»Hallo Jungs, gehn wir an den Strand? Was? Lieber krepieren!«
»Wir sind nicht die Typen, die am Strand rumhängen, wer uns finden will, muss in den Kellern suchen, wir sind keine Engel, wir wollen uns amüsieren, wir sind keine Engel, wir wollen ausflippen.«
»Max ist frei, manche sagen gar, sie hätten ihn fliegen sehen.«
Dreh nicht durch, Manu, schneid dir nicht die Adern auf, ein Mädel ist weg, zehn Kumpel kommen zurück.« (Renaud Séchan)
Wenn ich in deinen Armen liege, hat eine andere mich nicht gewollt.
Alles muss immer wieder von vorn anfangen.
»Niemand schläft im Himmel. Niemand, Niemand.«
Die Übersetzerin dankt dem Deutschen Übersetzerfonds für die großzügige Unterstützung ihrer Arbeit.
Ring the bells that still can ring
Forget your perfect offering
There is a crack in everything
That’s how the light gets in
Leonard Cohen, Anthem
Für Fabienne Mandron
Aurélie Poulain
Roland und Schultz Parabellum
Held des Romans. War früher Plattenverkäufer. Aus seiner Wohnung geflogen, bei alten Bekannten untergekommen und am Ende von Band 1 auf der Straße gelandet.
Erfolgreicher Sänger, Indie-Rock, Texte auf Französisch. Starb an einer Überdosis im Hotel. Jugendfreund von Vernon, den er finanziell unterstützt hatte. Hat in Vernons Wohnung Videokassetten eines Selbst-Interviews zurückgelassen, das er in einer Drogennacht aufgenommen hatte, während Vernon schlief. Verschiedene Personen jagen diesen »Schatz«.
Frühere Bassistin. Freundin von Vernon. Hat ihn als Erste aufgenommen, sich aber geweigert, ihn länger als eine Nacht zu beherbergen.
Frustrierter Drehbuchschreiber. Alter Freund von Vernon, der ein Wochenende bei ihm verbracht hat. Am Ende von Band 1 trifft er Vernon als Obdachlosen wieder und wird von einem Fascho halb totgeschlagen.
Frau von Xavier
Ist Vernon in einer Bar begegnet, er dachte, sie wolle ihn anmachen, aber sie hatte ihn nur wiedererkannt: Ihr Vater nahm sie oft mit in den Plattenladen, als sie klein war. Sie ist tätowiert und arbeitet in der Bar Le Rosa Bonheur in den Buttes-Chaumont.
Produzent. Achtung: gemeingefährlich …
Früher Privatdetektivin, heute spezialisiert auf Cyber-Mobbing. Sie wird von Laurent Dopalet beauftragt, das Interview von Alex Bleach aufzutreiben.
Assistentin von Laurent Dopalet.
Ex-Geliebte von Alexandre Bleach, hat Vernon eine Zeit lang aufgenommen und eine Affäre mit ihm gehabt. Zum Abschied hat er sich ein paar Bücher und eine Uhr »geborgt«. Sie sucht ihn in den sozialen Netzen und in ganz Paris, wild entschlossen, ihm zu schaden.
Rockmusikkritikerin, Fan von Bleach, will seine Biografie schreiben. Dabei trifft sie Vernon und nimmt ihn ein paar Tage auf.
Ex-Porno-Star, Trans, arbeitet bei einer Vertriebsfirma für E-Zigaretten, enger Freund von Pamela Kant.
Ex-Porno-Star, Online-Tetris-Profi.
Koksender Trader. Hat Vernon ein paar Tage beherbergt und dann rausgeworfen.
Freundin von Kiko, Marcia, Vernon und der Hyäne. Um ihr einen Gefallen zu tun, hat sie Vernon ein paar Tage untergebracht (bei Kiko, wo sie wohnt).
(früher Leo): entzückende brasilianische Transsexuelle, Starfriseuse, wohnt bei Kiko.
(ursprünglich Faïza): Ex-Porno-Star. Mutter von Aïcha. Ex-Geliebte von Bleach. Ex-Kollegin von Daniel und Pamela. Tod durch Überdosis.
Früherer Ehemann von Faïza. Linker, laizistischer Universitätsdozent. Zieht seit dem Tod von Faïza/Vodka Satana allein ihre gemeinsame Tochter groß.
Tochter von Faïza/Vodka Satana und Sélim. Junge, gläubige Muslima. Sélim, ein alter Freund der Hyäne, hat diese gebeten, seine Tochter zu beobachten, die ihm zunehmend entgleitet.
Alter Freund von Vernon, Ex-Mann von Cécile. Gewalttätig in Beziehungen. Hat alle Kontakte zur Musik abgebrochen. Er ist der letzte, der Vernon aufgenommen hat, bevor der auf der Straße gelandet ist.
Angestellter bei H&M. Freund von Loïc.
Fahrradkurier, Freund von Noël. Am Ende von Band 1 verpasst er Xavier Fardin den Tritt an den Kopf, der ihn ins Koma und ins Krankenhaus bringt.
Obdachloser. Gibt Vernon Ratschläge und Kontaktadressen für sein neues Leben als Berber. Bewegt sich im Umkreis der Buttes-Chaumont.
Große rothaarige wilde Obdachlose. Beschimpft die Faschos, die den Obdachlosen Decken geben. Die Straße ist ihr Reich.
Vernon wartet die Nacht ab. Erst als in allen Fenstern ringsum die Lichter erloschen sind, klettert er über mehrere Zäune und wagt sich nach hinten in den Gemeinschaftsgarten. Sein linker Daumen quält ihn, er weiß nicht mehr, wo er sich die kleine Abschürfung zugezogen hat; anstatt zu verheilen, ist sie geschwollen und er staunt, dass so eine harmlose Wunde derart wehtun kann. Er durchquert das abschüssige Grundstück, geht auf einem schmalen Pfad an den Weinreben entlang. Dabei passt er auf, dass er nichts beschädigt. Er will nicht gehört werden, auch morgens soll niemand seine Anwesenheit bemerken. Am Wasserhahn trinkt er gierig. Dann beugt er sich vor und hält den Nacken unter das Wasser, reibt kräftig sein Gesicht und kühlt den verletzten Finger lange unter dem eisigen Strahl. Gestern hat er das relativ warme Wetter ausgenutzt, um sich gründlich zu waschen, aber nachdem er seine stinkenden Sachen wieder angezogen hatte, kam er sich noch dreckiger vor als vorher.
