Marina Lewycka
Lubetkins Erbe
oder Von einem, der nicht auszog
Roman
Deutsch von Sophie Zeitz
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Marina Lewycka 1946 als Kind ukrainischer Eltern in Kiel geboren und in England aufgewachsen, gilt als eine der populärsten britischen Autorinnen der Gegenwart, mit einem besonderen Blick für gesellschaftliche Realitäten. Gleich ihr erster Roman ›Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch‹ wurde ein Welterfolg, und auch ihre späteren Romane standen regelmäßig auf den internationalen Bestsellerlisten.
Mehr unter www.marina-lewycka.de
Seit seiner Scheidung lebt der arbeitslose Schauspieler Berthold Sidebottom bei seiner Mutter in deren Sozialwohnung. Als Lily unerwartet stirbt, droht ihm die Kündigung. Berthold ist ratlos. In London eine andere bezahlbare Bleibe zu finden, ist geradezu unmöglich. Darum sieht er nur einen Ausweg: Lilys Bettnachbarin im Krankenhaus muss vorübergehend bei ihm einziehen und gegenüber dem Wohnungsamt die Rolle seiner Mutter spielen. Die alte Dame aus der Ukraine willigt erfreut ein. Leider spricht Inna aber nur gebrochen Englisch – und verliert die komplexen Details des Wohnungskomplotts allzu leicht aus dem Blick. Und dann zieht nebenan auch noch die attraktive Vermögensberaterin Violet ein ...
Ungekürzte Ausgabe 2019
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
© 2016 Marina Lewycka
Titel der englischen Originalausgabe:
›The Lubetkin Legacy‹ (Fig Tree/Penguin, London 2016)
© 2017 der deutschsprachigen Ausgabe:
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
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eBook-Herstellung im Verlag (01)
eBook ISBN 978-3-423-43273-3 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21776-7
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ISBN (epub) 9783423432733
»Nichts ist zu gut für die einfachen Leute.«
Berthold Lubetkin
(Architekt des Finsbury Health Centre von 1938 in London)
»Lass nicht zu, dass sie die Wohnung kriegen, Bertie!«, ächzte meine Mutter, als man sie auf der Bahre wegtrug, und klammerte sich an meine Hand wie an ihr Leben. Ich wurde die schreckliche Szene nicht los, als ich in einem Nebel aus Trauer, Schuldgefühlen und süßem Lidl-Sherry grübelte, was ich übersehen haben könnte.
Der Tag hatte ganz normal angefangen: mit meinem Morgenspaziergang, um Milch und die Zeitung zu holen, und einem Abstecher zu Luigi’s auf dem Rückweg, wo ich mir den kleinen Luxus eines Latte macchiato gönnte – ansonsten lebte ich bescheiden, möchte ich hinzufügen –, das kräftige Kaffeearoma eine Genussexplosion in meiner unaufregenden Welt. Ich trank aus, zahlte und trat auf die Straße, als plötzlich aus dem Nichts ein weißer Lieferwagen heranraste. Eine Taube, die ein Stück weiter auf der Straße nach Abfällen suchte, war nicht schnell genug. Ich hörte den dumpfen Aufprall. Betäubt fiel der Vogel auf den Asphalt, dann begann er verzweifelt mit einem Flügel zu schlagen. Ich wusste, das nächste Auto würde ihm den Garaus machen, also bückte ich mich und hob ihn auf. Er zappelte flatternd in meinem Griff, aber ich hielt ihn fest und trug ihn sicher in die umzäunte Grünanlage vor unserem Wohnblock, wo ich ihn unter einem Kirschbaum ins Gras setzte. Als er davonflog, sah ich, dass er nur ein Bein hatte. Wo das zweite sein sollte, ragte ein rosa Stumpf aus dem schmutzigen Untergefieder. Auch er war vom Leben gezeichnet – wie ich.
Zurück in der Wohnung spürte ich, dass etwas nicht stimmte. Flossie, unsere afrikanische Graupapageiendame, hüpfte auf der Käfigstange unruhig von einem Fuß auf den anderen und kreischte mit ihrem penetranten Dalek-Akzent: »Gott ist tot! Erster März 1932!«
Mum hatte noch im Bett gelegen, als ich ging, doch jetzt lag sie mit geschlossenen Augen auf dem Teppich im Wohnzimmer, und ein dünner, säuerlich riechender Spuckefaden rann ihr aus dem Mundwinkel. Auf dem Tisch stand eine halbleere Sherryflasche. Sorge stieg in mir auf, mit einem Anflug von Ärger. Verdammt, es war erst neun Uhr morgens, und sie hatte schon zur Flasche gegriffen.
»Mum? Alles in Ordnung?«
»Jetzt bist du allein, mein Junge.«
Als ich mich bückte, um ihr eine Strickjacke um die Schultern zu legen, griff sie nach meiner Hand.
»Lass nicht zu, dass sie die Wohnung kriegen, Bertie!«
»Wer denn, Mum? Wer sind sie?«
Seufzend schloss sie wieder die Augen. Höchstwahrscheinlich eine Überdosis Sherry – es wäre nicht das erste Mal –, aber zur Sicherheit rief ich den Arzt.
Dr. Brandeskievich, ein schnurrbärtiger alter Krauter, der meiner Vermutung nach einst Mutters Liebhaber gewesen war, hielt das Stethoskop länger als nötig an ihre Brust und gab mitfühlende Schnalzlaute von sich, die sich wie die Krümel seines Frühstücks im Dickicht seines Bartes verfingen.
»Arme kleine Lily. Wir schicken dich lieber ins Krankenhaus.«
Dann rief er den Rettungswagen, und ich packte ihre Tasche.
»Vergiss mein Schminkzeug nicht, Bertie!«
Mutters Eitelkeit war rührend. Gestern noch hätte man gesagt, sie habe sich mit ihren zweiundachtzig Jahren gut gehalten, doch über Nacht schien sich alles an ihr verändert zu haben – Wangen und Lippen hatten die Farbe verloren, ihre Augen waren tief eingesunken, und irgendwie sah sie nicht mehr wie meine Mutter aus, sondern wie eine müde Fremde, die sich für meine Mutter ausgab. Wo kam diese Veränderung her? Sie hatte sich so langsam angeschlichen, dass ich nicht mitbekommen hatte, wann sich meine unbezwingbare Mutter in eine gebrechliche alte Dame verwandelt hatte.
Dann kam der Rettungswagen, und zwei Sanitäter hoben sie auf die Trage. Durchs Fenster sah ich, wie sie sie den gewundenen Pfad entlang durch den Kirschgarten trugen. Eine Windböe erfasste die Decke, und Mutters weißes Nachthemd flatterte wie eine Motte. Ich hatte einen Kloß im Hals.
