Aus dem Amerikanischen
von Franz Blei
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
The Scarlet Letter (Boston: Ticknor, Reed & Fields 1850).
Die Übersetzung von Franz Blei erschien zuerst 1923 bei Müller & Co.
in Potsdam. Der Text wurde behutsam überarbeitet,
Orthografie und Interpunktion wurden auf
neue Rechtschreibung umgestellt.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.
© 2017 Anaconda Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Umschlagmotiv: »Portrait of a Lady in Black« (1638),
Berwick-upon-Tweed Borough Museum and Art
Gallery, Bridgeman Images (Ausschnitt)
Umschlaggestaltung: www.katjaholst.de
ISBN 978-3-7306-9168-7
V002
www.anacondaverlag.de
I Die Gefängnistür
II Der Marktplatz
III Die Erkennung
IV Die Zusammenkunft
V Esther mit der Nadel
VI Perle
VII Das Haus des Gouverneurs
VIII Das Elfenkind und der Geistliche
IX Der Heilkünstler
X Der Arzt und sein Patient
XI Das Innere eines Herzens
XII Die Vigilie des Geistlichen
XIII Ein zweiter Blick auf Esther
XIV Esther und der Arzt
XV Esther und Perle
XVI Ein Spaziergang im Wald
XVII Der Pfarrer und sein Pfarrkind
XVIII Flut von Sonnenschein
XIX Das Kind am Bach
XX Der Geistliche im Labyrinth
XXI Feiertag in Neu-England
XXII Der Aufzug
XXIII Die Offenbarung des scharlachroten Buchstabens
XXIV Schluss
Eine gedrängte Menge von bärtigen Männern in dunkelfarbigen Kleidern und grauen, hohen, spitz zulaufenden Hüten, wie von mit Kapuzen bedeckten oder barhäuptigen Frauen hatte sich vor einem Holzhaus versammelt, dessen Tür aus schweren, starken Eichenbohlen mit eisernen Stacheln besetzt war.
Die Begründer einer neuen Kolonie haben, welches Utopia menschlicher Tugend und Glückseligkeit sie immer auch ursprünglich herbeiführen wollten, doch ohne Ausnahme unter ihren ersten praktischen Bedürfnissen stets gefunden, einen Teil des jungfräulichen Bodens zum Gottesacker und einen anderen zum Gefängnis zu bestimmen. Man kann dieser Regel gemäß mit Sicherheit annehmen, dass die Begründer von Boston das erste Gefängnis irgendwo in der Nähe von Cornhill ebenso rechtzeitig gebaut haben, wie sie die Grenzen ihres ersten Begräbnisplatzes auf Isaak Johnsons Feld absteckten, dessen Grab später der Mittelpunkt und Kern aller Begräbnisse auf dem alten Kirchhof von King’s Chapel wurde. So viel steht fest: Fünfzehn bis zwanzig Jahre nach der Anlage der Stadt war das hölzerne Gefängnisgebäude bereits mit Wetterflecken und anderen Zeichen des Alters überdeckt, die seiner düsteren Front ein noch finstereres Aussehen gaben. Der Rost auf dem schweren Eisenwerk seiner Eichentür sah antiker als alles andere in der Neuen Welt aus; gleich allem, was sich auf das Verbrechen bezieht, schien es nie eine Jugendzeit besessen zu haben. Vor diesem hässlichen Gebäude und zwischen ihm und dem Rädergleis der Straße lag ein Rasenfleck, stark mit Kletten, Huflattich, Stechapfel und ähnlichem hässlichen Unkraut überwachsen, das offenbar etwas Verwandtes in dem Boden fand, der so früh schon die schwarze Blume der Zivilisation, ein Gefängnis, getragen hatte. Aber auf der einen Seite des Portals, fast an der Schwelle, rankte ein wilder Rosenbusch, der jetzt im Juni mit seinen zarten Juwelen bedeckt war, dem Gefangenen, ging er hinein, und dem verurteilten Verbrecher, kam er heraus, Duft und vergängliche Schönheit zu bieten und ihm zu beweisen, dass das tiefe Herz der Natur ihn bemitleiden und freundlich gegen ihn sein könne.
Dieser Rosenbusch hat sich durch einen sonderbaren Zufall in der Geschichte lebendig erhalten; ob er aber die dunkle alte Wildnis so lange nach dem Fall der riesigen Tannen und Eichen, die ihn ursprünglich beschatteten, überlebt, oder ob er, was zu glauben guter Grund vorhanden ist, unter den Schritten der begnadeten Anna Hutchinson aufgesprosst war, als sie in die Gefängnistür trat: Dies zu bestimmen, wollen wir nicht auf uns nehmen. Da wir ihn so hart an der Schwelle unserer Erzählung finden, die jetzt aus jener unglückverkündenden Tür hervortreten soll, konnten wir kaum vermeiden, eine von seinen Blüten zu pflücken und dem Leser darzubieten. Hoffen wir, dass sie als Symbol einer duftigen moralischen Blüte, die sich vielleicht unterwegs findet, diene oder gegen den düsteren Schluss einer Geschichte menschlicher Schwäche und Schmerzen freundlich sich abhebe.
