Vgl. Der Judenstaat, von Theodor Herzl (1896): »Argentinien ist eines der natürlich reichsten Länder der Erde, von riesigem Flächeninhalt, mit schwacher Bevölkerung und gemäßigtem Klima. Die argentinische Republik hätte das größte Interesse daran, uns ein Stück Territorium abzutreten.«
Wortwörtlich aus der Zeitung zitiert.
Die Partie an Bord der Schachnovelle wiederholt die von Dr. Alexander Alexandrowitsch Aljechin gegen den Deutsch-Russen Efim Dimitriewitsch Bogoljubow auf dem Turnier von Bad Pistyan 1922. Der entscheidende Moment dieses denkwürdigen Spiels war, als die Schwarzen von Bogoljubow (im Roman der Ölmagnat McConnor) alles bereithatten, um einen Bauern zur Dame umzuwandeln, und auf Hinweis eines Dritten im letzten Moment davon absahen und so die von Aljechin (Czentovic) gestellte Falle vereitelten.
Eva Duarte, später Perón (Anmerkung der Übs. für die Figur im Roman).
Portugués – bedauerlicher Lunfardo-Ausdruck für Leute, die eine Aufführung besuchen, ohne den entsprechenden Eintritt zu zahlen.
Macedonio Fernández’ Einschätzung ist korrekt. Der Spieler am dritten Brett der holländischen Mannschaft, Adriaan De Groot, hatte die Überfahrt auf der Piriápolis zur Durchführung einiger der berühmten psychologischen Studien genutzt, die er nach dem Krieg in Thought and choice in chess (dt. Denken und Wahl im Schach) veröffentlichen würde. De Groot setzte sich mit Lodewijk Prins, dem vierten Spieler, ans Brett, und ließ diesen all seine Gedanken vor einem Zug laut erzählen – ganz wie ein Psychoanalytiker es mit den Träumen seiner Patienten macht. Im Protokoll eines der Experimente ist nachzulesen, dass Prins, nachdem er eine halbe Stunde lang alle Möglichkeiten überdacht hatte, vom zum Essen rufenden Glockenschlag zur Improvisation eines Spielzugs angeregt wurde, der ihm gerade erst eingefallen war.
La abuela, auf Deutsch veröffentlicht mit dem Titel Zwei lange Unterhosen der Marke Hering. (Genug der Werbung!)
Tja, sogar das stand wirklich in der argentinischen Presse.
Und nicht auf der Piriápolis, wie diejenigen behaupten, die besonders sensationslüstern nach historischer Übereinstimmung schielen.
Wir behalten uns einen Überraschungsgast vor.
So mysteriös es auch scheint – informiert Julio Cortázar in Reise um den Tag in achtzig Welten –, diese Reise musste der Gesetzgebung des Willkürlichen entsprechen, dessen Codes wir folgen, wenn wir einige Regelwidrigkeiten der Literatur untersuchen, ich jedenfalls bin sicher, dass ihre Zwangsläufigkeit durch die erste Seite der Impressions d’Afrique bewiesen wird: »Am 15. März 19.., in der Absicht, eine lange Reise durch die sehenswerten Gebiete Südamerikas zu unternehmen, ging ich in Marseille an Bord der Lyncée, eines schnellen Passagierschiffs von großer Tonnage, das die Linie Buenos Aires befährt.« Unter den Passagieren, die das unvergleichliche Buch von Raymond Roussel mit der Poesie des Außerordentlichen füllen sollten, konnte Duchamp nicht fehlen, der wohl inkognito reiste, da nie von ihm die Rede ist, doch der sicher mit Roussel Schach gespielt hat …
Córtazar fügt allerdings hinzu, es sei nur logisch, dass »die seriöse Kritik«, wie er das nennt, wisse, dass all das unmöglich sei (wie wir es auch von dem umgekehrten Zug wissen, Mirko Czentovic auf die »Argentina« zu setzen, nicht wahr?).
Doktor Carlos Querencio, vom Argentinischen Schachverband dazu auserkoren, eine Revanche zwischen Aljechin und Capablanca zu vereinbaren, erwirkte die bedingungslose Zustimmung des Kubaners, doch als er auf die unerschütterliche Unnachgiebigkeit des Franzosen stieß, veröffentlichte er in Noticias Gráficas einen offenen Brief an den amtierenden Meister, mit dem er ihn aufforderte, sich nicht länger vor seiner sportlichen Verantwortung zu drücken und seine Krone gegen einen Gegner der eigenen Gewichtsklasse zu verteidigen. Das gewaltige und sarkastische Stück Rhetorik, von Juan Sebastián Morgado in Los años locos del ajedrez argentino (Die verrückten Jahre des argentinischen Schachs) für die Ewigkeit bewahrt, liest sich so:
Seit rund einem Jahrzehnt will die Schachwelt sehnsüchtig wissen, wer der Weltmeister ist. Sie tragen Schuld daran, dieses Nichtwissen zu zementieren, durch Ihre häufigen Ausflüchte, wann immer Meister Capablanca sich am Spieltisch eingefunden hat. Ich gehe davon aus, dass Sie nicht vorhaben, uns glauben zu machen, die individuellen Begegnungen, die Sie in letzter Zeit ohne die autorisierte Intervention einer prestigereichen Einrichtung wie der FIDE mit nach eigenem Gusto ausgewählten Gegnern bestritten haben, haben die Schachwelt von ihrer Meisterschaft überzeugt. Nein, Meister Aljechin, Sie irren. Dem universellen Schachbewusstsein ist sehr klar, dass wir die reine, kristalline, zweifelsfreie Wahrheit, nach der wir uns alle so sehnen, nicht erhalten werden, solange Sie weiterhin harmlose Gegner auswählen. Stattdessen werden Sie sich weiter auf ihrem fiktiven [!] Platz verewigen, und sich entgegen all der Meinungen, die das nicht glauben, für den Meister halten. Entwurzeln Sie diese Überzeugung, nutzen Sie die Gelegenheit, die sich jetzt bietet, wo Sie beide in unserem Land weilen, in diesem Land, das Ihnen [1927] großzügig die Gelegenheit schenkte, jene unvergessliche Partie zu spielen, und das heute von Neuem von Ihnen verlangt, da wir es für eine notwendige Forderung von Meister Capablanca halten, denn wir empfinden es ehrlich und ehrenvoll, denn wir möchten wissen, wer von Ihnen beiden stärker ist, und schließlich erwarten wir von Ihnen aus Gründen der Dankbarkeit nicht den geringsten Widerstand dagegen. Umso mehr, weil Sie dies vor zahlreichen Zeugen jener unvergesslichen Partie selbst versprochen haben, dem Unterzeichnenden, damals Schiedsrichter des ritterlichen Wettstreits, zu dem Sie wortwörtlich sagten:
»Mein einziger Gegner auf der Welt ist Capablanca, und ich verspreche Ihnen, dass ich ihm Revanche geben muss.«
Ich appelliere an Ihr exzellentes Gedächtnis, Meister.
