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Antoine de Saint-Exupéry

Die Erde des Menschen

Aus dem Französischen neu übersetzt von Marion Herbert

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Die französische Originalausgabe erschien zuerst 1939 unter dem Titel Terre des hommes bei Gallimard in Paris. Der Titel Wind, Sand und Sterne der älteren deutschsprachigen Ausgabe ist eine direkte Übersetzung des amerikanischen Titels Wind, Sand and Stars (New York: Reynal & Hitchcock 1939).

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

© 2017 Anaconda Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlagmotiv: Permian landscape,
Natural History Museum, London /
Bridgeman Images (Landschaft). –
Shutterstock / Marzufello (Flugzeug)
Umschlaggestaltung: www.katjaholst.de
ISBN 978-3-7306-9172-4
V002
www.anacondaverlag.de

Henri Guillaumet,
mein Kamerad,
dir widme ich dieses Buch
.

IDie Linie

IIDie Kameraden

IIIDas Flugzeug

IVDas Flugzeug und der Planet

VOase

VIIn der Wüste

VIIMitten in der Wüste

VIIIDie Menschen

Die Erde lehrt uns mehr über uns als alle Bücher. Weil sie uns Widerstand leistet. Der Mensch lernt sich kennen, wenn er vor einem Hindernis steht. Aber um es zu überwinden, braucht er ein Werkzeug. Er braucht einen Hobel oder einen Pflug. Der Bauer entlockt der Natur bei der Feldarbeit nach und nach so manches Geheimnis, und die Wahrheit, die dabei ans Licht kommt, ist universell. Ebenso stellt das Flugzeug, das Werkzeug der Fluglinien, den Menschen vor all die alten Probleme.

Ich habe noch immer meinen ersten Nachtflug in Argentinien vor Augen, eine finstere Nacht, in der, wie Sterne, allein die vereinzelten, im Flachland verstreuten Lichter funkelten.

Jedes zeugte im Ozean der Dunkelheit vom Wunder eines Bewusstseins. In diesem Haus las man, dachte nach, vertraute einander etwas an. In jenem versuchte man vielleicht, den Weltraum zu vermessen, plagte sich mit Berechnungen des Andromedanebels. Dort liebte man. Hier und da leuchteten die Lichter in der Landschaft und verlangten nach Nahrung. Bis zu den bescheidensten, dem des Dichters, des Lehrers, des Zimmermanns. Aber zwischen diesen lebendigen Sternen, wie viele geschlossene Fenster gab es da, wie viele erloschene Sterne, wie viele schlafende Menschen …

Man muss einfach versuchen, sich zu verständigen. Man muss sich bemühen, sich mit einigen dieser Lichter zu verbinden, die hier und da in der Landschaft brennen.

I

Die Linie

Es war 1926. Ich hatte gerade als junger Linienpilot bei der Société Latécoère angefangen, die vor der Aéropostale und dann Air France die Verbindung Toulouse–Dakar bediente. Dort erlernte ich den Beruf. Wie meine Kameraden absolvierte ich das Noviziat, das Neulinge dort durchlaufen, bevor sie die Ehre erhalten, die Post zu fliegen. Flugübungen, Reisen zwischen Toulouse und Perpignan, triste Meteorologielektionen im hinteren Teil einer eisigen Flugzeughalle. Wir lebten in Angst vor den spanischen Bergen, die wir noch nicht kannten, und in Ehrfurcht vor den Älteren.

Diese Älteren trafen wir im Restaurant, wo sie uns mürrisch, leicht distanziert, von oben herab Ratschläge erteilten. Und wenn einer von ihnen, der gerade aus Alicante oder Casablanca zurückkam, sich verspätet, das Leder vom Regen durchnässt, zu uns gesellte und einer von uns ihn zaghaft zu seiner Reise befragte, ließen seine knappen Antworten an stürmischen Tagen vor unseren Augen eine fabelhafte Welt entstehen, voller Fallen, Gefahren, plötzlich aufragender Felswände und Turbulenzen, die Zedern entwurzelt hätten. Schwarze Drachen verteidigten die Eingänge von Tälern, Kränze von Blitzen krönten die Gebirgskämme. Die Älteren wussten, wie sie unsere Ehrfurcht aufrechterhalten konnten. Doch zuweilen, verehrt bis in alle Ewigkeit, kehrte einer von ihnen nicht zurück.