Der Rasenfleck vor dem Gefängnis im Kerkergässchen war also an einem Sommermorgen vor nicht weniger als zwei Jahrhunderten mit einer ziemlich großen Anzahl von Einwohnern Bostons bedeckt, deren Augen aufmerksam auf die eisenbeschlagene Eichentür gerichtet waren. Bei jedem anderen Volk oder zu jeder späteren Periode der Geschichte von Neuengland würde die düstere Starrheit, welche die bärtigen Physiognomien dieser guten Leute versteinerte, verkündet haben, dass irgendetwas Entsetzliches bevorstehe: Sie hätte nichts Geringeres als die erwartete Hinrichtung eines bekannten Verbrechers bezeichnen können, bei dem der Spruch eines Tribunals nur den der öffentlichen Meinung bestätigt hätte. Aber bei der Strenge des Charakters der frühen Puritaner war ein Schluss dieser Art nicht so zweifellos zu ziehen. Es konnte sein, dass ein träger Dienstmann oder ein ungehorsames Kind, das seine Eltern der Zivilbehörde übergeben hatten, am Schandpfahl gezüchtigt werden sollte. Es konnte sein, dass man einen Antinomisten, einen Quäker oder anderen ungläubigen Sektierer aus der Stadt peitschen oder einen faulen indianischen Landstreicher, den das Feuerwasser des weißen Mannes zur Verübung von Straßenunfug getrieben, mit Striemen in den Schatten des Waldes hinausjagen wollte. Es konnte sogar sein, dass eine Hexe, wie die alte Mrs Hibbins, die bösartige Witwe einer Magistratsperson, am Galgen sterben sollte. In jedem dieser Fälle wäre ziemlich die gleiche Feierlichkeit auf den Gesichtern der Zuschauer zu bemerken gewesen, wie solches einem Volk ziemte, bei welchem Religion und Gesetz fast identisch und in dessen Charakter beide so vollkommen verschmolzen waren, dass die mildesten Handlungen der öffentlichen Disziplin ihm ebenso ehrwürdig und schauerlich erschienen wie die strengsten. Die Teilnahme, welche eine Gesetzesübertretung von solchen um die Schandbühne versammelten Zuschauern erwarten konnte, war in der Tat nur gering und kalt. Andererseits konnte eine Strafe, mit welcher in unserer Zeit unausbleiblich ein hoher Grad von spöttischer Infamie und Lächerlichkeit verbunden sein würde, damals von einer fast ebenso strengen Würde wie die Todesstrafe selbst begleitet sein.
Es war an dem Sommermorgen, wo unsere Geschichte beginnt, ein bemerkenswerter Umstand, dass die Frauen, von denen sich mehrere unter der Menge befanden, ein besonderes Interesse an der Bestrafung, welche hier bevorstand, zu nehmen schienen. Die Zeit besaß noch nicht so viel Gefühlsverfeinerung, dass eine Empfindung des Unpassenden die Trägerinnen von Röcken und Miedern abgehalten hätte, auf die öffentlichen Straßen hinauszutreten und ihre nicht unsubstantiellen Personen, wenn Anlass dazu vorhanden, bei einer Exekution in die dem Schafott nächsten Reihen der Zuschauer hineinzuzwängen.
Jene Frauen und Jungfrauen von altenglischer Geburt und Erziehung waren moralisch wie physisch aus gröberen Fasern gemacht als ihre schönen, durch eine Reihe von sechs bis sieben Generationen von ihnen getrennten Nachkommen. Denn in dieser Kette der Geschlechtsfolge hat jede Mutter ihrem Kind eine schwächere Blüte, eine bleichere, kürzer dauernde Schönheit und eine zartere physische Konstitution, wo nicht einen Charakter von geringerer Kraft und Solidität wie ihren eigenen, vermacht. Die Frauen, welche jetzt um die Gefängnistür standen, waren weniger als ein halbes Jahrhundert von der Zeit entfernt, wo die männliche Elisabeth die nicht ganz unpassende Vertreterin ihres Geschlechts gewesen war. Sie waren ihre Landsmänninnen, und das Rindfleisch und das Bier ihrer Heimat waren zusammen mit einer um keinen Deut feineren moralischen Diät zu gutem Teil in ihre Zusammensetzung eingegangen. Die helle Morgensonne schien daher auf breite Schultern und volle Busen und runde, tiefrote Wangen, die auf der fernen Insel zur Reife gediehen und in der Atmosphäre von Neuengland kaum erst bleicher oder schmäler geworden waren. Überdies war jenen Matronen, was die meisten von ihnen zu sein schienen, eine Dreistigkeit und Geradheit der Rede eigen, welche uns sowohl in Bezug auf ihre Fassung wie auf das Volumen ihres Tons in Schrecken versetzen würde.
»Hört, Weiber!«, rief eine Fünfzigjährige mit harten Zügen, »ich will euch etwas sagen. Es würde sehr zum öffentlichen Wohl gereichen, wenn wir Weiber, die wir von reifem Alter und in gutem Ruf stehende Gemeindemitglieder sind, mit der Bestrafung von Missetäterinnen wie dieser Esther Prynne beauftragt würden. Was meint ihr, Gevatterinnen? Würde die schlimme Dirne, wenn sie vor uns fünfen, die wir hier beisammenstehen, zur Aburteilung gelangte, mit einem Spruch, wie ihn die würdigen Richter gefällt haben, davonkommen? Meiner Treu, ich glaub es nicht.«
»Die Leute sagen«, sprach eine andere, »dass Ehrwürden Pfarrer Dimmesdale, ihr frommer Pastor, sich es schwer zu Herzen nähme, dass seine Gemeinde von einem solchen Skandal betroffen worden ist.«
»Die Richter sind gottesfürchtige Herren, aber viel zu gnädig – das ist die Wahrheit«, stimmte eine dritte herbstliche Matrone bei. »Sie hätten allerwenigstens Esther Prynne mit einem glühenden Eisen auf der Stirn brennen sollen. Madam Esther würde dabei schön das Gesicht verzogen haben, darauf könnt ihr euch verlassen. Aber sie, das freche Ding, wird sich wenig daraus machen, was man ihr auf ihr Mieder setzt! Sie kann es ja mit einer Brosche oder irgend so einem heidnischen Zierrat bedecken und ebenso munter wie sonst auf der Straße umherlaufen.«
»Ja, aber«, sprach sanfter eine junge Frau, die ein Kind an der Hand hielt, »sie mag das Zeichen bedecken, wie sie will, der Schmerz wird ihr doch immer im Herzen bleiben.«
»Was reden wir da von Zeichen und Brandmarkungen auf ihrem Mieder oder am Fleisch ihrer Stirn!«, rief ein anderes Frauenzimmer, die hässlichste und zugleich die unbarmherzigste unter diesen selbst eingesetzten Richterinnen. »Das Weib hat über uns alle Schande gebracht und sollte von Rechts wegen sterben. Ist kein Gesetz dafür da? Wahrhaftig, es gibt deren, in der Schrift sowohl wie im Gesetzbuch. Die Richter, die sie wirkungslos gemacht haben, mögen es sich dann selbst danken, wenn ihre eigenen Weiber und Töchter auf Abwege geraten.«
»Gott sei uns gnädig, Gevatterin!«, rief ein Mann aus der Menge; »gibt es denn bei den Weibern keine Tugend, außer jener, die einer heilsamen Furcht vor dem Galgen entspringt? Das ist das härteste Wort, was noch gesprochen worden ist. Jetzt still, Basen, der Schlüssel dreht sich in der Gefängnistür und hier kommt Mrs Prynne selbst.«
Die Tür des Gefängnisses wurde von innen aufgerissen, es zeigte sich zuerst, gleich einem schwarzen, in den Sonnenschein hinaustretenden Schatten, die Schreckensgestalt des Stadtbüttels, Degen an der Seite und Amtsstab in der Hand. Diese Person verkündete und stellte in ihrer Erscheinung die ganze düstere Strenge des puritanischen Gesetzeskodex dar, welchen in seiner letzten und den Übertreter zunächst berührenden Anwendung zur Ausübung zu bringen sein Amt war. Er streckte den Amtsstab in seiner linken Hand aus und legte seine rechte auf die Schulter einer jungen Frau, die er so vorwärts zog, bis sie ihn auf der Schwelle der Gefängnistür mit einer Gebärde voll natürlicher Würde und Charakterstärke zurückstieß und wie aus eigenem Antrieb in die freie Luft hinaustrat. Auf ihren Armen trug sie ein Kind, einen etwa drei Monate alten Säugling, der blinzelnd sein kleines Gesicht von dem zu hellen Licht des Tages abwandte, weil ihn seine Existenz bisher nur mit dem grauen Zwielicht eines Kerkers oder anderen düsteren Gemachs im Gefängnis bekannt gemacht hatte.