Dr. Brandeskievich klopfte mir tröstend auf die Schulter. »Sag Bescheid, wenn du was zum Schlafen brauchst.«
Als das Martinshorn draußen verklang, legte sich eine bleierne Stille über die Wohnung; selbst Flossie machte keinen Mucks, als lauschte sie sehnsüchtig auf die Stimme ihrer Herrin. Die beiden hatten eine merkwürdige Sado-Maso-Beziehung gehabt. In Mutters Zimmer hing ein Hauch von L’Heure Bleue in der Luft, und die Fährte verstreuter Kleider am Boden betonte ihre Abwesenheit noch: flauschige hochhackige Pantöffelchen, eine weiße Kaschmirstola mit Mottenlöchern, ein cremefarbenes Unterkleid mit einem mysteriösen braunen Fleck, ein Paar zerknitterte Satinschlüpfer. Das schamlose Herumliegen von Mutters Unterwäsche löste Unbehagen in mir aus. Ich ließ alles, wie es war, ging in die Küche und machte mir mit einer Dose Thunfisch und einem Salatblatt ein Sandwich.
Am Nachmittag rief ich im Krankenhaus an – es war dasselbe Krankenhaus, in dem Mutter gearbeitet hatte, bis sie vor zwanzig Jahren in Rente ging –, und man sagte mir, Mutter schlafe und es gehe ihr gut; ich könne sie am nächsten Tag auf der Station besuchen. Als ich aufgelegt hatte, klingelte die Stille der Wohnung in meinen Ohren.
Abends wünschte ich, ich hätte Dr. Brandeskievichs Angebot mit den Schlaftabletten angenommen, aber so musste ich mich mit der halben Flasche Sherry begnügen, von dem mir schlecht wurde, ohne dass er mich müde machte.
»Gute Nacht, Flossie.«
Ich deckte den Käfig mit der Tischdecke zu, wie Mutter es immer getan hatte, damit Flossie nachts Ruhe gab.
»Gute Nacht, Flossie!«, antwortete sie.
Die Morgensonne strahlt durchs Fenster und weckt Violet viel zu früh auf. Die Vormieter haben alles mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest war – sogar die Vorhänge. Violet verkriecht sich unter der Decke, die Jessie ihr geliehen hat. Im Bett ist es warm, doch in der Wohnung ist es kalt, und sie muss aufs Klo. Der Teppich unter ihren nackten Füßen fühlt sich klebrig an, und das Bad stinkt widerlich.
Trotzdem tut es gut, nach einem Monat auf Jessies Sofa ihre eigenen vier Wände zu haben. Außerdem hat es extrem genervt, täglich von Croydon zu pendeln. Von hier aus braucht sie nur fünfzehn Minuten mit dem Bus zum Büro. Auch wenn Madeley Court früher mal ein Sozialbau war, fürs Erste ist die Wohnung hier in Ordnung.
Sie putzt sich die Zähne, wäscht sich mit kaltem Wasser das Gesicht und trocknet es mit ihrem T-Shirt ab – die Handtücher sind noch im Koffer. Dann lächelt sie sich in dem verschmierten Spiegel an, der an der Wand festgeschraubt ist. Trotz der verstrubbelten Haare und der zombieartig verlaufenen Wimperntusche gefällt ihr, was sie sieht: eine junge Frau, die gerne lächelt, mit weißen Zähnen und guter Haut; eine junge schwarze Frau an ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag, die gerade einen guten Job bei einer renommierten Firma in der Londoner City angetreten hat – einen Job, für den sie ausgebildet ist, auf den sie hingearbeitet hat; einen Job, den sie verdient, auch wenn sie selbst kaum glauben kann, dass sie ihn bekommen hat. Was sie jetzt wirklich dringend braucht, ist ein Kaffee.
Doch in der Küche gibt es keinen Kaffee, nicht einmal einen Wasserkocher, sondern nur ein widerliches Durcheinander aus Imbiss-Schachteln mit schimmligen Essensresten, Plastikbesteck, halbleeren Flaschen, Zigarettenkippen, Rubbellosen, Socken, Turnschuhen, einer Unterhose, offenen Konservendosen, Chipstüten, Pizzarändern … Ihr Blick wird glasig. Ihre Vormieter waren Studenten. Jungs. Typisch. Sie geht ins Schlafzimmer zurück – das offenbar eigentlich das Wohnzimmer ist, auch wenn drei Betten drinstehen –, zieht sich an, dann schließt sie hinter sich ab, geht die Treppe hinunter und macht sich auf die Suche nach einem Kaffee.
An der nächsten Ecke der großen Straße findet sie ein kleines braun gestrichenes Café mit einer gestreiften Markise, das Luigi’s heißt. Violet bestellt einen doppelten Cappuccino und ein Croissant und holt den Laptop heraus, um ihre E-Mails zu checken. Ein Haufen Glückwünsche von ihren Freunden, einige mit E-Card-Anhängen, und eine Mail von ihrer Mutter, die ihr alles Gute zum Geburtstag wünscht und viel Glück für den neuen Job.
Danke, schreibt sie zurück, das werde ich brauchen. Ihr Posten nennt sich Trainee Account Manager in der Abteilung Internationale Versicherungen bei Global Resource Management, kurz GRM, und ihre Chefin ist die vorzügliche Gillian Chambers, eine kleine kühle Frau mit leiser Stimme und knallhartem Ruf, die Violet beim Vorstellungsgespräch erbarmungslos gegrillt hat und mit keiner ihrer Antworten zufrieden schien. Bei dem Gespräch war auch Marc Bonnier anwesend, Leiter der Abteilung Vermögenssicherung und fast genauso furchteinflößend wie Gillian, trotz des Grübchens am Kinn und des funkelnden Lächelns, das Violet an Jude Law erinnert. Ihre Freundin Jessie hat ihr mal erzählt, ein Kinngrübchen bei einem Mann sei ein Zeichen von Sensibilität. Es wäre bestimmt nett, für ihn zu arbeiten, denkt Violet.
Am Nebentisch sitzt ein älterer Mann mit einem hohen Latte-macchiato-Glas und liest den Guardian. Er hat schütteres Haar und macht ein mürrisches Gesicht. Jessies Mutter sagt, der Guardian mache einen unglücklicher als beispielsweise der Daily Telegraph. Vielleicht weiß der Mann das nicht. Ansonsten ist das Café leer. Draußen auf der großen Straße donnern Busse und Lastwagen vorbei, doch bei Luigi ist es ruhig und gemütlich, im Hintergrund läuft leise Soul-Musik, die Kaffeemaschine zischt sanft und der ältere Mann raschelt mit der Zeitung. Sie trinkt ihren Kaffee aus und will schon losgehen, um Gummihandschuhe und Mülltüten zu kaufen, doch dann greift sie zum Telefon und ruft mit der kühlen, selbstsicheren Stimme, die zu ihrem neuen Status als Finanzmanagerin passt, bei der Wohnungsagentur an.
»Die Wohnung wurde in einem unsäglichen Zustand hinterlassen. Bitte schicken Sie jemand, der sie saubermacht und in einen bewohnbaren Zustand bringt. Vielen Dank.« Ha! Das fühlt sich gut an.
Dann setzt sie sich hin und bestellt noch einen Kaffee.
