Inhaltsverzeichnis

Fußnoten

Heines Werke in fünf Bänden, Berlin, 1974, Bd. 1, Vorrede

Christian Morgenstern, »Gedichte – Verse – Sprüche«, Limassol, 1998, S. 23

Fernando Pessoa, »Algebra der Geheimnisse – Ein Lesebuch«, Frankfurt a.M., 1990, S. 24

Johann Peter Hebel, Werke, Erster Band, herausgegeben von Eberhard Meckel, Frankfurt a.M., 1968, S. 271ff.

ibd. S. 243

Auszug aus der Nobelpreis-Rede von 1954

Robert Musil, »Prosa und Stücke – Kleine Prosa – Aphorismen – Autobiographisches – Essays und Reden – Kritik«, Reinbek, 1978, S. 476f.

Friedrich Hölderlin, Gesammelte Werke, herausgegeben von Bernt von Heiseler, Gütersloh, 1954, S. 181

Fjodor Dostojewski, »Der Jüngling«, Roman, aus dem Russischen von Hermann Röhl, Dritter Teil, Frankfurt a.M., 1997, S. 501ff.

Ralf C. Grewe, Copyright liegt beim Autor

Adolf Endler, »Die Gedichte«, herausgegeben von Robert Gillett und ­Astrid Köhler unter Mitarbeit von Brigitte Schreier-Endler, Gesammelte Werke, Bd. 1, Göttingen, 2018

Kurt Tucholsky, »Liebesgedichte«, ausgewählt von Katja Lange-Müller, Frankfurt am Main, 2008, S. 57f.

Wolfgang Hilbig, »Die Flaschen im Keller«, aus: »Der Schlaf der Gerechten«, Frankfurt a.M., 2003, S. 47ff.

Mark Twain, »Tom Sawyer & Huckleberry Finn«, herausgegeben und übersetzt von Andreas Nohl, München, 2010, S. 382ff.

Katja Lange-Müller, Dankesrede zur Verleihung des Kleist-Preises 2013, in: Kleist Jahrbuch 2014, Stuttgart/Weimar, 2014, S. 12

Katja Lange-Müller, »Drehtür«, Roman, Köln, 2016

Ingo Schulze, in: DER SPIEGEL, 3.9.2007

Neufassung der Erzählung »Manchmal kommt der Dot auf Latschen« von Katja Lange-Müller. Erstabdruck einer früheren Fassung dieser Erzählung erschien in: »Wehleid – wie im Leben«, Frankfurt a.M., 1986, S. 26

Katja Lange-Müller, in: »Dinner for one«, Berlin, 2012, S. 117ff.

Womöglich bin ich hier falsch. Ob ich hier doch richtig war, das entscheiden letzten Endes Sie. Warum fühle ich mich fehl am Platze in einer Universität, noch dazu einer, die einen so großen Namen trägt und so viel auf Tradition hält wie diese?

Erstens: Ich habe nicht mal Abitur. Zweitens: Eine Stunde nicht rauchen. Drittens: Ich bin keine Rednerin, sondern eine Schreiberin. Viertens: Ich kann nicht frei sprechen. Aber wer kann das heute schon noch? Um frei sprechen zu können, müssten sich Frau und Mann erst einmal frei fühlen. Zwischenfrage: Und Sie, Sie alle, meinen Sie, dass Sie hier richtig sind? Fühlen Sie sich frei?

Egal, Sie sind hergekommen, ich auch. Also versuchen wir es.

Ja, was soll ich sagen? Die Frage ist schon mal befremdlich – im literarischen Kontext. In dem nämlich dürfte sie nur lauten: Was muss ich sagen? Das meine

Die Antwort ist ziemlich simpel: Wenn ich beim Lesen den Eindruck gewinne, diesen Text konnte, ja, musste, so nur diese Autorin, dieser Autor schreiben, wird mir von Zeile zu Zeile klarer: Jetzt habe ich es mit Literatur zu tun. Ein wirklich gutes Gedicht, eine echt gelungene Erzählung, einen tatsächlich ergreifenden Roman erkenne ich daran, dass ebendies, zumindest für mein Gefühl, keiner oder keinem anderen sonst eingefallen wäre. Solche Texte sind zumeist existenziell, rühren von nicht verheilten seelischen Verletzungen her, von Unvergesslichem und Ungelöstem. Manchmal wirken sie so, als seien die jeweilige Autorin, der jeweilige Autor ihrem oder seinem Lebensstoff lange ausgewichen. Vielleicht, weil sie oder er sich noch nicht reif genug wähnten, um sich der – womöglich schwierigsten – Geschichte ihres oder seines Daseins zu stellen, wohlbemerkt schreibend zu stellen.

