Inhaltsverzeichnis

Fußnoten

Alle Daten und Zitate zum Prozess gegen Elfriede Scholz nach Claudia Glunz, Thomas F. Schneider. Elfriede Scholz, geb. Remark. Im Namen des deutschen Volkes. Dokumente einer justitiellen Ermordung. Osnabrück: Universitäts-Verlag Rasch, 1997 (Schriften des Erich Maria Remarque-Archivs, Band 11).

Tagebuch Remarques, Eintrag New York, 11.06.1946. Nachlass Remarques an der New York University, Fales Library, Remarque-Collection, R-C 4B.

Tagebuch Remarques, Eintrag New York, 03.07.1946. Nachlass Remarques an der New York University, Fales Library, Remarque-Collection, R-C 4B.

Tagebuch Remarques, Eintrag New York, 07.07.1946. Nachlass Remarques an der New York University, Fales Library, Remarque-Collection, R-C 4B.

Publiziert in Erich Maria Remarque. Ein militanter Pazifist. Texte und Interviews 1929–1966. Hg. und mit einem Vorwort von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1998, S. 66–83.

Tagebuch Remarques, Eintrag New York, 27.07.1946. Nachlass Remarques an der New York University, Fales Library, Remarque-Collection, R-C 4B.

Appleton Century und Erich Maria Remarque, Vertrag, New York, 18.12.1946, und Zusammenfassung des Vertrages, 14.02.1947. Erich Maria Remarque-Friedenszentrum, Konvolut Appleton Century, AC 005 und AC 017.

Tagebuch Remarques, Eintrag New York, 04.06.1948. Nachlass Remarques an der New York University, Fales Library, Remarque-Collection, R-C 4B.

Catharina »Toto« Koopman (1908–1991) war in den 1930er Jahren ein Fotomodell für Chanel und Mainbocher und arbeitete ab 1939 als Spionin für den Widerstand in Italien, wo sie mehrmals verhaftet wurde, ab 1944 bis kurz vor der Befreiung war sie im Frauen-KZ Ravensbrück inhaftiert. Nach Kriegsende lebte sie zunächst in Ascona, wo Remarque sie kennenlernte, danach in London und Italien.

Edgar Kupfer-Koberwitz (1906–1991) war in der Weimarer Republik Journalist gewesen und 1934 nach Paris und Italien emigriert, wo er 1940 aufgrund einer Denunziation verhaftet und ausgeliefert wurde. Von 1942 bis 1945 war er im KZ Dachau inhaftiert, nach der Befreiung ging er ins Tessin, danach in die USA und kehrte 1984 nach Deutschland zurück. Seine in der Haft verfassten Dachauer Tagebücher erschienen postum 1997, zuvor war 1956 ein Bericht über seine Haft veröffentlicht worden: Edgar Kupfer-Koberwitz. Als Häftling in Dachau. Bonn: Bundeszentrale für Heimatdienst, 1956.

Informationen nach ticinarte. www.ticinarte.ch/index.php/kok-leo.html (14.08.2017).

Siehe Wolfgang Röll. »›…ein Rest zitternden Lebens im Territorium sicheren Todes‹. Das Kleine Lager im KZ Buchenwald. Eine historische Studie«. In Thomas Schneider, Tilman Westphalen (Hg.). »Reue ist undeutsch«. Erich Maria Remarques Der Funke Leben und das Konzentrationslager Buchenwald. Bramsche: Rasch, 1992, S. 66–81.

Tagebuch Remarques, Eintrag Porto Ronco, 14.08.1950. Nachlass Remarques an der New York University, Fales Library, Remarque-Collection, R-C 4B.

Remarque las die Ausgabe: Eugen Kogon. Der SS-Staat. Stockholm: Bermann-Fischer, 1947. Die Erstausgabe war 1946 im von Kogon betreuten Verlag der Frankfurter Hefte erschienen.

Tagebuch Remarques, Eintrag Porto Ronco, 04.08.1951. Nachlass Remarques an der New York University, Fales Library, Remarque-Collection, R-C 4B.

Felix Guggenheim (1904–1976) war ein deutsch-jüdischer Publizist und Literaturagent. In der Weimarer Republik arbeitete er als Verleger, emigrierte 1938 zunächst in die Schweiz, dann in die USA, wo er in Los Angeles eine Literaturagentur gründete, die vor allem Exilschriftsteller wie Remarque und Vicki Baum vertrat.

Ausführlich zur deutschen Rezeption von Der Funke Leben Claudia Glunz. Fiktionalität und Zeitzeugenschaft als Probleme der Rezeption eines KZ-Romans. Erich Maria Remarque: Der Funke Leben (1952). Eine quantitative Inhaltsanalyse von 105 deutschsprachigen Rezensionen aus dem Zeitraum 1952–1955. Osnabrück: Universität Osnabrück [Magisterarbeit], 1992, und Claudia Glunz: »›Eine harte Sache‹. Zur Rezeption von Erich Maria Remarques Der Funke Leben«. In Thomas Schneider, Tilman Westphalen (Hg.). »Reue ist undeutsch«. Erich Maria Remarques Der Funke Leben und das Konzentrationslager Buchenwald. Bramsche: Rasch, 1992, S. 21–27.

»Neu in Deutschland«. In Der Spiegel (Hamburg), 24.09.1952.

Hannah Arendt. Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München: Piper, 1964, zuvor in Fortsetzungen 1963 im New Yorker.

Christopher Browning. Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen. Reinbek: Rowohlt, 1993.

