»Mein Vater ist ein Kontrollfreak, meine Stiefmutter hasse ich, mein Bruder ist tot, und meine Mutter … hat Probleme. Was glauben Sie wohl, wie es mir geht?«
Das hätte ich Mrs Collins am liebsten geantwortet. Aber weil meinem Vater eine makellose Fassade über alles geht, kam eine ehrliche Antwort nicht infrage. Stattdessen blinzelte ich dreimal und sagte: »Gut.«
Mrs Collins, die neue Schulpsychologin der Eastwick High und damit meine neue Therapeutin, tat, als hätte sie mich nicht gehört. Sie schob einen Stapel Akten an den Rand ihres überladenen Schreibtischs und wühlte in mehreren Papierstößen. Schließlich fand sie meine gut und gern acht Zentimeter dicke Akte und belohnte sich dafür mit einem Schluck Kaffee. Auf dem Tassenrand blieb knallroter Lippenstift zurück. Der Geruch von billigem Kaffee und frisch gespitzten Bleistiften hing in der Luft.
Rechts neben mir warf mein Vater einen ungeduldigen Blick auf die Uhr, während links von mir die böse Hexe unbehaglich auf ihrem Stuhl herumrutschte. Ich kam zu spät zu meiner ersten Mathestunde, mein Vater kam zu spät zu irgendeinem höchst wichtigen Geschäftstermin, und Schneewittchens böse Stiefmutter? Bei der war sowieso alles zu spät.
»Ist Januar nicht ein wunderbarer Monat?«, fragte Mrs Collins, während sie meine Akte aufschlug. »Ein neues Jahr, ein neuer Anfang – wie ein frisches weißes Blatt Papier.« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Wie gefallen Ihnen meine Vorhänge? Hab sie selbst genäht!«
Mein Vater, meine Stiefmutter Ashley und ich drehten wie auf Kommando den Kopf zu den rosa getupften Vorhängen, die die Fenster zum Schülerparkplatz zierten. Auf mich wirkten sie wie Unsere kleine Farm auf Ecstasy. Keiner von uns sagte etwas.
Der Blackberry meines Vaters summte. Übertrieben umständlich zog er ihn aus seiner Jackentasche und schaute auf das Display. Ashley trommelte mit den Fingern auf ihren schwangeren Bauch, während ich aus schierer Verzweiflung die selbst gemalten Tafeln mit Sinnsprüchen an der Wand las.
Dein einziger Feind bist du selbst. Nach oben kommt man nur, wenn man nicht nach unten sieht. Erfolg ist eine Frage des Glaubens. Fischer, die als Floßfahrer auf Flussflößen auf Floßflüssen fahren, sind fischende Floßflussflussfloßfahrer.
Zugegeben, der letzte war nicht gerade ein Kandidat fürs Poesiealbum, aber der war zumindest ansatzweise amüsant.
Mrs Collins erinnerte mich mit ihrem blonden Haar und ihrer überfreundlichen Art an einen zu groß geratenen Golden Retriever. »Echos ACT- und SAT-Test-Ergebnisse sind fabelhaft. Sie können stolz auf Ihre Tochter sein.« Sie schenkte mir ein aufrichtiges Lächeln, bei dem sie sämtliche Zähne entblößte.
Okay, es ging also los. Meine gerichtlich angeordnete Therapiestunde hatte offiziell begonnen. Vor knapp zwei Jahren, nach dem Vorfall, hatte das Jugendamt eine »dringende Empfehlung« ausgesprochen, dass ich psychotherapeutische Behandlung bekommen sollte. Dad hatte schnell kapiert, dass es am besten war, nicht auf Konfrontationskurs zu gehen. Bisher war ich zu diesen Stunden in eine private Praxis außerhalb der Schule gegangen. Aber da der Staat Kentucky anscheinend gerade zu viel Geld hatte, war dieses Pilotprogramm ins Leben gerufen worden, und so kam ich nun zusammen mit einer Handvoll Auserwählter an meiner Schule in den Genuss, die Schulpsychologin Mrs Collins ganz für mich allein zu haben. Meine Begeisterung darüber hielt sich in Grenzen.
Mein Vater setzte sich kerzengerade auf. »Ihre Mathe-Ergebnisse waren schwach. Ich möchte, dass sie den Test wiederholt.«
»Gibt es hier irgendwo eine Toilette?«, fragte Ashley dazwischen. »Das Baby drückt auf meine Blase.«
In Wirklichkeit wollte sie sich nur wieder wichtigmachen. Mrs Collins sah sie mit einem bemühten Lächeln an und zeigte zur Tür. »Den Gang runter rechts.«
Ashley erhob sich so umständlich von ihrem Stuhl, als hätte sie eine tonnenschwere Bleikugel im Bauch und nicht ein winziges Baby. Ich schüttelte genervt den Kopf, was mir einen eisigen Blick meines Vaters einbrachte.
»Mr Emerson«, fuhr Mrs Collins fort, nachdem Ashley hinausgegangen war. »Echos Testergebnisse liegen weit über dem Landesdurchschnitt, und wie ich den Akten entnehme, hat Echo sich bereits an den Universitäten, die sie interessieren, beworben.«
»Es gibt einige Wirtschaftscolleges mit späteren Bewerbungsterminen. Ich möchte, dass sie sich dort auch bewirbt. Außerdem ist ›über dem Durchschnitt‹ für mich nicht akzeptabel. Für meine Tochter kommt nur ›erstklassig‹ infrage.« Mein Vater redete in einem Tonfall, als wäre er der liebe Gott. Fehlte nur noch, dass er hinzufügte: So steht es geschrieben, und so soll es sein. Ich stützte den Ellbogen auf die Armlehne und hielt mir die Hand vors Gesicht.
»Ich verstehe, Mr Emerson«, sagte Mrs Collins in so verständnisvollem Ton, dass es mich ärgerte. »Aber Echos Englisch-Ergebnisse sind so gut wie perfekt …«
An der Stelle klinkte ich mich aus. Diese Auseinandersetzung hatte mein Vater auch schon mit meiner Vertrauenslehrerin aus der Zehnten und Elften geführt, als ich die Eignungstests zum ersten Mal ablegte. Meine damalige Lehrerin hatte irgendwann verstanden, dass mein Vater immer das letzte Wort haben musste, und nach der ersten Runde aufgegeben.
Die Testergebnisse waren sowieso meine geringste Sorge. Ich zermarterte mir vielmehr das Hirn, wie ich Geld auftreiben könnte, um Aires’ Auto reparieren zu lassen. Bei dem Thema stellte sich mein Vater stur. Er beharrte darauf, dass wir den Wagen verkaufen sollten.
»Echo, bist du zufrieden mit deinen Ergebnissen?«, fragte Mrs Collins.