Sie führen in letzter Instanz an, dass Ihr Adoptivland, Frankreich, Sie zum Dienst in seine Reihen ruft [tatsächlich nannte Aljechin als Entschuldigung, er sei, da sein Land sich im Krieg befinde, »mobilisierbar«, als »offizieller Dolmetscher in Reserve« und könne daher keine Verpflichtung für einen längeren Zeitraum eingehen]. Wohlan, Meister. Ich heiße Ihren Patriotismus gut, doch erlauben Sie mir, Ihnen eine elegante Lösung vorzuschlagen: SPIELEN SIE DIE PARTIE ZUGUNSTEN DES FRANZÖSISCHEN ROTEN KREUZES. Frankreich wird Ihnen für Ihren wertvollen moralischen und monetären Beitrag auf ewig dankbar sein. Unsererseits werden wir die lebhafte Befriedigung erleben, unser Turnier durch Ihren würdigen Zwischenakt dem von uns aufs höchste bewunderten Frankreich zu Dienste zu stellen. Letzthin erbieten wir uns, Ihnen bei jedweder Schwierigkeit mit S. E. dem Botschafter von Frankreich den Weg zu ebnen.
In seiner Kolumne für die Zeitung El mundo zeigt Aljechin sich sprachlos angesichts dieser »zumindest seltsamen« Art, »die ehrliche Freundschaft zu würdigen, die ich für dieses Land und seine Schachfamilie empfinde und oftmals gezeigt habe«. Aljechin scheint seine Reflexionen für das Radio der Zeitung vervollständigt zu haben, das direkt aus dem Politeama sendete. In Erwiderung darauf schickte Querencio eine an zwei Freunde (nun Sekundanten) gerichtete Forderung und verlangte förmlich Satisfaktion:
Aus Anlass eines offenen Briefs, den ich an Alexander Aljechin gerichtet habe und in dem korrekte, exakte Tatsachen beschrieben sind, die im Übrigen auch in sämtlichen Jahrbüchern des Weltschachs dokumentiert sind, beantwortet besagter Meister via Radio El Mundo meine anständige Sprache solcherart, dass offensichtlich eine umfassende Wiedergutmachung zwingend nötig ist. Ich verlange, dieses Herrns habhaft zu werden und eine schriftlich dokumentierte Zurücknahme seiner Worte von ihm zu fordern; andernfalls sind Sie ermächtigt, ein Duell zu verhandeln.
Die Übermittlung fand noch am selben Abend dort statt, wo sich heute das Hotel Luxor an der Diagonal Norte befindet, und das Protokoll wurde in Noticias Gráficas veröffentlicht. In knappen Worten legten die Kartellträger des Dr. Querencio dar, in der Radiosendung habe:
… Doktor Aljechin die Bezeichnung »liederlich« mit Bezug auf Doktor Querencio verwendet. Die Vertreter von Doktor Aljechin erklärten, den Begriff »liederlich«, von dem Dr. Querencio meine, er sei auf ihn bezogen gewesen, habe der von ihnen Vertretene nicht in Bezug auf Dr. Querencio oder den von ihm veröffentlichten Brief gesagt.
Olga Capablanca Clark, die zweite Ehefrau des Kubaners, fügt eine Anekdote hinzu, die dieses Duell unter Schachspielern einem unter Boxern (mit Doktortiteln) noch näher rückt. Der wenigen Verbindlichkeit wegen, die Olga faktischer Genauigkeit gegenüber zu empfinden scheint (ihrer Erinnerung nach fand das Turnier im Teatro Colón statt, um nur ein Beispiel zu nennen), muss die Anekdote vielleicht als näher an der Fiktion als an der Realität eingeschätzt werden, was natürlich als Verdienst gemeint ist:
An diesem Tag ereignete sich eine lustige Episode. Einer der enthusiastischsten Freunde von Capa, Dr. Querencio, forderte Aljechin zum Duell, sollte der sich weiterhin weigern, Capablanca Revanche zu geben. Darauf folgten raue Worte. Aljechin brach das Gespräch abrupt ab, indem er zur Herrentoilette rannte und sich dort einschloss. Unerschütterlich erwartete Querencio ihn vor der Tür.
»Kommen Sie da raus, Sie liederlicher Kerl«, sagte Querencio wohl von draußen zu ihm.
»Das habe ich nie gesagt«, hätte Aljechin von drinnen geantwortet.