Vor allem in Tadeusz Borowski. Die steinerne Welt. Erzählungen. München: Piper, 1963, zuerst 1946 als U nas w Auschwitzu.

Robert M.W. Kempner (1899–1993) war ein deutscher Jurist und ging 1935 ins Exil nach Italien und die USA. Dort arbeitete er für den Geheimdienst OSS, wodurch er mit Remarque in Kontakt kam. Bei den Nürnberger Prozessen arbeitete er als Ankläger und Chefankläger im »Wilhelmstraßenprozess«, bis zu seinem Tod war er Rechtsanwalt und Publizist in Frankfurt/Main und den USA, spezialisiert auf Prozesse gegen NS-Täter und Wiedergutmachungsfragen.

Günther Weisenborn. Der lautlose Aufstand. Bericht über die Widerstandsbewegung des deutschen Volkes 1933–1945. Hamburg: Rowohlt, 1953.

meiner Schwester

Elfriede

Das Skelett 509 hob langsam den Schädel und öffnete die Augen. Es wußte nicht, ob es ohnmächtig gewesen war oder nur geschlafen hatte. Zwischen dem einen und dem andern bestand auch kaum noch ein Unterschied; Hunger und Erschöpfung hatten seit langem dafür gesorgt. Beides war jedesmal ein Versinken in moorige Tiefen, aus denen es kein Auftauchen mehr zu geben schien.

509 lag eine Weile still und horchte. Das war eine alte Lagerregel; man wußte nie, von welcher Seite Gefahr drohte, und solange man sich unbeweglich hielt, hatte man immer die Chance, übersehen oder für tot gehalten zu werden, – ein einfaches Gesetz der Natur, das jeder Käfer kennt.

Er hörte nichts Verdächtiges. Die Wachen auf den Maschinengewehrtürmen waren halb am Schlafen, und auch hinter ihm blieb alles ruhig. Vorsichtig wandte er den Kopf und blickte zurück.

Das Konzentrationslager Mellern döste friedlich in der Sonne. Der große Appellplatz, den die SS humorvoll den Tanzboden nannte, war nahezu leer. Nur an den starken Holzpfählen, rechts vom Eingangstor, hingen vier Leute, denen die Hände auf dem Rücken zusammengebunden waren. Man hatte sie an Stricken so weit hochgezogen, daß ihre Füße die Erde nicht mehr berührten. Ihre Arme waren ausgerenkt. Zwei Heizer vom Krematorium vergnüg

Die Baracken des Arbeitslagers lagen verlassen da; die Außenkommandos waren noch nicht zurück. Ein paar Leute, die Stubendienst hatten, huschten über die Straßen. Links neben dem großen Eingangstor, vor dem Strafbunker, saß der SS-Scharführer Breuer. Er hatte sich einen runden Tisch und einen Korbsessel in die Sonne stellen lassen und trank eine Tasse Kaffee. Guter Bohnenkaffee war selten im Frühjahr 1945; aber Breuer hatte kurz vorher zwei Juden erwürgt, die seit sechs Wochen im Bunker am Verfaulen gewesen waren, und er hielt das für eine menschenfreundliche Tat, die eine Belohnung verdiente. Der Küchenkapo hatte ihm zu dem Kaffee noch einen Teller mit Topfkuchen geschickt. Breuer aß ihn langsam, mit Genuß; er liebte besonders die Rosinen ohne Kerne, mit denen der Teig reichlich gespickt war. Der ältere Jude hatte ihm wenig Spaß gemacht; aber der jüngere war zäher gewesen; er hatte ziemlich lange gestrampelt und gekrächzt. Breuer grinste schläfrig und lauschte auf die verwehenden Klänge der Lagerkapelle, die hinter der Gärtnerei übte. Sie spielte den Walzer »Rosen aus dem Süden«, – ein Lieblingsstück des Kommandanten, Obersturmbannführers Neubauer.

509 lag auf der gegenüberliegenden Seite des Lagers, in der Nähe einer Gruppe von Holzbaracken, die durch einen Stacheldrahtzaun vom großen Arbeitslager getrennt waren. Sie wurden das Kleine Lager genannt. In ihr befan

 

Der Rauch vom Krematorium trieb schwarz herüber. Der Wind drückte ihn auf das Lager, und die Schwaden strichen niedrig über die Baracken. Sie rochen fett und süßlich und reizten zum Erbrechen. 509 hatte sich nie an sie gewöhnen können; selbst nicht nach zehn Jahren im Lager. Die Reste von zwei Veteranen waren heute darunter; die des Uhrmachers Jan Sibelski und des Universitätsprofessors Joel Buchsbaum. Beide waren in Baracke 22 gestorben und mittags im Krematorium abgeliefert worden, Buchsbaum allerdings nicht ganz vollständig; drei Finger, siebzehn Zähne, die Zehennägel und ein Teil des Geschlechtsgliedes hatten gefehlt. Sie waren ihm während seiner Erziehung zu ei

Der Märznachmittag war milde, und die Sonne hatte schon etwas Wärme; trotzdem fror 509, obschon er außer seinen eigenen Kleidern noch Sachen von drei anderen Personen trug, – die Jacke Josef Buchers, den Mantel des Althändlers Lebenthal und den zerrissenen Sweater Joel Buchsbaums, den die Baracke gerettet hatte, bevor die Leiche abgeliefert worden war. Aber wenn man ein Meter achtundsiebzig groß war und unter siebzig Pfund wog, hätten wahrscheinlich selbst Pelze nicht mehr viel gewärmt.