Durch meine roten Locken hindurch, die mir ins Gesicht gefallen waren, schaute ich Mrs Collins an. Die letzte Therapeutin hatte unsere Familienhierarchie durchschaut und ausschließlich mit meinem Vater gesprochen. »Wie bitte?«
»Bist du zufrieden mit den Ergebnissen in deinen ACT- und SAT-Tests? Oder willst du die Tests noch einmal schreiben?« Sie faltete die Hände und legte sie auf meiner Akte ab. »Willst du dich noch bei anderen Hochschulen bewerben?«
Mein Blick wanderte zu den müden grauen Augen meines Vaters hinüber. Mal sehen. Die Tests noch einmal zu schreiben würde bedeuten, dass mir mein Vater pausenlos im Genick hing und mich zum Lernen antrieb, dass ich einen Samstagvormittag für den Test komplett in den Wind schießen konnte und dann wochenlang wegen der Ergebnisse auf Kohlen sitzen würde. Und mich noch bei anderen Unis bewerben? Dann lieber die Tests noch einmal schreiben. »Eigentlich nicht.«
Die tiefen Sorgenfalten um seine Augen und Lippen wurden noch tiefer. Falsche Strategie. »Mein Dad hat recht. Ich sollte die Tests noch mal schreiben.«
Mrs Collins kritzelte etwas mit Kuli in meine Akte. Dass ich ein Autoritätsproblem hatte, dürfte allerdings auch meiner Betreuerin vom Jugendamt und vorigen Therapeutin nicht entgangen sein. Wozu also nochmals aufschreiben, was sowieso schon da drinstand?
Ashley kam wieder ins Zimmer und ließ sich auf ihren Stuhl sinken. »Habe ich was verpasst?« Ich hatte tatsächlich komplett vergessen, dass es sie auch noch gab. Wenn das doch bloß meinem Vater mal passieren würde.
»Nein«, sagte Dad.
Mrs Collins legte ihren Stift weg. »Frag bitte Mrs Marcos nach den nächsten Testterminen. Wo ich hier schon mal die Rolle der Vertrauenslehrerin übernehme, würde ich gerne noch deinen Stundenplan fürs nächste Halbjahr mit dir besprechen. Du hast dir lauter Wirtschaftskurse in deine Freistunden gelegt. Dürfte ich fragen, weshalb?«
Die ehrliche Antwort – »Weil mein Vater das so will« – hätte wohl eine Reihe von Leuten in diesem Raum irritiert, und so improvisierte ich ein wenig. »Es ist eine gute Vorbereitung aufs College.« Wow. Ich sagte das mit ungefähr so viel Enthusiasmus wie eine Sechsjährige, die auf ihre Grippeimpfung wartet. Nicht gerade ein kluger Schachzug von mir. Mein Vater rutschte auf seinem Stuhl herum und seufzte tief. Ich überlegte, ob ich mir eine andere Antwort einfallen lassen sollte, aber wahrscheinlich hätte die auch nicht begeisterter geklungen.
Mrs Collins las in meiner Akte. »Du hast enormes Talent im Kunstunterricht gezeigt. Ich will ja nicht gleich vorschlagen, dass du deine ganzen Wirtschaftskurse streichst, aber du könntest doch wenigstens einen weglassen und dafür einen Kurs in Zeichnen belegen.«
»Nein«, kam es in unerbittlichem Ton von meinem Vater. Er beugte den Oberkörper ein wenig nach vorn und legte die Fingerspitzen aneinander. »Echo wird auf keinen Fall Kunstunterricht belegen, ist das klar?«
Das musste ich Mrs Collins lassen: Sie zuckte nicht mal mit der Wimper, bevor sie klein beigab. »Glasklar.«
»Gut, dann hätten wir das ja geklärt.« Ashley versuchte aufzustehen. »Ich habe versehentlich meinen Termin beim Gynäkologen auf heute gelegt. Vielleicht erfahren wir diesmal, ob es ein Mädchen oder ein Junge wird.«
»Mrs Emerson, Echos schulische Leistungen sind nicht das Thema dieser Stunde, aber ich habe volles Verständnis dafür, wenn Sie schon gehen müssen.« Sie zog einen offiziell aussehenden Brief aus der obersten Schreibtischschublade, während sich Ashley mit knallrotem Kopf wieder hinsetzte. Der Briefkopf war mir im Lauf der letzten zwei Jahre schon einige Male begegnet. Das Jugendamt kannte offenbar keine Gnade mit Regenwäldern.
Mrs Collins überflog den Brief leise, während ich am liebsten im Boden versunken wäre. Sowohl mein Vater als auch ich sackten um ein paar Zentimeter in uns zusammen. Ach, die Freuden der Familientherapie.
Mir fiel ein ausgestopfter grüner Frosch neben Mrs Collins’ Computer auf, und daneben ein Bild von ihr mit irgendeinem Mann – vermutlich ihrem Mann – und am Rand des Schreibtischs eine blaue Schleife, wie man sie bekommt, wenn man irgendeinen Wettbewerb gewonnen hat. Irgendetwas daran berührte mich auf eigenartige Weise. Hm – seltsam.
Mrs Collins lochte den Brief und heftete ihn in meiner übervollen Akte ab. »Damit bin ich offiziell deine Therapeutin.«
Da sie nichts weiter sagte, riss ich meinen Blick von der blauen Schleife los und sah Mrs Collins an. »Eine schöne Schleife, hm, Echo?«
Mein Vater räusperte sich und durchbohrte Mrs Collins geradezu mit seinem Blick. Eine seltsame Reaktion. Aber er war sowieso schon genervt, überhaupt mit mir hier sein zu müssen. Ich schaute erneut zu der Schleife. Warum kam mir irgendwas daran so vertraut vor? »Ja, schön.«
Mrs Collins bemerkte, dass ich abwesend mit der Erkennungsmarke herumspielte, die ich an einer Kette um den Hals trug. »Mein tiefes Beileid für den Verlust, den Sie erlitten haben. Bei welcher Abteilung hat er gedient?«
Na toll. Jetzt bekam mein Vater wahrscheinlich gleich einen Herzanfall. Er hatte mir ja auch nur ungefähr fünfundsiebzig Mal eingebläut, dass Aires’ Erkennungsmarke in der Schachtel unter meinem Bett zu bleiben hatte. Aber ich brauchte sie heute – eine neue Therapeutin, vor Kurzem erst sein zweiter Todestag, und der Beginn meines letzten Halbjahrs an der Highschool. Mir wurde plötzlich übel. Ich wich dem verärgerten Blick meines Vaters aus und suchte angestrengt meine Haarspitzen auf Spliss ab.
»Bei den Marines«, sagte mein Vater kurz angebunden. »Hören Sie, ich habe heute Vormittag einen Termin mit einem potenziellen Kunden, ich habe Ashley versprochen, sie zum Arzt zu begleiten, und Echo verpasst den Unterricht. Wann sind wir hier fertig?«
»Wenn ich es sage. Falls Sie mir mit diesen Sitzungen Schwierigkeiten machen wollen, Mr Emerson, werde ich keinerlei Skrupel haben, Echos Betreuerin vom Jugendamt einzuschalten.«
Ich verkniff mir mühsam ein Grinsen. Mrs Collins spielte ihre Trümpfe ziemlich geschickt. Mein Vater gab klein bei, meine Stiefmutter hingegen …
»Das verstehe ich nicht. Echo wird doch bald achtzehn. Wieso dürfen sich die staatlichen Behörden da noch einmischen?«
»Weil der Staat, das Jugendamt und ich der Meinung sind, dass das gut für Echo wäre.« Mrs Collins klappte meine Akte zu. »Echo wird bei mir in therapeutischer Behandlung bleiben, bis sie im Frühjahr ihren Highschool-Abschluss macht. Danach wird der Staat Kentucky Echo und Sie beide aus seiner Aufsicht entlassen.«
Mrs Collins schaute Ashley an, bis diese mit einem Nicken zu erkennen gegeben hatte, dass sie sich in die Situation fügte. Dann wandte sie sich an mich. »Wie geht es dir, Echo?«
Grandios. Phantastisch. Könnte gar nicht schlimmer sein. »Bestens.«
»Wirklich?« Sie tippte sich mit dem Finger ans Kinn. »Ich hätte eigentlich gedacht, dass der zweite Todestag deines Bruders schmerzliche Gefühle in dir auslösen würde.«
Mrs Collins musterte mich eindringlich, während ich sie vorwurfsvoll ansah. Mein Vater und Ashley beobachteten den Showdown wortlos. Jetzt plagten mich auch noch Schuldgefühle. Genau genommen hatte sie mir keine Frage gestellt, und so war ich ihr rein theoretisch auch keine Antwort schuldig, aber das Bedürfnis, ihre Erwartungen an mich zu erfüllen und »nett« zu sein, war geradezu überwältigend. Warum nur? Sie war doch bloß wieder eine Therapeutin, die kam und wieder gehen würde wie all die anderen. Alle stellten dieselben Fragen und versprachen Hilfe, doch wenn sich unsere Wege trennten, fühlte ich mich genauso wie vorher – zerbrochen.