»Natürlich, und Sie werden auch nie Nazi-Schmierschriften schreiben, in denen Sie nachzuweisen versuchen, dass die Juden das Schach einer unterlegenen Rasse spielen.«
»Sie können nicht wissen, was ich in der Zukunft tun werde!«
»Warum denn nicht? Menschen sind wie Schachfiguren: perfekt vorhersehbar in ihren Bewegungen.«
»Ich wollte das nicht schreiben. Man hat mich gezwungen. Das war Folgepflicht.«
»Vollgepfifft, wollten Sie wohl sagen, Sie Suffkopf.«
»Seien Sie still, Sie liederlicher Kerl.«
»Haben Sie es wieder nicht gesagt?«
»Sie haben es zuerst gesagt.«
»Sie sind ein wahrer Meister der Feigheit, Doktor. Warum kommen Sie nicht aus dem Klo und wir kämpfen mit ein paar guten Pistolen Überlegenheiten aus? Überlegen Sie mal, wenn ich Sie töte, rette ich Sie vor dem Tiefpunkt mit den Nazis.«
»Jetzt wollen Sie auch noch, dass es aussieht, als täten Sie mir einen Gefallen.«
»Natürlich. Ich möchte, dass Sie Capa Revanche geben, zum Wohle aller.«
»Die gebe ich ihm später, mitten im Krieg, im Gegenzug dafür, dass die Kubaner mich aus Europa rausholen und auf ihre Insel bringen.«
»Jetzt appellieren Sie selbst an die Zukunft, sehen Sie? Aber wissen Sie was? Das ist nicht später, sondern zu spät, denn dann wird Capa Ihnen keine Revanche mehr geben. Zwischen Ihnen wird es bei einer ewigen Partie mit stets abgelehnten Gambits bleiben.«
»Aber wenn Sie mir jetzt erlauben, meine Meinung zu ändern, können Sie doch auch dafür sorgen, dass Capablanca in Zukunft seine ändert.«
»Man kann nicht aus dem Schach ziehen, indem man selbst Schach bietet!«
»Man kann kein Schach bieten, wenn der andere Spieler seine Figuren nicht bewegt hat!«
Man erzählte mir, dass Aljechin fast eine Stunde lang auf dieser Toilette blieb, bis ein paar Freunde Dr. Querencio überredeten, seinen Posten aufzugeben. Erst dann schlich sich Aljechin vorsichtig hinaus und floh. Die Episode sorgte in Buenos Aires für viel Gelächter. Aber Capa zuckte nur mit den Achseln.
Später würden sie ihre Punkte auch den übrigen Ländern überlassen, weshalb es einfach zum freien Spieltag für die eventuellen Gegner erklärt wurde, aber große Allegorien achten nicht auf solch kleine Details. (Anmerkung für Theodor Herzl, in memoriam)
Außer einigen, um sich hinterher zu beschweren.
In komischem Spanisch, hier normal übersetzt.
Der Glaube meines Großvaters an Kulturproduktionen als Mittel zur Weltverbesserung ist bemerkenswert. Ein besonders vollendetes Zeugnis für diese humanistische Überschätzung findet sich in einem Kommentar auf der Karteikarte mit Leseeindrücken zu Erich Maria Remarques pazifistischem Roman Im Westen nichts Neues: »Wenn man das Buch zuschlägt und dann erfährt, dass Millionen Menschen es gelesen haben, so weiß man eines: Es kann unmöglich je wieder Krieg geben.«
Den handschriftlichen Text überdeckend und mit zwei Büroklammern festgesteckt, die nur noch Rost sind, ist dem Tagebuch hier eine erste dokumentarische Tatsache beigefügt, nämlich das Programm von jenem Abend, auf dem zufälligerweise auch ein Foto von Adolfo Fasoli (noch ein Adolf!) zu sehen ist, das tatsächlich den großväterlichen Eindruck bestätigt: Würde uns das jüdische Vorurteil gegen Bilder nicht hartnäckig davon abhalten, würden wir es zu gern hier abdrucken, damit der Leser sieht, dass wir nicht lügen, mein Großvater und ich. Aber da wir an Worte glauben (selbst an verlogene), drucken wir den Absatz über die Aufführung des Kammerkonzerts ab, der von unschätzbarem Wert ist, wie es so schön heißt, in diesem Fall, weil er überhaupt keinen Wert hat, was ihn vielleicht noch viel verdienstvoller macht (vor allem in Bezug auf meinen Großvater, der durch das Lesen solcher Texte eine neue Sprache erlernen musste):
Wenn sich auf den Flügeln des Gesangs die Seele in die unbekannten Regionen der Schönheit erhebt; wenn die Sangeskunst zum Gefährt wird, um den menschlichen Geist zum Ausdruck zu bringen, wenn das Herz durch die Musik sein tiefstes Empfinden verströmt, welch große Mission vollbringt dann der Kammermusiker, indem er uns die Feinheiten anderer Zeiten, die Gefühle anderer Epochen bringt, und mit seinen Liedern die vielfarbigen Pinselstriche ferner Bilder heraufbeschwört, die uns Gefühle beschreiben und jeden Geist bezaubern, vom Kinde, dem seine Phrasen wie Engelsgesang klingen, bis hin zu denen, auf deren patriarchalischen Häuptern der Schnee vom unaufhörlichen Beschreiten des Lebenswegs erzählt.
Ob das wohl derselbe ist wie der von den Nierenpillen? Zu schön, um gelogen zu sein.
Ein anderes Beispiel für ein vielleicht einzigartiges Protokoll ist Heinz Magnus’ Bericht über ein Theaterstück von León Mirlas, vom Tag der Premiere. Soweit ich sehe, ist das Stück später nirgends veröffentlicht worden, weshalb ich gern denken möchte, dass dieser Kommentar meines Großvaters vielleicht die einzige Möglichkeit ist, es zu rekonstruieren – und sei es auch nur die Handlung:
12. Dezember 1938. Letzten Samstag ging ich mit Astarte ins Teatro del Pueblo. Gezeigt wurde »Die Komödie vom Ehrlichen Mann«. Das Stück handelt von einem Schuster, der sich auf dem Schild vor seinem Laden als ehrlicher Schuster ausgibt. Der Arzt, der Anwalt und drei weitere Typen aus dem Ort sind gekränkt und verlangen vom Schuster, das Schild sofort wieder abzunehmen, um nicht die Ehrlichkeit aller anderen in Zweifel zu ziehen. Der Schuster lehnt kategorisch ab. Dann einigen die Typen sich, eine Gesellschaft zu gründen, repräsentiert vom ach so ehrlichen Gesicht des Schusters. Nachdem sie mit lächerlicher Intensität drei Mal über ihren Geschäftszweig nachgedacht haben, beschließen sie, eine Aktiengesellschaft für den Import von Ideen zu gründen, und ernennen den Schuster zum Vorsitzenden. Sie erklären ihm, er als Vorsitzender müsse nichts tun, und nachdem er sich mit seiner Frau besprochen hat, nimmt er den Vorschlag an.
Ein modernes und luxuriöses Büro bestätigt, dass die Gesellschaft gut arbeitet, und das hochehrliche Gesicht des Schusters weckt ziemlich viel Vertrauen.