Er richtet sich auf und streckt sich. Sein Körper ist schwer. Er denkt an ein richtiges Bett. An ein warmes Bad. Aber nichts bleibt hängen. Er pfeift darauf. Ihn erfüllt nur ein Gefühl absoluter Leere, die ihn erschrecken sollte, das begreift er noch, dies ist nicht der richtige Moment, sich gut zu fühlen, aber in ihm herrscht eine stumme, fade Ruhe. Er war sehr krank. Jetzt ist das Fieber gesunken, seit ein paar Tagen hat er wieder genug Kraft, um sich auf den Beinen zu halten. Sein Geist ist geschwächt. Die Angst wird schon wiederkommen, sagt er sich, sie wird ziemlich bald wiederkommen. Im Moment berührt ihn nichts. Er hängt in der Luft, genau so, wie das seltsame Viertel, in dem er gelandet ist. Die Butte Bergeyre ist ein Plateau mit ein paar Straßen, das man über Treppen erreicht, man trifft selten ein Auto, es gibt weder Ampeln noch Geschäfte. Nichts als Katzen, jede Menge. Vernon schaut zur Kathedrale Sacré-Cœur hinüber, die über Paris zu schweben scheint. Der Vollmond taucht die Stadt in gespenstisches Licht.
Er spinnt. Er hat Aussetzer. Das ist nicht unangenehm. Manchmal versucht er sich selbst gut zuzureden, er kann nicht endlos hierbleiben, es ist ein kalter Frühling, er wird sich den Tod holen, er darf sich nicht gehen lassen, er muss wieder runter in die Stadt, saubere Sachen finden, etwas unternehmen … Aber schon während er versucht, pragmatische Vorsätze zu fassen, geht es wieder los. Er gerät ins Trudeln. Die Wolken haben einen Sound, die Luft an seiner Haut ist weicher als Stoff, die Nacht hat einen Geruch, die Stadt spricht zu ihm und er entschlüsselt ihr Gemurmel, das aufsteigt und ihn umschließt, er rollt sich darin zusammen und schwebt. Er weiß nicht, wie lange dieser süße Wahnsinn ihn jedes Mal fortträgt. Er wehrt sich nicht. Sein von den Ereignissen der letzten Wochen traumatisiertes Gehirn hat wohl beschlossen, die Wirkung der Drogen zu imitieren, die er in seinem früheren Leben konsumiert hat. Am Ende gibt es jedes Mal einen winzigen Klick, ein langsames Erwachen. Seine Gedanken werden wieder normal.
Über den Hahn gebeugt, trinkt er erneut in langen Zügen, die ihm die Luftröhre zerreißen. Seit der Krankheit tut ihm der Hals weh. Er hat gedacht, er würde krepieren auf dieser Bank. Das wenige, woran er sich noch erinnert, ist körperlicher Art: ein unerträgliches Brennen im Rücken, das Pochen in der verletzten Hand, die entzündeten Blasen an den Knöcheln, die Mühe beim Schlucken … Er pflückt einen Apfel im Garten, ganz klein und sauer, aber Vernon braucht Zucker. Schwerfällig klettert er über den Zaun, der den Garten von einem Grundstück trennt, auf dem er neuerdings schläft. Er klammert sich an die Äste, um seinen Körper hochzuziehen, fliegt auf der anderen Seite fast auf die Fresse und beendet die Aktion auf Knien im Schlamm. Er würde sich gern bemitleiden oder ankotzen. Irgendwas. Aber da ist nichts. Außer der absurden Ruhe.
Er geht über den Hinterhof des verlassenen Hauses, in dem er sich verkrochen hat. Von dem, was ein Patio mit herrlichem Blick auf die Hauptstadt werden sollte, ist nur ein betoniertes Viereck übrig, in dessen Ecke man gut vor Wind und Regen geschützt ist. Verrostete Eisenpfeiler markieren die Ecken. Vernon hat von einem Arbeiter auf der Baustelle gegenüber gehört, dass das Grundstück seit Jahren brachliegt. Die Fundamente drohten einzusinken, die tragenden Wände bekamen Risse und der Eigentümer hatte eine Grundsanierung begonnen. Dann starb er bei einem Autounfall und seine Erben können sich nicht einigen, bekriegen sich, verkehren nur über ihre Anwälte. Das Haus wurde verriegelt und verrammelt. Vernon schläft dort schon eine Weile, er könnte nicht sagen, ob seit zehn Tagen oder einem Monat – sein Zeitgefühl ist ihm abhandengekommen, wie alles andere. Er mag sein Versteck. Bei Tagesanbruch öffnet er ein Auge und rührt sich nicht, genießt die Weite der Landschaft. Paris offenbart sich, von so weit oben wirkt es geradezu einladend. Nachts, wenn die Kälte zu groß wird, kauert er sich in eine Ecke und zieht die Beine ganz dicht an den Körper. Er hat keine Decke und kann nur auf seine eigene Wärme zählen. Manchmal legt sich eine fette, einäugige Katze mit rotem Fell auf seinen Bauch.
In den ersten Nächten auf der Butte Bergeyre hat Vernon auf der Bank geschlafen, auf der er zusammengeklappt war. Tagelang regnete es ununterbrochen. Niemand störte ihn. Er halluzinierte im Fieber, machte eine unglaubliche Reise, drehte völlig durch. Dann war er allmählich wieder zu sich gekommen und bedauernd aus der wohltuenden Watte des Deliriums aufgetaucht. Ein alter Säufer, der ihn am ersten Sonnentag auf seiner Bank entdeckte, hat ihn erst wüst beschimpft, aber als er merkte, dass Vernon zu schwach war, um zu antworten, sorgte er sich um ihn und schloss ihn irgendwann ins Herz. Er hat ihm Orangen und eine Packung Aspirin gebracht. Charles ist laut und ziemlich bekloppt. Er meckert viel und erzählt von seiner Heimat im Norden, wo sein Vater Eisenbahner war. Er lacht oft und schallend, klopft sich auf die Schenkel, dann mündet sein Lachen in schleimigen Husten, an dem er fast erstickt. Vernon ist auf »seiner« Bank gelandet. Nach einer kurzen Abwägung, deren Kriterien er allein kennt, hat der Alte beschlossen, sein Kumpel zu werden. Er kümmert sich um ihn, kommt vorbei, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist. Charles hat ihn gewarnt, »Bleib nicht zum Pennen da, wenn es schön ist«, und hat ihm das wenige Meter entfernte Haus gezeigt. »Sieh zu, dass du reinkommst, und verkriech dich hinten. Tauch ein paar Stunden am Tag ab, sonst wirst du bald von den Straßenfegern verjagt. Musst dich noch ein bisschen ausruhen, mein Junge!«
Vernon hatte nicht auf die Warnung gehört und musste schon am zweiten sonnigen Morgen dafür büßen. Die Straßenreinigung spritzte die Bürgersteige ab. Er hat sie nicht kommen hören. Einer von ihnen hat mit seinem Strahl auf Vernons Gesicht gezielt. Er ist aufgesprungen und der Mann hat die Pappen weggespült, die ihn vor der Kälte schützten. Ein junger Schwarzer mit feinem Gesicht, der ihn hasserfüllt angestarrt hat. »Zisch ab hier! Die Leute haben keine Lust, morgens deine dreckige Faulenzerfresse zu sehen, wenn sie aus dem Fenster sehen! Mach, dass du wegkommst.« Und Vernon erkannte am Ton, dass er gut daran tat, sofort zu gehorchen. Die Tritte würden nicht auf sich warten lassen. Er hat geschwankt, seine Glieder waren steif vom langen Liegen. Er hat sich durch die angrenzenden Straßen geschleppt, auf das Brummen des Reinigungswagens gelauscht und versucht, sich davon zu entfernen. Die Ungerechtigkeit seiner Lage war ihm absolut gleichgültig. An dem Tag begann er zu begreifen, dass irgendwas bei ihm nicht rundläuft. Er fragte sich, wo er gelandet war. Er brauchte eine Weile, ehe ihm klar wurde, warum ihm der Ort so fremd vorkam: Er begegnete keinem Auto, hörte nicht mal einen Motor. Um ihn herum gab es nur kleine, von Gärten umgebene Häuser, so wie früher. Würde man von der Bank, die er gerade verlassen hatte, nicht direkt auf Sacré-Cœur sehen, hätte er geglaubt, im Fieber den Zug genommen zu haben und auf dem Land zu sein. Oder in den Achtzigern.