Und von nun an sage ich immer Autor, weil die genderkorrekte Formuliererei eh nicht allen Geschlechtern gerecht wird und mächtig aufhält, beim Schreiben und beim Sprechen.

Wie, frage ich mich, denn ihn kann ich ja meist nicht mehr fragen, mag es jenem Menschen ergangen sein, ehe er schließlich zum Stift oder in die Tastatur griff und sich in sein Los schickte, das Los, schreiben zu müssen?

Der Autor jammert: »Haut ab. Ich will nicht, ich kann nicht. Das ist zu schwer für mich. Sucht euch einen anderen. Gibt doch genug schreibfaule Schriftsteller …«

Aber schließlich, Krise hin, Krise her, wird der Autor nachgeben, nachgeben müssen, weil diese kugelköpfigen Plagegeister so hartnäckig sind. Er wird sich erheben, sein verquollenes Gesicht unter den Wasserhahn halten und anfangen zu tippen. Erna, Peter und Tarik lassen ihm keine Ruhe und keine Wahl. Und sicher werden sie, kaum dass der Autor begonnen hat, sie zu skizzieren, auch noch undankbar sein und mit ihm disputieren: »So mies, wie du uns siehst, sind wir nicht.« – »Ich will eine interessante dünne Frau sein«, sagt Erna, »keine hübsche,

»Klappe halten«, wehrt sich der Autor, »ihr seid, was mir vorschwebt, also meine Geschöpfe!« – »Nee«, erwidern Erna, Peter und Tarik, »wir sind die, die wir sind, nicht die, die du dir wünschst.«

Mal werden die Figuren ihren Willen durchsetzen, mal der Autor seinen. Doch bald übernehmen sie die Führung und ziehen den wehrloser und wehrloser werdenden Autor hinter sich her oder spannen ihn gar vor ihren Karren. Und wenn all diese Kämpfe ausgestanden sind, ist am Ende womöglich ein Text fertig, der den Leser spüren lässt, dass er geschrieben werden musste – von keinem anderen als diesem XY. Aber die Figuren sind immer die Ersten. Mit ihnen beginnt es, denn sie sind das Thema. Ohne sie würde es überhaupt kein Thema geben. Ich habe Autoren gelesen, die Thesenromane schrieben, was ja auch gut und interessant sein kann, Autoren wie Émile Zola oder Michel Houellebecq. Bei denen ist die Personnage vor allem dazu da, in disparaten Rollentexten die Ansichten des Autors und die seiner polemischen Widersacher zu verkünden. Das ist nicht meine Herangehensweise. Ich will wirklich etwas wissen von den Figuren, die sich für mich entschieden haben. Ich will, dass sie selbst reden, dass sie auch mal sagen: »Nein! So führst du mich nicht vor. Das ist falsch.« Und dann verhandle ich mit ihnen, bis wir zumindest einen Kompromiss gefunden oder sie gewon

Raymond Queneau, der große französische Surrealist, und, laut Selbstbeschreibung, »Hersteller hochwertiger literarischer Scherzartikel«, als dessen bekanntestes Werk »Zazie in der Metro« gilt, hat aus dem Albtraum aller ernsthaften Schriftsteller – dem, dass die Protagonisten sich seinem Willen verweigern könnten – einen irrwitzigen Text gemacht. In »Der Flug des Ikarus«, so heißt dieser schmale Roman, malt er in den finstersten Farben und der ihm eigenen grotesken Manier aus, was passiert, wenn ein despotischer, gegen jede poetische Gerechtigkeit verstoßender Autor die fragilen Autoritätsverhältnisse zwischen sich und seinen Figuren missachtet. Und genau dies wurde bei Queneau ein we

Davor, die Charaktere von Protagonisten, die sich ihren Autor, und warum nicht Sie oder mich, ja eigens erwählt hatten, unmäßig verändern oder gar entstellen zu wollen, sei also dringend gewarnt, nicht jedoch vor diesem wahrhaft »tollen« Dialog-Roman Raymond Queneaus, der sich prima als Hörspiel oder auf der Bühne inszenieren ließe und den Sie, falls Sie ihn noch nicht kennen, unbedingt lesen sollten.

