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Als Ravensburger E-Book erschienen 2018

Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH

© 2018 Ravensburger Verlag GmbH

Text © Gina Mayer
Vermittelt durch die Literaturagentur Arteaga, München

Umschlaggestaltung: Anna Rohner unter Verwendung von Bildern von © Parfonovaluliia/Istock; © Zuzule/Shutterstock; © foxaon1987/Shutterstock; © DeltaOFF/Shutterstock; © kaisorn/Shutterstock
Pferdevignette: © Reinekke/Shutterstock Redaktion: Beate Spindler

Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-47871-2

www.ravensburger.de

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Der Himmel glühte wie geschmolzenes Metall. Am höchsten Punkt stand die weißgelbe Sonne, die sie einst genährt und gewärmt hatte, aber jetzt war sie ihre Feindin. Jetzt brannte sie auf ihre Rücken, drückte sie zu Boden, wollte sie austrocknen und vernichten, so wie sie das Land vernichtet hatte.

Die Steppe, die noch vor wenigen Wochen grün gewesen war, war hart und dürr. Das Flussbett führte kein Wasser, nur Gesteinsbrocken, Kiesel, Sand. Wie eine tiefe Wunde lag es in dem sterbenden Land.

Wenn sie hierblieben, wären sie verloren. Seine Mutter hatte es bereits hinter sich, sie hatte die Herde vor zwei Tagen verlassen. Sie war gegangen, wie sie gelebt hatte, hatte sich bis zum Schluss gewehrt, aber am Ende hatte sie den Kampf doch verloren.

Am Abend waren ihre Vorderbeine eingeknickt, dann die Hinterläufe und danach war sie nicht mehr aufgestanden.

Der Alte hatte versucht, sie wieder auf die Beine zu bringen, er stupste sie an, biss sie in Kruppe und Hals.

Geht weg, sagte ihr Blick, und kehrte sich nach innen. In ihren schwarzen Augen, die das Erste gewesen waren, was er auf dieser Welt gesehen hatte, glomm nur noch ein schwacher Funke.

Sie wollte nicht, dass sie sahen, wie sie immer schwächer wurde. Auch er sollte sie nicht so sehen.

Der Alte folgte der Aufforderung und schleppte sich weiter und die anderen folgten ihm.

Er aber harrte neben ihr aus, bis sie sich ein letztes Mal aufbäumte, bis ein Zittern durch ihren Körper lief, bis alles vorbei war.

Ein Teil von ihm hätte sich gerne neben sie gelegt, um zu warten, bis die Sonne das Leben aus ihm herausgeleckt hätte.

Aber der andere Teil war noch nicht so weit.

Er trottete der Herde nach, holte sie ein, als die Sonne erneut unterging. Sah, dass auch seine Gefährten an der Grenze standen zwischen Leben und Tod.

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Als sie den Saal betrat, hatte Zoe das Gefühl, dass sie Jakes Blick spüren konnte. Wie eine sanfte Berührung streifte er ihre nackten Arme und streichelte ihre Wangen.

Während sie zu ihrem Platz vor dem Orchester ging, wurde der Applaus immer lauter, er schwoll zu einer Woge der Begeisterung an. Der Dirigent Onni Seikola stand bereits an seinem Pult. Nun nickte er Zoe zu und lächelte. Sie verbeugte sich und der Beifall steigerte sich zu einem Sturm.

Erster Rang, zweite Reihe, Platz fünfzehn. Das war Jakes Platz, von dort blickte er zu ihr herauf. Eigentlich müsste sie ihn von der Bühne aus sehen können, dachte sie. Aber sie verbot sich, nach ihm Ausschau zu halten.

Stattdessen versuchte sie, ihr Publikum auszublenden. Die Leute wurden zu einer Tapete aus Augen, Nasen, Mündern, Ohren.

Das hatte ihre Mom ihr beigebracht. Die Leute sind nicht wichtig, sagte sie immer. Konzentrier dich auf die Musik.

Normalerweise fiel es Zoe leicht, ihr Publikum zu vergessen. Aber heute war es schwer. Weil Jake da unten saß.

