Inhaltsverzeichnis

Fußnoten

Siehe Nachwort und Erläuterungen in der Ausgabe Erich Maria Remarque. Der Funke Leben. Roman. In der Originalfassung mit Anhang und Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2017 (KiWi 1587).

Tagebuch Remarques, Eintrag Porto Ronco, 19.08.1952. Nachlass Remarques an der New York University, Fales Library, Remarque-Collection, R-C 4B.

Tagebuch Remarques, Eintrag New York, 01.01.1953. Nachlass Remarques an der New York University, Fales Library, Remarque-Collection, R-C 4B.

Tagebuch Remarques, Eintrag New York, 10.01.1954. Nachlass Remarques an der New York University, Fales Library, Remarque-Collection, R-C 4B.

Tagebuch Remarques, Eintrag New York, 19.01.1954. Nachlass Remarques an der New York University, Fales Library, Remarque-Collection, R-C 4B.

Siehe Nachwort und Erläuterungen in der Ausgabe Erich Maria Remarque. Zeit zu leben und Zeit zu sterben. Roman. In der Originalfassung mit Anhang und Nachwort herausgegeben von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2017 (KiWi 1586).

Tagebuch Remarques, Eintrag Porto Ronco, 25.06.1954. Nachlass Remarques an der New York University, Fales Library, Remarque-Collection, R-C 4B.

Tagebuch Remarques, Eintrag Porto Ronco, 06.07.1954. Nachlass Remarques an der New York University, Fales Library, Remarque-Collection, R-C 4B.

Siehe zu Remarques Beteiligung an dem Film ausführlich Thomas F. Schneider. »›The Shortest Acting Career in History‹. Erich Maria Remarque als Filmmitarbeiter. Die Geschichte eines Scheiterns«. In Bodo Plachta (Hg.). Literarische Zusammenarbeit. Tübingen: Max Niemeyer, 2001, S. 271–284.

Tagebuch Remarques, Eintrag Porto Ronco, 22.09.1954. Nachlass Remarques an der New York University, Fales Library, Remarque-Collection, R-C 4B.

Felicitas von Reznicek. »Erich Maria Remarque. Schriftsteller ist man – man kann es nicht lernen«. Ort und Datum der Veröffentlichung sind unbekannt, verwiesen sei auf das Exemplar im Nachlass Remarques an der New York University, Fales Library, Remarque-Collection, R-C 8A.10/023.

»Erich Maria Remarque, Violent Author … Quiet Man«. In Newsweek (New York), 01.04.1957.

Im Brief Erich Maria Remarque in Porto Ronco an Joseph Caspar Witsch in Köln, 01.07.1956, und im Brief Erich Maria Remarque in Porto Ronco an Joseph Caspar Witsch in Köln, 06.08.1956, Erich Maria Remarque-Friedenszentrum, Osnabrück, Konvolut Kiepenheuer & Witsch, Sigle KIWI 046 + 053.

Diesen Gedanken verdanke ich Brian Murdoch in The Novels of Erich Maria Remarque. Sparks of Life. Rochester/NY, Woodbridge: Camden House, 2006.

Zum politischen Gehalt des Textes siehe ausführlich Tilman Westphalen. »Unser Golgatha«. In Erich Maria Remarque. Der schwarze Obelisk. Geschichte einer verspäteten Jugend. Roman. Mit einem Nachwort von Tilman Westphalen. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1998 (KiWi 488), S. 395–414.

Auch diesen Gedanken verdanke ich Brian Murdoch in The Novels of Erich Maria Remarque. Sparks of Life. Rochester/NY, Woodbridge: Camden House, 2006.

Heinrich Placke hat dieses Vorwort ausführlich und detailliert analysiert in Die Chiffren des Utopischen. Zum literarischen Gehalt der 50er-Jahre-Romane Remarques. Göttingen: V&R unipress, 2004 (Schriften des Erich Maria Remarque-Archivs 18).

Auch Der schwarze Obelisk wurde zensiert. So fehlt in der englischen Erstausgabe, Erich Maria Remarque. The Black Obelisk. Translated from the German by Denver Lindley. New York: Harcourt, Brace, 1957, das gesamte Kapitel XVIII, wodurch der Roman in der englischen Ausgabe lediglich 25 Kapitel umfasst. Alle auf dieser Ausgabe fußenden Übersetzungen z.B. ins Spanische, Portugiesische, Japanische etc. haben diese Kürzung übernommen.

Tagebuch Remarques, Eintrag Porto Ronco, 29.05.1954. Nachlass Remarques an der New York University, Fales Library, Remarque-Collection, R-C 4B.