»Sie weint.« Ashley durchschnitt mit ihrer piepsigen Stimme die Stille, als ob sie süffisanten Klatsch zum Besten gäbe. »Die ganze Zeit. Sie vermisst ihren Bruder wirklich.«
Sowohl mein Vater als auch ich sahen sie entgeistert an. Ich feuerte das blonde Doofchen im Geiste an, weiterzureden, während mein Vater garantiert genau das Gegenteil tat. Ausnahmsweise war der liebe Gott einmal auf meiner Seite. Ashley fuhr fort: »Wir vermissen ihn alle sehr. Es ist so schade, dass das Baby ihn nie kennenlernen wird.«
Herzlich willkommen in der Ashley-Show, mit freundlicher finanzieller Unterstützung meines Vaters! Mrs Collins kritzelte rasch etwas in meine Akte, während mein Vater stöhnte.
»Echo, möchtest du heute über Aires sprechen?«, fragte Mrs Collins.
»Nein.« Das war vermutlich die ehrlichste Antwort, die ich ihr bis jetzt gegeben hatte.
»In Ordnung«, sagte sie. »Dann heben wir uns das für ein andermal auf. Was ist mit deiner Mutter? Hattest du Kontakt zu ihr?«
Ashley und mein Vater riefen gleichzeitig »Nein«, während ich herausplatzte: »Ja.«
Ich kam mir vor wie der mittlere Teil eines Sandwichs, so wie mir die beiden von rechts und links auf die Pelle rückten. Keine Ahnung, was mich eben dazu getrieben hatte, die Wahrheit zu sagen. »Ich habe versucht, sie in den Ferien anzurufen.« Da sie nicht ranging, hatte ich tagelang neben dem Telefon gesessen und gehofft und gebetet, sie würde sich wenigstens ein Mal melden, wo doch vor zwei Jahren ihr Sohn, mein Bruder, gestorben war.
Mein Vater fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Du weißt, dass du keinen Kontakt zu deiner Mutter haben darfst.« Seine Stimme bebte vor mühsam unterdrücktem Zorn. Er konnte nicht fassen, dass ich der Therapeutin dieses heikle Detail erzählt hatte. Vermutlich geisterten ihm bereits allerlei beunruhigende Bilder von Beamten des Jugendamts durch den Kopf. »Es gibt ein amtliches Kontaktverbot, das weißt du. Hast du sie von deinem Handy aus angerufen oder von zu Hause aus?«
»Von zu Hause«, brachte ich mühsam heraus. »Aber ich habe sie gar nicht erreicht, ehrlich.«
Er fuhr mit dem Finger über seinen Blackberry, und die Telefonnummer seines Anwalts erschien. Ich fasste nach Aires’ Erkennungsmarke, spürte seinen Namen und seine Dienstnummer in meiner Handfläche. »Bitte, tu das nicht, Daddy«, flüsterte ich.
Er zögerte, und ich hatte das Gefühl, mir würde gleich das Herz zerspringen. Gott sei Dank ließ er das Telefon in seinen Schoß sinken. »Wir werden unsere Festnetznummer ändern müssen.«
Ich nickte. Es stank zwar zum Himmel, dass meine eigene Mutter nie wieder bei mir zu Hause würde anrufen können, aber das würde ich einstecken … ihr zuliebe. Eine Haftstrafe war garantiert das Letzte, was sie gebrauchen konnte.
»Hattest du seither noch einmal Kontakt mit deiner Mutter?« Von Mrs Collins’ überfreundlichem Ton war nicht mehr viel übrig.
»Nein.« Ich schloss die Augen und holte tief Luft. Alles in meinem Inneren tat weh. Lange würde ich die »Alles bestens«-Fassade nicht mehr durchhalten können. Diese Fragerei riss all die ansatzweise verheilten Wunden in meiner Seele wieder auf.
»Nur um sicherzustellen, dass es da keine Missverständnisse gibt: Dir ist klar, dass jeglicher Kontakt zwischen dir und deiner Mutter, auch wenn er von ihr ausgeht, untersagt ist?«
»Ja.« Ich rang mühsam nach Atem. Der Kloß in meinem Hals schnürte mir die Luft ab. Mir fehlte Aires und, Gott, ja, meine Mutter, und Ashley bekam ein Baby, und mein Vater saß mir die ganze Zeit im Genick und … ich brauchte irgendetwas, woran ich mich festhalten konnte.
»Ich will Aires’ Auto wieder zum Fahren bringen.«
»Oh, nicht das schon wieder«, stöhnte mein Vater.
»Moment bitte. Nicht was schon wieder? Echo, wovon sprichst du?«, fragte Mrs Collins.
Ich starrte auf meine behandschuhten Hände hinunter. »Aires hat auf einem Schrottplatz eine Corvette Baujahr 1965 gefunden. Er hat in seiner Freizeit pausenlos daran herumgebastelt und hatte sie fast so weit, dass sie wieder fuhr, als er nach Afghanistan musste. Ich will das fertig machen. Für Aires.« Für mich. Dieses Auto war alles, was ich noch von ihm hatte.
»Mr Emerson, lassen Sie Echo das Auto reparieren.« Mrs Collins schaute ihn mit großen Hundeaugen an – ein Trick, den ich leider noch nicht beherrschte.
Mein Vater scrollte auf seinem Blackberry herum, körperlich anwesend, aber im Geiste längst bei der Arbeit. »Es kostet Geld, und ich sehe nicht ein, wofür sie ein kaputtes Auto aufmöbeln will, wenn sie eines hat, das fährt.«
»Dann lass mich einen Job annehmen«, sagte ich wie aus der Pistole geschossen. »Und wir können mein Auto verkaufen, wenn das von Aires fährt.«
Alle Augen waren auf ihn gerichtet und seine auf mich. Ohne es zu wollen, hatte ich ihn in die Enge getrieben. Er wollte Nein sagen, aber damit würde er sich den Zorn der neuen Therapeutin zuziehen. Schließlich sollten wir doch in der Therapie eine perfekte Familie abgeben. Nur ja nicht irgendwelche Probleme durchkauen, auch wenn es eigentlich genau dafür gedacht war.