Als die junge Frau, die Mutter dieses Kindes, der versammelten Menge vollkommen sichtbar wurde, schien es ihr erster Impuls zu sein, das Kind dicht an ihren Busen zu schließen, nicht sowohl von mütterlicher Zärtlichkeit getrieben, als um dadurch ein gewisses Zeichen zu verbergen, das in ihr Gewand gewirkt oder daran befestigt war. Im nächsten Augenblick schloss sie jedoch, dass ein Zeichen der Schande nur schlecht dazu dienen würde, ein anderes zu verbergen, nahm das Kind auf ihren Arm und schaute mit brennendem Erröten und doch stolzem Lächeln und einem Blick, der sich nicht einschüchtern lassen wollte, auf ihre Mitbürger und Nachbarn ringsum. Mitten auf dem Brustteil ihres Gewandes zeigte sich, von feinem rotem Tuch geschnitten und mit prächtig gestickten phantastischen Schnörkeln von Goldfäden umgeben, der Buchstabe A, der Anfangsbuchstabe von Adulteress = Ehebrecherin. Er war so kunstvoll und mit so fruchtbarer üppiger Phantasie eingestickt, dass das Ganze wie ein passender letzter Zierrat des Gewands aussah, welches sie trug, und das von dem Geschmack der Zeit entsprechender, aber weit über das von den Aufwandsgesetzen der Kolonie Erlaubte hinausgehender Pracht war.
Die junge Frau war hochgewachsen und besaß eine Gestalt von vollkommener Eleganz im großen Maßstab. Sie hatte dunkles, üppiges Haar von solchem Glanz, dass es den Sonnenschein schimmernd zurückwarf, und ein Gesicht, das, nicht bloß durch regelmäßige Züge und warme Farbe schön, auch noch den eindrucksvollen Charakter besaß, welchen eine wohlgeformte Stirn und tiefschwarze Augen verleihen. Überdies sah sie vornehm aus, wie man bei den Frauen jener Zeit die Vornehmheit verstand, das heißt, sie besaß mehr eine gewisse Stattlichkeit und Würde als die zarte, vergängliche und unbeschreibliche Grazie, welche heutzutage als ihre Zeichen gelten. Und nie hatte Esther Prynne vornehmer in diesem alten Sinn des Ausdrucks ausgesehen, als da sie aus dem Gefängnis trat. Die sie früher gekannt und erwartet hatten, dass ihre Schönheit durch die Wolke des Unglücks getrübt und verdunkelt werden würde, waren erstaunt, ja entsetzt, als sie bemerkten, wie diese hervorleuchtete und das Unglück und die Schmach, worin sie gehüllt war, wie eine Glorie um sie erstrahlen ließ. Zwar lag darin für einen empfindenden Beobachter etwas ausgesucht Schmerzliches. Ihre Kleidung, die sie für diesen Anlass im Gefängnis selbst gefertigt und ganz nach ihrer Phantasie angeordnet hatte, schien die Lage ihres Geistes, die verzweifelte Gleichgültigkeit ihrer Stimmung, durch eine wilde, malerische Eigentümlichkeit auszudrücken; aber der Punkt, welcher aller Augen anzog und sozusagen die Trägerin verwandelte, war das Zeichen, sodass Männer sowohl wie Frauen, welche mit Esther Prynne in vertrauter Bekanntschaft gewesen waren, jetzt den Eindruck empfingen, als erblickten sie sie zum ersten Mal mit dem so phantastisch gestickten und auf ihrem Busen leuchtenden Scharlachbuchstaben. Er hatte die Wirkung eines Zaubers, nahm sie aus den gewöhnlichen Verhältnissen und Verbindungen mit der Menschheit und hüllte sie in eine eigene Sphäre.
»Sie hat viel Geschicklichkeit mit der Nadel, das ist gewiss«, bemerkte eine der Zuschauerinnen, »hat aber je ein Frauenzimmer vor dieser schamlosen Dirne eine solche Weise, es zu zeigen, ausfindig gemacht? Nein, Gevatterinnen, wozu dient es, als um unseren wackeren Richtern ins Gesicht zu lachen und auf das, was jene, die würdigen Herren, zur Strafe auferlegten, sich etwas zugute zu tun.«
»Es wäre gut«, krächzte das Weib mit dem eisernsten Gesicht, »wenn wir der Madam Esther ihr reiches Kleid von den zarten Schultern rissen, und was den roten Buchstaben betrifft, den sie so absonderlich eingenäht hat, so will ich einen Fetzen von meinem Rheumatismusfell hergeben, um einen passenderen daraus zu machen.«
»Friede, Nachbarinnen, Friede!«, flüsterte ihre jüngste Genossin; »lasst sie das nicht hören! In dem gestickten Buchstaben ist kein Stich, den sie nicht in ihrem eigenen Herzen gefühlt hätte.«
Jetzt machte der finstere Büttel eine Bewegung mit dem Stab.