 

 

 

Den Frieden der Welt! Nie ist mehr darüber geredet und nie weniger dafür getan worden als in unserer Zeit; nie hat es mehr falsche Propheten gegeben, nie mehr Lügen, nie mehr Tod, nie mehr Zerstörung und nie mehr Tränen als in unserm Jahrhundert, dem zwanzigsten, dem des Fortschritts, der Technik, der Zivilisation, der Massenkultur und des Massenmordens. –

Darum scheltet nicht, wenn ich einmal zurückgehe zu den sagenhaften Jahren, als die Hoffnung noch wie eine Flagge über uns wehte und wir an so verdächtige Dinge glaubten wie Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Toleranz – und auch daran, daß ein Weltkrieg genug Belehrung sein müsse für eine Generation. –

Die Sonne scheint in das Büro der Grabdenkmalsfirma Heinrich Kroll & Söhne. Es ist April 1923, und das Geschäft geht gut. Das Frühjahr hat uns nicht im Stich gelassen, wir verkaufen glänzend und werden arm dadurch, aber was können wir machen, – der Tod ist unerbittlich und nicht abzuweisen, und menschliche Trauer verlangt nun einmal nach Monumenten in Sandstein, Marmor und, wenn das Schuldgefühl oder die Erbschaft beträchtlich sind, sogar nach dem kostbaren, schwarzen, schwedischen Granit, allseitig poliert. Herbst und Frühjahr sind die besten Jahreszeiten für die Händler mit den Utensilien der Trauer, – dann sterben mehr Menschen als im Sommer und im Winter; – im Herbst, weil die Säfte schwinden, und im Frühjahr, weil sie erwachen und den geschwächten Körper verzehren wie ein zu dicker Docht eine zu dünne Kerze. Das wenigstens behauptet unser rührigster Agent, der Totengräber Liebermann vom Stadtfriedhof, und der muß es wissen; er ist achtzig Jahre alt, hat über zehntausend Leichen eingegraben, sich von seiner Provision an Grabdenkmälern ein Haus am Fluß mit einem Garten und einer Forellenzucht gekauft und ist durch seinen Beruf ein abgeklärter Schnapstrinker geworden. Das einzige, was er haßt, ist das Krematorium der Stadt. Es ist unlautere Konkurrenz. Wir mögen es auch nicht. An Urnen ist nichts zu verdienen.

Genießerisch hole ich eine Zigarre aus der Schublade. Es ist eine schwarze Brasil. Der Reisende für die Württembergische Metallwarenfabrik hat sie mir am Morgen gegeben, um hinterher zu versuchen, mir einen Posten Bronzekränze anzudrehen; die Zigarre ist also gut. Ich suche nach Streichhölzern, aber, wie fast immer, sind sie verlegt. Zum Glück brennt ein kleines Feuer im Ofen. Ich rolle einen Zehnmarkschein zusammen, halte ihn in die Glut und zünde mir damit die Zigarre an. Das Feuer im Ofen ist Ende April eigentlich nicht mehr nötig; es ist nur ein Verkaufseinfall meines Arbeitgebers Georg Kroll. Er glaubt, daß Leute in Trauer, die Geld ausgeben müssen, das lieber in einem warmen Zimmer tun, als wenn sie frieren. Trauer sei bereits ein Frieren der Seele, und wenn dazu noch kalte Füße kämen, sei es schwer, einen guten Preis herauszuholen. Wärme taue auf; auch den Geldbeutel. Deshalb ist unser Büro überheizt, und unsere Vertreter haben als obersten Grundsatz eingepaukt bekommen, nie bei kaltem Wetter oder Regen zu versuchen, auf dem Friedhof einen Abschluß zu machen, – immer nur in der

Ich werfe den Rest des Zehnmarkscheins in den Ofen und richte mich auf. Im selben Moment höre ich, wie im Hause gegenüber ein Fenster aufgestoßen wird. Ich brauche nicht hinzusehen, um zu wissen, was los ist. Vorsichtig beuge ich mich über den Tisch, als hätte ich noch etwas an der Schreibmaschine zu tun. Dabei schiele ich verstohlen in einen kleinen Handspiegel, den ich so gestellt habe, daß ich das Fenster beobachten kann. Es ist, wie immer, Lisa, die Frau des Pferdeschlächters Watzek, die nackt dort steht und gähnt und sich reckt. Sie ist erst jetzt aufgestanden. Die Straße ist alt und schmal, Lisa kann uns sehen und wir sie, und sie weiß es; deshalb steht sie da. Plötzlich verzieht sie ihren großen Mund, lacht mit allen Zähnen und zeigt auf den Spiegel. Sie hat ihn mit ihren Raubvogelaugen entdeckt. Ich ärgere mich, erwischt zu sein, benehme mich aber, als merke ich nichts, und gehe in einer Rauchwolke in den Hintergrund des Zimmers. Nach einer Weile komme ich zurück. Lisa grinst. Ich blicke hinaus, aber ich sehe sie nicht an, sondern tue, als winke ich jemand auf der Straße zu. Zum Überfluß werfe ich noch eine Kußhand ins Leere. Lisa fällt darauf herein. Sie ist neugierig und beugt sich vor, um nachzuschauen, wer da sei. Niemand ist da. Jetzt grinse ich. Sie deutet ärgerlich mit dem Finger auf die Stirn und verschwindet.