»Na gut, aber sie muss die Kosten für das Auto selbst tragen, und, Echo, du kennst meine Regeln, was Jobs angeht. Es muss ein flexibler Job sein, der deine Schularbeiten, die Freizeit-Klubs, auf die wir uns geeinigt haben, und deine Noten nicht beeinträchtigt. Also, sind wir jetzt fertig hier?«
Mrs Collins warf einen Blick auf ihre Uhr. »Noch nicht ganz. Echo, dass das Jugendamt deine Therapie bis zu deinem Schulabschluss verlängert hat, liegt an den Beurteilungen deiner Lehrer. Jeder einzelne hat darauf hingewiesen, dass du dich von sozialen Aktivitäten innerhalb der Schule zurückziehst.« Ihre liebenswürdigen Augen fixierten mich. »Alle wollen glücklich sein, Echo, und ich hoffe, dass du mir eine Chance gibst, dir dabei zu helfen.«
Ich zog eine Augenbraue hoch. Als ob ich eine Wahl hätte, was die Therapie anging. Und was mein Glücklichsein betraf – na, buchstäblich viel Glück damit! »Sicher.«
Ashleys forsch-fröhliche Stimme ließ mich zusammenzucken. »Sie hat schon eine Verabredung für den Valentinstag.«
Diesmal riefen mein Vater und ich unisono: »Was?«
Ashleys Blick wanderte nervös zwischen meinem Vater und mir hin und her. »Ja, weißt du nicht mehr, Echo? Gestern Abend haben wir doch über den Jungen gesprochen, in den du dich verliebt hast, und ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht deine ganzen Freundinnen vernachlässigen, nur weil du in einen Jungen verknallt bist.«
Ich wusste nicht, worüber ich mich mehr ärgern sollte: den erfundenen Jungen oder dass sie zu behaupten wagte, wir hätten ein richtiges Gespräch geführt. Während ich noch hin und her überlegte, stand mein Vater auf und schlüpfte in seinen Mantel. »Sehen Sie, Mrs Collins, Echo geht es prima. Sie hat nur ein wenig Liebeskummer. Und sosehr ich diese Sitzungen bei Ihnen genieße: Ich habe in zwanzig Minuten einen Geschäftstermin, und ich will nicht, dass Echo noch mehr Unterricht versäumt.«
»Echo, ist es dir wirklich ernst damit, Geld zu verdienen, um das Auto deines Bruders reparieren zu können?«, fragte Mrs Collins, während sie sich erhob, um meinen Vater und meine Stiefmutter hinauszubegleiten.
Ich zupfte an meinen Handschuhen. »Und wie.«
Sie lächelte mir zu, bevor sie zur Tür ging. »Dann habe ich einen Job für dich. Warte noch kurz, dann besprechen wir die Einzelheiten.«
Die drei blieben am Ausgang des Sekretariats stehen und unterhielten sich leise. Mein Vater legte den Arm um Ashleys Taille und zog sie an sich, während die beiden zu Mrs Collins gedämpften Worten nickten. Die altvertraute Mischung aus Wut und Eifersucht flammte in mir auf. Wie konnte er sie lieben, wo sie alles kaputt gemacht hatte?
Der Geruch von frischer Farbe und Gipswänden erinnerte mich an meinen Vater, nicht an die Schule. Doch genau dieser Geruch schlug mir entgegen, als ich das frisch renovierte Schulsekretariat betrat. Mit meinen Büchern unterm Arm schlenderte ich zum Empfang. »Hi, Mrs Marcos. Was geht?«
»Noah, warum kommst du schon wieder zu spät, muchacho?«, fragte sie, während sie Papier zusammenheftete.
Die Uhr sprang auf neun. »Hey, das ist total früh.«
Mrs Marcos kam um ihre neue kirschrote Empfangstheke herum, um mich zu begrüßen. Sie machte mir immer die Hölle heiß, wenn ich zu spät kam, aber ich mochte sie trotzdem. Mit ihren langen braunen Haaren erinnerte sie mich an meine Mutter, in einer Hispano-Version sozusagen.
»Du hast deinen Termin bei Mrs Collins heute Morgen verpasst. Nicht gerade ein gelungener Start ins zweite Halbjahr«, raunte sie mir zu, während sie mir eine Bescheinigung über mein Nichterscheinen ausschrieb. Sie deutete mit dem Kopf auf die drei Erwachsenen, die in einer Ecke des Zimmers beisammenstanden. Die blonde Frau mittleren Alters, die leise auf ein wohlhabendes Pärchen einsprach, musste wohl die neue Schulpsychologin sein.
Ich zuckte mit den Schultern und zog lässig einen Mundwinkel hoch. »Dumm gelaufen.«
Mrs Marcos schob mir den Zettel zu und bedachte mich mit ihrem patentierten strengen Blick. Sie war die einzige Person an der ganzen Schule, die mich noch nicht gänzlich abgeschrieben hatte.
Die Blondine mittleren Alters rief: »Mr Hutchins, wie schön, dass Sie an unseren Gesprächstermin gedacht haben, wenn auch mit zwei Stunden Verspätung. Bestimmt macht es dir nichts aus, kurz Platz zu nehmen, bis ich hier fertig bin.« Sie lächelte mich an, als wären wir alte Freunde, und redete in so liebenswürdigem Ton, dass ich beinahe zurückgelächelt hätte. Aber ich konnte mich beherrschen, nickte nur und setzte mich auf einen der Stühle an der Wand.
Mrs Marcos lachte.
»Was?«
»Die zeigt dir, wo’s langgeht. Am Ende bringt sie dich noch dazu, die Schule ernst zu nehmen.«
Ich lehnte den Kopf an die Ziegelwand und schloss die Augen. Mir fehlten ein paar Stunden Schlaf. Im Restaurant hatten sie mich erst nach Mitternacht gehen lassen, weil niemand da war, der die Nachtschicht übernahm, und danach hatten mich Beth und Isaiah noch wach gehalten.
»Mrs Marcos?«, fragte eine engelsgleiche Stimme. »Könnten Sie mir bitte die nächsten Termine für den ACT- und SAT-Test sagen?«
Das Telefon klingelte, und Mrs Marcos ging ran. Einer der Stühle an der Wand, ein Stück weg von mir, quietschte auf dem Boden, und mir stieg plötzlich der Duft von warmen Zimtschnecken in die Nase. Ich machte die Augen ein paar Millimeter auf und sah rote, seidige Locken. Echo Emerson. Ich kannte sie.
Von Zimtschnecken weit und breit keine Spur, aber ich schwöre, dass sie genauso roch. Wir hatten letztes Halbjahr mehrere Hauptfächer und eine Freistunde zusammen gehabt. Ich wusste nicht viel über sie, außer dass sie ziemlich für sich blieb, intelligent war, rote Locken und geile Titten hatte. Sie trug ständig übergroße langärmlige T-Shirts, die ihr von der Schulter rutschten, und darunter Tanktops, die gerade so viel von ihrem Ausschnitt sehen ließen, dass es die Phantasie anregte.
Wie immer starrte sie stur vor sich hin und ignorierte mich einfach. Wobei, wahrscheinlich existierte ich tatsächlich nicht für sie. Leute wie Echo Emerson machten mich stinkwütend.
»Wie kommt man zu so einem beknackten Namen?«, murmelte ich. Keine Ahnung, wieso ich sie unbedingt ärgern wollte.
»Solltest du nicht gerade auf dem Klo sein und dir irgendwas reinziehen?«
Dann kannte sie mich also. »Da haben sie Überwachungskameras installiert. Wir machen’s jetzt auf dem Parkplatz.«
»Ups, mein Fehler. Wie konnte ich nur.« Sie wippte unkontrolliert mit dem Fuß.