Ich erinnere mich an eine solche Rückkehr von Bury, der später in den Corbières verunglückte. Der alte Pilot hatte sich zu uns gesetzt und aß schwerfällig, schweigend, die Schultern noch niedergedrückt von der Anstrengung. Es war am Abend eines jener schlechten Tage, an denen der Himmel vom einen Ende der Strecke bis zum anderen verregnet ist, an denen alle Berge für den Piloten durch den Dreck zu rollen scheinen wie früher die Kanonen, deren Taue gerissen waren und die das Deck der Segelschiffe zerfurchten. Ich beobachtete Bury, schluckte und wagte es schließlich, ihn zu fragen, ob er einen schweren Flug gehabt habe. Bury, die Stirn gerunzelt, über seinen Teller gebeugt, hörte nicht. An Bord der offenen Flugzeuge musste man sich bei schlechtem Wetter an der Windschutzscheibe vorbeibeugen, um besser sehen zu können, und die Ohrfeigen des Windes pfiffen einem noch lange durchs Gehör. Schließlich hob Bury den Kopf, schien mich doch gehört zu haben, sich zu erinnern, und brach auf einmal in schallendes Lachen aus. Und dieses Lachen begeisterte mich, denn Bury lachte selten, dieses Auflachen erhellte seine Müdigkeit. Er gab keine weitere Erklärung zu seinem Sieg ab, ließ den Kopf wieder hängen und kaute schweigend weiter. Aber in dem öden Restaurant, zwischen den einfachen Beamten, die sich hier von den bescheidenen Ermüdungen des Tages erholten, wirkte dieser Kamerad mit den schweren Schultern auf mich seltsam erhaben; er ließ unter seiner harten Schale den Engel durchscheinen, der den Drachen besiegt hatte.

Endlich kam der Abend, an dem ich an der Reihe war, ins Büro des Direktors gerufen zu werden. Er sagte schlicht: »Sie fliegen morgen.«

Ich blieb vor ihm stehen und wartete, dass er mich wieder wegschicken würde. Doch nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: »Sie kennen doch die Vorschriften?«

Die Motoren boten damals bei Weitem nicht die Sicherheit, die Motoren heute bieten. Oft ließen sie uns plötzlich im Stich, ohne Vorwarnung, begleitet vom ohrenbetäubenden Scheppern zerbrechenden Geschirrs. Und man streckte die Hand aus nach der felsigen Kruste Spaniens, die kaum Halt bot. »Wenn hier der Motor kaputt geht«, sagten wir, »lässt das ganze Flugzeug nicht lange auf sich warten.« Aber ein Flugzeug ist ersetzbar. Das Wichtigste war, nicht blind mit einem Felsen zu kollidieren. Deshalb war uns das Überfliegen von Wolkenmeeren über Gebirgsregionen unter Androhung schwerster Strafen verboten. Wenn ein Pilot eine Panne hat und dann in der weißen Watte versinkt, kann er auf Gipfel prallen, ohne sie zu sehen.

Deshalb wiederholte eine Stimme an jenem Abend ein letztes Mal langsam die Vorschrift: »Es ist sehr hübsch, in Spanien nach dem Kompass über die Wolkenmeere zu fliegen, das ist sehr elegant, aber …«

Und dann noch langsamer: »… aber denken Sie daran: Unter den Wolkenmeeren … liegt die Ewigkeit.«

So nahm die ruhige, so einheitliche, so einfache Welt, die man entdeckt, wenn man aus den Wolken auftaucht, für mich plötzlich eine neue Bedeutung an. Das Angenehme wurde zu einer Falle. Ich stellte mir vor, wie sich diese riesige weiße Falle unter meinen Füßen ausbreitete. Darunter herrschten weder, wie man hätte meinen können, die Geschäftigkeit der Menschen noch der Trubel oder der lebendige Betrieb der Städte, sondern eine noch absolutere Stille, ein noch endgültigerer Frieden. Die weiße Decke wurde für mich zur Grenze zwischen dem Realen und dem Irrealen, zwischen dem Bekannten und dem Unergründlichen. Und ich ahnte bereits, dass ein Schauspiel keinen Sinn hat, wenn man es nicht durch eine Kultur, eine Zivilisation, einen Beruf betrachtet. Auch Bergbewohner kannten die Wolkenmeere. Doch sahen sie diesen geheimnisvollen Vorhang darin nicht.