»Macht Platz, gute Leute, macht Platz – im Namen des Königs!«, rief er; »öffnet einen Durchgang und ich verspreche euch, dass Esther Prynne an einen Ort gestellt werden soll, wo Mann, Weib und Kind von jetzt an bis eine Stunde nach Mittag eine gute Aussicht auf ihre schöne Kleidung haben sollen. Gesegnet sei die rechtschaffene Kolonie von Massachusetts, wo die Bosheit an den Sonnenschein gezogen wird. Kommt voran, Madam Esther, und zeigt Euren Scharlachbuchstaben auf dem Marktplatz!«
Sofort öffnete sich eine Gasse unter der Zuschauermenge. Unter dem Vorgang des Büttels und in Begleitung einer unregelmäßigen Prozession von finsterblickenden Männern und Weibern mit unfreundlichen Gesichtern brach Esther Prynne nach dem für ihre Strafe bestimmten Platz auf. Neugierige Schuljungen, die von der Sache wenig mehr verstanden, als dass sie einen halben Feiertag dadurch erhielten, liefen vor dem Zuge her und wendeten beständig den Kopf zurück, um in ihr Gesicht und auf das blinzelnde Kind in ihren Armen und den schmachvollen Buchstaben an ihrer Brust zu gaffen. Zu jener Zeit war die Entfernung von der Gefängnistür nach dem Marktplatz nicht groß. Nach der Erfahrung der Gefangenen zu messen, konnte sie jedoch für eine Reise von einiger Länge gelten, da sie, so hochfahrend ihr Benehmen auch war, wohl bei jedem Schritt jener, welche sich herbeidrängten, um sie zu sehen, eine Qual erlitt, als ob ihr Herz auf die Straße geworfen worden sei, damit sie alle drauftreten und es mit den Füßen von sich stoßen konnten. In unserer Natur liegt jedoch die ebenso wunderbare wie gnädige Vorkehrung, dass der Leidende das Äußerste, was er erduldet, nie an seiner gegenwärtigen Qual, sondern hauptsächlich an dem danach zurückbleibenden Schmerz erkennt. Esther schritt daher mit fast heiterer Haltung durch diesen Teil ihrer Prüfung und gelangte zu einer Art von Schandbühne am westlichen Ende des Marktplatzes. Sie stand fast gerade unter dem Giebel der ersten Kirche von Boston und schien dort niet- und nagelfest zu sein.
Wirklich bildete diese Bühne einen Teil von einer Strafmaschinerie, welche jetzt seit zwei bis drei Generationen bei uns nur noch historisch und durch die Sage bekannt ist, aber in den alten Zeiten für ein so wirksames Hilfsmittel zur Beförderung des guten Benehmens der Bürger galt, wie nur je die Guillotine unter den Schreckensmännern von Frankreich; kurz, es war die Bühne des Prangers, und über ihr erhob sich das Gestell dieses Disziplinarwerkzeugs, welches so geformt war, dass es den menschlichen Kopf umfasste und ihn so den Blicken des Publikums hinhielt. In diesem Gerüst von Holz und Eisen verkörperte und offenbarte sich ein Ideal von Schmach. Ich glaube, dass es gegen unsere gemeinschaftliche Natur, was auch die Vergehen des Individuums sein mögen, keine größere Misshandlung geben kann, als dem Schuldigen zu verbieten, sein Gesicht vor Scham zu verbergen, wie es das Wesen dieser Strafe ist. In Esther Prynnes Fall lautete jedoch, wie es nicht selten auch bei anderen vorkam, der Spruch nur darauf, dass sie eine gewisse Zeit auf der Schandbühne stehen solle, ohne aber den Griff um den Hals und die Fesselung des Kopfes zu erleiden, welche die teuflischste Eigenschaft der hässlichen Maschine war. Sie kannte ihre Rolle vollkommen, stieg eine hölzerne Treppe hinauf und zeigte sich so der sie umgebenden Menge in etwa der Höhe einer Mannsschulter über der Straße.
Wenn sich unter den puritanischen Zuschauern ein Papist gefunden hätte, so würde er vielleicht in diesem schönen Weib mit dem Kind am Busen einen Gegenstand gesehen haben, der ihn an das Bild der göttlichen Mutter erinnerte, in dessen Darstellung so viele berühmte Maler miteinander gewetteifert haben, etwas, das ihn wirklich, aber nur durch den Kontrast, an das geheiligte Bild sündloser Mutterschaft erinnern musste, deren Kind die Welt erlösen sollte. Hier befleckte die tiefste Sünde die heiligste Eigenschaft des menschlichen Lebens und brachte eine solche Wirkung hervor, dass die Welt um der Schönheit dieses Weibes willen nur noch dunkler und durch das Kind, welches sie geboren hatte, nur umso mehr verloren war.