Bingo, die perfekte Fassade zeigte Risse. »Echo … Echo … Echo …«
Ihr Fuß hörte auf zu wippen, und ihre roten Locken flogen, als sie wütend den Kopf zu mir drehte. »Wie originell. Den hab ich ja noch nie gehört.« Sie hob ihren Rucksack auf und marschierte davon. Ihr knackiger Hintern wackelte hin und her, als sie den Gang runterrauschte.
Komisch war nur, dass das nicht annähernd so viel Spaß gemacht hatte, wie ich erwartet hätte. Ehrlich gesagt, ich kam mir vor wie ein blöder Arsch.
»Noah!« Mrs Collins rief mich in ihr Büro.
Mein letzter Vertrauenslehrer hatte unter zwanghaftem Ordnungswahn gelitten. Alles in seinem Büro war fein säuberlich aufgeräumt und genau ausgerichtet. Um ihn zu ärgern, verschob ich immer die Bilderrahmen an der Wand. Mit Mrs Collins hätte ich da keine Chance. Ihr Schreibtisch war ein einziges Chaos. Hier drin könnte man eine Leiche verstecken, ohne dass sie je gefunden würde.
Ich setzte mich ihr gegenüber auf den Stuhl und wartete darauf, meinen Anschiss zu kassieren.
»Wie waren die Weihnachtsferien, Noah?« Sie hatte wieder diesen oberfreundlichen Hundeblick drauf.
»Prima.« Das heißt, sofern man es als ein prima Weihnachten bezeichnen kann, wenn deine Pflegeeltern sich anbrüllen und ihre Weihnachtsgeschenke im Kamin verbrennen. Und es war schon immer mein Traum, Weihnachten in einem Kellerloch zu verbringen und dabei zuzusehen, wie meine zwei besten Freunde sich zukiffen.
»Wunderbar. Dann klappt es also mit deinen neuen Pflegeeltern.«
»Ja.« Gemessen an den letzten drei Familien, bei denen ich war, waren sie sozusagen Familie Sonnenschein. Diesmal hatte mich das Jugendamt mit noch einem Pflegekind zusammen untergebracht. Entweder gingen denen die Pflegefamilien aus, oder sie fingen allmählich selbst an zu glauben, dass ich nicht der gemeingefährliche Typ war, als den sie mich abgestempelt hatten. Leute wie ich durften normalerweise nicht mit anderen Minderjährigen zusammen untergebracht werden. »Hören Sie, ich habe schon eine Sozialarbeiterin vom Jugendamt auf der Pelle. Sagen Sie Ihrem Boss, dass Sie Ihre kostbare Zeit nicht mit mir zu verschwenden brauchen.«
»Ich bin keine Sozialarbeiterin, ich bin Therapeutin.«
»Ist doch dasselbe.«
»Ist es nicht. Ich war viel länger auf der Uni.«
»Wie schön für Sie.«
»Und ich kann dir auf einer anderen Ebene helfen.«
»Sind Sie beim Staat angestellt?«
»Ja.«
»Dann will ich Ihre Hilfe nicht.«
Sie verzog die Lippen zur Andeutung eines Lächelns, wofür ich ihr fast Respekt zollte. »Wie wär’s, wenn wir mal Klartext reden.«, sagte sie. »In deiner Akte steht, dass du zu Gewalttätigkeit neigst.«
Ich schaute sie an, ohne irgendeine Regung zu zeigen. Sie schaute genauso cool zurück. In dieser Akte stand haufenweise Mist, aber ich hatte schon vor Jahren kapiert, dass das Wort eines Teenagers nichts gegen das eines Erwachsenen galt.
»Diese Akte hier, Noah …«, fuhr sie fort und tippte dreimal mit dem Finger darauf. »Ich glaube, die erzählt nur die halbe Wahrheit. Ich habe mit deinen Lehrern von der Highland High gesprochen. Das Bild, das sie zeichnen, entspricht nicht dem jungen Mann, den ich vor mir sehe.«
Ich hielt meinen Spiralblock so fest, dass sich das Metall in meine Handfläche drückte. Für wen zum Teufel hielt sich diese Tussi, dass sie es wagte, in meiner Vergangenheit herumzustochern?
Sie blätterte in meiner Akte. »Du bist in den vergangenen zweieinhalb Jahren von einer Pflegefamilie zur nächsten geschickt worden. Das hier ist deine vierte Highschool seit dem Tod deiner Eltern. Interessant finde ich allerdings, dass du bis vor eineinhalb Jahren immer unter den besten Schülern warst und viel Sport getrieben hast. Das passt eigentlich nicht zu einem schwer erziehbaren Jugendlichen.«
»Vielleicht müssen Sie ja ein wenig tiefer graben.« Ich wollte diese Frau loswerden, und das beste Mittel war, ihr Angst zu machen. »Dann würden Sie herausfinden, dass ich meinen ersten Pflegevater vermöbelt habe.« Genau genommen hatte ich ihm einen Kinnhaken verpasst, als ich ihn dabei erwischte, wie er seinen eigenen Sohn schlug. Schon komisch, dass keiner aus der Familie für mich Partei ergriffen hatte, als die Bullen kamen. Nicht mal der Sohn.
Mrs Collins schwieg. Falls sie darauf wartete, nun meine Version der Geschichte zu hören, war sie auf dem Holzweg. Seit dem Tod meiner Eltern hatte ich gelernt, dass der Staat sich einen Dreck darum scherte, wie es dir ging. Sobald man da reinrutschte, war man verdammt.
»Ich habe mit deiner Vertrauenslehrerin von der Highland High gesprochen, und sie hat dich in den höchsten Tönen gelobt. Basketball-Schulmannschaft, immer unter den besten Schülern des Jahrgangs, engagiert in allerlei Schülerclubs, ein beliebter Mitschüler.« Sie musterte mich. »Ich glaube, der Junge hätte mir gefallen.«
Mir auch – aber das Leben ist eben kein Kindergeburtstag. »Dürfte jetzt wohl ein bisschen spät sein fürs Basketballteam – wo die Saison schon halb vorbei ist. Meinen Sie, der Coach hätte ein Problem mit meinen Tattoos?«
»Ich habe kein Interesse daran, dein altes Leben wiederherzustellen. Aber ich denke, gemeinsam können wir für dich eine Basis für eine neue Zukunft schaffen. Jedenfalls eine bessere, als wenn du auf dem Weg weitermachst, den du eingeschlagen hast.«
Sie klang so verdammt ehrlich, dass ich ihr am liebsten geglaubt hätte, aber ich hatte auf die harte Tour gelernt, dass man besser niemandem vertraute. Ich blickte sie ungerührt an und ließ die Stille zwischen uns wachsen.