So handeln die Typen dort und betrügen ehrliche Leute, denn der Betrogene hat die Oberfläche für das Spiegelbild des Inneren gehalten. Aber sie betrügen nicht nur dumme und leichtgläubige Leute, sie verändern auch im eigentlichen Sinne die Seele ehrlicher Menschen. So geht es auch dem Schuster, und am Ende erklärt er vor vier Herren, dass er nicht mehr der ehrliche und unschuldige Mann sei, sondern sehr gut und sichtbar eine Taschenuhr stehlen könne. Sie glauben ihm nicht, wollen ihm nicht glauben, und so bleibt er ein Betrüger für die Gesellschaft der Menschen, schädigt und wird nicht bestraft.
»Man versteht die Handlung nicht richtig, Großvater, und davon hängt das Überleben des Stücks bis ans Ende aller Zeiten ab. Die Idee ist, dass die Seele der ehrlichen Menschen verändert wird, aber der Schuster weiß, dass er keiner mehr ist, und gibt das ehrlich zu, soll heißen, seine Seele bleibt genauso rein wie immer.«
»Er ist trotzdem ein Betrüger geworden. Die Oberfläche ist kein Spiegel seines Inneren mehr.«
»Wieder das Thema mit der Zweiteilung, wie bei Bestie Mensch.«
»Nur hier nicht mehr zwischen Gegenwart und Vergangenheit, sondern zwischen Innen und Außen. Der Mensch aber gehört einer zwiefachen Welt an. Dieser Erde, in der er sich ernährt, von der er seinen Körper ernährt, und dann gibt es das Reich Gottes.«
»Mir fällt auf, dass du einfach nur den Inhalt wiedergibst, genau wie auf deinen Lesekarten.«
»Die Bücherkarten sind Gedächtnisstützen. Das hier ist zum Spanischüben und nebenbei zur Erinnerung. Denk daran, wir hatten noch nicht dieses große Archiv, das Internet.«
»Ich versuche es mir vorzustellen, ist aber nicht so einfach. Genauso schwer, wie sich jetzt im Sommer 2014 den Winter 1939 vorzustellen.«
»Falsch. Es ist, wie sich den Winter vorstellen, wenn es kalt ist, du aber nicht das Gefühl hast, es sei kalt. Das Digitale, wie ich es mir vorstelle (was auch nicht so einfach ist), ist ziemlich kurzlebig, wie die Ehrlichkeit eines Schusters.«
»Es ähnelt uns nicht, das kannst du mir glauben. Aber auch dort gilt: Was nicht kopiert wird, läuft großes Risiko, verloren zu gehen.«
»Das sage ich dir doch die ganze Zeit, Enkel. Die einzige Art, die Dinge vorm Verschwinden zu bewahren, ist, sie zu kopieren, zu reproduzieren. Stell dir mal vor, um ein beliebiges Beispiel zu nennen, von der Schlacht von Waterloo bliebe nur Franklin Knowles Youngs Schachnachstellung, und das in einer Welt, in der kein Englisch mehr gesprochen wird. Was würdest du dafür geben, sie in ewiges Spanisch übersetzt zu haben, solange noch Zeit dafür war!«
Dabei könnte Astarte Yanofsky außerdem Einzelheiten über den Pakt erzählen, dessen Zeuge ihr Bruder Heinz bei der Versammlung im Hotel geworden war, was wiederum erklären würde, warum Crítica das einzige Presseorgan war, das darüber berichtete.
Das Nazischach, das »auf einem Brett mit 121 Feldern« gespielt wird, mit Spielfiguren in Form von »Kampfflugzeugen, Panzern, Infanteriesoldaten und (…) V2-Raketen«, wie im dritten Kapitel von Die Schachspieler von Buenos Aires (Urheberschaft strittig) erklärt wird.
Für meinen Großvater.
Mit meinem Großvater.
Es gibt keine wirklichere Geschichte als den Roman.
Miguel de Unamuno
Der Roman von Don Sandalio, Schachspieler
Dieser Roman ist von der ersten bis zur letzten Zeile ein Werk der Fiktion.
Viele der vorkommenden Figuren sind jedoch absichtlich der Realität (einschließlich der fiktiven Realität der Literatur) entnommen, sodass jede Ähnlichkeit mit unserer Welt (beziehungsweise unseren Welten) kein reiner Zufall ist.
Damit nicht mehr Verwirrung aufkommt als die streng unnötige, vorweg eine Klarstellung:
Heinz Magnus ist der wahre Name des Großvaters vom Autor dieses Romans. Sein Enkel hat ihn nie kennengelernt, jedoch ein Tagebuch von ihm gefunden, das so privat war, dass nicht einmal seine Kinder es gelesen hatten. Aus diesem Tagebuch wird hier wahrheitsgetreu zitiert.
Auch das Weltturnier für Schach, das 1939 in der real existierenden Stadt Buenos Aires ausgetragen wurde, gab es wirklich, wie auch leider den Weltkrieg, der während dieses Events ausbrach, und die daraus resultierenden großen und kleinen Probleme. Wahr sind auch die verschiedenen hier wiedergegebenen Zeitungsartikel und Anekdoten, die – als wollten sie in ihrer Bedeutung endlich zur Geltung kommen – fast zu unglaublich klingen, um wahr zu sein.
Ebenfalls real sind die Schachspieler, die in dieser Fiktion erwähnt werden, darunter die unvergleichliche Sonja Graf. Sie ist Autorin der in die Handlung eingebauten Textauszüge, gehörig kursiv gesetzt, wie alle wörtlichen Zitate, auch und gerade damit sie am Ende vom Kurs abkommen können.
Nicht gesondert erhellt werden muss (außer weil es im Umkehrschluss zugleich verdunkelt), dass es auch die auftretenden Schriftsteller wirklich gab, allen voran Ezequiel Martínez Estrada, dessen fabelhafte Abhandlung über Schach dem interessierten Leser über die diesen Text zierenden Zitate hinaus empfohlen sei.
Absolut real ist schließlich, dass es in Stefan Zweigs Schachnovelle eine fiktive Figur namens Mirko Czentovic gibt, wenn über dessen Leben außerhalb des Romans auch nichts bekannt ist.
Sie alle (besagte Schachspieler, besagte Schriftsteller und selbst der nie betagte Großvater Magnus) sind hier als fiktive Figuren tätig und stehen exklusiv im Dienst der Vorstellungskraft des Autors.