Das Schauspiel war nicht ohne eine gewisse Schauerlichkeit, wie sie stets den Anblick von Schuld und Schande bei einem Mitgeschöpf begleiten muss, ehe die Gesellschaft verderbt genug geworden ist, um darüber zu lächeln, statt sich zu entsetzen. Die Zeugen von Esther Prynnes Schmach waren noch nicht über diese ursprüngliche Einfachheit hinausgekommen; sie waren streng genug, um auf ihren Tod, wenn das Urteil auf diesen gelautet hätte, ohne Murren über die Schwere der Strafe zu blicken, besaßen aber nichts von der Herzlosigkeit eines anderen sozialen Zustandes, welcher in einer Schaustellung wie der gegenwärtigen nur ein Thema zum Scherzen gefunden haben würde. Selbst wenn Neigung vorhanden gewesen wäre, die Sache ins Lächerliche zu ziehen, so hätte sie von der feierlichen Anwesenheit des Gouverneurs mit mehreren seiner Räte, eines Richters, eines Generals und der Geistlichen der Stadt, welche alle auf einem Balkon des Versammlungshauses, der sich über der Bühne befand, saßen oder standen, überwältigt oder zurückgedrängt werden müssen. Wenn solche Personen einen Teil des Schauspiels bilden konnten, ohne die Majestät oder Ehrwürdigkeit ihres Ranges und Amtes auf das Spiel zu setzen, so war mit Sicherheit zu schließen, dass die Vollstreckung eines Richterspruchs eine eindringliche, wirksame Bedeutung haben würde. Die Zuschauermenge blieb daher auch düster und ernst. Die unglückliche Delinquentin hielt sich so gut aufrecht, wie es nur ein Weib unter der Last von Tausenden unbarmherziger, auf sie gehefteter und auf ihren Busen konzentrierter Augen vermochte. Fast war es unerträglich. Von leidenschaftlich impulsiver Natur, hatte sie sich gegen die Stiche und giftigen Verwundungen des Hohns und der Schmähung des Publikums, die sich in jeder Art von Beleidigungen Luft machen konnten, gerüstet, aber die feierliche Geistesstimmung des Volkes besaß etwas umso viel Furchtbareres, dass sie sich fast sehnte, all jene starren Gesichter zu spöttischer Lustigkeit verzerrt und sich als Gegenstand derselben zu sehen. Wenn ein schallendes Gelächter unter der Menge ausgebrochen wäre, zu dem jeder Mann, jedes Weib, jedes Kind mit seiner schrillen Stimme einen Anteil geliefert hätte, so würde Esther Prynne darauf vielleicht nur mit einem bitteren, verächtlichen Lächeln geantwortet haben; aber unter der bleiernen Wucht, welche zu ertragen ihr Schicksal war, hatte sie in manchen Augenblicken das Gefühl, als ob sie aus voller Kraft ihrer Lunge schreien und sich von dem Gerüst auf den Boden herabstürzen oder plötzlich wahnsinnig werden müsse.
Und doch gab es Zwischenräume, wo das ganze Schauspiel, dessen hervorragendster Gegenstand sie war, ihren Augen zu entschwinden schien oder wenigstens nur undeutlich vor denselben schimmerte, wie eine Masse von unvollkommen geformten Gespenstergestalten. Ihr Geist und besonders ihr Erinnerungsvermögen entwickelte eine übernatürliche Tätigkeit und stellte fortwährend andere Szenen vor sie hin, als jene grob ausgehauene Straße einer kleinen Stadt am Saum der westlichen Wildnis, andere Gesichter als diejenigen, welche unter den Krempen jener hohen Spitzhüte streng auf sie blickten, Erinnerungen von der geringfügigsten und unwesentlichsten Art; Vorgänge aus ihren Kindheits- und Schuljahren, Spiele, kindische Zänkereien und die kleinen häuslichen Züge ihres Jungfernalters drängten sich in Verbindung mit Bildern aus den ernstesten Verhältnissen ihres späteren Lebens vor sie zusammen, und das eine war genau ebenso lebhaft wie das andere, als ob alle von gleicher Wichtigkeit oder alle gleichmäßig nur ein Spiel seien. Vielleicht war das ein instinktmäßiger Kunstgriff ihres Geistes, um sich durch die Vorstellung dieser phantasmagorischen Gestalten von der drückenden Last und Härte der Wirklichkeit zu befreien.
Mochte dem sein, wie ihm wollte, die Schandbühne des Prangers war ein Standpunkt, welcher Esther Prynne den ganzen Weg, den sie seit ihrer glücklichen Kindheit gewandelt war, überblicken ließ. Während sie auf dieser Unglückshöhe stand, erblickte sie von neuem ihr Heimatdorf in Alt-England und ihr Vaterhaus, ein verfallenes Gebäude von grauem Stein und ärmlichem Aussehen, das aber als Beweis seiner früheren Vornehmheit noch ein halbverwischtes Wappenschild ihres Vaters mit seiner kahlen Stirn und seinem ehrwürdigen weißen Bart, welcher über den altmodischen Elisabethkragen herabhing, und das ihrer Mutter mit dem Blick sorglicher Liebe, welchen es stets in ihrer Erinnerung trug und der selbst nach ihrem Tod so oft das Hemmnis eines sanften Vorwurfs in den Pfad ihrer Tochter gelegt hatte. Sie erblickte ihr eigenes, von mädchenhafter Schönheit glühendes Gesicht, welches das ganze Innere des trüben Spiegels erhellte, in welchem sie gewohnt gewesen war, es zu betrachten. Dort sah sie noch ein Gesicht, das eines Mannes von vorgerückten Jahren, ein bleiches, mageres Gelehrtenantlitz mit von dem Lampenschein, welcher ihnen beigestanden hatte, so manchen schweren Folianten durchzustudieren, getrübten und geschwächten Augen. Und doch besaßen diese trüben Augen eine seltsame, durchdringende Gewalt, wenn es die Absicht ihres Besitzers war, in der menschlichen Seele zu lesen. Diese Gestalt des Studierzimmers und des Klosters war, wie Esther Prynnes weibliche Phantasie heraufzurufen nicht verfehlte, etwas verwachsen und ihre linke Schulter um ein geringes höher als die rechte. Sodann erhoben sich vor ihr in der Bildergalerie der Erinnerung die winkeligen, schmalen Gassen, die hohen grauen Häuser, die mächtigen Kathedralen und die alten, schnörkeligen öffentlichen Gebäude einer Kontinentalstadt, wo sie ein neues, immer noch mit dem verwachsenen Gelehrten in Verbindung stehendes Leben erwartet hatte – ein neues Leben, welches sich aber von gealterten und abgenutzten Materialien genährt, wie ein Büschel grünen Mooses an einer zerbröckelnden Mauer. Endlich kehrte an die Stelle dieser wechselnden Szenen der unebene Marktplatz der puritanischen Niederlassung zurück mit der ganzen versammelten Bewohnerschaft der Stadt, welche ihre strengen Blicke auf Esther Prynne heftete – ja, auf sie selbst, die auf der Bühne des Prangers stand, mit einem Kind auf ihrem Arm und dem scharlachroten, phantastisch mit Goldseide durchsäumten Buchstaben A auf ihrer Brust.
