angaben zu ihrer Fahrt in dieser Schrift dabei haben. Morgen ist meine Kollegin Lien wieder da, die kann euch sicher weiterhelfen. Da kaufen die meisten schon ihre Fahrscheine für den Expresszug nach Peking, der übermorgen geht. Lien betreut die ausländischen Passagiere. Am besten kommt ihr bei ihr vorbei.«
Am nächsten Morgen macht sich Yulan auf den Weg zum Hauptbahnhof. Beinahe hätte sie das Wichtigste vergessen, nämlich den Brief. Aber zum Glück hat Tian aufgepasst. Er geht nicht so gerne vom Büro weg, zumal sein Chef weg ist und wenigstens immer ein Beamter vor Ort sein sollte. Aber er ist sehr gewissenhaft und hat gleich gemerkt, dass seine temperamentvolle Kollegin beinahe den Brief vergessen hätte, weil sie in Gedanken schon am Bahnhof war.
Dort heißt es sich allerdings in Geduld zu üben, denn an Liens Fahrkartenschalter warten jede Menge Leute darauf, sich eine Fahrkarte für den Zug zu sichern. Wer keinen Fahrschein mehr ergattert, muss dann nämlich eine Woche bis auf den nächsten Express warten. Doch schließlich hat Lien auch den letzten Kunden mit einer Fahrkarte versorgt und bittet Yulan zu sich hinter den Verkaufstresen.
»Ich bin schon ganz gespannt«, begrüßt sie die jungen Postbediensteten. »Ling hat mir gleich heute früh von dem mysteriösen Brief erzählt. Jetzt lass mich mal sehen.« Yulan gibt ihr das Schreiben. »Da steht als Adresse Bac-nang darauf. Da hat sicher jemand gedacht, wir probieren es mal in Nanchang, das hat die gleichen Vokale und auch die gleiche Endung. Bac-nang gibt es aber in ganz China nicht. Da bin ich mir sicher, schließlich müssen wir die Namen aller Bahnhöfe im ganzen Land im Kopf haben.«
»Ja, was sollen wir denn jetzt machen?«, fragt Yulan, die zur Abwechslung mal nicht sofort eine Lösung parat hat.
»Am besten gebt ihr gleich morgen früh den Brief wieder im Postabteil ab. Die schicken den Brief wahrscheinlich wieder zurück. Ich bin mir ziemlich sicher, dass da ein Ort in Deutschland gemeint war. Ich schreibe also auf Englisch dazu: Zurück nach Deutschland. Hinten als Absender steht auf alle Fälle jemand in Heidelberg, das ist dort eine sehr bekannte Stadt. Mir ist es sowieso ein Rätsel, wieso man den hier nach China geschickt hat. Normalerweise steht da immer ein Ländername dabei, wenn die Sendung ins Ausland gehen soll.«
»Danke, du hast uns sehr geholfen«, verabschiedet sich Yulan.
Am nächsten Morgen, noch vor der Arbeit, begeben sich Yulan und Tian zum Expresszug nach Peking, der extra ein Postabteil hat, damit Sendungen in die Hauptstadt schnell transportiert werden können. So kann Tian das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Einerseits ist er so länger mit Yulan zusammen, andererseits kann er dem Beamten im Zug pflichtgemäß die Sendung persönlich aushändigen.
»Wie gern würde ich mit euch im Postabteil mitfahren«, seufzt Yulan.
»Dann bewirb dich doch«, rät ihr älterer Kollege. »Wir suchen hier immer Leute. Es ist schließlich nicht jedermanns Sache, tagelang im Zug unterwegs zu sein.«
»Vielleicht mache ich das wirklich mal«, überlegt die junge Frau. »Und – würdest du mitkommen?«, fragt sie Tian. Der ist eigentlich gar nicht begeistert vom Reisen, dafür aber von Yulan.
»Mit dir bis ans Ende der Welt«, ruft er. Yulan schaut ihn an und lächelt.
Backnang, Juni 1946
»Jetzt mach den Brief doch endlich auf«, drängt Irmi. Gerade ist sie von einem ziemlich langweiligen Arbeitstag nach Hause gekommen und sehnt sich nach ein bisschen Abenteuer. Also schlitzt Edda die Sendung vorsichtig auf. Als Erstes fallen ein paar Schwarz-Weiß-Fotos mit vielen Kindern heraus.
»Das bist doch du«, ruft Irmi und zeigt auf ein Mädchen, das die gleichen dunklen Locken hat wie die junge Frau neben ihr am Tisch.