Oder juristisch ausgedrückt: »Sofern in diesem Buch historische Ereignisse oder reale öffentliche Personen vorkommen, sind die im Zusammenhang mit diesen Personen beschriebenen Geschehnisse, Örtlichkeiten und Dialoge völlig frei erfunden und haben nicht die Absicht, reale Geschehnisse wiederzugeben oder die vollkommen fiktive Natur dieses Romans abzuändern.« Hiermit seien alle gebührend informiert – die Richter über literarische Verbrechen, die Witwen der Schriftsteller, die noch keine siebzig Jahre lang unter der Erde liegen, und auch die Leser, die ganz genau wissen wollen, wann sie ihren Unglauben pausieren lassen und wann sie ihn reaktivieren sollen.
Nun sind alle Spielfiguren an ihrem Platz, es ist so weit – der erste Zug steht an! Auf ein Neues, im ebenso alten wie frischen, stets spielerischen Wettstreit der Worte.
Auf dem großen Passagierdampfer, der um Mitternacht von New York nach Buenos Aires abgehen sollte, herrschte die übliche Geschäftigkeit und Bewegung der letzten Stunde. Gäste vom Land drängten durcheinander, um ihren Freunden das Geleit zu geben, Telegrafenboys mit schiefen Mützen schossen Namen ausrufend durch die Gesellschaftsräume, Koffer und Blumen wurden geschleppt, Kinder liefen neugierig treppauf und treppab, während das Orchester unerschütterlich zur Deck-Show spielte. Ich stand im Gespräch mit einem Bekannten etwas abseits von diesem Getümmel auf dem Promenadendeck, als neben uns zwei- oder dreimal Blitzlicht scharf aufsprühte – anscheinend war irgendein Prominenter knapp vor der Abfahrt noch rasch von Reportern interviewt und fotografiert worden. Mein Freund blickte hin und lächelte. »Sie haben da einen raren Vogel an Bord, den Czentovic.« Und da ich offenbar ein ziemlich verständnisloses Gesicht zu dieser Mitteilung machte, fügte er erklärend bei: »Mirko Czentovic, der Weltschachmeister. Er hat ganz Amerika von Ost nach West mit Turnierspielen abgeklappert und fährt jetzt zu neuen Triumphen nach Argentinien.«
So beginnt nicht dieser Roman, sondern Stefan Zweigs Schachnovelle. Und eine unverrückbare Regel des Spiels lautet: Berührt – geführt, wer eine Figur anfasst, muss sie auch ziehen. Auf dem inneren Brett, das jeder Spieler stets vor Augen hat, können die Figuren beliebig oft vor- und zurückbewegt werden, der Spieler kann sogar die Figuren des Gegners verrücken – kann und sollte, um zu antizipieren, wie die eigenen Spielsteine auf jeden möglichen Gegenzug reagieren werden. Doch hat er sich einmal für einen Zug entschieden und erteilt dem Arm den Befehl zur Ausführung, gibt es kein Zurück mehr. Unser Denken mag eine Dame sein, doch unser Körper bleibt ein Bauer.
Der Profispieler weiß zudem, dass diese irreversible Eigenart der Bewegung schon in Kraft tritt, bevor er auch nur den Kopf der Figur mit den Fingerspitzen streift, denn es vermittelt einen Eindruck von Zweifel, gar Angst, wenn man die bereits in der Luft befindliche Hand wieder zurückzieht. Und im Schach gilt, genau wie im Krieg: Wer Schwäche zeigt, verdoppelt die Stärke des Feindes. Zweifeln ist immer defensiv, nur Denken ist offensiv, und in diesem Spiel geht es ums Angreifen.
Besonders extreme Stimmen behaupten wiederum, die Kunst, einen Spielzug zu denken, beginne noch viel früher, nämlich mit der Bewegung des Steins, die der Gegner durchführt. Und als könnte auch diese Bewegung, einmal in Gang gesetzt, nicht mehr angehalten werden, dehnte sie der persische Dichter Omar Chayyam auf das Leben an sich aus und postulierte: Bevor der Spieler den Stein bewegt, bewegt Gott den Spieler. Jorge Luis Borges schließlich setzte diese Rückwärtsbewegung fort, bis sie mit der Unendlichkeit zusammenfällt:
Gott rückt den Spieler, dieser die Figur.
Welcher Gott jenseits Gottes eröffnet
das Spiel aus Staub, Zeit, Traum und Tortur?
Wenden wir diese erste Grundregel auf ein anderes Spiel an, die Literatur, insbesondere auf die Literatur, welche »das Spiel der Könige« oder »das königliche Spiel« zum Thema hat. Sofern wir dieser Grundbewegung im Schach und in der Literatur folgen, ist eins sonnenklar: Wenn es in der Schachnovelle heißt, der junge Wunderspieler Mirko Czentovic habe ein Schiff von New York nach Buenos Aires genommen, um an »einem Turnier« teilzunehmen, so hat diese Bewegung begonnen und wurde sehr wahrscheinlich auch zu Ende geführt.
Wann genau sich dies ereignete, verrät uns der Erzähler nicht, aber es ist auch nicht sonderlich schwer zu erraten. Einerseits ist Dr. B. aus dem Buch Österreicher und wird nach dem Anschluss von der Gestapo verhaftet, also nicht vor März 1938. Er verbringt einige Monate eingesperrt in einem Hotelzimmer, und in dieser Zeit lernt er so viele Schachpartien auswendig, dass er von dem Spiel »vergiftet« wird, wie Zweig es nennt. Nach einem kurzen Krankenhausaufenthalt flieht er Richtung Nordamerika, von wo aus er nun nach Rio de Janeiro aufbricht. Andererseits – zeitlich wie räumlich – wissen wir, dass Stefan Zweig das Buch schrieb, nachdem er sich bereits in Brasilien niedergelassen hatte. Dort war er 1940 eingetroffen, nach einer Reihe von Vorträgen in Argentinien und Paraguay. Wir wissen auch, dass er es schrieb, bevor er sich 1941 in seine Autobiografie Die Welt von Gestern vertiefte, die, ebenso wie die Schachnovelle, erst nach seinem Freitod veröffentlicht wurde.