509 hatte das Recht, eine halbe Stunde in der Sonne zu liegen. Dann mußte er zur Baracke zurück, die geborgten Kleider abgeben, seine Jacke dazu, und ein anderer kam dran. Das war so abgemacht worden zwischen den Veteranen, seit die Kälte vorbei war. Manche hatten es nicht mehr gewollt. Sie waren zu erschöpft gewesen und hatten nach den Leiden des Winters nur noch in Ruhe in den Baracken sterben wollen; aber Berger, der Stubenälteste, hatte darauf bestanden, daß alle, die noch kriechen konnten, jetzt eine Zeitlang an die frische Luft kamen. Der nächste war Westhof; dann kam Bucher. Lebenthal hatte verzichtet; er hatte Besseres zu tun.

 

509 ließ den Kopf sinken. Er konnte ihn immer nur eine Weile hochhalten. Ein Schädel war schwer, wenn die Halsmuskeln zu Fäden zusammengeschrumpft waren, – und der Anblick der rauchenden Schornsteine im Tal machte nur noch hungriger als sonst. Er machte hungrig im Gehirn, – nicht nur im Magen. Der Magen war seit Jahren daran gewöhnt und keiner anderen Empfindung mehr fähig als einer gleichbleibenden, stumpfen Gier. Hunger im Gehirn war schlimmer. Er weckte Halluzinationen und wurde nie müde. Er fraß sich selbst in den Schlaf. Es hatte 509 im Winter drei Monate gekostet, um die Vorstellung von Bratkartoffeln loszuwerden. Er hatte sie überall gerochen, sogar im Gestank der Latrinenbaracke. Jetzt war es Speck. Speck mit Spiegeleiern.

Er blickte auf die Nickeluhr, die auf der Erde neben ihm lag. Lebenthal hatte sie ihm geborgt. Sie war ein kostbarer Besitz der Baracke; der Pole Julius Silber, der längst tot war, hatte sie vor Jahren ins Lager geschmuggelt. 509 sah, daß er noch zehn Minuten Zeit hatte; aber er beschloß trotzdem, zur

Das Kleine Lager befand sich wegen Dysenterie unter einer losen Art von Quarantäne, und die SS kam selten herein. Außerdem war die Kontrolle im ganzen Lager in den letzten Jahren bedeutend schwächer geworden als früher. Der Krieg hatte sich immer stärker bemerkbar gemacht, und ein Teil der SS-Leute, die bis dahin nur wehrlose Gefangene heroisch gefoltert und ermordet hatten, war endlich ins Feld geschickt worden. Jetzt, im Frühling 1945, hatte das Lager nur noch ein Drittel der früheren SS-Truppen. Die innere Verwaltung wurde schon lange fast ganz von Häftlingen erledigt. Jede Baracke hatte einen Blockältesten und einige Stubenälteste; die Arbeitskommandos unterstanden den Kapos und Vormännern, das ganze Lager den Lagerältesten. Alle waren Gefangene. Sie wurden kontrolliert von Lagerführern, Blockführern und Kommandoführern; das waren stets SS-Leute. Im Anfang hat das Lager nur politische Häftlinge gehabt; dann waren im Laufe der Jahre gewöhnliche Verbrecher in Mengen aus den überfüllten Gefängnissen der Stadt und der Provinz dazugekommen. Die Gruppen unterschieden sich durch die Farbe der dreieckigen Stoffwinkel, die außer den Nummern auf die Kleider aller Gefangenen genäht waren. Die der Politischen waren rot; die der Kriminellen grün. Juden trugen außerdem noch einen

509 nahm den Mantel Lebenthals und die Jacke Josef Buchers, hing sie sich über den Rücken und begann der Baracke zuzukriechen. Er spürte, daß er müder war als sonst. Selbst das Kriechen fiel ihm schwer. Schon nach kurzer Zeit fing der Boden an, sich unter ihm zu drehen. Er hielt inne, schloß die Lider und atmete tief, um sich zu erholen. Im selben Augenblick begannen die Sirenen der Stadt.

 

Es waren anfangs nur zwei. Wenige Sekunden später hatten sie sich vervielfacht, und gleich darauf schien es, als schriee unten die ganze Stadt. Sie schrie von den Dächern und aus den Straßen, von den Türmen und aus den Fabriken, sie lag offen in der Sonne, nichts schien sich in ihr zu regen, sie schrie nur plötzlich, als wäre sie ein paralysiertes Tier, das den Tod sieht und nicht weglaufen kann; – sie schrie mit Sirenen und Dampfpfeifen gegen den Himmel, in dem alles still war.

509 hatte sich sofort geduckt. Es war verboten, bei Fliegeralarm außerhalb der Baracken zu sein. Er hätte versuchen können, aufzustehen und zu laufen, aber er war zu schwach, um schnell genug vorwärts zu kommen, und die Baracke war zu weit; inzwischen hätte ein nervöser neuer Wachposten schon auf ihn schießen können. So rasch er konnte, kroch er deshalb ein paar Meter zurück zu einer flachen Bodenfalte, preßte sich hinein und zog die geborgten Kleider über sich. Er sah so aus wie jemand, der tot zusammengebrochen war. Das kam oft vor und war unverdächtig. Der Alarm würde ohnehin nicht lange dauern. Die Stadt

Die Sirenen des Lagers setzten ein. Dann kam nach einiger Zeit der zweite Alarm. Das Heulen schwoll auf und ab, als liefen unscharfe Platten auf riesigen Grammophonen. Die Flugzeuge näherten sich der Stadt. 509 kannte auch das. Es rührte ihn nicht. Sein Feind war der nächste Maschinengewehrschütze, der merken würde, daß er nicht tot war. Was außerhalb des Stacheldrahtes geschah, ging ihn nichts an.