Als ich das Büro verließ, verspürte ich einen kindlichen Stolz. Im Morgengrauen würde nun ich für eine Gruppe von Passagieren, würde nun ich für die Afrika-Post verantwortlich sein. Aber ich verspürte auch eine große Demut. Ich fühlte mich schlecht vorbereitet. In Spanien gab es wenige Zufluchtsorte; ich fürchtete, im Fall einer Panne nicht zu wissen, wo ich bei einer Notlandung Hilfe suchen könnte. Ich studierte die nüchternen Karten, fand dort jedoch nicht den Rat, den ich brauchte; also begab ich mich, das Herz voll von dieser Mischung aus Verzagen und Stolz, zu meinem Kameraden Guillaumet, um den Vorabend des großen Tages bei ihm zu verbringen. Guillaumet war mir auf den Flugrouten vorausgegangen. Guillaumet wusste, wo die Schlüssel Spaniens lagen. Ich musste mich von Guillaumet einweihen lassen.

Als ich bei ihm eintrat, lächelte er. »Ich kenne deine Neuigkeit schon. Freust du dich?«

Er holte den Portwein und die Gläser aus dem Schrank und kam dann, noch immer lächelnd, zu mir zurück. »Darauf müssen wir anstoßen. Du wirst schon sehen, es wird gut gehen.«

Er verbreitete Selbstvertrauen, wie eine Lampe Licht, dieser Kamerad, der später den Rekord der Postflüge über die Anden und den Südatlantik brechen sollte. An jenem Abend einige Jahre zuvor, in Hemdsärmeln, die Arme unter der Lampe verschränkt, sagte er mir einfach mit dem wohltuendsten Lächeln: »Gewitter, Nebel und Schnee werden dir manchmal Schwierigkeiten bereiten. Dann denk an all die, die das vor dir durchgemacht haben, und sag dir einfach: Was andere geschafft haben, kannst du sicher auch schaffen.« Dennoch rollte ich meine Karten aus und bat ihn, die Reise ein wenig mit mir durchzugehen. Und unter die Lampe gebeugt, an die Schulter des Älteren gelehnt, fand ich den Frieden des Collège wieder.

Doch welch eigenartige Geografielektion erhielt ich da! Guillaumet unterrichtete mich nicht über Spanien; er machte mir Spanien zur Freundin. Er sprach weder von Gewässerkunde noch von Bevölkerungszahlen oder Viehbeständen. Er erzählte mir nicht von Guadix, sondern von den drei Orangenbäumen an einem Feld bei Guadix: »Nimm dich vor ihnen in Acht, zeichne sie auf deiner Karte ein …« Daraufhin nahmen die drei Orangenbäume dort mehr Platz ein als die Sierra Nevada. Er erzählte mir nicht von Lorca, sondern von einem einfachen Bauernhof in der Nähe von Lorca. Von einem wachenden Bauernhof. Und seinem Bauern. Und seiner Bäuerin. Und dieses Paar da irgendwo draußen, fünfzehnhundert Kilometer von uns entfernt, erhielt eine überdimensionale Bedeutung. Die beiden wohnten wie Leuchtturmwärter am Hang ihres Bergs und waren bereit, Menschen unter ihren Sternen Hilfe zu leisten.

So beschworen wir aus der Vergessenheit und unvorstellbarer Entfernung Details herauf, die kein Geograf der Welt kannte. Denn allein der Ebro, der große Städte nährt, interessiert die Geografen. Aber nicht dieser unter Gräsern versteckte Bach westlich von Motril, dieser Nährvater von gut dreißig Blumen. »Nimm dich vor dem Bach in Acht, er verdirbt das Feld … Zeichne auch ihn auf deiner Karte ein.« Oh! Ich würde mich an die Schlange von Motril erinnern! Sie wirkte ganz harmlos, betörte mit ihrem leisen Säuseln gerade mal ein paar Frösche, aber sie schlief nur mit einem Auge. Im Paradies des rettenden Felds, unter den Gräsern ausgestreckt, lauerte sie mir aus zweitausend Kilometern Entfernung auf. Sie wartete nur darauf, mich in lichterlohe Flammen zu verwandeln …

Ich war auch auf die dreißig Kampfschafe gefasst, die dort an der Seite des Hügels, bereit zum Angriff, aufgestellt waren: »Du glaubst, diese Wiese wäre frei, und dann, wumm! Schon rennen dir die dreißig Schafe unter die Räder …« Und ich antwortete mit einem entzückten Lächeln auf eine so hinterhältige Bedrohung.