Ach ja, es ist schon so, wie es Heinrich Heine sagt, wenngleich weitaus heroischer als Queneau:

… – nein, wir ergreifen keine Idee, sondern die Idee ergreift uns und knechtet uns, peitscht uns in die Arena hinein, daß wir wie gezwungene Gladiatoren für sie kämpfen.[1]

Christian Morgenstern sagt es dann wieder lakonischer:

Blödem Volke unverständlich

treiben wir des Lebens Spiel.

fruchtet unserm Spott als Ziel.[2]

Und weise wie keiner sonst sagt es Fernando Pessoa:

Der Poet verstellt sich, täuscht uns so vollkommen und gewagt,

daß er selbst den Schmerz vortäuscht, der ihn wirklich plagt.[3]

Was ich Ihnen mitteilen wollte, ist, dass hinter dem griffigen Begriff originäre Literatur nichts anderes steckt als dringlich Geschriebenes, Notwendiges, buchstäblich, im Sinne von Not-Wenden. Texte, die geschrieben werden mussten – oder zumindest geschrieben werden wollten, unterscheiden sich schon sehr von solchen, die sich nur dem Beruf des Autors verdanken, der ein Schriftsteller, ein aus seiner Redaktion entlassener Journalist oder ein alternder Moderator sein mag. So einer sitzt zwischen den Citrus-Bäumchen auf seiner Dachterrasse, blinzelt in die Sonne und fragt sich: Worüber möchte ich denn heute mal was schreiben, etwas, das die Menschen interessiert und sich, was ja keine Schande ist, außerdem gut verkaufen lässt. Texte, die auf diese Art entstehen, können interessant, ja, lesenswert sein, doch ob

Und nun sage ich unumwunden, also überspitzt, was ich für »wahr« halte, obwohl ich weiß, dass die Wahrheit keine private, sondern eine philosophische Kategorie ist: Wenn ein erzählender Text, ein Stück, ein Gedicht so gar nichts Autotherapeutisches hat, ein Stoff seinem Verfasser nicht »in der Seele brennt«, er nicht schreibend versucht, einige – zunächst nur für ihn selbst – lebenswichtige Fragen zu ergründen, kommt selten einmal Literatur dabei heraus.

Ob meine – vergleichsweise wenigen – Erzählungen und Romane, zu denen ich ja wohl noch etwas mehr sagen soll und sagen werde, in dieser und der letzten Vorlesung, meinen strengen Literatur-Kriterien entsprechen, auch das bestimme nicht ich; nein, das beurteilen Sie – und andere – und womöglich erst nach meinem mehr oder minder seligen Ende. Aber das Privileg, von, nicht etwa über, Literatur zu reden, wenn ich die Werke einiger, mir besonders wichtiger Autoren als »Argumentationsstoff« heranziehe, möchte ich uns schon einräumen.

Und damit komme ich zu dem, was sich, reichlich hochtrabend, Poetik nennt. Meine Poetik unterstelle ich einem Teil jenes Titels, den ich gerne auch zur Oberüberschrift aller fünf Vorlesungen ernannt hätte: »Mit links (und links hätte in diesem Fall nicht meine politische Ge

 

Letzte Sätze eines Textfragments, aus meiner »Schublade«:

Seit ich fühlen und denken kann, fürchte ich mich vor dem Schreiben noch mehr als vor der Liebe. Das eine rührt daher, dass ich ein extremer Linkshänder bin, das andere wohl kaum. Geliebt und geschrieben habe ich trotzdem immer wieder, doch sicher nie aus Liebe, weder der zu meinen literarischen Figuren noch der zu einem Leser oder gar zu mir; und das, obwohl viele schreibende und nichtschreibende Menschen unbeirrbar glauben, ein Autor müsse, damit ihm etwas gelinge, sich selbst, seine Leser und vor allem seine Figuren lieben, einfache Sympathie reiche da nicht aus.