Am nächsten Tag radelte ich zum Krankenhaus, schloss das Fahrrad am Zaun fest und steckte die Hosenklammern in die Anoraktasche. Mutter lag auf einer Station im ersten Stock, am Ende eines langen, nach Desinfektionsmitteln riechenden Flurs mit Abzweigungen zu unangenehm klingenden Abteilungen wie Spektroskopie, Oralchirurgie und Trauma. Meiner Erfahrung nach waren Krankenhäuser wie Todeszellen – am besten war es, sie zu meiden, doch manchmal hatte man keine Wahl.
Ich brauchte einen Moment, bis ich in der zerbrechlichen, unfrisierten alten Frau im Krankenbett meine Mutter erkannte. Sie so zu sehen war ein Schock. Spüllappengraue Haare, strähnig und ungekämmt; rosa Lippenstift, weit über die Lippen hinaus gemalt, als hätte sie ihn ohne Spiegel aufgetragen; ein Tupfer leuchtend blauer Lidschatten über einem Auge, über dem anderen nicht. Meine liebe Mum: Selbst in der letzten Stunde wollte sie gut aussehen.
»Bertie! Hol mich hier raus!«
»Wie geht’s dir, Mum?«
Ich reichte ihr die Trauben, die ich mitgebracht hatte, und küsste sie ganz kontinental auf beide Wangen. Die Geste munterte sie auf.
»Mir fehlt nichts, Berthold.« Sie sah sich misstrauisch in dem Mehrbettzimmer um. »Ich will in ein staatliches Krankenhaus.«
»Aber das ist ein staatliches Krankenhaus. Du hast früher hier gearbeitet, weißt du nicht mehr?«
»Nein, ich hab oben in Homerton gearbeitet.« Das blaubemalte Lid flatterte wie ein verirrter Schmetterling. »Die wollen mich umbringen, Bertie. Sie wollen uns die Wohnung wegnehmen.« Ein paranoider Funke glomm in ihren Augen.
»Unsinn, das würden sie niemals …«
Oder doch? Ich spürte einen Anflug von Panik hinter den Rippen. Mutter hatte immer gesagt, der Mietvertrag für die städtische Wohnung, in der sie seit dem Erstbezug in den 1950er-Jahren wohnte, werde nach ihrem Tod auf mich übergehen. Doch in letzter Zeit murmelte sie häufiger etwas von einem finsteren Plan irgendwelcher ungenannter Schurken (»sie«), uns die Wohnung wegzunehmen.
»Der globale Kapitalismus hat mir das angetan, mein Junge.«
»Wahrscheinlich war es nur der Sherry, Mum.«
»Ich hab keinen Tropfen angerührt, Bertie. Und nichts gegessen.« Sie setzte sich auf und zupfte mit fahrigen Händen ihr Nachthemd zurecht. »Sie wollen mich aushungern. Hier kriegt man nichts als ein paar Salatblätter und einen Becher Joghurt. Und rohes Obst. Pfui Teufel. In staatlichen Krankenhäusern gibt es Dosenpfirsiche in Sirup.« Meine Trauben ernteten einen verächtlichen Blick. »Hast du mir Zigaretten mitgebracht, Junge?«
»Ich glaube nicht, dass man im Krankenhaus rauchen darf.«
»Genau das meine ich! Sie wollen mich umbringen. In einem staatlichen Krankenhaus würde so was nie passieren.«
In diesem Moment tönte ein heftiger Hustenkrampf aus dem Nachbarbett, und wir drehten uns um. Eine Greisin mit grauer runzliger Haut ächzte und würgte und spuckte eine widerliche Menge an Schleim in die Pappschale auf ihrem Nachttisch.
»Ruhe, Inna«, rief meine Mutter. »Das hört sich ekelhaft an. Das ist Berthold, mein Sohn, der mich besucht. Sag hallo.«
»Na, Mister Berthold.« Das Weiblein sah durch lange, silberne Haarsträhnen zu mir herauf und streckte mir eine Hand entgegen, die so knochig wie ein Bündel Reisig war. »Hast du Glück, hast du schöner Junge, Lily. Zu mir kommt keiner zum Besuch.«
»Hören Sie auf zu jammern, Quengelliese«, sagte Mum. »Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die heitren Stunden nur.« Und sie stimmte mit zitternder Stimme ihr Lieblingslied an, das ich noch aus meiner Kindheit kannte. »Keep on the sunny side, always on the sunny side!«
»Sonnenuhr! Haha. Keine heitren Stunden hier, Lily.« Die Greisin hielt eisern an ihrem Negativ-Kurs fest. »Zu viele verdummte Ausländer. Jeden Tag ist jemand tot.«
»Die Leute sterben, weil es ein privates Krankenhaus ist, nicht wegen der ausländischen Ärzte und Schwestern.« Mutter schürzte streng die Lippen. »Man darf nicht rassistisch sein, Inna. Das ist falsch. Wir müssen all den farbigen Menschen dankbar sein, dass sie ihre sonnige Heimat verlassen haben, um für uns zu arbeiten.«
»Aha! Gut, dass Sie sagen, ist privat.« Inna strich mit ihren dürren Händen die Decke glatt. »Hab ich gedacht, ist stattlich.«
»Nein«, versicherte Mutter. »In staatlichen Krankenhäusern sterben weniger Leute.«
»Arzt hat rosa Krawatte.« Die alte Frau zeigte auf einen jungen Arzt, der sich am anderen Ende des Zimmers über eine betagte Patientin mit Kreislaufproblemen beugte. Sie flüsterte: »Rosa heißt homosexy?«
»Spielt keine Rolle, was er ist«, gab Mutter zurück. »Schwulsein tut keinem weh.«
»Haben Sie immer recht, Lily.« Inna räusperte sich und spuckte wieder aus. »Ist gut, dass Sie mir sagen. Ich kenne nicht aus. In mein Land alle sind normal.«
Dann blieb ihr neugieriger Blick an meinem einst dunkelroten T-Shirt hängen, das nach Jahren häufigen Waschens zu einem fahlen Rosa verblasst war.
»Achte nicht auf sie«, raunte Mutter mir zu. »Sie kommt aus der Ukraine, wie mein Lucky. Rote Bete im Hirn. Hat Emphaseme. Sie bringt alles durcheinander. Stimmt’s, Inna?«
Die Runzeln der Frau schrieben einen fröhlichen Ausdruck in ihr altes Gesicht, wie eine fremde Inschrift. »Besser durcheinander als wie tot!«
»Am Ende sind wir alle tot.« Plötzlich griff Mutter nach meiner Hand und zog mich zu sich herunter, um mir ins Ohr zu flüstern. »Willst du nicht wieder heiraten, Junge? Du brauchst jemanden, der sich um dich kümmert, falls ich hier nicht lebend rauskomme.«
»Schsch. Sag doch nicht so was, Mum. Bald bist du wieder auf den Beinen.«
Das Gerede vom Heiraten beunruhigte mich ziemlich, denn Mutter hatte immer jede Frau bekriegt, die ich mit nach Hause brachte – besonders Stephanie, meine schmerzhaft schöne Exfrau, die ich vielleicht mehr vergöttert hatte, als meine eheliche Pflicht gewesen wäre. Stephanie wusste von Anfang an, dass Mutter ihre einzige ernst zu nehmende Rivalin war, und die beiden hatten sich kaum die Mühe gemacht, ihren gegenseitigen Abscheu hinter höflichen Wangenküssen zu verbergen. Später, nach unserer Scheidung, hatte Stephanie mich bei meiner Mutter abgegeben wie eine aussortierte Matratze: »Du kannst ihn wiederhaben, Lily. Viel Spaß. Er ist völlig kaputt.« Und jetzt klang es irgendwie, als wollte auch meine Mutter mich weiterreichen.