Und nach und nach wurde das Spanien auf meiner Karte unter der Lampe zu einem Märchenland. Ich markierte die Zufluchtsstätten und Fallen mit Kreuzen. Ich markierte den Bauern, die dreißig Schafe, den Bach. Ich zeichnete genau an der richtigen Stelle die Schäferin ein, die die Geografen vernachlässigt hatten.

Nachdem ich mich von Guillaumet verabschiedet hatte, verspürte ich das Bedürfnis, an diesem eisigen Winterabend spazieren zu gehen. Ich schlug den Mantelkragen hoch und mischte mich mit jugendlichem Eifer unter die unwissenden Passanten. Ich war stolz, mit meinem Geheimnis im Herzen an diesen Fremden vorbeigehen zu können. Sie beachteten mich nicht, diese Barbaren, aber ihre Sorgen, ihre Freuden würden sie bei Tagesanbruch mit der Ladung der Postsäcke in meine Hände geben. Durch mich würden ihre Hoffnungen Gehör finden. Und so, in meinen Mantel gehüllt, tat ich gönnerhafte Schritte zwischen ihnen, ohne dass sie von meiner Fürsorge wussten.

Sie erhielten auch die Nachrichten nicht, die ich von der Nacht erhielt. Denn ich richtete meine ganze Aufmerksamkeit auf diesen Schneesturm, der aufkommen und meinen ersten Flug erschweren konnte. Ein Stern nach dem anderen erlosch, wie hätten diese Spaziergänger das mitbekommen sollen? Nur ich war ins Vertrauen gezogen worden. Mir wurde vor der Schlacht die Stellung des Feindes mitgeteilt …

Doch diese Meldungen, die mich so sehr beschäftigten, erhielt ich vor erleuchteten Schaufenstern, in denen Weihnachtsgeschenke glänzten. Dort schienen in der Nacht alle Güter der Erde ausgestellt zu sein, und ich kostete den stolzen Rausch des Verzichts. Ich war ein Krieger in Gefahr: Was interessierten mich diese glitzernden Kristallwaren für die Festabende, diese Lampenschirme, diese Bücher? Schon durchnässte mich das Spritzwasser, schon biss ich in das bittere Fleisch der Nachtflüge eines Linienpiloten.

Um drei Uhr morgens wurde ich geweckt. Ich stieß mit einer kräftigen Bewegung die Fensterläden auf, stellte fest, dass es in der Stadt regnete, und zog mich ernst an.

Eine halbe Stunde später wartete ich, auf meinem kleinen Koffer auf dem im Regen glänzenden Bürgersteig sitzend, auf den Bus, der mich mitnehmen sollte. So viele Kameraden vor mir hatten an ihrem großen Tag mit etwas bangem Herzen ebenso gewartet. Endlich erschien das vorsintflutliche, scheppernde Fahrzeug an der Straßenecke, und ich durfte mich, wie meine Kameraden, auf die Sitzbank zwängen, zwischen den noch nicht ganz wachen Zöllner und ein paar Bürokraten. Der Bus roch muffig, nach verstaubter Verwaltung, altem Büro, in dem ein Menschenleben erstickt wird. Er hielt alle fünfhundert Meter, um einen weiteren Sekretär einzusammeln, einen weiteren Zöllner, einen Inspektor. Die, die schon drin saßen und eingeschlafen waren, antworteten mit einem vagen Brummen auf den Gruß des Neuankömmlings, der sich mühsam hineindrängte und sofort ebenfalls einschlief. So holperte eine recht triste Fuhre über das unregelmäßige Pflaster von Toulouse, und der Linienpilot zwischen den Beamten unterschied sich zunächst kaum von ihnen … Doch die Straßenlaternen zogen vorbei, der Flugplatz näherte sich, und dieser klapprige alte Bus war nur noch eine graue Hülle, aus der der Mensch verwandelt hervorgehen würde.

So hatte jeder Kamerad an einem ähnlichen Morgen in sich unter dem schwachen Untergebenen, der noch der Gehässigkeit dieses Inspektors unterworfen war, den Verantwortlichen für die Spanien- und Afrika-Post wachsen gespürt, denjenigen wachsen gespürt, der drei Stunden später in den Blitzen dem Drachen von L’Hospitalet trotzen würde … der vier Stunden später, nachdem er ihn besiegt hatte, ganz frei, in absoluter Herrschaft, über den Umweg am Meer entlang oder die direkte Erstürmung der Berge von Alcoy entscheiden, der mit dem Gewitter, dem Gebirge, dem Ozean verhandeln würde.

