Auch in diesem Jahr hatte sie keine Nachricht aus dem Universum des Vaters empfangen. Vom Meer kroch die letzte Nacht an Land, samtwarm unter klarem Himmel. Wie Diamanten in einen Schacht zum Mittelpunkt der Erde fielen die Sterne auf einer steilen Bahn nach unten. Kurz fügten sie sich zu verspielten Formationen, lösten sich wieder voneinander und bildeten neue. Sternschnuppen. Satelliten.
Mit verrenktem Nacken stand sie inmitten von Männern und Frauen, die entschlossen waren, sich in dieser karibischen Silvesternacht zu amüsieren und wenn nötig mit allem nachzuhelfen, das in dieser Gegend noch als einigermaßen schicklich durchging. Was mache ich hier, dachte sie kurz, und dann: Ist das hier immer so? Stürzen die Sterne in jeder Nacht so übereinander her oder nur zum Jahreswechsel? Sie sah die Diamanten in den Schacht fallen und schrieb ihrem Bruder eine SMS. »Happy New Year, Andreas! Vom Erdkern, b.«
Niemand schien vom Himmel Notiz zu nehmen. Der Tisch, zu dem sie geführt wurden, war noch leer. Sie war mit Freunden gekommen, aber ihre kleine Gruppe würde nur die Hälfte der Stühle besetzen. Unterwegs hatten sie sich darüber unterhalten, wer wohl die anderen sein würden, Paare, Einzelne, eine Familie vielleicht mit maulenden Kindern. Sie hofften auf Paare, Einzelne. Einen Haufen Freunde, wie sie es waren. Eine Weile kam niemand, schließlich ein junges Paar, das ganz mit sich allein blieb. Drei Stühle wurden weggeräumt.
Am Nachbartisch nahm eine Großfamilie Platz, schwarz gekleidete Männer mit geölten dunklen Haaren, die jungen durchtrainiert und eitel, die älteren auch eitel, trotz ihrer immensen Bäuche. Dazu die Frauen. Die Mütter in Schwarz und dick, mit neu geschnitzten Gesichtern, zwischen ihnen drei oder vier junge, die Töchter und Schwiegertöchter, vermutete sie, in schillernden Kleidchen über strammen Brüsten, Hintern und Schenkeln. Sie wiegten sich schon zum Takt der Musik, die von der nahen Bühne hinüberwehte, während sie an ihren Tisch geführt wurden. In ihren Ohren hatten die lauen Hits vergangener Jahrzehnte, die der DJ zum Aufwärmen spielte, nicht sehr animierend geklungen. Sie sollte nicht so streng sein, dachte sie, als sie die Mädchen an den Nachbartisch herantänzeln sah, nicht an Silvester, nicht in der Karibik, nicht an diesem Abend, der auf eine wenig aufregende Arbeitsreise folgte und ganz überraschend die Gesellschaft der Freunde gebracht hatte, die aus New York herübergekommen waren. Auch später würden die jungen Leute vom Nachbartisch zum Tanzen nicht zur Tanzfläche gehen, sondern einfach aufstehen, den Stuhl zurückschieben und anfangen zu tanzen, mit geschmeidigen Knien und Hüften und abwesendem Blick.
Kaum hatten sich die Männer gesetzt, begannen sie zu telefonieren. Jeder hatte offenbar in diesen letzten Stunden des Jahres noch wichtige Geschäfte zu erledigen, möglicherweise in anderen Zeitzonen, wo das neue Jahr bereits begonnen hatte oder das alte noch einige Stunden länger andauerte. Vielleicht aber auch nur im Hafen, wo die Boote anlegten, nachdem sie im offenen Meer die Pakete aufgelesen hatten, die von Flugzeugen aus Kolumbien hinunterfielen. Die Männer steckten sich dicke Zigarren ins Gesicht und pafften weiße Wölkchen in die klare Nacht. Würde die Band, die für später angekündigt war, sich trauen, einen Narco-Song zu spielen? Hatten die Männer am Nachbartisch vielleicht sogar einen eigenen?
Als das Feuerwerk losging, traten plötzlich die Leibwächter zahlreicher Gäste an den umliegenden Tischen aus dem Hintergrund, eine Hand ans Ohr, die andere an die Waffenholster gedrückt. Auch hinter den Männern am Nachbartisch standen plötzlich schwarz gekleidete Gestalten mit rasierten Köpfen und breiten Rücken. Vier Bodyguards für fünf Männer, was hatte das zu bedeuten?
Das Feuerwerk wäre der perfekte Augenblick für ein Attentat. Der Krach war groß genug, um eine Maschinengewehrsalve zu überdröhnen, sollte irgendjemand beschließen, in dieser letzten Nacht des Jahres noch eine alte Rechnung zu begleichen. Oder die Verhältnisse für das kommende in seinem Sinn geradezurücken. Aber es geschah nichts, außer dass die Kellner die Gelegenheit nutzten, neue Hummer aufs Büffet zu schaufeln.
Vielleicht, dachte sie, werden sich diese Menschen am Nachbartisch, die möglicherweise einen eigenen Narco-Song hatten, später an dieses Silvester als Höhepunkt ihrer Goldenen Zeit erinnern. Vielleicht genossen sie alles, was sie besaßen, und hofften darauf, in Zukunft noch mehr davon anzuhäufen. Vielleicht waren sie grausam und genossen das auch.