Er atmete mühsam. Die stickige Luft unter dem Mantel wurde zu schwarzer Watte, die sich dichter und dichter über ihn häufte. Er lag in der Bodensenkung wie in einem Grab; – und allmählich kam es ihm vor, als wäre es wirklich sein Grab, – als könne er nie wieder aufstehen, als wäre es diesmal das Ende und er würde hier liegen bleiben und sterben, endlich übermannt von der letzten Schwäche, gegen die er so lange gekämpft hatte. Er versuchte sich zu wehren, aber es half wenig; er spürte es nur noch stärker, ein sonderbar ergebenes Warten, das sich in ihm ausbreitete, in ihm und über ihn hinaus, als warte plötzlich alles, – warte die Stadt, als warte die Luft, als warte selbst das Licht. Es war wie bei einer beginnenden Sonnenfinsternis, wenn die Farben schon den Hauch von Blei haben und die ferne Ahnung einer sonnenlosen, toten Welt, – ein Vakuum, ein Warten ohne Atem, ob der Tod noch einmal vorübergehen würde oder nicht.

 

Der Schlag war nicht heftig; aber er war unerwartet. Und er kam von einer Seite, die geschützter schien als jede an

Der Boden bebte wieder. Es schien 509, als hieben gewaltige unterirdische Gummiknüppel auf ihn ein. Er war plötzlich ganz wach. Die Todesmüdigkeit war wie Rauch in einem Wirbelwind verflogen. Jeder Ruck aus dem Boden wurde zu einem Ruck in seinem Gehirn. Eine Zeitlang lag er noch still, – dann, fast ohne zu merken, was er tat, schob er behutsam eine Hand vorwärts und hob den Mantel von seinem Gesicht so weit hoch, daß er darunter hinweg zur Stadt hinabspähen konnte.

Langsam und spielerisch faltete sich unten gerade der Bahnhof auseinander und hob sich in die Luft. Es sah beinahe zierlich aus, wie die goldene Kuppel über die Bäume des Stadtparks segelte und hinter ihnen verschwand. Die schweren Explosionen schienen garnicht dazu zu gehören, alles war viel zu langsam dafür, und das Geräusch der Flak ertrank darin wie Terriergekläff im tiefen Bellen einer großen Dogge. Beim nächsten mächtigen Stoß begann einer der Türme der Katharinenkirche sich zu neigen. Auch er

Qualmfontänen wuchsen jetzt wie Pilze zwischen den Häusern empor. 509 hatte immer noch nicht das Gefühl von Zerstörung; unsichtbare Riesen spielten da unten, das war alles. In den unbeschädigten Stadtteilen stieg friedlich weiter der Rauch aus den Schornsteinen auf; der Fluß spiegelte wie früher die Wolken, und die Puffs der Flak säumten den Himmel, als sei er ein harmloses Kissen, dessen Nähte überall barsten und grauweiße Baumwollflocken ausstießen.

Eine Bombe fiel weit außerhalb der Stadt in die Wiesen, die sich zum Lager hinaufzogen. 509 spürte immer noch keine Furcht; alles das war viel zu weit weg von der engen Welt, die allein er noch kannte. Furcht konnte man haben vor brennenden Zigaretten an Augen und Hoden, vor Wochen im Hungerbunker, einem Steinsarg, in dem man weder stehen noch liegen konnte, vor dem Bock, auf dem einem die Nieren zerschlagen wurden; vor der Folterkammer im linken Flügel neben dem Tor, – vor Steinbrenner, vor Breuer, vor dem Lagerführer Weber, – aber selbst das war schon etwas verblaßt, seit er ins Kleine Lager abgeschoben worden war. Man mußte rasch vergessen können, um die Kraft zum Weiterleben aufzubringen. Außerdem war das Konzentrationslager Mellern nach zehn Jahren der Torturen etwas müder geworden; – selbst einem frischen, idealistischen SS-Mann wurde es mit der Zeit langweilig, Skelette zu quälen. Sie hielten wenig aus und reagierten nicht genügend. Nur wenn kräftige, lei

 

Das Bombardement hörte plötzlich auf. Nur noch die Flak tobte. 509 hob den Mantel etwas höher, so daß er den nächsten Maschinengewehrturm sehen konnte. Der Stand war leer. Er blickte weiter nach rechts und dann nach links. Auch dort waren die Türme ohne Wachen. Die SS-Mannschaften waren überall heruntergeklettert und hatten sich in Sicherheit gebracht; sie hatten gute Luftschutzbunker nahe den Kasernen. 509 warf den Mantel ganz zurück und kroch näher an den Stacheldraht heran. Er stützte sich auf die Ellenbogen und starrte ins Tal hinunter.

509 starrte hinunter. Er vergaß alle Vorsicht und starrte hinunter. Er kannte die Stadt nicht anders als durch den Stacheldraht, und er war nie in ihr gewesen; aber in den zehn Jahren, die er im Lager zugebracht hatte, war sie für ihn mehr geworden als nur eine Stadt.