»Der Arzt hat gesagt …«, sie zeigte in Richtung der rosa Krawatte, »… ich habe …«, sie fahndete nach dem richtigen Ausdruck, »… Innenhof-Flimmern!« Die Worte kamen mit einem Hauch von Abenteuerlust herausgesegelt wie eine Galeone mit geblähten Segeln. »Wer hätte das gedacht? Innenhof! Wie in Madeley Court! Mein Berthold wollte immer einen Innenhof einbauen. Oder ein Oberlicht.« Dann sank sie zurück in die Kissen und schloss die Augen, das Gesicht nach oben gereckt, als streckte sie sich der Sonne entgegen.
Es gab keinen Innenhof in Madeley Court, unserem Wohnblock, nur ein schmutziges Oberlicht über dem Treppenhaus. Und Mutters Behauptung, sie habe einst eine leidenschaftliche Affäre mit Berthold Lubetkin, dem Architekten des Wohnblocks, gehabt, hatte vermutlich ebenso viel reale Substanz wie der Innenhof.
»Irgendwo ist es, Bert. Unterm Sofa, glaube ich«, beharrte sie. Arme Mum, dachte ich. Jetzt baut sie endgültig ab. Wer hat je von einem Oberlicht unter dem Sofa gehört?
Ich drückte ihre Hand und murmelte: »Licht suchend hat das Licht des Lichts vergessen.«
»Ah! Mit Shakespeare liegt man nie falsch! Haben Sie das gehört, Inna? William Shakespeare, der unsterbliche Barde? Sag noch was, Bertie!«
»Eitel ist jede Lust, am meisten die mit Mühen kaufend nichts erwirbt als Müh’ …«, zitierte ich weiter Berownes Rede.
Die alte Frau sah mich beeindruckt an. »Ist Puschkin, ja?«
»Siehst du, was ich meine?«, sagte Mutter. »Emphaseme. Ach, Inna, singen Sie uns doch eins von Ihren ausländischen Liedern vor.«
Die alte Frau räusperte sich, spuckte aus und begann leiernd zu trällern: »Poviy vitre na-a Ukrainu … Wunderschöne Lied aus mein Land. De salischil jah-ah-ah …«
Die anderen Patientinnen reckten die Hälse, um zu sehen, wo der Krach herkam. Dann trat der Arzt mit der rosa Krawatte zu uns und konsultierte seine Aufzeichnungen. Er wirkte kaum älter als ein Teenager und hatte strubbeliges Haar und lange, spitze Schuhe, die mal geputzt werden mussten.
»Sind Sie Mr … äh … Lukashenko?«
Doch dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um die komplexe Ehegeschichte meiner Mutter zu erläutern.
»Nein. Ich bin ihr Sohn. Berthold Sidebottom.« Ignoranten Menschen gab der Name Sidebottom zuweilen Anlass zur Heiterkeit, und der junge Arzt schien dazuzugehören. In Wirklichkeit war Sidebottom ein alter angelsächsischer Ortsname mit der Bedeutung »breites Tal«, dessen Ursprung vermutlich in Cheshire lag.
Der Arzt versteckte sein Grinsen hinter der Hand, rückte seine Krawatte zurecht und erklärte, dass meine Mutter Vorhofflimmern habe. »Ich habe sie gefragt, wie viele Zigaretten sie pro Tag raucht. Ihr Herz ist in keiner guten Verfassung«, sagte er leise.
»Was hat sie gesagt?«
»Sie sagte, erster März 1932.«
»Das ist ihr Geburtstag. Sie ist gerade zweiundachtzig geworden. Ich weiß auch nicht genau, wie viel sie raucht. Sie hält es geheim – sie will kein schlechtes Vorbild für mich abgeben.«
Der Teenager-Arzt kratzte sich mit dem Kugelschreiber hinterm Ohr. »Wir behalten sie besser ein paar Tage hier, Mr … äh … Lukashenko.« Er spähte in seine Aufzeichnungen.
»Sidebottom. Lukashenko war ihr Mann.«
»Mr Sidebottom. Hm. Ist Ihnen an Ihrer Mutter in letzter Zeit eine Veränderung aufgefallen? War sie vergesslicher als sonst?«
»Veränderung? Vergesslich? Nicht dass ich wüsste.« Ich für meinen Teil hatte festgestellt, dass eine gewisse selektive Amnesie im Umgang mit den Wechselfällen des Lebens durchaus hilfreich sein konnte. »Nicht kann sie Alter hinwelken, täglich Sehn an ihr nicht stumpfen den immerneuen Reiz«, murmelte ich.
Zu meiner Verlegenheit hatte ich plötzlich Tränen in den Augen. Ich dachte an all die Jahre, in denen ich mir mit Mutter die Wohnung im obersten Stock von Madeley Court geteilt hatte, an all die Ehemänner und Liebhaber, die Politik, den süßen Sherry, den Papagei. In meiner Erinnerung hatte sie selbst in den besten Zeiten seltsames Zeug geredet, doch im Grunde war sie mir immer ein Fels in der Brandung gewesen. »Shakespeare«, erklärte ich. Der Teenager-Arzt wirkte verschnupft, als hätte ich versucht, ihm eins reinzuwürgen, also erläuterte ich: »Wenn man zusammenlebt, bemerkt man Veränderungen manchmal nicht. Sie p-passieren so allmählich.«
»Sie leben noch bei Ihrer Mutter?«
Ich hörte einen spöttischen Unterton in seiner Kinderstimme. Wahrscheinlich war er noch zu grün, um zu verstehen, wie plötzlich sich alles, was man für selbstverständlich hält, in Luft auflösen kann. Man kann ein halbes Jahrhundert alt werden, man kann bescheidene berufliche Erfolge feiern, man kann das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen erleben – in meinem Fall vor allem Letztere – und doch am Ende wieder bei seiner Mutter leben. Eines Tages könnte das sogar dir passieren, Dr. Clever mit den spitzen Schuhen. Menschen kommen und gehen im Leben, aber deine Mutter ist immer da – bis sie eines Tages nicht mehr da ist. Wie ich all die Male bereute, wenn ich genervt von ihr war oder es gar nicht gewürdigt hatte, dass sie da war.
»Ja. Wir unterstützen uns g-gegenseitig.« Mein altes Stottern. Musste der Stress sein.
Mum war ins Bett zurückgesunken. Ihr Atem ging schwer. Zwischen ihren Lippen glänzte ein dünner Spuckefaden wie eine Erinnerung an die Vergänglichkeit. Mit einem Schauder seufzte sie: »Erster März 1932!« Der Spuckefaden riss.