Ich weiß eigentlich nicht, warum ich diese Komödie aufführe. Lisa ist das, was man ein Prachtweib nennt, und ich kenne einen Haufen Leute, die gern ein paar Millionen zahlen würden, um jeden Morgen einen solchen Anblick

Lisa erscheint aufs neue. Sie trägt jetzt einen ansteckbaren Schnurrbart und ist außer sich über diesen geistvollen Einfall. Sie grüßt militärisch, und ich nehme schon an, daß sie so unverschämt ist, damit den alten Feldwebel a. D. Knopf von nebenan zu meinen; dann aber erinnere ich mich, daß Knopfs Schlafzimmer nur ein Fenster nach dem Hof hat. Und Lisa ist raffiniert genug, zu wissen, daß man sie von den paar Nebenhäusern nicht beobachten kann.

Plötzlich, als brächen irgendwo Schalldämme, beginnen die Glocken der Marienkirche zu läuten. Die Kirche steht am Ende der Gasse, und die Schläge dröhnen, als fielen sie vom Himmel direkt ins Zimmer. Gleichzeitig sehe ich vor dem zweiten Bürofenster, das nach dem Hof geht, wie

 

Georg Kroll ist knapp vierzig Jahre alt; aber sein Kopf glänzt bereits wie die Kegelbahn im Gartenrestaurant Boll. Er glänzt, seit ich ihn kenne, und das ist jetzt über fünf Jahre her. Er glänzt so, daß im Schützengraben, wo wir im selben Regiment waren, ein Extrabefehl bestand, daß Georg auch bei ruhigster Front seinen Stahlhelm aufbehalten müsse – so sehr hätte seine Glatze selbst den sanftmütigsten Gegner verlockt, durch einen Schuß festzustellen, ob sie ein riesiger Billardball sei oder nicht.

Ich reiße die Knochen zusammen und melde: »Hauptquartier der Firma Kroll und Söhne! Stab bei Feindbeobachtung. Verdächtige Truppenbewegungen im Bezirk des Pferdeschlächters Watzek.«

»Aha!« sagt Georg. »Lisa bei der Morgengymnastik. Rühren Sie, Gefreiter Bodmer! Warum tragen Sie vormittags keine Scheuklappen wie das Paukenpferd einer Kavalleriekapelle und schützen so Ihre Tugend? Kennen Sie die drei kostbarsten Dinge des Lebens nicht?«

»Wie soll ich sie kennen, Herr Oberstaatsanwalt, wenn ich das Leben selbst noch suche?«

»Tugend, Einfalt und Jugend«, dekretiert Georg. »Einmal verloren, nie wieder zu gewinnen! Und was ist hoffnungsloser als Erfahrung, Alter und kahle Intelligenz?«

»Armut, Krankheit und Einsamkeit«, erwidere ich und rühre.

Georg nimmt mir die Zigarre aus dem Mund, betrachtet sie kurz und bestimmt sie wie ein Sammler einen Schmetterling. »Beute von der Metallwarenfabrik.«

Er zieht eine schön angerauchte, goldbraune Meerschaumspitze aus der Tasche, paßt die Brasil hinein und raucht sie weiter.

»Ich habe nichts gegen die Beschlagnahme der Zigarre«, sage ich. »Es ist rohe Gewalt, und mehr kennst du ehemaliger Unteroffizier ja nicht vom Leben. Aber wozu die Zigarrenspitze? Ich bin kein Syphilitiker.«

»Und ich kein Homosexueller.«

»Georg«, sage ich. »Im Kriege hast du mit meinem Löffel Erbsensuppe gegessen, wenn ich sie in der Küche gestohlen hatte. Und der Löffel wurde in meinen schmutzigen Stiefeln aufbewahrt und nie gewaschen.«

Georg betrachtet die Asche der Brasil. Sie ist schneeweiß. »Der Krieg ist viereinhalb Jahre vorbei«, doziert er. »Damals sind wir durch maßloses Unglück zu Menschen geworden. Heute hat uns die schamlose Jagd nach Besitz aufs neue zu Räubern gemacht. Um das zu tarnen, brauchen wir wieder den Firnis gewisser Manieren. Ergo! Aber hast du nicht noch eine zweite Brasil? Die Metallwarenfabrik versucht Angestellte nie mit einer einzigen zu bestechen.«

Ich hole die zweite Zigarre aus der Schublade und gebe sie ihm. »Intelligenz, Erfahrung und Alter scheinen doch für etwas gut zu sein«, sage ich.