Konnte es Wahrheit sein? Sie presste das Kind so heftig an ihre Brust, dass es einen Schrei ausstieß. Sie senkte ihre Augen auf den Scharlachbuchstaben und berührte ihn sogar mit ihrem Finger, um sich zu überzeugen, dass das Kind und die Schande wirklich existierten. Ja, das waren ihre Wirklichkeiten – alles Übrige war verschwunden.
Von diesem sie gänzlich erfüllenden Bewusstsein, dass sie der Gegenstand einer strengen und allgemeinen Beobachtung sei, wurde die Trägerin des Scharlachbuchstabens endlich dadurch erlöst, dass sie am äußeren Saum der Zuschauermenge eine Gestalt bemerkte, welche unwiderstehlich Besitz von ihren Gedanken ergriff. Dort stand ein Indianer in seiner einheimischen Tracht, aber die roten Männer waren nicht so seltene Besucher der englischen Ansiedlungen, dass einer von ihnen zu solcher Zeit Esther Prynnes Aufmerksamkeit erregt oder gar alle übrigen Gegenstände und Gedanken aus ihrem Geist verbannt haben würde. An der Seite des Indianers, und offenbar als sein Begleiter, stand ein weißer, in ein seltsames Gemisch von zivilisiertem und wildem Kostüm gekleideter Mann.
Er war von kleiner Statur und zeigte ein gefurchtes Gesicht, welches jedoch noch kaum alt genannt werden konnte. In seinen Zügen lag eine bemerkenswerte Intelligenz, als seien es die einer Person, welche ihren geistigen Teil so ausgebildet hatte, dass er nicht verfehlen konnte, den physischen nach sich zu formen und durch unverwechselbare Zeichen sichtbar zu machen. Wiewohl er durch eine scheinbar nachlässige Anordnung seiner zusammengewürfelten Kleidung versucht hatte, die Eigentümlichkeiten zu vermindern oder zu verringern, so war es für Esther Prynne doch erkennbar genug, dass die eine Schulter dieses Mannes sich über die andere erhob. In dem ersten Augenblick, wo sie dieses magere Gesicht und die geringe Entstellung der Gestalt bemerkte, drückte sie ihr Kind wieder mit so krampfhafter Gewalt an ihre Brust, dass der arme Säugling einen zweiten Schmerzensschrei ausstieß. Die Mutter schien ihn jedoch nicht zu hören.
Sobald er auf den Marktplatz gelangt war, und schon einige Zeit ehe sie ihn gesehen, hatte der Fremde seine Augen auf Esther Prynne geheftet. Anfangs war es nachlässig gewesen, wie der Blick eines Mannes, der gewohnt ist, hauptsächlich nach innen zu blicken, und für welchen äußere Dinge ohne Wert und Wichtigkeit sind, wenn sie sich nicht auf etwas in seinem Geist beziehen. Sehr bald war jedoch sein Blick scharf und durchdringend geworden. Ein zuckendes Entsetzen trat auf seine Züge, wie eine schnell darüber hingleitende Schlange, die eine kleine Pause machte, während alle ihre verschlungenen Wendungen deutlich sichtbar waren. Sein Gesicht wurde durch eine mächtige Bewegung verdunkelt, die er jedoch durch eine Anstrengung seines Willens so augenblicklich zügelte, dass bis auf diesen einzigen Augenblick dessen Ausdruck für den der Ruhe gegolten haben würde. Nach kurzer Zeit wurde das Zucken fast unmerklich und versank endlich ganz in den Tiefen seiner Natur. Als er fand, dass Esther Prynne ihre Augen auf die seinen heftete und sah, dass sie ihn zu erkennen schien, erhob er langsam und ruhig seinen Finger, machte damit eine Bewegung durch die Luft und legte ihn auf seine Lippen.
Hierauf berührte er die Schulter eines neben ihm stehenden Bürgers und redete ihn auf förmliche, höfliche Art an.
»Ich bitte Euch, guter Herr«, sagte er, »mir mitzuteilen, wer dieses Weib ist und weshalb es zur öffentlichen Schande hier steht.«
»Ihr müsst wohl ein Fremder in dieser Gegend sein, Freund«, entgegnete der Städter mit einem neugierigen Blick auf den Fragenden und dessen wilden Gefährten, »sonst würdet Ihr sicherlich von Mrs Esther Prynne und ihren Missetaten gehört haben. Ich darf wohl sagen, dass sie großes Ärgernis in der Kirche des gottesfürchtigen Mr Dimmesdale erregt hat.«
»Ihr habt recht«, entgegnete der andere, »ich bin ein Fremder und war zu meinem Schmerz, nicht freiwillig, ein Wanderer. Ich habe schweres Unglück zur See und zu Lande erfahren und bin lange in den Banden des Heidenvolks im Süden gewesen und jetzt von diesem Indianer hierhergebracht worden, um aus meiner Gefangenschaft erlöst zu werden. Wollt Ihr daher die Güte haben, mir zu sagen, worin Esther Prynnes – habe ich den Namen auch recht gehört? –, worin dieses Weibes Vergehen bestanden und was sie auf jene Schandbühne gebracht hat?«
»Wahrlich, Freund, es muss nach Euern Fährnissen und Eurem Aufenthalt in der Wildnis Euer Herz erfreuen, Euch endlich wieder in einem Land zu befinden, wo die Sünde aufgespürt und angesichts der Vorgesetzten und des Volks bestraft wird, wie hier in unserem gottesfürchtigen Neu-England. So wisst, Herr, dass jenes Weib die Ehefrau eines gelehrten Mannes von englischer Geburt war, der aber lange in Amsterdam gelebt hatte, wo es ihm vor einer guten Zeit in den Sinn kam, herüberzufahren und sein Los mit dem unseren in Massachusetts zu vereinigen. Zu diesem Zweck schickte er seine Frau voraus, während er selbst zurückblieb, um einige notwendige Geschäfte zu besorgen. Nun, guter Herr, in den zwei Jahren oder weniger, wo das Weib hier in Boston gelebt hat, sind keine Nachrichten von dem gelehrten Meister Prynne eingelaufen, und seine junge Frau seht Ihr, die ihrer eigenen schlimmen Führung überlassen geblieben ist.«