Zu schwach, seine Wanderung fortzusetzen, war er an den Ausgangspunkt zurückgekehrt, sobald das Fahrzeug weg war. Er rieb sich mit der Handfläche die Wangen, überrascht, einen so dichten Bart zu spüren. Sein ganzer Körper war von der Kälte geschunden, er hatte Durst und stank nach Urin. Er erinnerte sich gut an die Ereignisse der letzten Tage. Er hat einen Freund, den man auf der Straße zusammengeschlagen hatte, im Krankenhaus zurückgelassen, ohne sich zu fragen, ob der Verletzte wieder zu sich kommen würde. Er war durch den Regen geirrt und hier gelandet, er war elendig krank gewesen und glücklich wie ein armer Irrer. Aber so sehr er darauf wartete, er spürte nichts von den widerlichen Bissen der Angst. Vielleicht hätte sie ihn dazu gebracht, zu reagieren. Er spürte nur seinen schmerzenden Körper und seinen eigenen Geruch, der ihm irgendwie eine angenehme Gesellschaft war. Normale Gefühle hatten ihn verlassen. Er fing an, den Himmel zu beobachten, das beschäftigte ihn den Tag über. Bevor die Nacht hereinbrach, setzte sich Charles wieder zu ihm, auf dieselbe Bank, »freut mich zu sehn, dass du allmählich aufwachst, Kumpel. Wurde auch Zeit!«
Er hat Vernon erklärt, dass sie im Norden von Paris sind, in der Nähe der Buttes-Chaumont. Er bot ihm ein Bier an und die Hälfte eines weichen, zusammengedrückten Baguettes, das schon eine Weile in seiner Tasche gesteckt haben musste und auf das sich Vernon gierig stürzte. »Herrgott, iss langsam! Sonst wirst du noch krank. Bist du morgen noch da? Ich bring dir Schinken mit, du musst wieder auf die Beine kommen.« Der Alte ist kein Penner, seine Hände sind nicht schrundig, die Schuhe neu. Aber ganz frisch ist er auch nicht. Es scheint ihm nichts auszumachen, mit Männern zu trinken, die nach Pisse stinken. Sie haben einfach so dagesessen, ohne viel zu reden.
Seither ist Vernon wie schwerelos. Eine unsichtbare Hand hat an allen Knöpfen seines Mischpults gedreht – alles ist anders ausgesteuert. Er kommt nicht weg von dieser Bank. Solange man ihn nicht mit Gewalt wegschafft, ist die Butte Bergeyre seine Zuflucht, eine winzige, schwebende Insel. Er fühlt sich wohl hier.
Er macht kurze Spaziergänge, um seine Beine zu lockern und die Bank nicht den ganzen Tag zu beanspruchen. Manchmal setzt er sich auf die Treppen am Rand seines Territoriums oder bleibt auf einer Straße stehen, aber er kehrt immer an seinen Ausgangspunkt zurück. Zu seiner Bank vor dem Gemeinschaftsgarten mit unverbaubarem Blick auf die Dächer von Paris. Er entwickelt seine Gewohnheiten.
Die Arbeiter, die gleich nebenan in der Rue Rémy-de-Gourmont arbeiten, haben ihn zuerst ignoriert. Irgendwann kam der Baustellenchef in der Pause rüber, um zu rauchen und zu telefonieren. Er kam auf die Bank zu und Vernon überließ ihm den Platz, entfernte sich, um nicht aufzufallen, aber der Mann rief ihn zurück. »Seit zwei Tagen beobachte ich dich hier … Hattest du nicht mal einen Plattenladen?« Vernon zögerte – er hatte Lust, Nein zu sagen und in Ruhe gelassen zu werden. Seine einstige Identität interessierte ihn nicht mehr. Sie war ihm von den Schultern gerutscht wie ein alter, schwerer, lästiger Mantel. Wer er jahrzehntelang gewesen war, betraf nicht ihn, sondern einen anderen. Aber der Mann ließ ihm keine Ruhe. »Erinnerst du dich nicht an mich? Ich war Bäckerlehrling, gleich nebenan … ich kam ziemlich oft.« Das Gesicht sagte ihm nichts. Vernon hob ratlos die Arme, »ich bin nicht mehr ganz klar im Kopf«, und der andere lachte, »ja, ich merk schon, das Leben hat dir übel mitgespielt …« Seither kommt er jeden Tag während der Pause, um zwei Minuten zu schwatzen. Wenn man draußen lebt, ist eine Wiederholung nach drei Tagen schon ein Ritual. Stéphane trägt Bermudas und große Sportschuhe, er hat Locken und raucht Selbstgedrehte. Er erzählt gern von seinen Festivalerinnerungen, spricht über seine Kinder oder erläutert Probleme mit den Männern auf der Baustelle. Er vermeidet jede Anspielung darauf, dass Vernon draußen schläft. Schwer zu sagen, ob dahinter außergewöhnlicher Takt oder erbarmungslose Gleichgültigkeit steckt. Er bietet ihm von seinem Tabak an, lässt ihm manchmal Chips oder den Rest seiner Cola da. Und er erlaubt ihm, tagsüber die Baustellentoilette zu benutzen. Das ist ein Riesenschritt für Vernon, er hatte schon zwei Löcher in dem Garten gegraben, wo er schläft, aber es ist extrem aufwendig, mit nackten Händen tief genug in die Erde zu kommen und danach alles abzudecken, damit man auch nichts riecht, wenn es warm ist … mittelfristig wäre das sein Untergang gewesen. Die Bewohner des Viertels hätten sich irgendwann über den Gestank beschwert.