Sie brach den Blickkontakt zuerst ab und schüttelte den Kopf. »Du hast einiges einstecken müssen, aber du besitzt ein enormes Potenzial. Das sagen auch deine Lehrer, und die Noten in deinen Eignungstests sind phänomenal. Dein Notendurchschnitt könnte allerdings besser sein, ebenso wie deine Anwesenheit im Unterricht. Da dürfte es wohl einen Zusammenhang geben. Also, ich habe einen Vorschlag. Neben der wöchentlichen Sitzung bei mir nimmst du zusätzlich Nachhilfestunden, so lange, bis dein Notendurchschnitt den Testergebnissen entspricht.«
Ich stand auf. Inzwischen hatte ich meine erste Unterrichtsstunde verpasst. Dieses nette kleine Gespräch hatte mich aus dem Tritt gebracht. Nachdem ich mich schon mal aus dem Bett gequält hatte, wollte ich wenigstens irgendwann im Lauf des Tages im Unterricht erscheinen. »Ich habe keine Zeit für diesen Mist.«
Ein Hauch von Schärfe schwang plötzlich in ihrer Stimme mit, so subtil, dass es mir fast entgangen wäre. »Muss ich deine Betreuerin vom Jugendamt anrufen?«
Ich war schon auf dem Weg zur Tür. »Nur zu. Was kann die schon machen? Meine Familie auseinanderreißen? Mich in ihr staatliches Jugendfürsorgeprogramm stecken und von einer Pflegefamilie zur nächsten schicken? Graben Sie noch ein bisschen, dann werden Sie rausfinden, dass Sie dafür zu spät kommen.«
»Wann hast du deine Brüder zum letzten Mal gesehen, Noah?«
Ich blieb wie angewurzelt stehen, die Hand schon auf der Türklinke.
»Und wenn ich dir nun ein erweitertes Besuchsrecht anbieten könnte? Unter Aufsicht natürlich.«
Ich ließ die Klinke los und setzte mich wieder.
Wenn ich doch bloß jede Sekunde des Tages Handschuhe tragen könnte, dann würde ich mich sicherer fühlen, aber die verdammte Kleiderordnung ließ das ja nicht zu. Deshalb befanden sich in meinem Kleiderschrank praktisch nur langärmlige Sachen – je länger, desto lieber.
Ich zog mir den Ärmelsaum bis zu den Fingern herunter, wodurch mir das blaue T-Shirt über die Schulter rutschte. In meinem ersten Jahr an der Highschool wäre ich noch ausgeflippt, wenn die anderen meine weiße Haut mit den paar ockerfarbenen Sommersprossen angestarrt hätten. Inzwischen war es mir lieber, sie starrten meine nackten Schultern an, als dass sie die Narben auf meinen Armen zu Gesicht bekamen.
»Hat sie nicht gesagt, wer es ist? Wetten, es ist Jackson Coleman. Ich hab gehört, dass er in Mathe durchfällt, und wenn er seinen Notendurchschnitt nicht verbessert, verliert er sein Stipendium fürs College. Oh Gott, hoffentlich ist er es. Der ist so heiß!« Meine beste Freundin, Lila McCormick, holte zum ersten Mal Luft, seit ich ihr die Kurzversion meiner Therapiestunde und die Neuigkeiten mit dem Nachhilfejob erzählt hatte. Lila, ausgestattet mit einem ziemlich losen Mundwerk und stets in hautengen Klamotten unterwegs, war so was wie die gute Fee der Eastwick High. Sie schwebte in einer schillernden Blase durch die Gegend und verbreitete Fröhlichkeit und gute Laune um sich.
Lila schob ihr Tablett an der Essensausgabe entlang, und mir lief vom Duft der Pommes und Pizza das Wasser im Mund zusammen. Aber weil mir übel war, kaufte ich lieber nichts. Mein Herz klopfte wie wild, und ich drückte meinen Skizzenblock an mich. Ich konnte kaum fassen, dass ich in die Cafeteria mitgekommen war. Lila und ich waren seit dem Kindergarten beste Freundinnen, und zu Weihnachten hatte sie sich von mir gewünscht, dass ich endlich die Bibliothek links liegen ließ und wieder mit in die Cafeteria kam.
Das klang so einfach, war es aber nicht. Das letzte Mal, als ich hier zu Mittag gegessen hatte, war Anfang Mai in der Zehnten gewesen: am Tag, bevor mein Leben in Scherben zerbrach. Damals hatte mich niemand angestarrt oder hinter meinem Rücken getuschelt.
»Wer ist heiß?«, fragte Natalie und drängelte sich mit ihrem Tablett zwischen Lila und mich in die Schlange. Ein paar Jungs hinter uns motzten über ihre Dreistigkeit, doch sie ignorierte es wie üblich. Natalie war der zweite von insgesamt zwei Menschen, die mich nicht wie eine Aussätzige behandelten, nur weil ein Haufen Gerüchte über mich an der Schule kursierten.
Lila strich ihre glatten goldblonden Haare nach hinten und bezahlte an der Kasse. »Jackson Coleman. Echo soll irgendeinem Jungen Nachhilfe geben, und wir raten, wer wohl der Glückliche ist. Wer ist dein Kandidat für unsere Liste heißer, aber geistig minderbemittelter Kerle?«
Ich folgte den beiden an ihren – und früher auch mal meinen – üblichen Tisch, während Natalie den Blick durch die Cafeteria schweifen ließ. »Nicholas Green. Der ist zwar dümmer, als die Polizei erlaubt, aber den hätte ich zu gern zum Dessert. Wenn er es ist, Echo, könntest du uns bekannt machen?«
»Wen mit wem bekannt machen?«, fragte Grace. Natalie und Lila setzten sich, während ich noch zögerte.
Graces Lächeln erstarb, als sie mich sah. Sie war der eigentliche Grund, warum ich zum Mittagessen nicht mehr in die Cafeteria mitkam. Vor dem Vorfall waren wir beste Freundinnen gewesen, und ich schätze, danach auch noch. Sie besuchte mich jeden Tag im Krankenhaus und während der Sommerferien zu Hause, doch als das neue Schuljahr anfing und wir in die Elfte kamen und mein sozialer Status den Bach hinunterging, tat das auch unsere Freundschaft. Jedenfalls öffentlich. Unter vier Augen versicherte sie mir, mich nach wie vor wie eine Schwester zu lieben. Alle anderen an der Schule behandelten mich wie Luft.
»Natalie mit Nicholas Green.« Lila klopfte auf den Stuhl zwischen ihr und Natalie. Ich setzte mich, machte mich so klein wie möglich und presste meinen Block gegen die Tischkante.
Die anderen Mädchen tuschelten, als sie mich sahen. Eine kicherte. Seit ich in die Schule zurückgekehrt war, war ich zur Außenseiterin mutiert. Die Gerüchte, warum ich am Ende der Zehnten einen ganzen Monat gefehlt hatte, rangierten von Schwangerschaft über Entzug bis zu Selbstmordversuch. Meine Handschuhe lieferten den Brennstoff, mein Gedächtnisverlust war das Streichholz dazu. Als ich im Herbst wieder da war, brannte die Gerüchteküche lichterloh.
Lila fuhr mit ihrer Erklärung fort. »Echo soll irgendeinem Armleuchter Nachhilfe geben, und wir raten herum, wer es sein könnte.«
»Jetzt spann uns nicht auf die Folter, Lila. Wer ist Echos Nachhilfeschüler?« Grace zwinkerte erst Lila und dann ihrer Freundinnenclique am Tisch zu. Zu Beginn der Elften hatte Grace ihre Chance gewittert, sich zur Ober-Cheerleaderin wählen zu lassen. Ich hatte gehofft, dass zwischen uns alles wieder normal würde, sobald sie es geschafft hatte. Leider war dem aber nicht so.