Im Anfang war sie das fast unerträgliche Bild der verlorenen Freiheit gewesen. Tag für Tag hatte er auf sie hinuntergestarrt; – er hatte sie gesehen mit ihrem sorglosen Leben, wenn er nach einer Spezialbehandlung durch den Lagerführer Weber kaum noch kriechen konnte; – er hatte sie gesehen mit ihren Kirchen und Häusern, wenn er mit ausgerenkten Armen am Kreuz hing; – er hatte sie gesehen mit den weißen Kähnen auf ihrem Fluß und den Automobilen, die in den Frühling fuhren, während er Blut aus

Dann hatte er begonnen, sie zu hassen. Die Zeit war hingegangen, und nichts hatte sich in ihr geändert, ganz gleich, was hier oben geschah. Der Rauch ihrer Kochherde war jeden Tag weiter aufgestiegen, unbekümmert um den Qualm des Krematoriums; – ihre Sportplätze und Parks waren voll fröhlichen Tumults gewesen, während gleichzeitig Hunderte von gejagten Kreaturen auf dem Tanzboden des Lagers verröchelten; – Scharen von ferienfrohen Menschen waren jeden Sommer aus ihr in die Wälder gewandert, während die Häftlingskolonnen ihre Toten und Ermordeten aus den Steinbrüchen zurückschleppten; er hatte sie gehaßt, weil er geglaubt hatte, daß er und die andern Gefangenen für immer von ihr vergessen worden wären.

Schließlich war auch der Haß erloschen. Der Kampf um eine Brotkruste war wichtiger geworden als alles andere, – und ebenso die Erkenntnis, daß Haß und Erinnerungen ein gefährdetes Ich ebenso zerstören konnten wie Schmerz. 509 hatte gelernt, sich einzukapseln, zu vergessen und sich um nichts mehr zu kümmern als um die nackte Existenz von einer Stunde zur andern. Die Stadt war ihm gleichgültig geworden und ihr unverändertes Bild nur noch ein trübes Symbol dafür, daß auch sein Schicksal sich nicht mehr ändern würde.

Jetzt brannte sie. Er spürte, wie seine Arme zitterten. Er versuchte, es zu unterdrücken, doch er konnte es nicht;

Er schloß die Augen. Er wollte das nicht. Er wollte nichts wieder in sich aufkommen lassen. Er hatte alle Hoffnung zerstampft und begraben. Er ließ die Arme auf den Boden gleiten und legte das Gesicht auf die Hände. Die Stadt ging ihn nichts an. Er wollte nicht, daß sie ihn anginge. Er wollte weiter, wie vorher, gleichgültig die Sonne auf das schmutzige Pergament scheinen lassen, das als Haut über seinen Schädel gespannt war, wollte atmen, Läuse töten, nicht denken, – so wie er es seit langem getan hatte.

Er konnte es nicht. Das Beben in ihm hörte nicht auf. Er wälzte sich auf den Rücken und streckte sich flach aus. Über ihm war jetzt der Himmel mit den Wölkchen der Flakgeschosse. Sie zerfaserten rasch und trieben vor dem Winde dahin. Er lag eine Weile so, dann konnte er auch das nicht mehr aushalten. Der Himmel wurde zu einem blauen und weißen Abgrund, in den er hineinzufliegen schien. Er drehte sich um und setzte sich auf. Er blickte nicht mehr auf die Stadt. Er blickte auf das Lager, und er blickte zum erstenmale darauf, als erwarte er Hilfe von dort.

Die Baracken dösten wie vorher in der Sonne. Auf dem Tanzplatz hingen die vier Leute immer noch an den Kreuzen. Der Scharführer Breuer war verschwunden, aber der Rauch vom Krematorium stieg weiter auf; er war nur dünner geworden. Entweder verbrannte man gerade Kinder, oder es war befohlen worden, mit der Arbeit aufzuhören.

In diesem Augenblick schwieg die Flak. Es traf ihn, als wäre ein Reifen von Lärm gesprungen, der ihn fest umspannt gehalten hatte. Eine Sekunde lang glaubte er, er habe nur geträumt und wache gerade auf. Mit einem Ruck drehte er sich um.

Er hatte nicht geträumt. Da lag die Stadt und brannte. Da waren Qualm und Zerstörung, und es ging ihn doch etwas an. Er konnte nicht mehr erkennen, was getroffen war, er sah nur Rauch und das Feuer, alles andere verschwomm, aber es war auch egal: die Stadt brannte, die Stadt, die unveränderlich erschienen war, unveränderlich und unzerstörbar wie das Lager.

Er schrak zusammen. Ihm war plötzlich, als seien hinter ihm von allen Türmen alle Maschinengewehre des Lagers auf ihn gerichtet. Rasch blickte er herum. Nichts war geschehen. Die Türme waren leer wie vorher. Auch in den Straßen war niemand zu sehen. Doch es half nichts; – eine wilde Angst hatte ihn jäh wie eine Faust im Genick gepackt und schüttelte ihn. Er wollte nicht sterben! Jetzt nicht! Jetzt nicht mehr! Hastig ergriff er seine Kleidungsstücke und kroch zurück. Er verwickelte sich dabei in den Mantel Lebenthals und stöhnte und fluchte und riß ihn unter seinen Knien fort und kroch weiter zur Baracke, eilig, tief erregt und verwirrt, – als flüchte er noch vor etwas anderem als nur vor dem Tode.

Baracke 22 hatte zwei Flügel, die je von zwei Stubenältesten kommandiert wurden. In der zweiten Sektion des zweiten Flügels hausten die Veteranen. Es war der schmalste und feuchteste Teil, aber das kümmerte sie wenig; wichtig war für sie nur, daß sie zusammenlagen. Das gab jedem mehr Widerstandskraft. Sterben war ebenso ansteckend wie Typhus, und einzeln ging man in dem allgemeinen Krepieren leicht mit ein, ob man wollte oder nicht. Zu mehreren konnte man sich besser wehren. Wenn einer aufgeben wollte, halfen ihm die Kameraden, durchzuhalten. Die Veteranen im Kleinen Lager lebten nicht länger, weil sie mehr zu essen hatten; sie lebten, weil sie sich einen verzweifelten Rest von Widerstand bewahrt hatten.