Seit drei Tagen kommt Jeanine heimlich zu ihm. Sie füttert auch ein paar wilde Katzen. Vernon bringt sie Essen in Tupperdosen. Sie will nicht gesehen werden, weil ihr die Anwohner schon oft gesagt haben, sie soll die Obdachlosen nicht ermutigen hierzubleiben. Er ist nicht der Erste, wie sie ihm erzählt hat. Am Anfang fanden das alle nett und wollten ihren Nächsten helfen, aber es gab zu viele Probleme: Erbrochenes, ein lautes Radio, das die ganze Nacht hindurch lief, ein geschwätziger Spinner, der keine Grenzen kannte und in die Häuser der Leute kommen wollte, um mit ihnen zu reden; ein anderer stand unter Psychodrogen, führte Selbstgespräche und machte den Kindern Angst … Die Anwohner hatten keine Wahl – sie mussten ihre Anteilnahme bremsen. Jeanine besteht darauf, ihr Abendessen mit ihm zu teilen. Sie ist winzig, gebeugt, kokett, die Brauen mit einem selten geraden Strich gezeichnet, der Lippenstift dagegen immer sauber aufgetragen; ihre weißen Haare umgeben das gepuderte Gesicht in tadellosen Locken. »Jeden Morgen Wickler, damit höre ich erst auf, wenn man mich ins Grab legt.« Sie trägt lebhafte Farben und bedauert, dass der Frühling so schlecht ist, weil sie ihre schönen Kleider nicht anziehen kann, »und ich weiß doch nicht, ob ich nächstes Jahr noch da bin, um sie aufzutragen«. Sie sagt zu Vernon, »Sie sind ein Netter, das sieht man sofort, in meinem Alter hat man einen Blick dafür, Sie sind ein Netter, und Sie haben wunderbare Augen.« Dasselbe sagt sie zu den Katzen, die sie füttert. Sie füllt ihm Wasserflaschen und bringt ihm Reis mit einem ordentlichen Stück Butter. Sie sagt nichts dazu, aber Vernon vermutet, dass sie denkt, was gut für das Fell der Katzen ist, ist auch gut für den Menschen. Gestern hatte sie ein paar Schokoladenstücke in Aluminiumpapier gewickelt. Er war überrascht, mit welchem Genuss er sie gegessen hat. Für einen Moment haben die Geschmacksnerven fast wehgetan. Er hatte schon vergessen, wie es ist, etwas in den Mund zu stecken, das richtig lecker schmeckt.
Wie jeden Tag verlässt Charles gegen achtzehn Uhr den Tresen des PMU-Kiosk in der Rue des Pyrénées und geht die Avenue Simon-Bolivar entlang bis zum Lebensmittelladen vor dem Eingang zum Park. Der Mann an der Kasse verzieht keine Miene. Er löst kaum den Blick vom Cricketspiel im Fernsehen, um ihm das Wechselgeld zu geben.
Langsam geht der Alte in den Buttes-Chaumont-Park. Er hat es nicht eilig. Eltern warten vor dem kleinen Puppentheater, ohne miteinander zu reden. Drinnen schreien ihre Kinder, »Pass auf! Hinter dir!«. Seine Lieblingsbank ist links, nicht zu weit weg von den öffentlichen Toiletten. Er wischt das grün gestrichene Holz mit der flachen Hand sauber, es gibt immer ein paar Deppen, die ihren Schlamm da abladen, wenn sie die Füße auf die Bank stellen, um mit erhöhten Beinen Liegestütze zu machen. Mit dem Feuerzeug öffnet er das erste Bier. Vor ihm belauern sich zwei Katzen, stoßen ab und zu bedrohliche Schreie aus, können sich aber nicht entschließen, den Kampf aufzunehmen.
Charles hat den Park schon immer gemocht. Nachdem er sich am Nachmittag vor der gleißenden Sonne in die dunkelste Ecke seines Bistros verdrückt hat, trinkt er hier seinen Apéro. Das große Problem in den Buttes-Chaumont sind die Höhenunterschiede. Irgendwann wird er tot umfallen, wenn er versucht, einen Hang hochzukraxeln.
Laurent gesellt sich zu ihm. Er kennt Charles’ Zeiten. Hier fällt immer ein Bier ab. Wieder und wieder erzählt Laurent dieselben fünf oder sechs Geschichten, unterbrochen von seinem hohlen Lachen. Wenn er zum zehnten Mal dieselbe Prügelei beschreibt, würde Charles ganz gern die Platte wechseln, aber er erwartet nicht viel von seinen Mitmenschen. Du kannst nicht zugleich Säufer und wählerisch in deinem Umgang sein. Laurent gehört zu seinem Tagesablauf. Natürlich würde er den Apéro lieber mit der dicken Olga teilen. Er hatte schon immer eine Schwäche für Verrückte. Er würde sich sogar einen Eimer Beschimpfungen über den Kopf kippen lassen, wenn sich Olga an einem Sommerabend von ihm einwickeln lassen würde. Als er sie zum ersten Mal gesehen hat, trug sie apfelgrüne Clogs, er hat sie aufgezogen und Bozo der Clown genannt, sie hat ihm prompt eine runtergehauen. Dafür musste Charles sie dann vertrimmen. Sie hätte ihm gern jeden Schlag heimgezahlt, aber Olga ist eine Liebe, da ist nichts zu wollen. Wenn sie zuschlägt, ist es wie ein Küsschen. Den Alten hat es gerührt, wie sie so eifrig um sich geschlagen hat, und er ist voller Zuneigung. Sie ist ihm immer noch böse wegen dieser ersten Begegnung. Er mag die Verrückten und Hässlichen. Natürlich hat er immer das Gegenteil behauptet. Er nickt, wenn ihm andere von einer unkomplizierten Frau wie von einem kostbaren Schatz erzählen, er behauptet, er träume von einem schnuckligen Häschen, das keinen Aufriss macht und nie Geschirr zerdeppert, aber das gehört zu dem Quatsch, den sich Kerle wie er halt erzählen. Als er sich ein anständiges Mädchen leisten konnte, ist er trotzdem bei der Véro geblieben, und jedes Mal, wenn er sie betrügt, ist die Frau völlig daneben. In der Natur gibt es alles. Vorzeigbare Mädchen langweilen ihn.
Die Parkwege sind aufgeweicht. Es hat stundenlang geregnet. In den Bistros reden sie von nichts anderem mehr, nur vom Wetter und davon, wie furchtbar der Frühling ist. Es wird dauern, ehe die Spaziergänger wiederkommen. Um sie herum ist alles voller Jogger, als hätten sie in den Büschen darauf gewartet, rauszuspringen und zu hecheln wie am Galgen. Manche möchte man aus purer Vernunft zum Stehenbleiben zwingen, so deutlich sieht man, dass sie mit dem, was sie sich da zumuten, ihre Gesundheit gefährden. Laurent starrt angewidert auf seine Schuhe.