»Frag sie doch selbst.« Lila biss genüsslich in ihren Apfel, während sie Grace herausfordernd in die Augen blickte. Plötzlich war es totenstill am Tisch: Das hübscheste und das beliebteste Mädchen der Schule forderten einander offen heraus. Die ganze Cafeteria schien auf einmal den Atem anzuhalten, und alle lauerten darauf, wie der Showdown ausgehen würde. Ich hätte schwören können, dass so ein losgerissener Steppenstrauch an unserem Tisch vorbeiwirbelte und die Mundharmonika aus Spiel mir das Lied vom Tod aus dem Lautsprecher klang.
Ich stupste Lila mit dem Fuß an und flehte sie im Geiste an, die Frage selbst zu beantworten, damit Grace nicht vor aller Augen Notiz von mir nehmen musste. Sekunden verstrichen, ohne dass eine von den beiden den Blick senkte.
Ich hielt es nicht aus. »Ich weiß es ja selbst noch gar nicht. Ich treffe ihn erst heute Nachmittag. Mrs Collins wollte es mir noch nicht sagen, sondern zuerst mit ihm darüber sprechen.«
Die üblichen Cafeteria-Geräusche setzten wieder ein, und Graces Gesichtszüge entspannten sich. Sie holte erleichtert Luft und spähte zu ihrem Anhang von Freundinnen, um sich zu vergewissern, wie die reagierten. »Da rate ich mit«, sagte sie und zwinkerte mir heimlich zu. Zum billionsten Mal wünschte ich mir, mein Leben könnte einfach wieder normal sein.
Als Grace einen Namen ins Rennen warf, fingen die anderen auch an. Ich zeichnete Grace, während alle redeten. Sie hatte sich ihre blonden Haare kurz schneiden lassen, und es stand ihr prima. Ich lauschte dem Namenskarussell und dann dem neuesten Schulklatsch.
»Vielleicht ist es ja Luke Manning«, sagte Lila und rempelte mich demonstrativ mit dem Ellbogen an. »Die Definition ›heißer Typ und nicht der Hellste‹ passt jedenfalls auf ihn.«
Ich rollte mit den Augen und starrte dann stur auf den schwarzen Strich, den Lilas Stoß auf meiner Zeichnung verursacht hatte. Lila klammerte sich nach wie vor an die Hoffnung, dass Luke, mit dem ich in meinem früheren Leben zusammen gewesen war, mich immer noch mochte. Ihr »Beweis« dafür war, dass er mich angeblich auf so eine bestimmte Weise ansah, wenn ich es nicht bemerkte.
»Luke und Deanna haben in den Weihnachtsferien Schluss gemacht. Deanna sagt, sie hat mit ihm Schluss gemacht. Luke sagt, er hat mit ihr Schluss gemacht. Wahrscheinlich bekommen wir die Wahrheit nie heraus«, sagte Grace.
»Wem würdest du glauben, Echo?«, fragte Natalie. Das musste man Natalie lassen: Sie versuchte ständig, mich in die Unterhaltungen einzubinden, egal ob ich wollte oder nicht.
Ich konzentrierte mich darauf, den Schatten, den Graces Haare auf ihr Ohr warfen, zu schraffieren. Ich hatte Luke in der Neunten in Englisch kennengelernt und war eineinhalb Jahre mit ihm gegangen. Das machte mich zur Luke-Expertin in dieser Runde. Inzwischen – das heißt, seit wir Schluss gemacht hatten – gab es praktisch an jedem Mädchentisch eine Luke-Expertin. »Ich habe mit ihm Schluss gemacht, und er hat auch nie was anderes behauptet. Aber er hat sich seitdem ziemlich verändert.«
»Noah Hutchins«, sagte Natalie.
Ich hörte auf zu zeichnen und fragte mich verwirrt, was jetzt Noah mit Luke zu tun hatte. »Was?«
»Noah Hutchins ist definitiv scharf. Dem würde ich jederzeit Nachhilfe geben.« Lila starrte zum Kiffer-Tisch rüber, und es fehlte nur noch, dass ihr dabei der Sabber aus dem Mund lief. Wie konnte sie bloß für den Typen schwärmen, der sich über mich lustig gemacht hatte?
Grace fiel die Kinnlade herunter. »Und dir dafür deinen Ruf bis in alle Ewigkeit versauen? Du spinnst.«
»Ich habe gesagt, dass ich ihm Nachhilfe geben würde, nicht, dass ich mit ihm zum Abschlussball gehen will. Und was man so hört, haben ja schon einige Mädchen eine Nummer mit dem geschoben und offenbar jede Sekunde davon genossen.«
Grace spähte zu Noah hinüber und begutachtete ihn von oben bis unten. »Recht hast du ja. Der ist total scharf, aber offenbar bloß für One-Night-Stands zu haben. Bella Monahan hat versucht, ihn zu einer Beziehung rumzukriegen. Ist ihm auf Schritt und Tritt nachgelaufen wie ein Hündchen. Richtig peinlich. Aber er wollte nichts von ihr, was man nicht auf dem Rücksitz seines Autos erledigen konnte.«
Lila liebte Schmutz. »Sie hat in nicht mal einem Monat ihren Freund, ihre Jungfräulichkeit, ihren guten Ruf und ihre Selbstachtung verloren. Deshalb hat sie auch die Schule gewechselt.«
Jungs wie Noah Hutchins nervten mich. Er konsumierte Mädchen und Drogen und hatte mich heute Morgen wie den letzten Dreck behandelt. Nicht, dass mich das überraschte. Er stolzierte durch die Gegend, als ob ihm die Welt gehörte, und grinste selbstgefällig, wenn die Mädchen ihn anhimmelten. »So ein Blödmann«, sagte ich verächtlich. Als ob er mich quer durch den Saal gehört hätte, guckte er mich plötzlich an, und unsere Blicke trafen sich. Sein zerzaustes braunes Haar hing ihm über die Augen, aber ich spürte, dass er mich ansah. Die Stoppeln in seinem Gesicht bewegten sich, als er das Gesicht zu einem Grinsen verzog. Noah war durchtrainiert, sah gut aus und verhieß nichts als Ärger. An ihm wirkten schon eine Jeans und ein T-Shirt gefährlich. Nicht dass ich auf so was stand. Ich wollte nur Normalität, einen netten Freund, nicht irgendeinen kiffenden Macho. Trotzdem riskierte ich noch einen Blick, während ich an meiner Cola nippte.
»Harte Worte, Echo. Du sprichst doch hoffentlich nicht von mir, oder?« Stuhlbeine kratzten über den Boden. Luke drehte den Stuhl zwischen Natalie und Grace herum und setzte sich rittlings darauf. Oh nein! Luke und ich hatten seit der Zehnten kaum mehr ein Wort miteinander gesprochen. Warum wollten heute auf einmal alle etwas von mir?
»Nein«, sagte Lila. »Dich haben wir schon durch. Echo nannte Noah Hutchins einen Blödmann«, setzte Lila ihn ins Bild. Ich trat ihr unterm Tisch gegen das Schienbein. Sie erwiderte es mit einem bohrenden Blick.
»Hutchins?« Luke Manning: eins neunzig, gebaut wie ein Schrank, schwarze Haare, blaue Augen, Kapitän der Basketballmannschaft, total heiß und sich dessen vollkommen bewusst. Der dritte von insgesamt drei Menschen, die mich trotz der ganzen Gerüchte, die über mich an der Schule kursierten, nicht wie eine Aussätzige behandelten. Zu meinem Entsetzen musterte nun auch er Noah. »Warum bist du sauer auf den Kiffer?«
»Egal.« Ich vertiefte mich wieder in meinen Skizzenblock. Meine Wangen brannten, und eine von Graces Freundinnen murmelte irgendwas davon, wie komisch ich doch sei. Warum konnten Lila, Natalie und Luke mich nicht einfach in Ruhe lassen? Der Klatsch wurde nur noch schlimmer, wenn ich aus meinem Schneckenhaus kroch.