In der Ecke der Veteranen lagen zur Zeit hundertvierunddreißig Skelette. Platz war nur da für vierzig. Die Betten bestanden aus Brettern, vier übereinander. Sie waren kahl oder mit altem faulenden Stroh bedeckt. Es gab nur ein paar schmutzige Decken, um die jedesmal, wenn die Besitzer starben, bitter gekämpft wurde. Auf jedem Bett lagen mindestens drei bis vier Menschen. Das war selbst für Skelette zu eng; denn Schulter- und Beckenknochen schrumpften nicht. Man hatte etwas mehr Platz, wenn man seitlich lag, gepackt wie Sardinen; aber trotzdem hörte man nachts oft genug das dumpfe Aufschlagen, wenn je

Die Veteranen hatten sich die Ecke links von der Tür gesichert. Sie waren noch zwölf Mann. Vor zwei Monaten waren sie vierundvierzig gewesen. Der Winter hatte sie kaputt gemacht. Sie wußten alle, daß sie im letzten Stadium waren; die Rationen wurden ständig kleiner, und manchmal gab es ein bis zwei Tage überhaupt nichts zu essen; dann lagen die Toten zu Haufen draußen.

Von den zwölf war einer verrückt und glaubte, er sei ein deutscher Schäferhund. Er hatte keine Ohren mehr; sie waren ihm abgerissen worden, als man SS-Hunde an ihm trainiert hatte. Der Jüngste hieß Karel und war ein Knabe aus der Tschechoslowakei. Seine Eltern waren tot; sie düngten das Kartoffelfeld eines frommen Bauern im Dorfe Westlage. Die Asche der Verbrannten wurde nämlich im Krematorium in Säcke gefüllt und als künstlicher Dünger verkauft. Sie war reich an Phosphor und Kalzium. Karel trug das rote Abzeichen des politischen Gefangenen. Er war elf Jahre alt.

Der älteste Veteran war zweiundsiebzig. Er war ein Jude, der um seinen Bart kämpfte. Der Bart gehörte zu seiner Religion. Die SS hatte ihn verboten, aber der Mann hatte immer wieder versucht, ihn wachsen zu lassen. Er war im Arbeitslager jedesmal dafür über den Bock gekommen und verprügelt worden. Im Kleinen Lager hatte er mehr Glück. Die SS kümmerte sich hier weniger um die Regeln und kontrollierte auch selten; sie hatte zu viel Angst vor Läusen, Dysenterie, Typhus und Tuberkulose. Der Pole

Der Stubenälteste der Sektion war der frühere Arzt Dr. Ephraim Berger. Er war wichtig gegen den Tod, der die Baracke eng umstand. Im Winter, wenn die Skelette auf dem Glatteis gefallen waren und sich die Knochen gebrochen hatten, hatte er manche schienen und retten können. Das Hospital nahm niemand vom Kleinen Lager auf; es war nur da für Leute, die arbeitsfähig waren und für Prominente. Im Großen Lager war das Glatteis im Winter auch weniger gefährlich gewesen; man hatte die Straße während der schlimmsten Tage mit Asche aus dem Krematorium bestreut. Nicht aus Rücksicht auf die Gefangenen, – sondern um brauchbare Arbeitskräfte zu behalten. Seit der Eingliederung der Konzentrationslager in den allgemeinen Arbeitseinsatz wurde mehr Wert darauf gelegt. Als Ausgleich arbeitete man die Häftlinge allerdings rascher zu Tode. Die Abgänge machten nichts aus; es wurden täglich genug neue Leute verhaftet.

Berger war einer der wenigen Gefangenen, die Erlaubnis hatten, das Kleine Lager zu verlassen. Er wurde seit einigen Wochen in der Leichenhalle des Krematoriums beschäftigt. Stubenälteste brauchten im allgemeinen nicht

Der wichtigste Veteran von allen jedoch war Leo Lebenthal. Er hatte geheime Verbindungen zum Schleichhandel des Arbeitslagers und, wie es hieß, sogar welche nach draußen. Wie er das machte, wußte keiner genau. Es war nur bekannt, daß zwei Huren aus dem Etablissement »Die Fledermaus«, das vor der Stadt lag, dazugehörten. Auch ein SS-Mann sollte beteiligt sein; doch davon wußte niemand wirklich etwas. Und Lebenthal sagte nichts.

Er handelte mit allem. Man konnte durch ihn Zigarettenstummel bekommen, eine Mohrrübe, manchmal Kartoffeln, Abfälle aus der Küche, einen Knochen und hier und da eine Scheibe Brot. Er betrog niemanden; er sorgte nur für Zirkulation. Der Gedanke, heimlich für sich allein zu sorgen, kam ihm nie. Der Handel hielt ihn am Leben; nicht das, womit er handelte.

 

509 kroch durch die Tür. Die schräge Sonne hinter ihm schien durch seine Ohren. Sie leuchteten einen Augenblick wächsern und gelb zu beiden Seiten des dunklen Kopfes. »Sie haben die Stadt bombardiert«, sagte er keuchend.