»Du hast keine 40, oder?«
»Ich habe 44. Wieso?«
»Du hast immer schicke Botten. Ich such welche … Meine gefallen mir überhaupt nicht.«
»Das sind Bauarbeiterschuhe. Nicht gerade bequem.«
»Ich bin bis zur Kleiderkammer des Secours populaire gezockelt, um was abzustauben … es gab einfach nichts. Das ist die Krise, die Leute behalten ihr Zeug.«
»Da hast du ein Problem.«
»Ich geh morgen zur Rue Ramponeau, hoffentlich haben sie da ein Paar in meiner Größe, die hier scheuern, ich hab schon eine Blase am Hacken.«
Auf der Bank nebenan piesackt ein schwarzer Riese in silbernem Jogginganzug einen schmächtigen Weißen in Shorts, der sich nach seinen Anweisungen abstrampelt. Mit Stentorstimme brüllt der Coach, »Nicht stehen bleiben! Nicht stehen bleiben, nimm das Seil, keine Pause, komm schon, immer in Bewegung bleiben!«, und der Hänfling hüpft auf der Stelle und starrt leer vor sich hin, erschöpft und kurz vor dem Abnibbeln. Laurent kümmert sich nicht lange um ihn, er ist fasziniert von einer Dicken, die in blauem Overall wie ein betrunkener Kosmonaut den Weg heraufkommt. Charles streckt Laurent ein neues Bier hin und sagt:
»Wenn es nach mir geht, wär der Park für Sportler verboten. Sie versauen uns die ganze Stimmung.«
»Dann ist auch Schluss mit den hübschen Mäuschen, die hier halb nackt joggen. Guck mal die, die da ankommt, wäre doch schade, wenn du ihr verbietest, uns zu begeistern.«
Männer wie Laurent, und davon gibt es Tausende, haben das Problem, dass ihre Reaktion immer absehbar ist. Die propere blonde Studentin, die inzwischen den Hang runtertrippelt, ist so was von öde. Die riecht sogar noch nach Seife, wenn sie rennt. Nicht dass Charles eine Moralskala für die Libido der anderen hätte. Aber heutzutage sind die Kerle alle gleich, als würden sie Abendkurse nehmen, um sich so ähnlich wie möglich zu werden. Wenn du Laurents Gehirn aufklappst, um dir die Mechanik anzusehen, findest du darin genau die gleiche gequirlte Scheiße wie bei dem Manager, der sich neben ihnen mit seinen Sit-ups quält: kleine Size-zero-Püppchen, Rolex-Plunder und ein riesiges Haus am Strand. Nichts als Schwachsinn.
Es gibt einen gewaltigen Unterschied zwischen seiner Generation und der von Laurent. Seine hat nichts für die Reichen übrig! Die Prolls von heute können sagen, was sie wollen, sie wären alle gern mit einem silbernen Löffel im Mund geboren. In Lessines, wo Charles aufgewachsen ist, diktierten die Sirenen des Steinbruchs den Tagesablauf. Sie verachteten die Vornehmen aus der Oberstadt. Mit dem Chef wird nicht getrunken. Das war das Gesetz. In den Kneipen sprachen sie nur über Politik, der Klassenhass nährte eine echte Proletarieraristokratie. Sie konnten die Bosse noch verachten. Das ist alles verschwunden, zusammen mit der Liebe zu gut gemachter Arbeit. Es gibt kein Arbeiterbewusstsein mehr. Die Jungs haben nur eins im Kopf, zu sein wie der Chef. Wenn du einem wie Laurent freie Hand lässt, legt er es nicht darauf an, die Geldsäcke zum Teilen zu zwingen, sondern in ihren Club einzutreten. Einheitlichkeit der Wünsche. Alles Spießer! Das gibt gutes Kanonenfutter.
Ein Stück entfernt stehen vier Parkwächter mit einem Mann in grauem Anzug neben einem Blumenbusch und rauchen. Ein stämmiger, lächelnder Asiat, Stammgast des Parks, immer mit einem Stetson auf dem Kopf, kommt rückwärts den Hügel hoch. Das macht er immer, wenn er in den Park kommt, und er redet mit niemandem. Ein alter grauer Hund mit kurzen Beinen und langem Fell springt um ihn herum. Charles fragt Laurent:
»Weißt du, warum die Chinesen das machen?«
»Rückwärts den Hang hochlaufen? Keine Ahnung. Das ist eine andere Kultur.«
»Stimmt, wir machen das eigentlich nicht.«
Laurent haust seit Beginn des Frühlings auf den stillgelegten Gleisen ganz unten im Park. Da schlafen nur drei Leute und die Wächter drücken beide Augen zu, solange niemand nachts auf dem Rasen liegt.
Eine Frau sieht sich suchend um, sie weiß wohl nicht, wo sie hinmuss. Sie trägt einen langen roten Mantel, vorn zugeknöpft, ein Kleinmädchenmantel, der ihr welkes Gesicht noch deutlicher hervortreten lässt. Bestimmt Lehrerin. Wenn sie viel Kontakt zu Erwachsenen hätte, würde sie sich anders anziehen. Laurent hebt die Hand, als er sie sieht, und grüßt sie von Weitem. Sie ist überrascht, dann erkennt sie ihn und kommt näher:
»Guten Tag. Geht’s gut?«
»Bestens. Wollen Sie einen Schluck?«, fragt er und streckt ihr sein Bier hin.
Sie weicht unwillkürlich einen Schritt zurück, als würde er ihr die Flasche gleich mit Gewalt in den Mund schieben.
»Nein, nein, danke. Ich suche das Rosa Bonheur, wissen Sie, in welche Richtung ich gehen muss?«
»Sie suchen wohl immer irgendwas.«
Laurent mimt den Aufreißer. Charles ist das peinlich. Du Hirni, bildest du dir etwa ein, dass eine so ordentlich und sauber angezogene Frau aus deiner Flasche trinkt und sich für dein Theater interessiert?