Der Arzt senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Wir tun natürlich, was wir können, aber ich glaube, sie wird nicht mehr sehr lange bei uns sein.«
Panik stieg in mir auf. Die großen Fragen rasten mir durch den Kopf und tauschten Faustschläge aus. Wie lang war nicht mehr sehr lange? Warum musste ihr das ausgerechnet jetzt passieren? Warum mir? War ich ein guter Sohn gewesen? Würde ich ohne sie zurechtkommen? Was war mit dem Papagei? Was war mit der Wohnung?
Der Teenager-Arzt ging weiter, und die Stationsschwester kam herbei, wohlgeformt und schwarz unter einer gestärkten weißen Haube, die wie ein stolzes Schiff auf der dunklen See ihrer Locken segelte. »Wir müssen den Katheter wechseln. Geben Sie uns eine Minute, Mr Lukashenko?«
»Side-b-bottom.«
»Sidebottom?«
Unsere Blicke trafen sich, und ich war erschüttert, wie schön ihre Augen waren, groß und mandelförmig, mit langen Wimpern. Das Tier in mir regte sich. O Gott, nicht jetzt. Ich zog mich hinter den Vorhang zurück und beschloss, die Cafeteria zu suchen und eine beruhigende Tasse Tee zu trinken, als die alte Frau vom Nachbarbett zischte: »Psst! Setzen sich. Reden mit mir. Ich krieg nie Besuch. Bin ich ganz allein.«
Zur Strafe für meine ungehörigen Gedanken schob ich einen Stuhl an ihr Bett und räusperte mich. Es war gar nicht so einfach, ein Gespräch mit einer völlig Fremden anzufangen, die einen für schwul hielt. Vielleicht sollte ich zuerst mal dieses Missverständnis ausräumen?
»Sie halten Männer, die Rosa tragen, für homosexuell. Also, nicht, dass es irgendwie schlimm ist, schwul zu sein, aber …«
»Aha! Kein Problem, Mister Bertie«, unterbrach mich die alte Frau. »Hab ich kein Problem. Wir alle sind Kinder von Gott. Sogar Lenin hatte kein Problem.«
»Ja, schon, aber …« Ich brauchte wirklich eine Tasse Tee.
»Dein Mama Lily sagt, wir müssen alle Leute behandeln wie eigene Familie. Ist sie wie gute Sowjetfrau. Mach wie Sonnenuhr, Inna, sagt sie immer.«
»Ja, meine Mutter ist etwas Besonderes.« Ich starrte den Vorhang an, mein Herz eingeklemmt zwischen Zärtlichkeit und Angst. Hinter dem Vorhang war eine Menge Geflüster und Geklapper im Gang. »Was ist mit Ihrer Familie, Inna?«
»Nix homosexy. Mein Mann Dovik Sowjetbürger«, erklärte Inna. »Aber tot.« Sie beugte sich vor und spuckte in ihre Schale.
»Oh, das tut mir leid!« Ich setzte meine künstliche mitfühlende Stimme auf, Gertrude aus Hamlet, und versuchte, den Blick von dem widerwärtigen grünen Zeug loszureißen, das in ihrer Pappschale schwappte.
»Warum tut leid? Hast ihn du nicht umgebracht.«
»Nein, natürlich nicht, aber …«
»Umgebracht von Oliharch mit Gift! Vergiftet, tot. Leb ich allein. Oliharch klopft an Tür. Oj-oj-oj!« Es klang wie ein Schauermärchen, ein Produkt ihrer Fantasie, aber sie fixierte mich mit dunklen aufgewühlten Augen. »Jeden Tag koche ich Golabki Kolbaski Slatki, aber niemand ießt mit, seit Dovik tot.« Sie putzte sich mit dem Laken die Nase. »Ehemann Dovik immer zu viel geraucht. Krieg ich Emphasen. Heizung teuer. Wohnung zu viel kalt.« Ihre Reisigfinger griffen nach meiner Hand und drückten sie anzüglich. »Hat mir dein Mama erzählt, hat sie so schöne Wohnung von Liebhaber. Aber jetzt Angst, wenn sie stirbt, nehmen sie Wohnung weg wegen Unterbettsteuer und du wohnst obdachlos auf Straße.« Hinter dem silbernen Haarvorhang musterten mich ihre dunklen Knopfaugen. Was hatte Mutter ihr erzählt?
Mutter bewohnte die Wohnung seit 1952, als der Bau fertiggestellt wurde, und sie hatte mir immer mit feuchten Augen erzählt, dass Berthold Lubetkin, der Architekt der Wohnanlage, ihr versprochen hatte, sie und ihre Kinder hätten dort für immer ein Zuhause. Doch die Mistkerle hatten seitdem nicht mehr genug Wohnungen für den wachsenden Bedarf gebaut, hatte sie gewettert. Und so wurden viele der Sozialwohnungen, die damals der Stadtrat Harold Riley in Auftrag gegeben und die Lubetkins Firma Tecton gebaut hatte, an Privatleute verscherbelt – wie unsere Nachbarwohnung, die einst dem Müllmann Eric Perkins gehört hatte und nun von einer Immobilienfirma an ausländische Studenten vermietet wurde, die die ganze Nacht laut Musik hörten und den Fahrstuhl mit Imbiss-Schachteln zumüllten.
»Unterbettsteuer?« Konnten sie mich wegen so was vor die Tür setzen?
»Neue Steuer für Unterbettmieter.«
Unter meinem Bett lagen hauptsächlich zerfledderte Textbücher, nicht zueinanderpassende Socken und alte Ausgaben der Theaterzeitschrift The Stage herum. Als Mieter konnte man sie alle nicht bezeichnen.
»Dein Mutter große Sorge wegen Auflösung von Nachkriegsnonsens. Sagt, ist sie herzkrank, wenn sie dran denkt, dass sie dir Wohnung wegnehmen und dich auf Straße setzen. Unterbettsteuer ist Werk von Satan, sagt dein Mutter. Mister Indunky Smiet. Kennst du diese teuflische Mann?«
»Nicht persönlich.«
Ich hatte natürlich von der neuen so genannten Schlafzimmersteuer gehört, die meine Mutter abwechselnd als Affront gegen den Anstand bezeichnete, als Todesstoß für den Nachkriegskonsens oder als Vorwand, um noch mehr Geld aus den armen Leuten herauszupressen, die zufälligerweise ein Gästezimmer ihr Eigen nannten. Aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass diese Regelung irgendwas mit mir zu tun haben könnte, und deshalb hatte ich auch nie einen Gedanken daran verschwendet. Ich erinnerte mich vage, dass Mum und Flossie neulich lautstark irgendeinen Minister aus den Fernsehnachrichten verflucht hatten; das kam allerdings nicht selten vor. Natürlich sympathisierte ich mit ihrem gerechten Zorn, aber ich hatte meine eigenen Sorgen, und schließlich konnte man nicht ständig auf hundertachtzig sein, oder?
»Aber hab ich ihr gesagt, keine Sorge, Lily, ist Unterbettsteuer nur für Faulenzer, die ganzen Tag im Bett liegen. Bist du hart arbeitende anständige Mann, ja, Mister Bertie?« Sie sah mich von der Seite an.
»O ja. Auf jeden Fall.«
»Welche Arbeit Sie arbeiten, Mister Bertie?«
»Also, ich bin Schauspieler.«
Ich hasste diese Frage. Sie löste so viele Erwartungen aus.