Genau zwischen dem einen und dem anderen, also zwischen der Flucht des Dr. B. und der Niederschrift des Romans, fand in Buenos Aires das achte Turnier der Nationen statt, bei dem Schachspieler vom Rang eines Alexander Aljechin und eines José Raúl Capablanca teilnahmen. Zwischen diese setzt Zweig seine Figur. Capablanca kam auf der Neptunia, die in Neapel abgelegt hatte, ins Land, und Aljechin auf der Alcántara aus Rio de Janeiro, aber die Delegationen aus Kanada und Norwegen reisten aus New York an, auf einem Schiff, das just Argentina hieß. Daher dürfen wir ohne Furcht, falschzuliegen (oder wenigstens ohne es uns anmerken zu lassen), folgern, dass auch Mirko Czentovic das Land am 16. August 1939 erreichte, eine Woche vor Beginn der Schacholympiade, der ersten, die außerhalb Europas ausgetragen wurde.
Nur kollidiert die Hypothese leider mit den Tatsachen: In der Datenbank des Zentrums für Lateinamerikanische Migrationsstudien (Centro de Estudios Migratorios Latinoamericanos, CEMLA) taucht unter den Einreisenden an diesem Datum kein Mirko Czentovic auf (und auch an keinem anderen Tag). Aber was, wenn auch mein Großvater Heinz Magnus dort nirgends auftaucht, und das, obwohl er nur kurze Zeit vorher eingetroffen war und ebenso real ist wie ich?
13. Juni 1937
Elf Uhr abends, an Bord der Vigo. Eine ungeheure Arbeit liegt hinter mir; und trotzdem ich eigentlich eine gewisse Befriedigung empfinde, dass ich es geschafft habe, denke ich stets an die Eltern und habe immer nur den einen Wunsch, dass nun auch dort alles klappen möge.
Es ist gut, wenn man von vornherein von einer Sache nicht allzu viel erwartet. Vigo. Von außen erscheint das Schiff nicht gerade grandios, aber immerhin ein Schiff, das sich sehen lassen kann. Wir fahren mit dem Tender von der Landungsbrücke fort. Bekannte, zumeist Hausmitbewohner, winken herzlich; sie sind gekommen, um dem kleinen dort geborenen und seit seiner Kindheit stets gedutzten [sic] Knaben, Herrn, Mann ein sehr herrliches Glück für die neue Heimat zu wünschen. Sie staunen; ja, er muss wohl fort, und halb dass es ihnen leidtut, halb dass sie wünschen, dass er Glück drüben haben möge und sich deshalb freuen, winken sie; winken immer wieder, winken, winken rhythmisch und langsam schlaff werdend, so lange, bis das kleine Boot entschwindet.
Die Sauberkeit auf dem Dampfer Vigo überrascht. Weiß gedeckte Tische, weiß bespannte Betten. Die Stewards sind freundlich und hilfsbereit, und im Ganzen hat man bereits im Aufgang ein herrliches Gefühl von zu Hause sein und von Heimeligkeit. Die Besucherzahl ist groß, und so ist viel Lärm ums Essen. Passagiere dürfen essen, Besucher – na, auch diese haben nachher das Stück Brote vorgesetzt bekommen. Der Abschied fällt leicht. Vater und Mutter folgen bald; ein großes Glück fordert, sich dessen verdient zu machen. Eine Frau mit Mann und Kindern scheint viele Freunde hier zu lassen, vielleicht ist es auch die nervenzermürbende Wartezeit und die schwierigen Erledigungen, vielleicht die Ungewissheit der Zukunft und die Verantwortung, die auf ihr lastet, die dieser Frau die Tränen in die Augen treten lassen und sie sich nicht beruhigen lässt. Wie viele Schicksale treffen sich wohl auf diesem Zentrum des Lebens, wie viel Freude und Trauer mögen die Menschen erlebt haben, die nun hier 3–4 Wochen verbringen wollen. Die Ausreise nach Südamerika ist Wirklichkeit geworden, morgen früh stechen wir in See.
Das Wetter hat sich bedeutend gebessert, Hamburgs Regen hat sein Vorrecht zu herrschen für kurze Zeit abgetreten, und so strahlt die Sonne auf uns herab. Es dämmert, und allmählich melden sich in unzähligen Punkten kleine Lichtlein und werfen so skizzenhaft ein Bild von ihrem Standort. Die Dunkelheit ist nun völlig eingetreten, und aus ihr hebt sich das Märchenschloss heraus – Hamburgshafen stenotypistisch angedeutet durch Lichter und Lichtlein. Bunte und weiße, große und kleine, helle und schwache, aber sie alle gehören zu dieser Welt, und man kann wohl sagen, es ist eine Welt für sich.
Ich weiß mich allein. Ich schaue gen Himmel, und wieder ist das Gefühl da – wenn Gott bei mir ist, was kann da passieren? Und so erscheint mir auch die Entfernung, die wir durchmessen werden, gering – wir bleiben auf dieser Erde, und Gott ist der Gleiche, derselbe, ich bleibe der Ähnliche, schön ist es, wenn man die Hände in Gottes Schoß legen kann. Und wenn er mich auserküren würde, seinen Namen den Menschen zu künden oder selbst nur seine selbstverständlichen Gebote zu halten – wieso tun wir das nicht? Vielleicht wird es mir möglich sein, das zu tun, was meine Pflicht dem Schöpfer gegenüber erscheint – nur einer Hilfe bedarf es.
Dies ist kein literarisches Zitat, sondern es stammt aus dem Tagebuch meines Großvaters väterlicherseits: Heinz Magnus aus Hamburg, der am Samstag, dem 14. August 1937, um sieben Uhr dreißig in der Früh am Dock vier, achter Abschnitt, im Hafen von Buenos Aires ankam. Ich weiß, dass es an dem Tag war, weil die Ankunft der Vigo in der Presse gemeldet wurde und er in sein privates Tagebuch schrieb, dass er auf diesem Schiff unterwegs war, auch wenn sein Name nicht in der Datenbank des CEMLA gelistet ist (wie zum Beispiel der meiner Großmutter Liselotte Jacoby, die einige Monate vor Mirko Czentovic in Argentinien eintraf).