»Zum Rosa Bonheur, das ist ganz einfach, Sie gehen den Weg da rein und dann fünfhundert Meter geradeaus. Haben Sie Ihren Subutex gefunden?«
»Nein. Sie haben ihn auch nicht mehr gesehen?«
»Nichts … Aber ich kann Ihre Kontaktdaten aufnehmen und wenn ich was höre, melde ich mich.«
Laurent schwallt sie voll wie eine Empfangsdame. Er drückt die Brust raus und öffnet den Reißverschluss seines dicken Gabardinemantels, holt ein altes oranges Notizheft raus und bittet die Dame mit seinem zahnlosen Grinsen um einen Stift. Es tut richtig weh, mit anzusehen, wie er zeigen möchte, dass er ganz zivilisiert sein kann. Die Dame in Rot verzieht ärgerlich das Gesicht und reißt sich unbewusst ein Haar zwischen den Augen aus. Laurent redet weiter, wie es seine Art ist – wenn er einen neuen Zuhörer hat, lässt er ihn nicht so schnell los:
»Vernon hat sich mächtig reingeritten, weil er mit der falschen Braut abgehangen hat … Typisch Anfänger, zu freundlich. Wenn ich ihn mit der Olga gesehen hätte, hätte ich ihn gewarnt, er soll vorsichtig sein. Wir fallen alle drauf rein. Am Anfang ist sie ganz nett, aber wenn du mit ihr abhängst, sitzt du bald in der Tinte … Die Straße ist nichts für Mädchen. Für sie ist es auch einfacher, nicht da zu landen. Die Olga hätte sich drei Bälger machen lassen sollen, als sie das richtige Alter hatte, schon gibt’s Unterhalt und kein Problem, ich kann dir sagen, als ledige Mutter, da kriegst du deine Sozialwohnung. Wir Kerle ohne Kind können krepieren, aber die Familie, die ist heilig! Aber sie, nein, sogar Brüten war ihr schon zu viel, totale Niete, die Olga. Muss unbedingt alles so machen wie ein Kerl … wenn’s ums Prügeln geht, ist sie dabei, aber abkriegen tut’s immer das arme Schwein neben ihr …«
»Wenn Sie ihn sehen, sagen Sie ihm bitte, dass wir ihn suchen, ja? Sagen Sie ihm, Emilie, Xavier, Patrice, Pamela, Lydia … Wir suchen ihn alle. Sagen Sie ihm, wir machen uns Sorgen um ihn … und wir möchten ihm etwas sagen, etwas Wichtiges.«
»Soll ich jetzt Ihre Nummer aufschreiben? Wie heißen wir denn?«
Die Frau im roten Mantel kann nicht Nein sagen. Sie heißt Emilie. Widerwillig gibt sie ihm ihre Handynummer, dann hastet sie davon. Ihre Hüften sind ziemlich breit, ihre Schritte unsicher. Charles fragt, »wo hast du die denn her?«, und Laurent prahlt:
»Das ist eine ganze Bande. Sie suchen Vernon Subutex, aber ich hab keine Ahnung, wo er sich verkrochen hat.«
»Und was ist das für ein Kasper?«
»Ein Berber. Ganz frisch. Nicht für so was gemacht, der Mann. Zu sanft. Zu empfindlich. Keine Ahnung, wo er hin ist, aber man hat gleich gesehen, dass er nicht für das Leben draußen gewappnet ist, der Mann. Die alten Kokser haben wenigstens ein bisschen Straßenerfahrung, aber er … zu edel, der Mann. Ist von einem Unglück ins andere getappt, bis ein Kumpel von ihm ordentlich einstecken musste und liegen geblieben ist. Dann ist er abgetaucht, der Mann. Seitdem suchen ihn seine Kumpels.«
»Sie sah aber nicht sauer aus.«
»Ich glaub nicht, dass sie ihn suchen, um ihn zu vermöbeln, nein … Das ist eine total abgefahrene Truppe, sie rennen seit drei Tagen durch den Park und suchen diesen Subutex.«
»Wie sieht dein Subutex denn aus?«
»Franzose, ziemlich schnöslig, schöne Augen, latscht wie ein schwuler Rocker, lange Haare … sieht eigentlich nicht toll aus, aber er ist kein schlechter Kerl.«
Die Beschreibung passt verteufelt gut zu seinem neuen Freund auf der Butte Bergeyre. Charles ist misstrauisch. Er hat gedacht, der Junge krepiert auf seiner Bank, so krank war er. Wenn er sich versteckt, hat er seine Gründe. Jedem sein Geheimnis, jedem seine Art, damit umzugehen.
»Und du hast nicht die geringste Ahnung, was die Frau eben von ihm wollte?«
»Warum interessiert dich das so?«
»Passiert nicht jeden Tag, dass so eine Dame hinter einem Penner her ist.«
»Bei Frauen musst du immer aufpassen. Sie ziehen ihre Show ab … da ist irgendwas mit einem Toten.«
»Einem Toten?«
»Sie nerven uns ohne Ende, dass sie sich nur für Kinder interessieren … Babys machen, sich um die Zwerge kümmern und das ganze Theater … und wir sollen ihnen das alles abkaufen. Aber überleg mal. Das Einzige, was die Weiber wirklich beschäftigt, sind die Toten. Das ist ihr Ding. Die vergessen sie nicht. Sie wollen sie rächen, wollen sie begraben, wollen sicher sein, dass sie in Frieden ruhen, wollen, dass man ihr Andenken ehrt … Die Frauen glauben nicht an den Tod. Das kriegen sie einfach nicht hin. Das ist der eigentliche Unterschied zwischen ihnen und uns.«
»Ich weiß nicht, wo du deine bescheuerte Theorie herhast, aber sie ist wenigstens originell.«
»Denk darüber nach, wenn du heute Abend deinen Rausch ausschläfst. Du wirst sehen. Das macht schon Sinn.«
»Das sagt uns aber nicht, was sie von ihm wollte.«
»Nein. Aber ich würde mit der Dame gern über den Sinn des Lebens plaudern. Ich bin ein hilfsbereiter Mensch. Ich mag solche schüchternen Frauen, die machen mir Lust, zum Husaren zu werden …«
Charles überlässt ihn seinem lüsternen Geschwafel. Er ist wirklich überrascht, dass die Frau in Rot mit ihnen geredet hat. Er sieht schließlich auch wie ein Penner aus. Die Leute zögern, ihn anzusprechen. Aber wenn er Lust hat, mit jemandem zu quatschen, weiß er schon, wie er das anstellt. Das ist dasselbe wie mit den Tauben oder Krähen, man muss nur kleine Aufmerksamkeitsköder auslegen. Er macht es wie die kleine Alte, die bis zum letzten Sommer durchs Viertel tippelte. Sie wohnte in der Rue de Belleville, und wenn sie Punkt sechzehn Uhr aus dem Haus kam, erkannten die Tauben sie sofort. Sie versammelten sich in riesigen Schwärmen am Himmel und auf der Straße und folgten ihr. Unter den Bäumen verteilte sie Händevoll Krümel und Körner. Es ist verboten, Vögel zu füttern. Wenn man die Alte nicht sah, war dieser Riesenschwarm, der sich ganz langsam durch die Avenue Simon-Bolivar bewegte, ziemlich beunruhigend. Irgendwann haben ihre Kinder sie ins Heim gesteckt. Charles hat es am Tresen gehört, in der Bar am Eingang zum Park. Die Alte hatte eine Eigentumswohnung. Wahrscheinlich haben die Kinder gespürt, dass sich der Wind dreht und die Krise kommt, da haben sie lieber verkauft, bevor die Preise in den Keller fallen. Ins Sterbehaus! Sie war rüstig und hat nie gern gebechert, ihr einziger Spleen bestand darin, beim Nachmittagsspaziergang die Tauben zu füttern … sie hat niemanden gestört. Über Leute, die Kinder kriegen und denken, das ist ihre Altersversicherung, kann Charles nur lachen. Er hat oft genug beobachtet, dass sie nur ungeduldige Aasgeier aufziehen. Keiner mag die Alten, nicht mal ihre eigenen Kinder.