Sie hatte ihm die Karte ganz beiläufig gegeben, als ob das Ganze keine Rolle für sie spielte. Komm, wenn du Lust hast, hatte sie gesagt. Und dabei verschwiegen, dass die Karte hundertzwanzig Dollar kostete und das Konzert in der Vancouver Concert Hall seit Wochen ausverkauft war.

Das Vancouver Symphonic Orchestra unter der Leitung von Stardirigent Onni Seikola spielte das Flötenkonzert Nr. 2 von Wolfgang Amadeus Mozart. An der Querflöte das Wunderkind Zoe Deventer.

Der Applaus ebbte langsam ab. Seikola nickte Zoe noch einmal kurz zu, dann wandte er sich an seine Musiker.

Das Flötenkonzert war eines von Zoes absoluten Lieblingsstücken. Deshalb hatte sie Jake eingeladen. Weil sie hoffte, dass diese Musik auch ihn umhauen würde. Mozart ließ niemanden kalt.

„Klassik?“, hatte er gefragt, als Zoe ihm erzählt hatte, dass sie Querflöte spielte. „Damit kenn ich mich überhaupt nicht aus. Ich steh eher auf House.“

„Das find ich auch total gut“, hatte Zoe ihm versichert.

Und wohlweislich verschwiegen, dass sie gar keine Zeit hatte, House zu hören.

In den letzten sechs Monaten hatte sie Konzerte in Toronto, Calgary und New York gegeben, hatte eine CD aufgenommen und war unzählige Male im Fernsehen gewesen.

Ihr folgten fast eine Million Fans auf YouTube, und wenn sie auf Instagram ein Foto von ihrem Essen postete, hatte sie zehn Minuten später über zweitausend Likes.

Zoe war erst dreizehn, aber berühmter als ihre Mutter, die Geigerin Irmhild Sullivan, die heute nicht mitspielte, sondern in der ersten Reihe saß, den Blick fest auf die Tochter gerichtet.

Ihre Mom begleitete sie zu jedem Konzert, sie war ihr aufmerksamster Zuhörer, ihr größter Fan, ihr strengster Kritiker. Sie würde jeden Patzer hören und wäre er auch noch so klein. Und wäre dennoch stolz auf Zoe, so stolz!

Ob Jake auch stolz war, dass er sie kannte? Er war hier, er saß da unten, er sah sie an, Zoe spürte es ganz deutlich. Ob ihm das blaue Seidenkleid mit den Spaghettiträgern gefiel, das sie heute trug? Ihre Hochsteckfrisur, in der winzige Strasssteine steckten und ihr blondes Haar zum Glitzern und Funkeln brachten? Bisher hatte er sie nur in Jeans und Sneakern gesehen. Hoffentlich fand er ihr Outfit nicht affig.

Konzentration, hörte sie ihre Mom sagen. Die Musik ist wichtig, nur die Musik.

Seikola hob die Arme. Zoe setzte die Flöte an die Lippen. Dann gab er den Einsatz und sie begann zu spielen.

Ihre Finger griffen die ersten Töne, sie perlten aus ihrer Flöte wie Luftblasen aus einem Sektglas. Hinter ihr setzten die Streicher ein, ihre Bögen hüpften über die Saiten. Zoes Finger tanzten, Mozarts herrliche Musik erfüllte ihren Körper und brachte ihn zum Schwingen. Ihr war, als würden ihre Füße vom Boden abheben, als schwebte sie hoch über dem Orchester und durch den Saal, über den zweitausend Zuhörern und dem einen, auf den es ankam. Sie spielte für Jake, nur für Jake.

Als Zoe ihre Flöte sinken ließ, herrschte einen Moment lang Totenstille im Konzertsaal. Dann setzte ein ohrenbetäubender Applaus ein.

Onni Seikola trat zu ihr und schüttelte ihre Hand, gemeinsam verbeugten sie sich. Hinter ihnen begannen die Musiker ebenfalls zu klatschen.