»Aha! Wie George Clooney!«, gurrte Inna. »In die Filme?«
»Hauptsächlich Theater. Shakespeare. Und ein bisschen Fernsehen.« Wenn man die Rolle des stolzen Fußballdads in der Waschpulverreklame von 1999 mitzählte. »Aber im Moment habe ich kein Engagement.«
Die alte Frau war trotzdem beeindruckt. »Bist du erste Schauspieler, den ich kenne. Ich würde auch gerne George Clooney kennen. Hat er schöne Augen. Schöne Lächeln. Schöne Zähne. Alles schön.« Sie schürzte die Lippen und sonderte noch etwas grünen Schleim ab. Ich wandte den Blick ab.
Der verdammte George Clooney. Hätten er und ich nicht zufällig am selben Tag Geburtstag, wäre er mir natürlich vollkommen egal gewesen; wahrscheinlich hätte ich nicht mal gewusst, wer er war. Doch so konnte ich ja nicht anders, als seinen Erfolg mit meinem (oder dessen Ausbleiben) zu vergleichen. Selbstverständlich erwartet jemand, der wie ich sein Leben der Kunst verschrieben hat, nicht, im materiellen Überfluss zu schwelgen. Wir haben unseren geistigen Trost. Trotzdem wäre es ganz nett, sich auch mal etwas mehr gönnen zu können als einen gelegentlichen Latte macchiato bei Luigi.
Nehmen wir die gegenwärtige Szene zum Beispiel: Es war der blöde George Clooney, für dessen affektiertes Grinsen und kantiges Kinn die alte Schrulle schwärmte; dabei war ich es, Berthold Sidebottom, der an ihrem Bett saß und zusah, wie ihre Schleimschüssel überlief. War das fair?
Die schöne Schwester hantierte immer noch geräuschvoll hinter dem Vorhang um Mutters Bett. Es schien eine Ewigkeit zu dauern.
Innas Hände zwirbelten das Laken. Sie sah mich listig an. »Hast du gute Wohnung. Dein Mutter hat mir erzählt.«
»Ja, es ist eine schöne Wohnung. Im obersten Stock.«
»Aha! Oberste Stock, gute Wohnung, schlechte Fahrstuhl. Sagt sie, Fahrstuhl ist immer kaputt, und niemand repariert wegen Hysterität.«
»Hysterie?« Es stimmte, dass der Fahrstuhl quietschte, aber ich würde ihn eher unzuverlässig als hysterisch nennen.
»Sagt sie, als Banken Krise hatten, wir haben bezahlt. Jetzt die Banken haben unser Geld, und wir haben Hysterität.«
»Ach, Sie meinen Austerität! Ja, davon gibt es heutzutage viel.«
»Ja. Hysterität. Dein Mama hat mir erklärt. Sehr clevere Lady. Fast wie Sowjet-Ökonom.«
»Also, so weit würde ich nicht …«
»Sie liebt diese Wohnung, dein Mama. Ist so schön, sagt sie, und sie hat bekommen von Liebhaber-Arschitekt.«
Warum redete sie dauernd von der Wohnung? Was hatte Mutter ihr erzählt? Auf einmal bekreuzigte sie sich, wurde still und lauschte. Ich lauschte auch. Hinter dem Vorhang um Mutters Bett hatte die ganze Zeit eine Maschine gepiept. Jetzt, in der Stille, fiel mir auf, dass das Piepen unregelmäßig geworden war. Ich hörte eilige Schritte und eindringlich flüsternde Stimmen.
Plötzlich zog die Schwester den Vorhang zurück und murmelte: »Mr Lukashenko, Ihrer Mutter geht es schlechter.«
Ich beugte mich über Mutter und blickte in ihr liebes altes Gesicht, so vertraut und doch so voller Rätsel, wie durch die Glasscheibe in der Abflughalle, in der sie bereits eingecheckt hatte für den Flug in das unbekannte Land.
»Mum. Mum, ich bin’s, Bertie. Ich bin bei dir.« Ich griff nach ihrer Hand.
Mutter stöhnte rasselnd. Ein einzelner blauer Schmetterling flatterte über den welken Garten ihres Gesichts. Mit großer Mühe zog sie sich im Bett hoch, griff nach meinem Arm, zog mich zu sich herunter und flüsterte mir ins Ohr: »Lass nicht zu, dass sie die Wohnung kriegen, Berthold!« Dann fiel sie mit einem Stöhnen zurück in die Kissen.
Violet hat nicht vor, hier lange wohnen zu bleiben. Sobald sie von ihrem tollen Gehalt genug zur Seite gelegt hat, sucht sie sich was Besseres – auf jeden Fall keine Sozialwohnung. Von hier hat sie zwar einen kurzen Weg zur Arbeit, und sie hatte Glück, so schnell überhaupt was zu finden, aber bei der Wohnungsbesichtigung hatte sie wenig Zeit, und sie hat nicht gemerkt, wie schäbig die Ausstattung und was für eine zwielichtige Gegend das hier ist. An dem Tag, als sie einzog, ist sogar jemand auf einer Bahre rausgetragen worden. Und dann diese grausigen Schreie aus der Nachbarwohnung, als wäre jemand von einem Shetani besessen. Außerdem ist die Wohnung zu groß für eine Person. Der aalglatte Immobilienmakler hatte ihr eingeredet, es sei kinderleicht, Mitbewohner zu finden, aber nach der letzten Pleite ist sie sich nicht sicher, ob sie wirklich wieder eine Wohngemeinschaft möchte.
Als sie nach London kam, hat sie als Bürokraft und als Kellnerin gejobbt, um sich das Praktikum bei einer Nicht-Regierungs-Organisation zu finanzieren, und in einer Null-Hausarbeit-WG in Hammersmith gewohnt, mit einem Mädchen aus Singapur und zwei ehemaligen Kommilitonen, von denen einer, Nick, ihr Freund war. Das Mädchen aus Singapur hatte sich immer Violets Klamotten geborgt, und später auch Nick. Als Violet eines Tages nach Hause kam, hatte sie die beiden unter der Dusche erwischt.
Ihre Freundin Jessie, die gerade mit ihrem Freund zusammengezogen war, hatte ihr daraufhin die Couch in ihrem Wohnzimmer in Croydon überlassen. Aber ein Monat auf der Couch ist eine lange Zeit.
Die Maklerfirma, über die Violet die Wohnung in Madeley Court gemietet hat, ist auf Studentenwohnungen spezialisiert, und in der Wohnung stehen sieben schmale Betten, sieben Schreibtische, sieben Stühle, sieben kleine Kommoden und ein kleiner runder Tisch in der Küche. Wie haben nur sieben Leute in diese Wohnung gepasst? Vielleicht waren es die sieben Zwerge? Lächelnd erinnert sie sich an den Film, den sie mit Jessie gesehen hat, als sie in Bakewell in die Grundschule gingen.
Als sie die Zusage für die Wohnung bekam, hat Jessie ihr eine Bettdecke, Kissen, ein gelbes Geschirr-Set und eine Pfanne geliehen. Sie schickt ihr eine SMS: »Danke«, mit einem Foto des gelben Geschirrs im Küchenregal.