Im Park gibt es noch so einen wie sie. Er läuft auch ganz krumm und taucht jeden Tag auf, hört irgendwas im Kopfhörer. Lange Haare und abgewetzte schwarze Jacke. Seine Freunde sind die Krähen. Sobald er ankommt, erkennen ihn die Viecher und versammeln sich im Kreis um ihn. Die Krähen sind viel besser organisiert als die Tauben. So groß wie Hühner, schönes glänzendes Schwarz und erschreckend intelligent, auch wenn die Menschen immer davon ausgehen, dass Tiere nicht viel begreifen. Die Krähen im Park begreifen schnell, mit wem sie es zu tun haben. Sie brauchen den Alten nicht zum Sattwerden – sie schlitzen die Müllbeutel auf und bedienen sich. Aber man könnte meinen, sie mögen die Geselligkeit. Sie kreuzen nicht erst auf, wenn er mit seinen Körnern kommt, sie warten richtig auf ihn. Und wenn der Alte woandershin muss, weil ihm die Parkwächter auf den Fersen sind, bringt das die Tiere nicht aus der Fassung. Sie folgen ihm und informieren ihre Krähen-Kumpels, dass sich der Treffpunkt geändert hat. In diesem Frühjahr war der Alte nicht mehr da, Charles hat nicht rausgekriegt, was passiert ist. Wahrscheinlich im Krankenhaus. Er war viel zu jung, um von seinen Kindern eingewiesen zu werden; auch wenn sie scharf darauf sind, ihren Anteil an der Kohle zu kassieren, ist es nicht so einfach, sich eines Vaters zu entledigen, der noch in Form ist und vor allem bei Verstand – da müssen sie sich wohl oder übel gedulden. Charles hat die Véro gebeten, im Internet nachzusehen, was diese Vögel fressen. Dann ist er jeden Tag zur selben Zeit an denselben Ort gekommen und hat die Viecher gefüttert. Er hat sich gesagt, dass irgendwer die Sache übernehmen muss. Und er hat begriffen, warum es Leute gibt, die das machen – die Krähen sind mindestens so lustig wie seine Saufkumpane. Sie haben kleine lebhafte Augen und bringen dich echt zum Lachen. Charles geht jede Woche in die Tierabteilung von Bricorama. Das stinkigste Regal im ganzen Laden, tausend Fliegen schwirren da rum, wegen den halb aufgerissenen Säcken mit Hundefutter – er muss dazwischen rumkraxeln, wo es ihn im Rücken sticht und die Knie immer wackliger werden –, seine Stelzen geben nach, das Ganze geht in die Binsen, das Alter, normal. Aber er sucht sich Halt. Die Freundlichkeitsmacke ist mit dem Alter gekommen.
Charles hat im Lotto gewonnen. Ja! Er, das alte, vertrocknete Furunkel. Ein echter Witz. Pferdewetten macht er häufiger, aber Lotto selten. Wie alle Trottel im PMU füllte er manchmal einen Schein aus, wenn der Jackpot besonders verlockend war. Das Verrückteste bei dem Ganzen war nicht, dass er gewonnen hat, sondern dass er bei der Ziehung vor der Glotze saß und die Batterien der Fernbedienung leer waren; er war zu faul, aufzustehen und umzuschalten. Genau diese Umstände waren der Grund, dass er die Ergebnisse dann aufmerksam verfolgte – er hätte nie geglaubt, dass er zu den Gewinnern gehört. Obwohl das ja letztendlich die Idee bei dem Spiel ist: Es kann jeden treffen. Sogar ihn. Er spielt immer dieselben Zahlen, das Geburtsdatum seiner Mutter. Nicht so schwer. Die Kugeln purzelten in das Rohr – die richtig süchtigen Spieler hat er noch nie verstanden, es gibt doch nichts Langweiligeres als eine Lottoziehung. Aber dann fielen seine Zahlen, eine nach der anderen, mit der beängstigenden Präzision des Schicksals, das dich holen kommt, dich und keinen anderen. Es hat ihn aus dem Halbschlaf gerissen. Seine Brust wurde immer enger, sein Herzschlag immer schneller. Gar nicht mal so angenehm, zu große Freude. Er war auf einen Schlag nüchtern. Die Véro lag auf ihrem Sofa, pennte wie ein Sack, mit offenem Mund und Rotweinspuren in den Mundwinkeln. Wenn sie in dem Moment aufgewacht wäre, hätte er ihr die Ohrfeige ihres Lebens verpasst – alles lieber, als zuzugeben, dass es ihm so vorkam, als hätte er gewonnen. Er war nicht daran gewöhnt, dass das Leben angenehme Überraschungen für ihn bereithielt, und dachte am Anfang, er dreht durch. Da musste doch was faul sein.
Er war von der Schublade zu seinen Jackentaschen getaumelt und hatte den Schein schließlich gefunden. Das war ein Wunder, denn er hatte ihn zusammengeknüllt, ohne weiter darauf zu achten. Zehn Minuten zuvor hätte er es nicht mal bis zum Klo geschafft, aber plötzlich war er munter wie ein Zicklein. Orkan im Gehirn, Herrgott! Nicht mal imstande, sich gleich zu freuen, viel zu durcheinander. Er redete sich gut zu – alte Arschgeige, hör auf, dir das Hirn mit solchem Schwachsinn zuzuscheißen, du hast dich verhört, morgen siehst du klarer, vielleicht hast du ein oder zwei Richtige, aber den Hauptgewinn? So ein Quatsch. Reicht es dir denn nicht irgendwann, immer den Deppen zu spielen? In der Nacht hatte er nicht geschlafen. Er legte sich hin, ohne sich auszuziehen, dann schleppte er sich zum Sessel, versuchte die Véro zu wecken, machte ein Bier auf und leerte es vor dem Fenster, packte sich wieder in die Falle. Vergeblich.
Am nächsten Morgen war er Punkt acht im Bistro. Er schrieb die Zahlen sorgfältig ab, kontrollierte zweimal, dass er sich nicht irrte, drehte den Schein in alle Richtungen – nichts Verdächtiges. Er setzte sich an den Tresen, ganz hinten, im Halbdunkel verborgen – um die Zeit kannte er sowieso niemanden und das Chinesenpaar würde ganz sicher nicht mit ihm plaudern. Sie hatten den Laden übernommen, nachdem Ahmed, Eigentümer seit Urzeiten, an einem Sommerabend vor der Glotze wegen einer Hirnblutung abgekratzt war. Ein paarmal haben sie Charles schon rausgeworfen, als er zu dicht war, sie können ihn nicht leiden. Aber das ist sein Laden, er kommt jeden Morgen her.
Charles schlug die Zeitung auf und kontrollierte noch mal. Am Morgen und nüchtern kam es ihm noch unfassbarer vor als am Vorabend. Der brutale Bruch in seinem Alltag erfüllte ihn eher mit Schrecken als mit Freude. Fast hätte er sich noch beklagt, dass ihn das Schicksal nie in Ruhe lässt. Wie schlecht man sich selber kennt! Er hätte geschworen, dass er sein Leben hasst und alles dafür geben würde, es von Grund auf zu ändern. Aber jetzt, wo es ihn traf, klammerte er sich an seine Gewohnheiten, als würde ihm jemand drohen, ihn mit Fußtritten aus seiner Wohnung zu jagen. Zwei Millionen. Was sagst du dazu, Fettsack? In einer einzigen Nacht hatte Charles seine Unbeschwertheit verloren. Mehr als sechzig Jahre war er von einem Delirium zum anderen durch diese Existenz getorkelt, hatte am Tresen jedem, der es hören wollte, entgegengebrüllt, dass er mit niemandem nix zu schaffen hat, dass ihm keiner auf den Sack gehen soll. Vorbei, die Sorglosigkeit.