Wenn Schriftsteller Träume erzählen, höre ich gerne und neugierig zu. Wenn sie ihre Träume aber schreibend erzählen, habe ich gleich zwei Probleme: Zum einen irritiert mich bis heute, dass man im Deutschen erzählen sagen und damit auch schreiben meinen kann, zum anderen misstraue ich niedergeschriebenen (und veröf

Dennoch kann ich mir am zweiten Anfang meines Redens zu meinem Schreiben nicht verkneifen, einen Traum gerade so zu erzählen, wie ich es eben kritisiert habe, womöglich noch plumper: Eines Nachts, und das werde ich nie vergessen, erschien mir eine riesige, klapperdürre, von pinkfarbenem Tüll umwehte Gestalt, in deren sieben Augenhöhlen ebenso viele 1000-Watt-Lampen leuchteten. Diese offensichtlich böse Roboterfee oder -hexe – oder was das nun war – zückte ein gewaltiges Krummschwert und ließ dessen dünne Klinge etli

Mir kamen im Schlaf, im Traum, die Tränen; ich rang mit dem Schwindel, der mich zu erfassen drohte, doch die Gestalt zählte bereits: »Fünf, vier, drei, zwei, …« – Weil ich nicht daran zweifelte, dass sie Ernst machen würde, winselte ich: »Dann lesen, lass mich bitte …« – Aber da sagte sie schon: »Eins!« – Halt, wollte ich rufen, ich nehme das zurück. Gib mir noch die Viertelsekunde bis null! – In dem Moment klingelte glücklicherweise das Telefon oder der Wecker. Ich fuhr, mein schweißnasses Haupt schüttelnd, vom Kissen hoch, und der fette langweilige Roman, über, richtiger unter dem ich eingeschlafen war, fiel polternd zu Boden.

Vor einiger Zeit, auf Schloss Elmau, habe ich diesen Traum, jedenfalls ungefähr diesen, schon einmal erzählt – in des Wortes ursprünglicher Bedeutung – und der geselligen Runde etlicher Kollegen, die ich, ehe ich preisgab, wie meine Entscheidung ausgefallen war, erst mal fragte, was sie wohl gewählt hätten in einer derart bedrohlichen Situation. Alle sagten: schreiben; das sei ihnen wichtiger, davon lebten sie schließlich – alle, außer einem Dichter. Es war, Ihnen kann ich es ja verraten, Durs Grünbein. Der meinte, dieser Traum sei eine perfide Schnapsidee von mir, an der Priorität des Lesens

Mit diesem zweifelhaften Selbstzitat wäre ich nun endlich bei meinem dritten und letzten Anfang: Schreiben können setzt, wie wir seit anno Schnee wissen, Lesen können voraus. Doch lange bevor die meisten von uns lesen und dann schreiben lernen, hören, sehen, sprechen sie bereits. Bei mir, wie bei vielen späteren Schriftstellern, war das meiste wie bei diesen meisten – und trotzdem irgendwie anders, was vermutlich erst einmal noch nicht mit meiner ausgeprägten Linkshändigkeit zusammenhing, denn die hinderte mich ja seltsamerweise kaum am Lesen. Sobald ich einigermaßen begriffen hatte, was ein Text ist, galt meine Aufmerksamkeit so oft wie möglich nur noch Gedrucktem. Ich wollte nichts mehr hören, nicht mehr sprechen, wurde wirklichkeitsflüchtig und, da Fernsehapparate wohl bereits erfunden, im Osten Deutschlands aber noch ziemlich rar waren, eine manische Betäubungsleserin. Die dicksten Schwarten zog ich aus dem nicht eben kanonisch sortierten Bücherregal meiner Eltern, und wenn

Lesen, also Buchstaben verfolgen und verstehen, konnte ich früh, eigentlich schon, bevor ich in die Schule kam. Und auch das Schreiben wäre mir sicher leicht gefallen, wenn, ja, wenn ich es mit jener Hand hätte tun dürfen, mit der ich alles andere tat. Aber das strenge Fräulein Meinel, meine erste Klassenlehrerin, ließ es nicht zu. Sie störte der Anblick meiner, wie sie sagte, »linken, krummen Kralle« ganz gewaltig. Ihr werde,

Und Katja, die jedes Wort und beinahe jede Antwort wusste, stand an der Tafel und nahm, um ein Wort oder eine Antwort draufzuschreiben, die Kreide in die linke Hand … »Nein, nein, mit rechts, mit rechts«, riefen die vom Fräulein Meinel angestifteten neunundzwanzig Rechtshänder der 1b. Und Katja versuchte es, und die Kreide brach ab, und Katja ging unverrichteter Dinge wieder zu ihrem Platz und bemühte sich und krampfte »das schöne Händchen« um den Füller, dessen mit viel zu großem, ungleichmäßigem Druck geführte Feder sich spreizte und kleckste oder gar keine Tinte mehr freigab und manchmal auch noch das Papier zerriss. Katja

Noch immer verblüfft mich der Gedanke, dass Lesbares,Geschriebenes.