So hatte jeder Kamerad, noch Teil der anonymen Gruppe unter dem düsteren Winterhimmel von Toulouse, an einem ähnlichen Morgen in sich den Herrscher wachsen gespürt, der fünf Stunden später, den Regen und den Schnee des Nordens hinter sich lassend, den Winter ablehnend, die Motordrehzahl verringern und mitten im Sommer, in der strahlenden Sonne von Alicante, zur Landung ansetzen würde.

Den alten Bus gibt es nicht mehr, aber seine Kargheit, seine Unbequemlichkeit sind mir noch deutlich in Erinnerung. Er war ein gutes Symbol für die nötige Vorbereitung auf die harten Freuden unseres Berufs. Dort nahm alles eine ergreifende Schlichtheit an. Und ich erinnere mich, dass ich dort drei Jahre später, ohne dass zehn Worte gewechselt worden wären, vom Tod des Piloten Lécrivain erfuhr, einem der hundert Kameraden der Linie, die an einem Nebeltag oder in einer Nebelnacht in den ewigen Ruhestand traten.

Auch damals war es drei Uhr morgens, es herrschte die gleiche Stille, als wir den Direktor, im Dunkeln unsichtbar, zum Inspektor sagen hörten: »Lécrivain ist heute Nacht nicht in Casablanca gelandet.«

»Ach!«, antwortete der Inspektor. »Ach?«

Und, aus seinem Traum gerissen, zwang er sich wach zu werden, um seinen Eifer zu zeigen, und fügte hinzu: »Ach! Ja? Ist er nicht durchgekommen? Ist er umgekehrt?«

Woraufhin aus dem hinteren Teil des Busses die einfache Antwort ertönte: »Nein.« Wir warteten auf die Fortsetzung, aber es kam kein Wort. Und je mehr Sekunden verstrichen, desto offensichtlicher wurde, dass auf dieses »Nein« kein weiteres Wort folgen würde, dass dieses »Nein« endgültig war, dass Lécrivain nicht nur nicht in Casablanca gelandet war, sondern auch nie mehr sonst irgendwo landen würde.

An jenem Morgen, in der Dämmerung meines ersten Postflugs, unterwarf ich mich also meinerseits den heiligen Riten des Berufs, und ich spürte, wie meine Sicherheit schwand, als ich durch die Scheiben den glänzenden Makadam betrachtete, auf dem sich die Straßenlaternen spiegelten. Der Wind fegte über die Pfützen, sodass große Palmwedel auf der Wasseroberfläche entstanden. Und ich dachte: »Das bei meinem ersten Postflug … Ich habe wirklich kein Glück.« Ich sah den Inspektor an: »Ist schlechtes Wetter?« Der warf einen abgeklärten Blick zur Scheibe: »Das heißt noch gar nichts«, brummte er schließlich. Und ich fragte mich, woran man wohl schlechtes Wetter erkannte. Guillaumet hatte am Vorabend mit einem einzigen Lächeln alle bösen Voraussagen, mit denen uns die Älteren überschütteten, beiseitegeschoben, jetzt aber fielen sie mir wieder ein: »Wer auf der Linie nicht jeden Kieselstein kennt, den bedauere ich, wenn er in einen Schneesturm kommt … Oh ja! Den bedauere ich! …« Sie mussten natürlich ihr Ansehen bewahren und musterten uns kopfschüttelnd mit einem mitleidigen Blick, der uns ein wenig unangenehm war, als würden sie in uns eine unschuldige Arglosigkeit beklagen.

Und wie vielen von uns hatte dieser Bus nicht tatsächlich schon als letzte Zuflucht gedient? Sechzig, achtzig? Von demselben schweigsamen Chauffeur gefahren, an einem regnerischen Morgen. Ich sah mich um: Helle Punkte leuchteten im Dunkeln, Zigaretten verliehen Gedanken einen Takt. Bescheidenen Gedanken gealterter Angestellter. Wie vielen von uns hatten diese Gefährten das letzte Geleit gegeben?