Niemand antwortete. 509 konnte noch nichts sehen; es war dunkel in der Baracke nach dem Licht draußen. Er schloß die Augen und öffnete sie wieder. »Sie haben die

Keiner sagte auch diesmal etwas. 509 sah jetzt Ahasver neben der Tür. Er saß auf dem Boden und streichelte den Schäferhund. Der Schäferhund knurrte; er hatte Angst. Die verfilzten Haare hingen ihm über das vernarbte Gesicht, und dazwischen funkelten die erschreckten Augen. »Ein Gewitter«, murmelte Ahasver. »Nichts als ein Gewitter! Ruhig, Wolf, – ruhig!«

509 kroch weiter in die Baracke hinein. Er begriff nicht, daß die andern so gleichgültig waren. »Wo ist Berger?« fragte er.

»Im Krematorium.«

Er legte den Mantel und die Jacke auf den Boden. »Will keiner von euch raus?«

Er sah Westhof und Bucher an. Sie erwiderten nichts.

»Du weißt doch, daß es verboten ist«, sagte Ahasver schließlich. »Solange Alarm ist.«

»Der Alarm ist vorbei.«

»Noch nicht.«

»Doch. Die Flieger sind fort. Sie haben die Stadt bombardiert.«

»Das hast du nun schon oft genug gesagt«, knurrte jemand aus dem Dunkel.

Ahasver blickte auf. »Vielleicht werden sie ein paar Dutzend von uns zur Strafe dafür erschießen.«

»Erschießen«? Westhof kicherte. »Seit wann erschießen sie hier?«

Der Schäferhund bellte. Ahasver hielt ihn fest. »In Holland erschossen sie nach einem Luftangriff gewöhnlich

»Wir sind hier nicht in Holland.«

»Das weiß ich. Ich habe auch nur gesagt, daß in Holland erschossen wurde.«

»Erschießen!« Westhof schnaubte verächtlich. »Bist du ein Soldat, daß du solche Ansprüche stellst? Hier wird erhängt und erschlagen.«

»Sie könnten es zur Abwechslung tun.«

»Haltet eure verdammten Schnauzen«, rief der Mann von vorher aus dem Dunkel.

509 hockte sich neben Bucher und schloß die Augen. Er sah noch immer den Rauch über der brennenden Stadt und spürte den dumpfen Donner der Explosionen.

»Glaubt ihr, daß wir heute abend Essen kriegen?« fragte Ahasver.

»Verdammt!« antwortete die Stimme aus dem Dunkel. »Was willst du noch? Erst willst du erschossen werden und dann fragst du nach Essen!«

»Ein Jude muß Hoffnung haben.«

»Hoffnung!« Westhoff kicherte wieder.

»Was sonst?« fragte Ahasver ruhig.

Westhof verschluckte sich und begann plötzlich zu schluchzen. Er hatte seit Tagen Barackenkoller.

509 öffnete die Augen. »Vielleicht geben sie uns heute abend nichts zu essen«, sagte er. »Als Strafe für das Bombardement.«

»Du mit deinem verfluchten Bombardement«, schrie der Mann im Dunkeln. »Halt doch endlich deine Schnauze!«

»Hat einer hier noch irgendwas zu essen?« fragte Ahasver.

Ahasver achtete nicht darauf. »Im Lager von Theresienstadt hatte jemand einmal ein Stück Schokolade und wußte es nicht. Er hatte es versteckt, als er eingeliefert wurde, und hatte es vergessen. Milchschokolade aus einem Automaten. Ein Bild von Hindenburg war auch in dem Karton.«

»Was noch?« krächzte die Stimme aus dem Hintergrund. »Ein Paß?«

»Nein. Aber wir haben von der Schokolade zwei Tage gelebt.«

»Wer schreit da so?« fragte 509 Bucher.

»Einer von denen, die gestern angekommen sind. Ein Neuer. Wird schon ruhig werden.«

Ahasver horchte plötzlich. »Es ist vorbei –«

»Was?«

»Draußen. Das war die Entwarnung. Das letzte Signal.«

Es wurde plötzlich sehr still. Dann hörte man Schritte. »Weg mit dem Schäferhund«, flüsterte Bucher.

Ahasver schob den Verrückten zwischen die Betten. »Kusch! Still!« Er hatte ihn so erzogen, daß er auf Kommandos hörte. Hätte die SS ihn gefunden, so wäre er als Verrückter sofort abgespritzt worden.

Bucher kam von der Tür zurück. »Es ist Berger.«

 

Doktor Ephraim Berger war ein kleiner Mann mit abfallenden Schultern und einem eiförmigen Kopf, der völlig kahl war. Seine Augen waren entzündet und tränten.

»Die Stadt brennt«, sagte er, als er hereinkam.

»Ich weiß es nicht.«

»Wieso? Du mußt doch etwas gehört haben.«

»Nein«, erwiderte Berger müde. »Sie haben aufgehört zu verbrennen, als der Alarm kam.«

»Warum?«

»Wie soll ich das wissen? Es wird befohlen, fertig.«

»Und die SS? Hast du von der etwas gesehen?«

»Nein.«

Berger ging durch die Bretterreihen nach hinten. 509 sah ihm nach. Er hatte auf Berger gewartet, um mit ihm zu sprechen, und nun schien er ebenso teilnahmslos wie alle andern. Er verstand es nicht. »Willst du nicht raus?« fragte er Bucher.