»Oh! ich verstehe Euch,« sagte der Fremde mit bitterem Lächeln. »Ein so gelehrter Mann, wie der, von welchem Ihr sprecht, hätte auch dies aus seinen Büchern gelernt haben sollen, und wer mag, mit Eurer Gunst, Herr, der Vater jenes Kindes sein … es kommt mir drei bis vier Monate alt vor, welches Mrs Prynne in ihrem Arm hält?«
»Wahrlich, Freund, die Sache ist ein Rätsel geblieben, und der Daniel, welcher es lösen soll, fehlt noch«, antwortete der Städter. »Madam Esther weigert sich unbedingt zu sprechen, und die Richter haben vergeblich ihre Köpfe zusammengesteckt. Vielleicht blickt gar der Schuldige, den Menschen unbekannt, auf dieses traurige Schauspiel und vergisst, dass er von Gott gesehen wird.«
»Der gelehrte Mann,« bemerkte der Fremde mit einem abermaligen Lächeln, »sollte selbst kommen, um das Geheimnis zu erforschen.«
»Das geziemt ihm allerdings, wenn er noch am Leben ist«, antwortete der Städter. »Nun, guter Herr, unser Magistrat in Massachusetts hat bedacht, dass dieses Weib jung und schön ist, und ohne Zweifel stark zu ihrem Fall verlockt wurde, und dass überdies aller Wahrscheinlichkeit nach ihr Ehemann auf dem Grund der See liegt, und deshalb nicht den Mut gehabt, die ganze Strenge unseres gerechten Gesetzes gegen sie zur Anwendung zu bringen. Die Strafe, welches dasselbe auferlegt, ist der Tod, aber in ihrer großen Gnade und Herzensmilde haben sie Mrs Prynne nur dazu verurteilt, drei Stunden lang auf dem Gerüst des Prangers zu stehen und von da an bis an ihr Lebensende ein Zeichen der Schande auf ihrer Brust zu tragen.«
»Ein weiser Spruch«, bemerkte der Fremde, ernst den Kopf neigend; »auf diese Weise wird sie eine lebende Predigt gegen die Sünde sein, bis der schmachvolle Buchstabe auf ihrem Leichenstein ausgehauen wird. Dennoch ist’s mir ärgerlich, dass der Teilnehmer ihrer Missetat nicht wenigstens auf der Bühne neben ihr steht; aber man wird ihn kennen … man wird ihn kennen … man wird ihn kennen!«
Er verbeugte sich höflich gegen den mitteilsamen Bürger, flüsterte seinem indianischen Begleiter einige Worte zu, und sie drängten sich beide durch die Menge.
Während dies vorging, hatte Esther Prynne auf ihrer Erhöhung gestanden und ihre Augen immer noch mit einem so unverwandten Blick auf den Fremden geheftet, dass in manchen Momenten alle übrigen Gegenstände der sichtbaren Welt zu verschwinden und nur sie und ihn zurückzulassen schienen. Eine solche Begegnung würde ohne Zweifel noch weit entsetzlicher gewesen sein, als selbst deren jetzige Art, wo die heiße Mittagssonne auf ihr Gesicht herab brannte und ihre Schande beschien, mit dem scharlachroten Zeichen der Schmach auf der Brust und dem Sündenkind auf ihren Armen, mit einem ganzen wie zu einem Fest herbeigekommenen Volk, welches die Züge angaffte, die nur in dem stillen Schein des Kamins im glücklichen Schatten des Heimathauses oder unter einem Frauenschleier in der Kirche hätten sichtbar sein sollen. So entsetzlich es auch war, so wusste sie doch, dass sie einen Schutz an der Gegenwart dieser Tausenden von Zeugen besaß. Es war besser, so dazustehen und so viele zwischen ihm und sich zu haben, als ihn, mit ihm allein, von Angesicht zu Angesicht zu begrüßen. Sie suchte sozusagen in der öffentlichen Schaustellung Zuflucht und fürchtete den Augenblick, wo ihr deren Schutz entzogen werden würde. In diese Gedanken versunken hörte sie kaum, dass eine Stimme hinter ihr sprach, bis diese ihren Namen mehr als einmal in lautem, feierlichem, der ganzen Versammlung hörbarem Ton wiederholt hatte.
»Hört mich an, Esther Prynne!«, sagte die Stimme.
Es ist bereits gesagt worden, dass gerade über dem Gerüst, auf welchem Esther Prynne stand, eine Art von Balkon oder offener Galerie an dem Versammlungshaus angebracht war. Dies war der Ort, wo im Beisein des versammelten Magistrats und mit dem ganzen Pomp und Zeremoniell, wovon dergleichen öffentliche Vorgänge zu jener Zeit begleitet waren, Proklamationen erlassen zu werden pflegten. Hier saß, um die Szene, welche wir beschreiben, anzusehen, Gouverneur Bellingham selbst, mit einer Ehrenwache von vier Hellebarden tragenden Sergeanten um seinen Stuhl. Er hatte eine dunkle Feder an seinem Hut, einen gestickten Saum an seinem Mantel und darunter einen schwarzen Samtrock und war ein Mann von vorgerückten Jahren, in dessen Gesicht schwere Erfahrungen ihre Furchen eingegraben hatten. Er war nicht übel zum Haupt und Vertreter einer Gemeinschaft geeignet, welche ihren Ursprung und Fortschritt sowie ihren gegenwärtigen Zustand nicht den Impulsen der Jugend, sondern der strengen gezügelten Energie der Mannesjahre und der finsteren Klugheit des Alters verdankte, und gerade deshalb so viel bewirkte, weil sie sich so wenig einbildete und erhoffte. Die übrigen herausragenden Köpfe, welche den Gouverneur umgaben, zeichneten sich durch eine würdevolle Miene aus, wie sie einer Zeit angehörte, in der man die Formen der Obrigkeit in der Heiligkeit göttlicher Gesetze geborgen wusste. Sie waren ohne Zweifel gute, gerechte und weise Männer, aber es würde nicht leicht gewesen sein, unter der ganzen Menschenfamilie die gleiche Anzahl von weisen und tugendhaften Personen auszuwählen, die weniger geeignet gewesen wären, über ein irrendes Frauenherz zu Gericht zu sitzen und dessen Gewebe von Gutem und Bösem zu entwirren, als die streng aussehenden Männer, welchen Esther Prynne jetzt ihr Gesicht zuwendete. Sie schien in der Tat zu wissen, dass die Teilnahme, welche sie erwarten konnte, nur in dem größeren und wärmeren Herzen der Menge liege, denn als sie ihre Augen zu dem Balkon erhob, erbleichte das unglückliche Weib und bebte.