Ich bekam auch leise Gespräche mit. Darin ging es um Krankheiten, Geld, triste Haushaltssorgen. Sie machten die Mauern des öden Gefängnisses sichtbar, in das sich diese Menschen eingesperrt hatten. Und plötzlich erkannte ich das Antlitz des Schicksals.

Alter Bürokrat, mein Kamerad hier, niemand hat dich je ausbrechen lassen, und du kannst nichts dafür. Du hast dir deinen Frieden geschaffen, indem du, wie die Termiten, alle Fluchtwege zum Licht mit Zement verschlossen hast. Du hast dich in deiner bürgerlichen Sicherheit eingerollt, in deinem Alltag, der erstickenden Routine deines Provinz -lebens, du hast diese bescheidene Mauer gegen den Wind und die Gezeiten und die Sterne errichtet. Du willst dich nicht von den großen Problemen beunruhigen lassen, du hattest schon genug Schwierigkeiten damit, dein Menschsein zu vergessen. Du bist sicher kein Bewohner eines umherirrenden Planeten, du stellst dir sicher keine Fragen, auf die es keine Antworten gibt: Du bist ein Kleinbürger von Toulouse. Niemand hat dich rechtzeitig wachgerüttelt. Inzwischen ist der Lehm, aus dem du geformt bist, getrocknet und hart geworden, und niemand kann mehr den in dir schlummernden Musiker wecken, oder den Dichter oder den Astronomen, der vielleicht ursprünglich in dir wohnte.

Ich beschwere mich nicht mehr über die Regenschauer. Der Zauber des Berufs eröffnet mir eine Welt, in der ich in weniger als zwei Stunden auf die schwarzen Drachen und die von blauen Blitzen gekrönten Gebirgskämme treffen werde, in der ich bei Nacht befreit meinen Weg in den Sternen lesen werde.

So lief unsere Feuertaufe ab, und wir begannen zu fliegen. Diese Flüge verliefen meist problemlos. Wir glitten ruhig, wie Berufstaucher, in die Tiefen unseres Metiers hinab. Heute ist es gut erforscht. Der Pilot, der Mechaniker und der Funker wagen kein Abenteuer mehr, sondern schließen sich in ein Labor ein. Sie gehorchen dem Spiel der Zeiger und nicht mehr der Veränderung der Landschaften. Draußen sind die Berge in der Finsternis versunken, aber es sind keine Berge mehr. Es sind unsichtbare Mächte, deren Annäherung man berechnen muss. Der Funker notiert brav Zahlen unter der Lampe, der Mechaniker kontrolliert die Karte und der Pilot korrigiert seine Route, wenn die Berge sich verschoben haben, wenn die Gipfel, die er links überholen wollte, mit der Stille und Heimlichkeit militärischer Vorbereitungen vor ihm aufmarschiert sind.

In derselben Sekunde übernehmen die Funker auf dem Boden das Diktat ihres Kameraden brav in ihre Hefte: »Null Uhr vierzig. Kurs auf 230. Alles in Ordnung an Bord.«

So reist die Besatzung heute. Sie spürt gar nicht, dass sie sich bewegt. Sie ist, wie bei Nacht über dem Meer, sehr weit von allen Orientierungspunkten. Doch die Motoren erfüllen dieses erleuchtete Zimmer mit einer Vibration, die es grundlegend verändert. Doch die Zeit vergeht. Doch in diesen Anzeigen, in diesen Lämpchen, in diesen Zeigern läuft eine wahre unsichtbare Alchimie ab. Sekunde um Sekunde bereiten diese geheimen Gesten, diese gedämpften Worte, diese Aufmerksamkeit das Wunder vor. Und wenn die Zeit gekommen ist, kann der Pilot ganz beruhigt die Stirn an die Scheibe drücken. Das Gold ist aus dem Nichts entstanden: Es strahlt in den Lichtern des Zwischenlandeplatzes.

Und dennoch haben wir alle Flüge erlebt, auf denen wir plötzlich aus einem bestimmten Grund zwei Stunden vor dem Zwischenstopp unsere Entfernung spürten, wie wir sie in Indien nicht gespürt hätten, und kaum noch hofften anzukommen.

So näherte sich Mermoz, als er zum ersten Mal mit dem Wasserflugzeug den Südatlantik überquerte, gegen Einbruch der Dunkelheit dem Kalmengürtel. Er sah, wie sich vor ihm von Minute zu Minute mehr Tornados bildeten und wie eine Mauer vor ihm aufbauten, und dann, wie sich die Nacht über diese Vorbereitungen senkte und sie verbarg. Und als er eine Stunde später unter die Wolken tauchte, kam er in ein fantastisches Reich.