Sie hatte eine Familie gekannt, die so war. Gut angezogen, kalt und voller Schuld. Im Kreis dieser Familie hatte sie eine Hochzeit gefeiert. Sie war an den Katzentisch gesetzt worden, weil sie als Freundin einer der Söhne nicht als zugehörig zählte, was sie ebenso wenig vergaß wie den riesigen Hut mit Gazekrempe, den sie für die Gelegenheit bei einem Trödler gekauft hatte. Obwohl das Jahrzehnte her war, stand die Erinnerung plötzlich vor ihr, als sei es gerade eben erst gewesen.
Möglicherweise lag die beste Zeit der Menschen am Nachbartisch aber auch schon hinter ihnen, und sie telefonierten in dieser Nacht in tote Leitungen hinein, nur um die Fassade aufrechtzuerhalten, der Kinder wegen. Die bereits vollkommen verdorben schienen für irgendein anderes Leben als jenes, das sie an diesem Abend zur Schau stellten.
Sie bat den DJ, der weit nach Mitternacht die Band wieder abgelöst hatte, um Lieder von ihren Lieblingsalben. »Kind of Blue«. »Blue Train«. Der DJ grinste sie an und meinte, wie wäre es mit »Mackie Messer«, aber sie fand das nur milde amüsant und schüttelte den Kopf. Die Morgendämmerung lag bereits über dem Meer, und die Familie am Nachbartisch schien zum Aufbruch entschlossen. Doch als nach den ersten getupften Tönen von »So What« und dem Crescendo des Basslaufs endlich die Bläser loslegten, die Membrane in den Lautsprechern erzittern ließen und die letzten noch in den Blumenbouquets hängenden Melodiereste der Trash-Songs zuvor beiseite wischten, fingen die drallen Mädchen und ihre muskulösen Männer und Brüder den Beat in ihren butterweichen Gelenken auf und tanzten sich leise und versunken neben ihren Stühlen noch einmal in Trance wie in einem Nachtclub im New York der Sechziger. Die Väter ließen ihre Telefone in Ruhe und versuchten, erst zu dösen, rutschten dann aber zunehmend unruhig in ihren Stühlen hin und her, während die Mütter an ihren Schals herumzupften, ein paar Krümel vom Tisch schnippten und Blicke in die Dunkelheit schossen, deren Ziel sie nicht erkannte. Die Leibwächter gingen endlich ans Büffet.
Sie war mit ihren Freunden neben den Lautsprechern auf der Tanzfläche geblieben und hatte die Augen offen gehalten, um nicht zu verpassen, wie die Trompetensoli zickzack durch die Tischreihen rasten und die Feiernden aufscheuchten, die gedacht hatten, nach all dem Champagner, den letzten Hummern, dem Feuerwerk sei der Abend vorbei und das neue Jahr, das überfressen, betrunken und verwöhnt begonnen hatte, werde schon so weitergehen. Claudio, dachte sie. Was machte er in dieser Nacht? Spielte er vielleicht gerade diesen Song? Sie schaute kurz hoch zu den Sternen, den Satelliten und sagte leise: »Hi there.«
Ihr Blick war im Dunkel hängen geblieben. Auch in diesem Jahr, dachte sie, war sie in den wesentlichen Fragen unschlüssig geblieben.
War auf irgendjemanden in der Familie vom Nachbartisch Verlass, die jetzt so friedlich aussah, während die Jungen tanzten und die Alten mit kaum schwindender Langmut warteten, bis sie genug hatten? Irgendwann einmal Verlass gewesen? Sicher waren sie katholisch. Sicher waren die Väter sentimental und die Mütter von bitterer Boshaftigkeit. Aber hier, vielleicht immer, wenn sie gemeinsam vor die Tür gingen, demonstrierten sie Familie. Einigkeit in gewissem Protz, Machtanspruch, hinter dem die Möglichkeit zur Brutalität lauerte. Wäre sie an ihren Tisch gegangen und hätte gesagt: »Wissen Sie, Sie sehen genauso aus wie alles, was mich an Familien abstößt«, hätten sie wahrscheinlich erst ungläubig aufgeblickt und dann zugeschlagen.
Möglicherweise war diese Familie ganz harmlos, dachte sie versuchsweise. Trotz der Leibwächter. Aber sie glaubte das nicht. Mindestens einer der Jungen, da war sie sich sicher, würde für all das hier büßen müssen. Einer würde irgendwann aufstehen und sagen, ich mache hier nicht mit. Würde die Anrufe wegdrücken, in denen Paketabwürfe aus Kolumbien gegenüber dieser Bucht bestätigt wurden, und niemanden in Bewegung setzen, um sie aus dem Meer zu fischen. Er würde in Kauf nehmen, sein Erbe zu verlieren, wenn nicht Schlimmeres. Wenn er Glück hatte und am Leben blieb, würde er irgendeinen unaufregenden Job finden und versuchen, anständig zu bleiben.
Einer aus der Familie, die sie vor langer Zeit einmal kannte, hatte es so gemacht. Sie glaubte, das musste so sein. Einer musste sich abwenden, ohne die anderen zu verraten, sonst wären alle Familien und die Welt überhaupt längst in Flammen aufgegangen.
Sie schaute sich die Männer einen nach dem anderen genau an. Alle waren müde nach der langen Nacht, berauscht. Wer von ihnen aussteigen würde, ließ sich in diesem Zustand unmöglich ahnen.
Vielleicht aber waren dies alles nur Hirngespinste, und es lag einzig an ihr, dass sie, wenn sie Familien beisammensitzen sah, schnell Verdacht schöpfte. An Unglück dachte, an Enttäuschungen. Manchmal auch an kriminelle Vereinigungen.