Dummerweise hatte Lila nicht vor, sich von meinem Schienbeintritt bremsen zu lassen. »Er hat sich heute Morgen über Echo lustig gemacht, aber keine Sorge, sie hat’s ihm schon gegeben.«
Beinahe wäre die Spitze meines Bleistifts abgebrochen, so fest drückte ich auf, um nicht stattdessen Lila ihr herrliches Engelshaar auszureißen. Meine Lehrer und Mrs Collins lagen völlig daneben. Soziale Interaktion mit meinen Mitschülern war einfach ätzend.
Luke kniff die Augen zusammen. »Was hat er zu dir gesagt?«
Ich trat Lila auf die Zehen und schaute sie drohend an. »Nichts.«
»Er hat gesagt, sie hätte einen beknackten Namen und diese kindische Echo-Nummer gemacht«, plapperte Lila munter drauflos. Oh Gott, ich hatte große Lust, meine beste Freundin umzubringen.
»Willst du, dass ich ihn mir vornehme?« Luke schaute mich mit diesem mir allzu bekannten unterschwelligen Besitzanspruch an. Grace und Natalie grinsten wie Honigkuchenpferde. Lila hüpfte fast auf ihrem Stuhl, doch ich weigerte mich stur, sie anzusehen. Sie war ja der Ansicht, dass Luke immer noch auf mich stand.
»Nein. Er ist ein Blödmann, der was Blödes gesagt hat. Wahrscheinlich erinnert er sich nicht mal mehr daran.«
Luke kicherte. »Stimmt. Der ganze Tisch da drüben hat einen Riss in der Birne. Wusstet ihr, dass Noah bei Pflegeeltern lebt?«
Die Mädchen am Tisch schnappten aufgeregt nach Luft. Ich spähte noch einmal zu Noah hinüber. Er war in ein Gespräch mit einem Mädchen mit langen schwarzen Haaren vertieft.
»Ja«, fuhr Luke fort. »Ich habe gehört, wie Mrs Rogers und Mr Norris auf dem Gang darüber sprachen.« Die Klingel ertönte und setzte Lukes Mitteilungsbedürfnis ein Ende.
Während wir aufbrachen, streifte mich Grace unauffällig im Vorbeigehen und raunte mir ins Ohr: »Das war super, Echo. Wenn Luke wieder auf dich steht, dann bist du wieder gesellschaftsfähig. Seine Meinung zählt bei den anderen. Vielleicht wird dann alles wieder ganz normal.«
Eine von Graces »offiziellen« Freundinnen rief nach ihr, sie eilte davon, ohne mich eines weiteren Blicks zu würdigen. Gott – was gäbe ich nicht darum, dass alles wieder normal würde!
Ich hatte Mrs Collins ganz einfach die Wahrheit gesagt. Dass ich keine Zeit für Nachhilfe- und Therapiestunden hatte. Im Juni würde ich achtzehn werden und aus der staatlichen Fürsorge entlassen. Dann brauchte ich eine eigene Wohnung, und um die Miete bezahlen zu können, brauchte ich einen Job. Aber Mrs Collins hatte mich ausgetrickst wie ein gewiefter Taschenspieler. Einmal im Monat unter Aufsicht meine Brüder für zwei Stunden zu sehen war nicht annähernd genug. Sie hielt sie mir vor die Nase wie einem Heroinsüchtigen die Nadel.
Meine Schicht im Malt & Burger begann um fünf. Ich warf einen Blick auf die Uhr über der Infotheke der Bibliothek. Welchen Teil von »Du triffst dich mit dem Jungen, dem du Nachhilfe geben sollst, direkt nach der Schule in der Bibliothek« hatte die Klugscheißerin denn nicht kapiert? Womöglich hatte Mrs Collins ja gesagt, wen sie als Nachhilfelehrerin für mich vorgesehen hatte, aber da hatte ich schon längst nicht mehr zugehört. Die Frau redete einfach zu viel.
Ich starrte auf die Schwingtüren. Noch fünf Minuten und ich konnte dieses Treffen fröhlich als geplatzt betrachten, eine Tatsache, die ich Mrs Collins nur zu gerne unter die Nase reiben würde.
Die Tür ging auf, und ein eisiger Luftzug bescherte mir eine Gänsehaut auf den Armen. Oh, Scheiße. Ich lehnte mich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Echo Emerson kam herein.
Ihr Blick schweifte durch den Raum, während sie sich mit den Fingern – wie immer in Handschuhen – die Oberarme rieb. Als ob die Kälte durch diese arschteure braune Lederjacke dringen könnte. Ein unverbindliches freundliches Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Offenbar hatte uns Mrs Collins beide im Dunkeln gelassen. Als sie mich sah, verschwand das Lächeln schlagartig, und ihre grünen Augen blitzten vor Wut. Ha, willkommen im Club!
Ich schob mit einem Fuß den Stuhl mir gegenüber nach hinten. »Du kommst zu spät.«
Sie setzte die Tasche mit ihren Büchern auf dem Tisch ab und zog den Stuhl heran, um sich zu setzen. »Ich musste noch ins Büro und die Testdaten erfragen. Hätte ich heute Morgen schon machen können, aber da war mir so ein Arsch dazwischengekommen.«
Vorteil Echo, aber ich lächelte sie unbeeindruckt an. »Du hättest ja nicht gleich abzuhauen brauchen.«
»Und mich noch länger von dir dumm anmachen lassen? Nein danke.« Sie ließ ihre Jacke von den Schultern gleiten, behielt jedoch die gestrickten Handschuhe an. Echo roch nach Kälte und Leder. Ihr blaues T-Shirt war verrutscht, sodass der Ausschnitt über ihrem beigefarbenen Top zu sehen war. Mädchen wie sie genossen solche aufreizenden Spielchen. Von mir aus, nur zu – ich hatte kein Problem damit, ihr in den Ausschnitt zu starren.
Als sie meinen Blick bemerkte, zog sie ihr T-Shirt zurecht, und ihr Ausschnitt verschwand unter dem Stoff. Also, das hat Spaß gemacht. Sie schaute mich vorwurfsvoll an, womöglich wartete sie auf eine Entschuldigung. Aber da konnte sie lange warten.
»In welchem Fach hast du Probleme? In allen?« Ihre grünen Augen funkelten. Anscheinend teilte Echo auch gern aus.
Zugegeben, ich hatte sie heute Morgen ohne Grund blöd angemacht. Also war es ihr zu gönnen, dass sie ein paar Treffer landete. »In keinem. Mrs Collins hat sich das ausgedacht.«
Echo machte ihren Rucksack auf und zog einen Block heraus. Ein Schatten huschte über ihr Gesicht, als sie sich die Handschuhe auszog und sofort ihre Ärmel über die Hände herunterzog. »Womit willst du anfangen? Wir haben Mathe und Physik zusammen, wie wär’s damit? Ich nehme nicht an, dass du in Informatik Hilfe brauchst, so doof kann ja niemand sein.« Sie überlegte einen Moment. »Hatten wir nicht im letzten Halbjahr Spanisch zusammen?«