»Nein.«

Bucher war fünfundzwanzig Jahre alt und seit sieben Jahren im Lager. Sein Vater war Redakteur einer sozialdemokratischen Zeitung gewesen; das hatte genügt, den Sohn einzusperren. Wenn er hier wieder herauskommt, kann er noch vierzig Jahre leben, dachte 509. Vierzig oder fünfzig. Ich dagegen bin fünfzig. Ich habe vielleicht noch zehn, höchstens zwanzig Jahre. Er zog ein Stück Holz aus der Tasche und begann daran zu kauen. Wozu denke ich plötzlich an sowas? dachte er.

Berger kam zurück. »Lohmann will mit dir sprechen, 509.«

Lohmann lag im hinteren Teil der Baracke auf einem unteren Bett ohne Stroh. Er hatte das so gewollt. Er litt an schwerer Dysenterie und konnte nicht mehr aufstehen. Er glaubte, es sei so reinlicher. Es war nicht reinlicher. Aber alle waren es gewöhnt. Fast jeder hatte mehr oder minder

»Was?« 509 sah auf den blauen Gaumen.

»Hinten rechts – da ist eine Goldkrone.«

Lohmann drehte den Kopf in die Richtung des schmalen Fensters. Die Sonne stand dahinter, und die Baracke hatte an dieser Seite jetzt ein schwaches, rosiges Licht.

»Ja«, sagte 509. »Ich sehe sie.« Er sah sie nicht.

»Nehmt sie raus.«

»Was?«

»Nehmt sie raus!« flüsterte Lohmann ungeduldig.

509 sah zu Berger hinüber. Berger schüttelte den Kopf. »Sie sitzt doch fest«, sagte 509.

»Dann zieht den Zahn raus. Er sitzt nicht sehr fest. Berger kann es. Er macht es im Krematorium doch auch. Zu zweit könnt ihr es leicht.«

»Warum willst du sie raus haben?«

Lohmanns Augenlider hoben und senkten sich langsam. Sie waren wie die einer Schildkröte. Sie hatten keine Wimpern mehr. »Das wißt ihr doch selbst. Gold. Ihr sollt Essen dafür kaufen. Lebenthal kann sie eintauschen.«

509 antwortete nicht. Eine Goldkrone zu tauschen war eine gefährliche Sache. Goldplomben wurden im allgemeinen bei der Einlieferung ins Lager registriert und später im Krematorium ausgezogen und gesammelt. Stellte die SS fest, daß eine fehlte, die in den Listen verzeichnet

»Zieht sie raus!« keuchte Lohmann. »Es ist leicht! Eine Zange! Oder ein Draht ist schon genug.«

»Wir haben keine Zange.«

»Ein Draht! Biegt einen Draht zurecht.«

»Wir haben auch keinen Draht.«

Lohmanns Augen fielen zu. Er war erschöpft. Die Lippen bewegten sich, aber es kamen keine Worte mehr. Der Körper war bewegungslos und sehr flach, und nur das Gekräusel der dunklen, trockenen Lippen war noch da – ein winziger Strudel Leben, in den die Stille schon bleiern floß.

509 richtete sich auf und blickte Berger an. Lohmann konnte ihre Gesichter nicht sehen; die Bretter der höheren Betten waren dazwischen. »Wie steht es mit ihm?«

»Zu spät für alles.«

509 nickte. Es war schon so oft so gewesen, daß er wenig mehr empfand. Die schräge Sonne fiel auf fünf Leute, die wie dürre Affen im obersten Bett hockten. »Kratzt er bald ab?« fragte einer, der seine Armhöhlen rieb und gähnte.

»Warum?«

»Wir kriegen sein Bett. Kaiser und ich.«

»Du wirst es schon kriegen.«

509 schaute einen Augenblick in das schwebende Licht, das garnicht zu dem stinkenden Raum zu gehören schien. Die Haut des Mannes, der gefragt hatte, sah darin aus wie die eines Leoparden; sie war übersät mit schwarzen Flecken. Der Mann begann faules Stroh zu essen. Ein paar

509 fühlte ein leichtes Zerren an seinem Bein; Lohmann zupfte an seiner Hose. Er beugte sich wieder herunter. »Rausziehen!« flüsterte Lohmann.

509 setzte sich auf den Bettrand. »Wir können nichts dafür tauschen. Es ist zu gefährlich. Keiner wird es riskieren.«

Lohmanns Mund zitterte. »Sie sollen ihn nicht haben«, stieß er mit Mühe hervor. »Die nicht! Fünfundvierzig Mark habe ich dafür bezahlt. 1929. Die nicht! Zieht ihn raus!«

Er krümmte sich plötzlich und stöhnte. Die Haut seines Gesichts verzog sich nur an den Augen und an den Lippen, – sonst waren keine Muskeln mehr da, um Schmerz anzuzeigen.

Nach einer Weile streckte er sich aus. Ein kläglicher Laut kam mit der ausgepreßten Luft aus seiner Brust. »Kümmere dich nicht darum«, sagte Berger zu ihm. »Wir haben noch etwas Wasser. Es tut nichts. Wir machen es weg.«

Lohmann lag einige Zeit still. »Versprecht mir, daß ihr ihn rausnehmt, – bevor sie mich abholen«, flüsterte er dann. »Wenn ich abgeschrammt bin. Dann könnt ihr es doch.«

»Gut«, sagte 509. »Ist er nicht eingetragen worden, als du ankamst?«

»Nein. Versprecht es! Bestimmt!«

»Bestimmt.«

Lohmanns Augen verschleierten sich und wurden ruhig. »Was war das – vorhin – draußen?«

»Bomben«, sagte Berger. »Man hat die Stadt bombardiert. Zum erstenmale. Amerikanische Flieger.«