Sie hatte das Stück noch nie so gut gespielt. Das fühlte sie mit jeder Faser ihres Körpers, das sagten ihr die Beifallsstürme, die begeisterten Gesichter und das stolze Lächeln ihrer Mom, die sich in diesem Moment erhob, um ihrer Tochter im Stehen zu applaudieren. Auch die übrigen Zuschauer standen auf.

Zoe atmete tief ein. Und zum ersten Mal an diesem Abend wagte sie es, ihre Augen zum ersten Rang zu lenken. Reihe zwei, Platz fünfzehn.

Sie warf Jake ein strahlendes Lächeln zu, aber er lächelte nicht zurück. Weil er nämlich gar nicht da war.

Auf Platz fünfzehn in der zweiten Reihe saß eine ältere Dame mit hellblau gefärbten Löckchen, die sich jetzt mühsam erhob. Als sie merkte, dass Zoe sie ansah, warf sie ihr mit beiden Armen Kusshändchen zu.

Die Freude, die Zoe gerade noch erfüllt hatte, war weg. Sie hätte am liebsten geweint.

Nach dem Konzert gab es einen Empfang im Foyer des Konzerthauses, aber Zoe nahm nicht daran teil. Sie fuhr mit ihrer Mom nach Hause.

„Ich hab plötzlich schreckliche Kopfschmerzen“, log sie. „Ich will nur noch ins Bett.“

Irmhild Sullivan, die sonst immer sofort spürte, wenn ihre Tochter ihr etwas verheimlichte, merkte heute nichts. Sie war viel zu begeistert von Zoes überragender Leistung.

„Du warst einzigartig“, sagte sie nun schon zum dritten Mal. „Ganz, ganz beeindruckend.“

Zoe nickte kraftlos. Ihre Gefühle für Jake hatten sie beflügelt und davongetragen, nur für ihn hatte sie so gut gespielt. Warum war er nicht gekommen?

Ob er die Karte weiterverkauft hatte? Der Gedanke durchzuckte Zoe wie ein Stromschlag.

„Das würde er nicht tun“, murmelte sie.

„Was sagst du, Schatz?“

„Nichts.“ Zoe legte den Kopf an die Schulter ihrer Mom.

Das Taxi glitt durch die hell erleuchteten Straßen von Vancouver, an glitzernden Wolkenkratzern vorbei. Sie passierten den Hafen, auf dem bunt beleuchtete Schiffe dümpelten. Die Stadt war hellwach, doch Zoe war todmüde.

Am nächsten Morgen regnete es Bindfäden. Zoe verfluchte sich, während ihre Mutter sie durch den Nieselregen zur Schule fuhr. Sie hätte heute schulfrei haben können, um nach New York zu fliegen.

Vor zwei Wochen hatte die Carnegie Hall angefragt, ob Zoe Deventer kurzfristig Zeit für ein Konzert hätte. Eine berühmte Flötenspielerin war ausgefallen und Zoe sollte einspringen – aber sie wollte nicht.

„Mir wird das alles zu viel“, sagte sie. „Ich brauch mal eine Auszeit.“

Ihre Mutter war fassungslos.

„Ist das dein Ernst, Zoe? Es war doch immer dein Traum, einmal in der Carnegie Hall aufzutreten.“

„Ich weiß“, sagte Zoe. „Aber ich schaff das momentan einfach nicht.“

Ihre Mom nickte, obwohl sie sicher enttäuscht war. Irmhild Sullivan hatte ihre eigene Karriere als Geigerin in den letzten Jahren zurückgestellt, um Zoe zu unterstützen. Sie war Zoes Managerin und Beraterin, sie hörte ihr beim Proben zu, kontrollierte und korrigierte sie und spornte sie an. Die Querflöte kannte sie inzwischen fast so gut wie ihre Tochter.

Zoes Vater war kein Musiker, sondern Personalchef in einem Maschinenbaukonzern. Er war sehr stolz auf seine Tochter, aber Zoes bedingungslosen Einsatz für ihre Musik konnte er nicht nachvollziehen.