Die Stimme, die ihre Aufmerksamkeit verlangt hatte, war die des ehrwürdigen und berühmten John Wilson, ältesten Geistlichen von Boston, eines großen Gelehrten, wie die meisten seiner Standesgenossen in jener Zeit, und dabei eines Mannes von gütigem, freundlichem Geist. Diese letzte Eigenschaft war jedoch weniger sorgfältig entwickelt worden als seine intellektuellen Gaben und, die Wahrheit zu gestehen, eher eine Sache der Beschämung als der Genugtuung für ihn. Da stand er nun mit dem Saum von grauen Locken um sein Käppchen, während seine grauen, an das umschattete Licht seines Studierzimmers gewohnten Augen in dem unvermischten Sonnenschein blinzelten wie die von Esthers Kind. Er sah aus wie die dunkelgestochenen Porträts, welche wir vor alten Predigtbüchern sehen, und besaß ebenso wenig Recht wie eines dieser Porträts hervorzutreten, wie er es jetzt tat, und sich in eine Frage menschlicher Schuld, Leidenschaft und Pein zu mischen.
»Esther Prynne«, sagte der Geistliche, »ich habe mit meinem jungen Amtsbruder hier gerungen, unter dessen Lehre des göttlichen Wortes du zu sitzen das Vorrecht genossen hast«, hier legte Mr Wilson seine Hand auf die Schulter eines blassen jungen Mannes neben ihm – »ich habe, sage ich, diesen gottesfürchtigen jungen Mann zu überreden gesucht, dass er sich deiner annehmen möchte, um hier im Angesicht des Himmels und vor diesen rechtschaffenen und weisen Beamteten und dem ganzen Volk über die Schwärze und Bosheit deiner Sünde zu sprechen. Da er dein natürliches Temperament besser kennt als ich, so konnte er auch besser beurteilen, welche Gründe der Liebe oder der Furcht anzuführen seien, um über deine Hartnäckigkeit und Verstockung zu siegen, damit du nicht länger den Namen desjenigen verschweigen mögest, welcher dich zu diesem schweren Fall gelockt hat; aber er stellt mir mit der übermäßigen Weichheit eines jungen Mannes, obgleich er über seine Jahre hinaus weise ist, entgegen, dass es der Natur des Weibes Unrecht tun hieße, wenn man es zwinge, die Geheimnisse seines Herzens bei so hellem Tageslicht und in Gegenwart einer so großen Menge aufzudecken. Wahrlich, die Schmach liegt, wie ich ihn zu überzeugen suchte, in der Begehung der Sünde und nicht in deren Offenbarung. Ich frage Euch noch einmal, Bruder Dimmesdale, was sagt Ihr dazu? Musst du es sein oder ich, der sich der Seele dieser armen Sünderin annimmt?«
Es erhob sich ein Gemurmel unter den ernsten würdevollen Männern auf dem Balkon, und Gouverneur Bellingham sprach dessen Bedeutung aus, indem er mit gebietender, wenn auch aus Achtung für den jungen Geistlichen, welchen er anredete, gemilderter Stimme sagte:
»Guter Master Dimmesdale, die Verantwortlichkeit für die Seele dieses Weibes ist in hohem Maße Eure Sache. Es geziemt Euch daher, solches zur Reue und als Beweis und Folge derselben zum Geständnis zu ermahnen.«
Diese direkte Anrede zog die Augen der ganzem versammelten Menge auf Ehrwürden Dimmesdale, einen jungen Geistlichen, der von einer der großen englischen Universitäten alle Gelehrsamkeiten jener Zeit in unser wildes Waldland mitgebracht hatte. Seine Beredsamkeit und seine fromme Begeisterung hatten ihm bereits in seinem Beruf hohes Ansehen verschafft. Er war ein Mann von höchst auffallendem Äußeren, mit weißer, hoher, fast überhängender Stirn, großen, braunen, melancholischen Augen und einem Mund, der, außer wenn er mit Gewalt zusammengepresst war, leicht bebte und zugleich nervösen Gefühlsreichtum und eine ungeheure Selbstbeherrschung ausdrückte. Trotz seiner hohen Naturgaben und gelehrten Errungenschaften hatte der junge Geistliche ein besorgtes, erschrecktes, halb wie von Furcht erfülltes Aussehen, als ob er sich auf dem Pfad der menschlichen Existenz völlig verirrt und fremd fühlte und sich nur in seiner eigenen Abgeschiedenheit wohlfühlen könnte. Er wandelte daher, soweit es seine Pflichten gestatteten, auf schattigen Nebenwegen, und erhielt sich auf diese Art einfach und kindlich und trat, wenn es an der Zeit war, dann mit einer Frische und einem Duft und einer tauigen Reinheit des Gedankens hervor, welche, wie viele sagten, sie wie die Rede eines Engels berührten.
Solcher Art war der junge Mann, welchen der ehrwürdige Mr Wilson und der Gouverneur so offen vor das Publikum gezogen und ihm geboten hatten, vor aller Ohren über das selbst in seiner Befleckung so heilige Geheimnis einer Frauenseele zu sprechen. Die Schwierigkeit seiner Lage trieb ihm das Blut aus der Wange und ließ seine Lippen erbeben.
»Sprich zu dem Weib, mein Bruder«, sagte Mr Wilson, »es ist von Wichtigkeit für ihre Seele und daher, wie der verehrte Gouverneur sagt, auch von Wichtigkeit für deine eigene, unter deren Obhut sich die ihre befindet. Ermahne sie, die Wahrheit zu gestehen.«
Ehrwürden Dimmesdale neigte, wie es schien, in stummem Gebet den Kopf und trat sodann vor.