Das Tagebuch meines Großvaters beginnt schon früher, im Dezember 1935, aber dies ist der erste literarische Eintrag, zumindest insofern, dass er beschreibend ist und in der Gegenwartsform Dinge erzählt, die sich bereits Stunden zuvor ereignet haben – so wie man es von einem Roman erwartet, der in der ersten Person erzählt ist (der von Stefan Zweig, um nur ein Beispiel zu nennen). Die Lichter des Hafens als stenografisches Bild dieser schon fernen Welt, in die mein Großvater tatsächlich nie wieder zurückkehren würde (als Ziel für seine einzige weitere lange Reise zog er später die USA vor, was in der Familie nie irgendwer verstanden hat, und meine Aufgabe ist nun, herauszufinden, wieso), könnten sogar in einem der Gedichte vorkommen, die Heinz schrieb, seit er fünfzehn war, und die er in einem Heft mit Inhaltsverzeichnis und Vorwort sammelte, welches ebenfalls in meine Hände gelangt ist. Obwohl es in der Familie immer hieß, Großvater wäre gern Rabbi geworden, enthüllen seine Tagebücher, dass er in Wahrheit gern Schriftsteller gewesen wäre.
Seltsam ist’s: obgleich ich, außer kleinem und unbedeutendem Zeug, nie etwas geschrieben habe, sehne ich mich nach dem Schreiben, sehne mich danach, meine Gedanken auszudrücken. Wie oft sinniere ich über alles nur Denkbare, und glaube doch auch häufig, etwas Wichtiges zu sagen zu haben!
Seine Lebensumstände ließen ihm nicht die Zeit, sich der Literatur zu widmen. Zunächst hatte er für sich und die Eltern die Flucht aus ihrem Heimatland zu organisieren, dann musste er in Argentinien wieder bei null anfangen, und als er bereits eine Familie gegründet und mit seinem Geschäft eine gewisse wirtschaftliche Sicherheit erreicht hatte (den Wendepunkt markiert in dieser Hinsicht die erwähnte USA-Reise im September und Oktober 1950, als meine Großmutter gerade hochschwanger mit meinem Vater war), wurde er herzkrank und starb nach vier Infarkten im Alter von 52 Jahren. Zu diesem Zeitpunkt war mein Vater ein Teenager, bis zu meiner Geburt sollte es noch ein Jahrzehnt dauern. Abgesehen von ein paar Fotos und seiner Bibliothek, aus der ich von Kindesbeinen an immer wieder Bücher stibitzte, wusste ich nichts über meinen Großvater – bis ich seine Tagebücher und sonstigen Papiere entdeckte.
Das geschah zufällig. Beim Durchblättern eines der von ihm geerbten Bücher fiel mir ein kleiner Zettel entgegen. Als ich ihn auffaltete, entpuppte er sich als Beipackzettel eines Medikaments namens Cenestal, das als »Psychostabilisator« beworben wurde, der »die persönliche Anpassung an die Anforderungen oder Zwänge des Alltags leichter, besser regulierbar und weniger leidvoll macht«. Später fand ich heraus, dass es ein Psychopharmakon war, eins der ersten, die im Land hergestellt wurden, wenn auch mit der Garantie eines von Deutschen gegründeten Labors. Der Hauptwirkstoff war Dicarboxin, ein eingetragenes Warenzeichen, dessen magische Zusammensetzung (eine Piperazin-Verbindung) viele unerwünschte Nebenwirkungen hat. Es enthielt auch Ergotamin, eine Substanz, die heute in den USA verboten ist und vor der speziell bei Herzerkrankungen gewarnt wird.
Bei einem Familienessen fragte ich, ob irgendwer gewusst habe, dass Großvater Psychopharmaka nahm, und daraufhin gab mir eine Tante sein Tagebuch, als Beweis dafür, dass er schon immer depressiv gewesen sei. Aber das war nur das erste Heft, das im Februar 1940 damit endet, dass er meine Großmutter kennenlernt. In deren Unterlagen fand ich zwei weitere Hefte, die mit großen Lücken bis 1955 reichen (die USA-Reise ist in Briefform erzählt). Seine Frau und später seine Kinder hatten sie aufbewahrt, ganz ähnlich, wie Atheisten religiöse Traditionen wahren, mit einem tiefen Respekt, der lediglich ein noch tieferes Desinteresse verbirgt, denn keiner von ihnen hatte je in eins der Tagebücher hineingeschaut, sie wussten gerade mal, dass es sie gab. Und doch: Diese Hefte waren das Werk meines Großvaters. »Der Spiegel meines Lebens« nennt er sie irgendwo einmal. Kurz gesagt, das Buch, das er immer schreiben wollte und nicht schreiben konnte, »teils weil mir tatsächlich die Zeit fehlt, aber teils auch wegen einer gewissen Nervosität …«.
Ob es mir je gelingen wird, ein Buch zu schreiben, ist mehr als fraglich bzw. ganz sicher, dass nicht – schreibt er gegen Ende des dritten und letzten Heftes, im Dezember 1953 –. Aber ich glaube zu verstehen, wieso es solche Menschen wie mich geben muss, die sozusagen nichts Richtiges fertigbringen, sondern immer nur träumen, wenn auch mit dem festen Willen des Tuns und Ertragens. Diese Menschen sollen Träger der Ideen sein, die Größere als sie gefasst und ausgesprochen haben. Sie können Mittler sein, denn sie sind genau so nötig wie irgendetwas anderes auf der Erde. Es gibt in dieser Hinsicht keine Wertskala, kein oben und unten, alles steht auf einer Ebene der Endlichkeit der Unendlichkeit gegenüber …
Der Modell-Schriftsteller per se war für meinen Großvater Stefan Zweig. In meiner Familie kursiert sogar das Gerücht, dass sie verwandt waren, denn der Mädchenname der Mutter meines Großvaters war Zweig. In den Papieren meines Großvaters fand ich die Geburtsurkunde seiner Mutter, und deren Vater (also der Großvater mütterlicherseits meines Großvaters väterlicherseits) hieß Hans Zweig und kam aus Eisleben, der Lutherstadt. Eine Verwandtschaft gibt es folglich, aber anscheinend nicht mit der österreichischen Familie Stefan Zweigs, sondern mit der polnischen Arnold Zweigs, eines weiteren jüdischen, jedoch deutschen Schriftstellers. Meiner ältesten Tante zufolge bestand die Verwandtschaft mit beiden Zweig-Zweigen. Sicher ist jedenfalls, dass Stefan und Arnold nicht miteinander verwandt waren, es sei denn, der Magnus-Zweig wäre das verlorene Bindeglied.