„Man muss auch mal Pause machen“, sagte er, „sonst macht das Ganze keinen Spaß mehr.“

Aber wer Pausen machte, wurde nicht zur besten Flötistin der Welt. Und das war Zoes Ziel. Dafür gab sie alles.

Dennoch hatte sie der Carnegie Hall abgesagt. Nicht weil sie sich wirklich überfordert fühlte. Sie war die vielen Konzertreisen gewohnt, sie liebte es, auf der Bühne zu stehen. Im letzten Jahr hatte sie gerade einmal zwanzig Wochen in Vancouver verbracht. Wenn sie unterwegs war, bekam sie Fernunterricht übers Internet, damit sie den Anschluss an ihre Klasse nicht verlor.

Der Grund für die Absage war Jake.

Vor drei Monaten war er plötzlich in ihrer Schule aufgetaucht, seine Familie war aus den Staaten nach Vancouver gezogen. Eines Morgens hatte er im Kunstunterricht neben Zoe gesessen.

Sie mussten eine Collage aus Zeitungsbildern gestalten, aber Zoe war gar nicht dazu gekommen, irgendein Bild auszuschneiden und aufzukleben. Jake zog sie vom ersten Moment an in den Bann.

Er hatte so ein markantes Gesicht. Wunderschöne graugrüne Augen. Und winzige Sommersprossen, die auf seiner Nase tanzten.

In der zweiten Kunststunde, in der sie nebeneinander gesessen hatten, sollten sie eine bunte Frühlingswiese malen. Mit einem Mal beugte Jake sich über Zoes Block und zeichnete eine kleine Elfe, die aus einer Tulpenblüte herausflatterte. Eine lachende Elfe mit langem blonden Haar.

„Wer ist das denn?“, fragte Zoe.

„Das bist du, siehst du das nicht?“, sagte Jake. „Ich frag mich, warum du deine Zeit hier in der Schule verschwendest. Du gehörst doch in deine Blütenwelt.“

Du bist ganz anders als die anderen, das sagte er Zoe immer wieder. Und das Gleiche dachte sie über ihn. Jake war klug und witzig und im Gegensatz zu den anderen Jungs an der Vancouver Junior High interessierte er sich nicht nur für Football und Baseball, sondern mochte auch Bücher und spielte Gitarre.

Leider hatten er und Zoe nur zwei Unterrichtsfächer zusammen: Kunst und Biologie. Ab sofort waren das Zoes Lieblingsfächer. Sie fieberte den Stunden entgegen, in denen sie ihn sah. Sie hätte ihn so gerne auch nach der Schule getroffen, um über all die Dinge zu reden, zu denen sie während des Unterrichts und in den kurzen Pausen nicht kamen. Aber sie traute sich nicht, den ersten Schritt zu tun.

Und Jake machte leider keinen Versuch, sie öfter zu sehen. Er war zwar immer total nett zu ihr und strahlte sie mit seinen schönen Augen und den blendend weißen Zähnen an, sie kamen sich jedoch keinen Schritt näher.

Wie sollten sie sich auch näherkommen, wenn Zoe ständig von einem Konzert zum nächsten jettete?

Sie hatte der Carnegie Hall abgesagt, um mehr Zeit für Jake zu haben, um sich ganz auf ihn konzentrieren zu können. Ohne mit der Wimper zu zucken, hatte Zoe auf ihren großen Auftritt in New York verzichtet. Und er kam nicht einmal zu ihrem Konzert in Vancouver.

Missmutig starrte Zoe auf die Regentropfen, die unaufhörlich auf die Windschutzscheibe tropften. In New York schien jetzt bestimmt die Sonne. Sie hätte eine Suite in einem angesagten Hotel auf dem Times Square, mit einer gigantischen Wellnesslandschaft, in der sie nach dem Konzert entspannen könnte.

Stattdessen musste sie zur Schule und konnte sich Jakes Ausrede anhören. Dabei gab es keine Entschuldigung für ihn. Zoe hatte gestern für ihn gespielt, nur für ihn. Und er hatte sie nicht gehört.