Dabei hatte er schon verschiedene Leben hinter sich. Er hatte seine Mutter mit den Zähnen im Boden scharren sehen, um etwas zu essen für sie aufzutreiben, sein Vater war von einem Tag auf den anderen verschwunden und hatte nie mehr versucht, seine Ehefrau und seine Kinder wiederzusehen. Charles war Lehrling, als in Belgien 1960 die Streiks losbrachen, er war König des Pétanque und Fernfahrer, Bürohengst und leidenschaftlicher Tarot-Spieler, Plakatekleber und Hahnrei, Raufbold und Gipser gewesen. Die große Leidenschaft seines Lebens ist und bleibt die Flasche, die Bistros und die Geschäfte mit Nachtlizenz. Er ist ein glücklicher Trinker. Die Flasche hat ihn nie enttäuscht oder fallen lassen. Er hat dummen Zicken Blumen geschenkt und sich mit netten Gänschen wie ein Idiot benommen, er hatte Dutzende Weiber, eine bescheuerter als die andere. Die schlimmste Schlampe war eine Vornehme mit »von« im Namen gewesen, ihre Familie hatte noch ein zerfallenes Schloss und sie erniedrigte sich gern in den Bars. Sie hatte ihm ein Balg angehängt. Er hat gesagt, ich will nicht Vater werden, das war in den Achtzigern, sie hat geantwortet, ich mache es allein, und wenn es dir nicht gefällt, hättest du dich sterilisieren lassen müssen, du Arschloch. Sie hatte nicht unrecht. Er hat das Kind nicht anerkannt. Hat nie versucht, es zu sehen. Auch die Véro ist schwanger geworden. Aber als er ihr gesagt hat, dass er nicht Vater werden will, hat sie es wegmachen lassen. Sie war eingeschnappt, war sauer, aber sie hat es wegmachen lassen. Und auch noch ganz allein, ohne ihn zu bitten, sie zu begleiten oder was dazuzuzahlen. Das ist eine Harte. Hat reagiert wie ein echter Prolet. Nichts schmiedet so fest zusammen wie solche Prüfungen, die Proleten haben gelernt zusammenzustehen. Die Véro ist noch vom alten Typ, Tochter einer Lehrerin, die einen Bauern geheiratet hat, so eine verrät ihren Mann nicht. Er hat schon gemerkt, dass es sie einiges gekostet hat, kein Gör zu haben. Und sogar ihm hat es irgendwo tief drinnen etwas ausgemacht. Aber man muss realistisch bleiben, zwei Suffköppe wie sie, da hätte das arme Ding die ganze Nacht brüllen können, es hätte keinen aufgeweckt. Und was hätte das Kleine für eine Fresse gehabt, so, wie sie beide aussehen? Sie hat es wegmachen lassen. Nicht wie die andere Zicke mit dem »von«. Wenn dieser falschen Baronin Charles’ Glück zu Ohren kommt, steht sie am nächsten Tag mit ihrem Vaterschaftstest vor der Tür. Und die Männer haben da nichts zu sagen, sie sind automatisch Väter. Sie würde ihren Anteil an der Kohle verlangen und ihm die Hölle heißmachen. Die Véro würde fluchend die Wände hochgehen, und recht hätte sie, die Alte.
Aber er würde auch der Véro nichts davon sagen. Nicht so schnell. Er würde gut überlegen, bevor er es ihr verrät. Er ging die Rue des Pyrénées hoch und fragte in der nächsten Post nach einem Telefonbuch. Er wollte die Nummer von Française des Jeux suchen, aber die Schalterfrau, eine junge, dicke und boshafte Schwarze, lachte ihn aus. Es gibt kein Telefon und kein Telefonbuch mehr in der Post. Er sagte von oben herab, »das ist doch der Gipfel, dass man bei der PTT nicht telefonieren kann«, sie erteilte ihm lächelnd eine Abfuhr, »kommen Sie, Sie sind zu jung, um noch PTT zu sagen!«. Doch weniger blöd, als sie aussah. Das entwaffnete ihn, er ging raus, ohne länger Theater zu machen. Dann lief er bis zur Place Gambetta, aber das Lokal, an dessen Telefonkabine im Keller er sich erinnerte, war modernisiert worden. Sie können es nicht lassen. Etwas funktioniert gut, alle sind zufrieden, es hat sich vernünftig und solide entwickelt – aber sie müssen kaputt machen, was in Ordnung war, und dafür irgendwelche Dinger hinstellen, die niemand mehr begreift. Der letzte Spleen ist die Eröffnung von Lokalen, in denen sich die Säufer nicht mehr wohlfühlen. Sie sperren ihre Zielgruppe aus. Und später jammern sie alle, wenn sie zumachen müssen. Aber ein Bistro lebt nicht von drei Touristen, die ein Croque-Monsieur schlemmen. Du brauchst einen Grundpfeiler, um dich zu halten, Männer, die bereit sind, ihr Haus zu verkaufen, um zu trinken. Wenn du Alkohol verkaufst, brauchst du eine Kundschaft von echten Trinkern, keine Liebhaber von Himbeer-Kir.
Charles kaufte sich also eine Telefonkarte. Verdammt, wenn sich die Geschichte als Blödsinn entpuppte, den er sich einredete, wenn er nichts gewonnen hatte, hatte er gerade zehn Euro für eine Karte versenkt, die er nie wieder benutzen würde. Charles misstraut dem Telefon. Er hört nicht mehr besonders gut, er versteht nicht, was man ihm erzählt. Das ist beschissen, er antwortet aufs Geratewohl und brüllt in den Hörer. Dann machte er sich auf die Suche nach einer Telefonzelle an einem ruhigen Ort, wo kein Bekannter die Tür aufreißen würde, um zu sagen, Was treibst du denn hier, alter Halunke? Komm, wir gießen uns noch einen hinter die Binde.
Er wusste nicht, wie er das formulieren sollte, was er zu sagen hatte. Ich habe den Schein mit den Richtigen in meinem Besitz, oder, ich rufe an, um Auskünfte bezüglich des Hauptgewinns einzuholen … Wie allen Proleten fällt es ihm schwer, mit Institutionen zu kommunizieren. Sie sollten nicht hören, dass er ein Proll war, aber er wusste, dass man es umso deutlicher hören würde, je mehr er sich Mühe gab, ordentlich zu sprechen.
Die Trulla am anderen Ende war daran gewöhnt. Sie beruhigte ihn. Er war offenbar nicht der einzige Dödel, der bei La Française des Jeux anrief. Und nicht der Schlimmste. Sie hatte schnell erfasst, worauf er hinauswollte – ein Gewinn gehörte für sie zu den Dingen, die vorkommen, bitte warten Sie einen Moment, er hörte Ravels Bolero,