»Stimmt, das bin ich. Aber wo ist das bloß?«
»Kannst du dich nicht mehr erinnern? Dich haben sie doch mal zur Kur in die Berge geschickt, weil du immer so blass ausgesehen hast.«
»Jetzt erinnere ich mich auch«, ruft Edda aufgeregt. »Da hatte ich mich doch mit einem Mädchen aus meinem Zimmer angefreundet. Wie hieß die nochmal? Annemarie, glaube ich. Und stimmt ja, Annemarie stand auch als Absender drauf, allerdings mit einem Nachnamen, mit dem ich nichts anfangen konnte.«
»Na, dann hat sie wahrscheinlich inzwischen geheiratet.«
»Warte mal, was schreibt sie denn? Beim Aufräumen alter Bilder habe ich mich wieder an dich und die schöne Zeit damals in den Bergen erinnert. Durch Zufall bin ich kurz danach noch jemandem aus eurem Heimatort begegnet, der jetzt in Heidelberg wohnt. Er wusste seinerseits von Bekannten, dass es euch nach Backnang verschlagen hat. Genaue Adresse hatte er zwar keine, aber er meinte, Backnang sei nicht so groß.«
»Wo jetzt der Brief so ewig unterwegs war – wer weiß, ob sie überhaupt noch unter der Adresse zu finden ist, die hier draufsteht?«
»Da gibt es nur eine Möglichkeit, das rauszufinden, liebes Schwesterlein. Geh zu den Nachbarn und ruf Annemarie an.«
Die beiden Schwestern können sich noch keinen eigenen Telefonanschluss leisten. Aber die Eltern von Peter, Ruth und Jochen haben einen Apparat und sind sehr dankbar, dass sich die Kinder bei Edda so wohlfühlen. Sie lassen also die Schwestern gern einmal bei sich telefonieren.
Edda ist ziemlich nervös, als sie die Vermittlung anruft, ohne die man keine Ferngespräche führen kann.
»Ich möchte gern mit Annemarie Wolter in der Waldstraße 15 in Heidelberg sprechen.«
»Einen Moment bitte, ich verbinde«, sagt das freundliche Fräulein vom Amt. Edda hört über das Rauschen und Knacken in der Leitung weit weg ein Telefon klingeln.
»Wolter«, meldet sich schließlich eine Frauenstimme.
»Annemarie, bist du das? Hier ist Edda, du hast mir geschrieben.«
»Ach Edda, endlich meldest du dich. Ich habe verzweifelt versucht, deine Telefonnummer herauszufinden. Aber ihr habt wohl kein Telefon. Deshalb konnte ich dich nicht anrufen und dir alles erklären.«
»Stimmt, wir konnten uns bis jetzt keinen eigenen Anschluss leisten. Ich rufe von unseren Nachbarn aus an. Der Brief ist heute erst angekommen. Er muss ewig lange unterwegs gewesen sein.«
»Du, Edda, verzeih, es klingelt gerade an der Tür. Bleib bitte dran, ich bin gleich wieder zurück …
… Du, das ist jetzt aber ein Zufall. Gerade kommt Dieter zu Besuch, den ich damals gebeten hatte, den Brief an dich aufzugeben, weil ich gerade so viel anderes zu tun hatte. Er meinte damals, er hätte sowieso was auf der Post zu erledigen. Warte, ich gebe ihn dir einmal.«
»Hallo, hier ist Dieter«, meldet sich eine tiefe Männerstimme. »Ist der Brief nun doch noch angekommen? Wir hatten schon gar nicht mehr daran geglaubt. Ich habe ihn ganz normal bei der Post aufgegeben. Als dann ewig keine Antwort von dir kam, haben wir uns sehr gewundert. Annemarie sagte mir, sie habe dich als sehr zuverlässig in Erinnerung, und du würdest dich sicher gleich melden, wenn die Post angekommen wäre. Später hat uns ein Bekannter bei der amerikanischen Postbehörde auf eine Idee gebracht. Die mussten nämlich alle Postsendungen überprüfen. Er meinte, vielleicht habe ein Kollege, der neu in Deutschland war, den Brief in die Hand bekommen. Der dachte dann bestimmt, einen Ortsnamen wie Backnang kann es nicht geben. Der schien ihm wohl besser nach China zu passen.«
»Dann hat der Brief ja eine halbe Weltreise hinter sich«, sagt Peter. Er hat sich mit seinen Geschwistern ganz eng an Edda gekuschelt, um das Telefonat mithören zu können. Er ist der Älteste und kennt sich auch schon mit Geografie aus.
»Muss man nach Heidelberg auch um die halbe Welt reisen?«, will Ruth, das kecke Nesthäkchen, wissen. Sie kennt sich mit Erdkunde noch nicht gut aus.
»Am besten kommt ihr uns alle mal hier in Heidelberg besuchen, dann seht ihr, wie lang man braucht«, lacht Annemarie am anderen Ende der Leitung.
Anmerkung der Autorin:
Die Anregung zu meiner Geschichte fand ich bei einem Gespräch, das ich vor Längerem mit einem älteren Herrn geführt habe. Als ich ihm damals erzählte, dass ich in Backnang wohnte, sagte er: »Ach, da hat nach dem Krieg ein Amerikaner gedacht, das sei in China und hat einen Brief statt nach Backnang nach China geschickt.« Alles andere, besonders die Namen und die Personen, entstammen meiner Fantasie.