Violet öffnet die andere Tür im Wohnzimmer/Schlafzimmer und stellt überrascht fest, dass es einen Balkon mit Aussicht gibt – damit hat sie nicht gerechnet. Sie lehnt sich ans Geländer, blickt hinunter auf die blühenden Kronen der Kirschbäume und die gelben Tupfen der Narzissen in den Beeten, holt tief Luft und schließt die Augen. Die Sonne auf ihrem Gesicht beschwört Erinnerungen an Langata herauf, den Vorort von Nairobi, an die Aussicht von der Veranda ihrer Großmutter, an die Trompetenbäume und die leuchtenden Scadoxus-Blüten. Es ist lange her, dass sie an diesen Teil ihrer Kindheit gedacht hat. Ein Mann mit Halbglatze schiebt sein Fahrrad durch die Grünanlage. Sieht aus wie der Typ, den sie bei Luigi gesehen hat. Vielleicht wohnt er in der Nähe.
Sie hat ihren neuen Job erst seit einem Monat – bei dem Gedanken flattern immer noch Schmetterlinge in ihrem Bauch. Heute Abend trifft sie sich mit Freunden in der Lazy Lounge, um ihren Geburtstag zu feiern. Das heißt, wenn sie noch die Wohnung aufräumen und das neue Viertel erkunden will, muss sie es jetzt tun. Sie zieht die Turnschuhe an und beschließt, joggen zu gehen, solange die Sonne noch scheint.
Es ist ein gemischtes Viertel, in dem traditionelle Reihenhäuser neben heruntergekommenen Sozialwohnblocks stehen und in den Seitenstraßen kleine ambitionierte Läden, Galerien und Ateliers aufmachen. Ein paar Straßen weiter gibt es einen lebhaften Straßenmarkt. Sie kommt an mehreren Baustellen mit hoch aufragenden Kränen vorbei, wo moderne Büro- und Apartmenthäuser in die Höhe schießen, und ab und zu erhascht sie einen Blick auf das dunkle Wasser eines Flusses oder Kanals, der sich durch das Viertel windet.
Was Klamottenläden angeht, hat die Gegend nicht allzu viel zu bieten, aber es gibt jede Menge Cafés und Lokale mit günstigen, aber interessanten Speisekarten und zwei Supermärkte, einen Lidl gleich um die Ecke und einen Waitrose ein paar Straßen weiter. Sie kauft bei beiden ein, ohne aufs Geld zu achten, vor allem Leckereien für sich selbst.
Sie braucht auch noch einen Wasserkocher, und den findet sie in einem altmodischen kleinen Haushaltswarenladen in einer Nebenstraße, wo sie sich außerdem eine Press-Kaffeekanne gönnt. Dann nimmt sie noch einen Wischmop mit blauem Eimer, Kehrbesen und -schaufel, Gummihandschuhe und Reiniger, für den Fall, dass die Putzkolonne der Maklerfirma nicht auftaucht.
Als sie zu Hause alles ausgepackt hat, ist die Putzkolonne immer noch nicht da, und sie findet sich damit ab, dass sie es selbst tun muss. Doch vorher wird sie Wasserkocher und Kaffeekanne einweihen. Sie gibt mehrere Löffel Kaffee – natürlich Kenya AA – in die Kanne.
Gerade als sie das Wasser aufgießt und das dunkle Aroma inhaliert, klingelt es an der Tür. Draußen steht eine junge schwarze Frau – so jung und so dünn, dass sie aussieht wie ein Kind – in einem blauen Overall mit Mop und Eimer, Besen und Gummihandschuhen. Violet liest das Namensschild: Homeshine Raumpflege. Mary Atiemo. Ein kenianischer Name.
»Reinigungsfirma«, sagt das Mädchen mit einem breiten Lächeln. An ihrem Schneidezahn ist eine Ecke abgebrochen. Violets Großmutter Njoki hat immer gesagt, defekte Zähne seien ein Zeichen, dass der Besitzer nicht vertrauenswürdig sei. Sie hatte jede Menge solcher seltsamen Vorstellungen.
»Sie kommen ja ziemlich spät«, sagt Violet. »Ich wollte gerade selbst putzen.«
»Verzeihung, bitte«, sagt das Mädchen. »Kein Bus. Bitte, ich putze für Sie. Nicht putzen, kein Geld heute.«
Tränen steigen ihr in die Augen. Violet zögert. Die Kleine sieht nicht sehr brauchbar aus in ihrer zu großen Uniform, dünn wie ein Zwirnsfaden, kleiner als ihr Wischmop, ein Krümel von einem Mädchen auf dem offenen grauen Betongang, dahinter der graue Himmel mit Sturm im Gepäck.
»Wo kommen Sie her?«
»Kenia. Nairobi«, sagte Mary Atiemo. »Kibera. Kennen Sie Kenia?«
»Ich bin in Nairobi geboren«, antwortet Violet. Sie erinnert sich an Kibera; es ist ein Slum, nicht weit vom Haus ihrer Großmutter entfernt. Ein, zwei Mal hat sie beim Vorbeifahren vom Autorücksitz aus einen Blick auf die schmalen, schmutzigen Gassen dort erhascht und eine Gänsehaut bekommen. Wie kommt das Kind eines so elenden, unhygienischen Orts wie Kibera als »Reinigungskraft« nach London, wo sie jetzt vor Violets Tür steht, so wie Violet selbst an der Schwelle zu einem neuen, aufregenden Leben steht? Es ist wie ein schlechtes Omen, als wollte die Vergangenheit Violet nicht loslassen.
»Meine Mutter ist Kenianerin«, erklärt sie, um dem Mädchen die Befangenheit zu nehmen.
Das Lächeln des Mädchens wird breiter, bis es ihr halbes Gesicht ausfüllt. »Shikamoo.«
»Marahaba«, antwortet Violet, befangen wegen der Unterwürfigkeit in der Stimme des Mädchens.
Plötzlich rollt ein Donnergrollen über die Dächer und der Regen prasselt herab wie im Monsun.
»Komm lieber rein. Ich habe gerade Kaffee gekocht. Möchtest du welchen? Er ist aus Kenia.«
Mary Atiemo nickt. »Das wäre schön. Zu Hause haben wir nur Tee getrunken.«
Trotz ihrer geringen Größe putzt Mary Atiemo wie ein Weltmeister. Sie fegt die Böden, wirft den Müll in Säcke, füllt den Eimer mit Wasser, gibt ein paar Spritzer Reiniger dazu, und dann jagt sie energisch den Mop durch die Wohnung. Essensreste, Staubflocken, Zigarettenkippen, jede Art von Dreck wird von den Strängen des Wischmops eingefangen, um dann im Klo hinuntergespült zu werden. Mary entfernt die grauen Fingerabdrücke vom Holz, die Dreckkrusten vom Herd, die gelben Flecken vom Klo und den schwarzen Rand von der Badewanne. Violet ist schon vom Zusehen ganz erschöpft, und sie denkt, es wäre schön, sich von ihrem neuen Gehalt ab und zu eine Putzhilfe zu leisten.