Immer mehr Wasserhosen ragten dort auf, scheinbar unbeweglich wie die schwarzen Säulen eines Tempels. Sie trugen, an ihren Enden erweitert, das dunkle, niedrige Dach des Sturms, aber durch Löcher darin fielen Lichtstrahlen herein, und der Vollmond schien zwischen den Säulen auf die kalten Bodenplatten des Meeres. Und Mermoz verfolgte seine Route durch diese unbewohnten Ruinen, flog von einem beleuchteten Wegstück zum nächsten, um die riesigen Säulen herum, in denen wahrscheinlich das aufgewirbelte Meer grollte, bewegte sich vier Stunden lang in den Mondlichtstreifen zum Ausgang des Tempels. Und das Schauspiel war so überwältigend, dass Mermoz, nachdem er den Kalmengürtel passiert hatte, feststellte, dass er keine Angst gehabt hatte.

Ich erinnere mich auch an eine solche Stunde, in der man die Grenzen der realen Welt durchbricht: Die Funkdaten, die wir von den Peilsendern der Zwischenlandeplätze in der Sahara erhalten hatten, waren in jener ganzen Nacht falsch gewesen und hatten den Funktelegrafisten Néri und mich schwer getäuscht. Als ich zwischen ein paar Nebelschwaden unter uns das Wasser glänzen sah, drehte ich abrupt in Richtung Küste ab, doch wir konnten nicht wissen, wie lange wir schon aufs offene Meer hinausgeflogen waren.

Wir waren nicht mehr sicher, ob wir die Küste erreichen würden, weil uns vielleicht das Benzin ausginge. Und wenn wir die Küste erreichten, müssten wir den Zwischenlandeplatz finden. Aber der Mond ging gerade unter. Ohne Koordinaten, bereits schwerhörig, wurden wir allmählich auch noch blind. Der Mond erlosch wie schwache Glut in einem Nebel, der Schneeverwehungen ähnelte. Der Himmel über uns zog sich ebenfalls mit Wolken zu, sodass wir nun in einer Welt ganz ohne Licht und ohne Substanz zwischen den Wolken und dem Nebel schwebten.

Die Zwischenlandeplätze, die uns antworteten, sagten uns nichts über unsere Position: »Keine Peilung … Keine Peilung …«, denn unsere Stimme kam für sie von überall und nirgendwo.

Doch plötzlich, als wir schon verzweifelten, erschien ein leuchtender Punkt vorne links am Horizont. Ich verspürte eine wilde Freude, Néri beugte sich zu mir, und ich hörte ihn singen! Das konnte nur der Zwischenlandeplatz sein, das konnte nur sein Leuchtturm sein, denn die Sahara ist bei Nacht völlig dunkel und bildet ein großes totes Gebiet. Das Licht jedoch funkelte ein bisschen und erlosch dann. Wir hatten Kurs auf einen Stern genommen, der nur ein paar Minuten lang am Horizont zu sehen gewesen war, während er zwischen der Nebelschicht und den Wolken unterging.

Dann sahen wir weitere Lichter aufsteigen und steuerten mit sturer Hoffnung nacheinander auf jedes davon zu. Und wenn das Licht weiter leuchtete, wagten wir den über Leben und Tod entscheidenden Versuch: »Leuchtfeuer in Sicht«, forderte Néri den Zwischenlandeplatz Cisneros auf, »schalten Sie Ihren Scheinwerfer aus und blinken Sie dreimal.« Cisneros schaltete seinen Scheinwerfer aus und blinkte, aber das harte Licht, das wir beobachteten, der erbarmungslose Stern blinkte nicht.

Obwohl unser Benzin zur Neige ging, schluckten wir jedes Mal die goldenen Köder, jedes Mal war es das wahre Licht eines Leuchtfeuers, jedes Mal waren es der Zwischenlandeplatz und das Leben, dann mussten wir den Stern wechseln.

Wir fühlten uns verloren im interplanetaren Raum, zwischen hundert unerreichbaren Planeten, auf der Suche nach dem einzig richtigen Planeten, unserem, der allein unsere vertrauten Landschaften, unsere geliebten Häuser, unsere zärtlichen Beziehungen enthielt.