Marc Hamacher
Marc Hamacher wurde 1970 in Köln geboren. Schlimmer noch, kam er doch auch noch als Aprilscherz zur Welt. Genau aus diesem Grund sind seine literarischen Ergüsse auch oft nicht ganz ernst zu nehmen.
Gerüchten zufolge muss er jeden Morgen einen Bestatter frühstücken, um eine nur erträgliche Dosis seines Humors an seine Mitmenschen abzugeben.
Wenn er nicht gerade mathematische Formeln oder physikalische Erkenntnisse in die Köpfe seiner Schüler pflanzt, arbeitet er als Verleger und veröffentlicht Bücher über tote Katzen, Pirat(t)en und bald auch über den TOD in Großbuchstaben.
In der Ferne versinkt gerade die Sonne durch die leicht diesige Abendluft, als er sich seinen Platz sucht, hoch oben über seiner Stadt, auf dem Stadtturm Backnangs. Weit schweifen seine Augen über das, was er in den letzten Jahrzehnten erschaffen hat. Heute ist ein kleines Jubiläum. Man schreibt das Jahr 2152. Seit nun 150 Jahren ist er der Oberbürgermeister dieser Stadt, dem Zentrum der Macht, dem Herzen der modernen Menschheit. Viel hat sich verändert in dieser Zeit …
Frank seufzt leise bei der Erinnerung an all die Dinge, die er schon erlebt hat. Jahr für Jahr fährt er mit dem Hoverlift hier hinauf auf die Spitze des Stadtturmes, um die Vergangenheit Revue passieren zu lassen und um sich die Zukunft vorzustellen. Inzwischen befindet sich diese Spitze auf einer Höhe von 587 Metern über dem Niveau des ehemaligen Marktplatzes. Zur Jahrhundertwende hat er die obersten Etagen des Stadtturmes abtragen lassen, um dann die Höhe entsprechend mit einem Neubau aufzustocken. Danach wurde die alte Spitze wieder aufgesetzt. So zeigt der Backnanger Stadtturm seitdem wie ein Stachel in die Unendlichkeit des schwäbischen Himmels.
Dämmerung macht sich breit und Frank schaut weiter auf seine Stadt. 150 Jahre. Eine kleine Ewigkeit. Aber wer lange plant, der kann auch viel bewegen. Alle Kritiker und Meckerer hat er überlebt. Parteien gibt es eh keine mehr. Das ist einer der Vorteile der Macht. Sein Volk, die Backnanger, zumindest der menschliche Anteil der Bevölkerung, hat einfach immer an ihn geglaubt, den Heilbringer, der sich selbst nie in den Vordergrund stellte. Für ihn zählt nur Backnang. Mit einem warmen Gefühl in seinem biotronischen Herzen streicht er sich gedankenverloren mit der rechten Hand durch seine glatt gegelten Haarimplantate.
Den außerirdischen Teil der Einwohner Backnangs sieht er inzwischen nicht mehr als wirkliches Problem. Zu Anfang hatten sie sich unauffällig in der Gemeinschaft versteckt. Bis im Jahre 2014 eine geschwätzige Halbitalienerin in einem Anfall von publizistischem Wahn die Wahrheit offenbarte, dass die Anderen schon lange unter uns weilten. Die Reaktionen waren damals sehr gemischt. Einige taten die Fakten als lächerliche Fiktionen ab. Aber andere, vor allem die Aliens, reagierten teilweise mit Unmut. So erhielt die Autorin lebenslanges Besuchsverbot aller Konzerte des Akkordeon-Kreises Steinbach. Eine härtere Strafe hätte es kaum geben können. Inzwischen muss man sich nicht mehr verstecken, sondern man lebt einfach tolerant miteinander und respektiert sich gegenseitig, mit all den Macken und Vorlieben der eigenen Rasse. Wieso hat es nicht immer so sein können?
Langsam lässt er seinen Blick hinunterschweifen und schaut sich die Vielfalt der alten und auch modernen Architektur an. Dort, direkt an der Murr, wo einst nur ein unscheinbares Freibad stand, da erkennt er im Schatten der untergehenden Sonne das olympische Dorf von 2090. Was war das damals ein globales Fest. Im Zentrum des Dorfes steht das inzwischen legendäre Olympiastadion. Die markante Dachkonstruktion hat fast alle Preise für die innovative Architektur gewonnen. Von oben sah das Stadion aus, als hätte jemand eine gigantische Maultasche vom Himmel fallen lassen. Franks Mundwinkel zucken vergnügt bei dem Gedanken an die damalige Zeit.
Weiter streift sein Blick vorbei an der Rieger-Hochschule für weit hergeholte Literatur mitten im Künstlerviertel der Stadt. Kurz verweilen seine Augen beim leuchtenden Symbol auf dem Dach der Backnanger Polizei: einem heroischen Schäferhund im Seitenprofil. Im Vergleich zum strahlenden Konterfei der legendären Spürnase, welche rotierend auf der Spitze des Barny-SchäferFluch der Yo-Ho-Piraten 14Rocky 23Der inzwischen graue Hai 7Marvels Trek Wars 88