»Hast du eine Telefonnummer?«, fragt sie das Mädchen. »Vielleicht kannst du mal wiederkommen und saubermachen.«
Das Mädchen ist verlegen. »Wir dürfen kein Telefon haben. Mr Nzangu verboten, dass wir arbeiten für andere Leute. Aber, bitte, geben Sie mir Ihre Nummer, ich versuche anrufen, wenn ich kann.«
Violet schreibt ihren Namen und ihre Telefonnummer auf einen Zettel. Das Mädchen steckt ihn in die Tasche ihres Overalls, dann sammelt sie ihre Putzgeräte ein und verschwindet im Regen.
Mrs Penny vom städtischen Wohnungsamt kam zwanzig Minuten zu spät. Ich hatte natürlich versucht anzurufen und den Termin abzusagen, weil ich so kurz nach Mutters plötzlichem Tod nicht für den Kampf gegen den bürokratischen Kraken gewappnet war, doch die Leitungen waren ständig besetzt, und am Ende gab ich auf. Wahrscheinlich war es sowieso das Beste, die Sache mit dem Mietvertrag so schnell wie möglich zu erledigen. Schließlich klingelte es. Ding dong!
»Ding dong! Erster März 1932! Ding dong!«, trällerte Flossie, um sicherzugehen, dass ich die Klingel auch gehört hatte.
Mrs Penny stand auf der Schwelle und streckte mir die Hand entgegen. »Mr Madeley?«
Ich zögerte. Sollte ich sie korrigieren? Ich sagte nichts und ergriff ihre blasse manikürte Hand. Es war, als würde ich ein Salatblatt aus dem Kühlschrank schütteln – kalt und schlaff, ganz und gar nicht das, was man von einer so warm und kompakt aussehenden Frau erwartet hätte.
»Kommen Sie rein. Kommen Sie rein. Wirklich schön …« Was war hier eigentlich schön? »Ihre Haare.«
Ihr Haar glänzte in einem leicht unnatürlichen Kupferton, sie trug es in einem wippenden Pferdeschwanz mit Pony und langen Locken an den Schläfen, was wie die Kreuzung zwischen einer Country-Sängerin und einem Rabbi wirkte. Sie ignorierte meinen Kommentar und kam in den Flur marschiert, eingehüllt in eine Wolke blumigen Parfums. War sie mein Typ? Ich schätzte, sie war über fünfzig, nicht unattraktiv für ihr Alter, aber zu alt für mich. Außerdem war sie ein bisschen mollig, auch wenn ihre hohen Schuhe ihren Beinen eine hübsche Form verliehen. Ein flotter rosa Seidenschal lugte unter dem Revers ihres behördenfarbenen Trenchcoats hervor.
»Ich war ewig nicht mehr in einer dieser großen alten Familienwohnungen.« Ihre Stimme war angenehm tief, mit einem leichten Zögern, einem Beinahe-Stottern, das mich sofort entwaffnete. »Davon sind nicht mehr viele in städtischem Eigentum. Die meisten wurden nach 1980 privatisiert. Es wundert mich, dass das nicht auch mit Ihrer Wohnung passiert ist. Es wäre eine sehr gute …« Sie biss sich auf die Zunge.
»Investition gewesen. Meine Mutter war dagegen.«
Mutter hätte die Wohnung 1981 für achttausend Pfund kaufen können, nach dem Erlass eines Gesetzes, das Mietern von Sozialwohnungen das Recht einräumte, die Wohnung zu einem Vorzugspreis als Eigentum zu erwerben. Doch Mutter hatte abgelehnt.
»Ich hab denen gesagt, sie können sich ihr Angebot sonst wohin stecken«, hatte sie erklärt. »Die Wohnung gehört den Menschen des Stadtbezirks, nicht dem Amt. Die dürfen sie gar nicht verkaufen.«
Damals wohnte ich nicht mehr zu Hause und hätte auch nie gedacht, dass ich eines Tages wieder bei Mutter einziehen würde, geschweige denn ihren Mietvertrag übernehmen, also amüsierte ich mich nur über ihre Entrüstung. Es versteht sich von selbst, dass sie sich wenige Jahre später, als Eric Perkins von nebenan – der heute in Südfrankreich lebt – seine Wohnung für 38000 Pfund weiterverkaufte, schwarzärgerte. Inzwischen war sie von Lev Lukashenko geschieden, und er war mit ihrem gesamten Geld abgehauen.
Mrs Penny spähte durch die offene Tür in Mutters Schlafzimmer, wo immer noch die zerknitterte Wäsche am Boden lag.
»Manchmal wundert man sich«, sagte sie kryptisch und machte sich eine Notiz.
Sie notierte sich auch, dass meine Mutter die Erstbezieherin der Wohnung war und dass ich von Geburt an bis zum Beginn meines Studiums hier gelebt hatte und vor acht Jahren wieder eingezogen war. Sie fragte nicht, warum ich zurückgekommen sei, und ich wusste nicht, ob ich ihr, hätte sie gefragt, die Wahrheit gesagt hätte. Stattdessen fragte sie nach Geschwistern, und ich erklärte, dass ich nur einen Halbbruder aus der ersten Ehe meines Vaters hatte, der vor vielen Jahren weggezogen war.
»Mhm. Von so einer modernen großen Wohnung habe ich immer geträumt. Ich bin in einem piefigen Reihenhaus in Hackney aufgewachsen. Schön, dass Sie Ihre Mutter unterstützen und ihr helfen, unabhängig zu bleiben. Ältere Menschen haben es nicht leicht heute.«
Mrs Penny wirkte so mitfühlend, dass ich ihr fast mein Herz ausgeschüttet hätte. Ich war drauf und dran, ihr vom Tod meiner Tochter Meredith zu erzählen und von dem tiefen Tal der Depression danach, von der Trennung von Stephanie, dem Stottern, dem Ende meiner Karriere, dem Rauswurf aus dem möblierten Zimmer, dem Klinikaufenthalt und wie ich mich mit Mutters Hilfe gegen die verdammte Ungerechtigkeit des Lebens zur Wehr gesetzt hatte.
Doch unvermittelt stieß Flossie ein lautes Kreischen aus und riss mich aus meinen Gedanken. »Halt den Schnabel, Flossie!«, kreischte sie.
Ja, Flossie hatte recht – ich hielt besser den Schnabel. Bei aller Nettigkeit war Mrs Penny immer noch die örtliche Vertreterin von »denen« – dem bürokratischen Kraken, vor dem Mutter mich gewarnt hatte –, und wahrscheinlich war sie hier auf Spionagemission.
»Sie unterstützt m-mich auch«, gab ich zurück. »Wir kümmern uns gegenseitig.«
»Als Mieter sind Mr und Mrs Madeley eingetragen«, sagte sie. »Stimmt das?«
»Sie hat wieder geheiratet. Sie heißt jetzt Lukashenko.«
»Lucky Tschinko? Hübscher Name. Ist das chinesisch?«
»Ukrainisch. Ihr letzter Mann war Ukrainer.«
»Mhm.« Sie schrieb wieder etwas auf.