Die Bewunderung meines Großvaters für seinen falschen Verwandten geht aus dem Adressbuch hervor, in dem er in alphabetischer Reihenfolge sämtliche Bücher notierte, die er kaufte und las. Unter dem Buchstaben Z stehen fünfzehn Werke von Stefan Zweig, mehr als von jedem anderen Autor, der dort aufgelistet oder in seiner Bibliothek zu finden ist. Denselben Eifer verraten seine Lesenotizen, die im Allgemeinen bloße Zusammenfassungen der Bücher ohne persönliche Meinungsäußerung sind. »Bücher lesen, immer mehr Bücher lesen, das ist jedes Mal mein Wunsch, wenn ich ein Buch von Zweig zuklappe«, schreibt er in seinem Tagebuch über Die Welt von Gestern. Und in der Notiz zu Ungeduld des Herzens steht: »Ein Meisterwerk, außerordentlich fesselnd und voller wunderbarer Kenntnisse.« Letztgenanntes Buch war das erste Geschenk meiner Großmutter für ihn zum Geburtstag, nachdem die beiden sich verlobt hatten, was mir der schlagendste Beweis für die Bedeutung zu sein scheint, die mein Großvater diesem Autor beimaß.
Ich würde gerne behaupten, dieses Buch wiese – neben dem Exlibris von Enrique Magnus (wie sein Name bei der Ankunft in Argentinien verspanischt wurde) – das Etikett der Buchhandlung »Pigmalión« auf. Doch in Wahrheit hat es gar kein Etikett, und da die Widmung meiner Großmutter von 1941 datiert, kann sie es unmöglich in einem Laden gekauft haben, der erst im darauffolgenden Jahr eröffnet wurde. Andere Bücher, die ich von meinem Großvater geerbt habe, tragen sehr wohl den schwarzen Aufkleber mit winziger Kursivschrift der berühmten Buchhandlung aus der Straße Corrientes 515, spezialisiert auf deutsche und generell fremdsprachige Bücher. Besitzerin war die ebenfalls exildeutsche Jüdin Lili Lebach, und »Pigmalión« (nebenbei gesagt mein Lieblingsmythos) erlangte Ruhm, weil Jorge Luis Borges dort ein und aus ging, aber auch, weil unter dem Label dieser Buchhandlung die Erstausgabe der Schachnovelle veröffentlicht wurde, nicht die spanische Übersetzung, sondern das Original, noch vor Zweigs traditionellen Verlagen in Stockholm und London. Es war das erste und einzige Buch, das die Buchhandlung herausgab, in einer Auflage von 250 nummerierten Exemplaren.
Ich bin mir sicher, dass mein Großvater diese Ausgabe kaufte. Das Buch steht in seinem Adressbüchlein vor anderen von Zweig, die in späteren Jahren veröffentlicht wurden. Und doch befand es sich nicht in seiner Bibliothek. Ein Jammer, nicht nur weil ich dann etwas besitzen würde, das auch mich direkt mit Stefan Zweig verbindet (die Ausgabe entspricht dem heute verlorenen Manuskript, das er seinem Übersetzer ins Spanische schickte), sondern vor allem, weil mein Großvater in seinen Büchern Sachen aufzubewahren pflegte, von Zeitungsartikeln bis zu – wie berichtet – Beipackzetteln von Medikamenten (aber nie Geldscheine, Großvater!), und das hätte mir helfen können, eins der großen Rätsel zu lösen, die sein Leben umgeben.
Bezüglich des Schicksals dieses Büchleins, das als nummerierte Erstausgabe wohl keinen geringen kommerziellen Wert hat, habe ich so meinen Verdacht. Bei der Suche nach dem Namen meines Großvaters im Internet stieß ich auf eine Ausstellung jüdischer Kinderbücher, die 2001 in Frankfurt stattfand. Hingewiesen wurde auf das merkwürdige Exlibris eines gewissen Enrique Magnus. In der Beschreibung heißt es:
Zwischen zwei Kontinenten schwimmt ein Buch. Das Exlibris von Enrique Magnus, der vor seiner Emigration vermutlich Heinz Magnus hieß, symbolisiert das Schicksal der meisten der circa 420 Werke, die in der Ausstellung »Jüdisches Kinderleben im Spiegel jüdischer Kinderbücher« gezeigt werden.
Ich schrieb eine E-Mail an das Museum und fragte, wann sie das Buch gekauft hätten und von wem, denn ich glaube nicht, dass mein Großvater je irgendeins seiner Bücher verkauft hat. In der Antwort erklärte man mir, man habe es nicht wegen des Buchs, sondern wegen des Exlibris gekauft, auf dem ein überdimensioniertes und strahlendes Buch zu sehen ist, das zwischen Amerika und Europa über dem Atlantik schwebt. Es unterscheidet sich von traditionellen Exlibris sowohl wegen der dramatischen Idee als auch wegen seiner armseligen Ausführung. Das ließe sich am einfachsten durch einen Nachdruck des Bildes beweisen, aber dies hier ist ein jüdischer Roman, zumindest in der Hinsicht, dass er sich an das zweite Gebot hält, keinen Bilderkult zu betreiben – vielleicht auch von daher unsere geheime Sehnsucht nach Pygmalions Galatea.
In der Antwort des Museums wurde mir auch der Name des Buchhändlers offenbart, der ihnen das Buch verkauft hatte. Es war der Großvater eines Schulkameraden von mir. Das Geschäft dieses Mannes, den ich nie persönlich kennengelernt habe, bestand darin, für wenig Geld komplette Bibliotheken aufzukaufen, vor allem innerhalb der deutschjüdischen Gemeinde. Davon verkaufte er anschließend nur einige wenige weiter, diese aber für gutes Geld, zum Beispiel an europäische Sammler. Meine Hypothese ist, dass er das Kinderbuch mitsamt einer ganzen Büchersammlung von jemandem gekauft haben muss, der meinen Großvater kannte, oder jedenfalls dieses Buch von ihm hatte – und wer weiß, ob nicht noch viele andere mehr.
Schachnovelle