Er grinst und händigt mir dafür eine Schachtel Zigaretten aus, in der sechs fehlen. »War sonst was los?« fragt er.

»Schon wieder? Du hast doch erst gestern eine gehabt!«

»Nicht gestern. Heute morgen um neun. Lumpige achttausend Mark. Immerhin, heute morgen um neun war das wenigstens noch etwas. Inzwischen ist der neue Dollarkurs herausgekommen, und ich kann nun statt einer neuen Krawatte nur noch eine Flasche billigen Wein dafür kaufen. Ich brauche aber eine Krawatte.«

»Wie steht der Dollar jetzt?«

»Heute mittag sechsunddreißigtausend Mark. Heute morgen waren es noch dreißigtausend.«

Georg Kroll besieht seine Zigarre. »Sechsunddreißigtausend! Das geht ja wie das Katzenrammeln! Wo soll das enden?«

»In einer allgemeinen Pleite, Herr Feldmarschall«, erwidere ich. »Inzwischen aber müssen wir leben. Hast du Geld mitgebracht?«

»Nur einen kleinen Handkoffer voll für heute und morgen. Tausender, Zehntausender, sogar noch ein paar Pakete mit lieben, alten Hundertern. Etwa fünf Pfund Papiergeld. Die Inflation geht ja jetzt so schnell, daß die Reichsbank mit dem Drucken nicht mehr nachkommt. Die neuen Hunderttausendernoten sind erst seit vierzehn Tagen raus – und jetzt müssen bald schon Millionenscheine gedruckt werden. Wann sind wir in den Milliarden?«

»Wenn es so weitergeht, in ein paar Monaten.«

»Mein Gott!« seufzt Georg. »Wo sind die schönen, ruhigen Zeiten von 1922? Da stieg der Dollar in einem Jahr nur von zweihundertfünfzig auf zehntausend. Ganz zu

Ich sehe aus dem Fenster, das zur Straße hinausgeht. Lisa steht jetzt gegenüber in einem seidenen Schlafrock, auf den Papageien gedruckt sind. Sie hat einen Spiegel an die Fensterklinke gehängt und bürstet ihre Mähne.

»Sieh das da an«, sage ich bitter. »Es sät nicht, es erntet nicht, und der himmlische Vater ernährt es doch. Den Schlafrock hatte sie gestern noch nicht. Seide, meterweise! Und ich kann nicht den Zaster für eine Krawatte zusammenkriegen.«

Georg schmunzelt: »Du bist eben ein schlichtes Opfer der Zeit. Lisa dagegen schwimmt mit vollen Segeln auf den Wogen der deutschen Inflation. Sie ist die Schöne Helena der Schieber. Mit Grabsteinen kann man nun mal nicht reich werden, mein Sohn. Warum gehst du nicht in die Heringsbranche oder in den Aktienhandel, wie dein Freund Willy?«

»Weil ich ein sentimentaler Philosoph bin und den Grabsteinen treu bleibe. Also wie ist es mit der Gehaltserhöhung? Auch Philosophen brauchen einen bescheidenen Aufwand an Garderobe.«

Georg zuckt die Achseln. »Kannst du den Schlips nicht morgen kaufen?«

»Morgen ist Sonntag. Und morgen brauche ich ihn.«

Georg seufzt und holt vom Vorplatz den Koffer mit Geld herein. Er greift hinein und wirft mir zwei Pakete zu. »Reicht das?«

Ich sehe, daß es meistens Hunderter sind. »Gib ein halbes Kilo mehr von dem Tapetenpapier«, sage ich. »Das

Georg kratzt sich den kahlen Schädel – eine atavistische Geste, ohne Sinn bei ihm. Dann reicht er mir einen dritten Packen. »Gott sei Dank, daß morgen Sonntag ist«, sagt er. »Da gibt es keine Dollarkurse. Einen Tag in der Woche steht die Inflation still. Gott hat das sicher nicht so gemeint, als er den Sonntag schuf.«

»Wie ist es eigentlich mit uns?« frage ich. »Sind wir pleite, oder geht es uns glänzend?«

Georg tut einen langen Zug aus seiner Meerschaumspitze. »Ich glaube, das weiß heute keiner mehr von sich in Deutschland. Nicht einmal der göttliche Stinnes. Die Sparer sind natürlich alle pleite. Die Arbeiter und Gehaltsempfänger auch. Von den kleinen Geschäftsleuten die meisten, ohne es zu wissen. Wirklich glänzend geht es nur den Leuten mit Devisen, Aktien oder großen Sachwerten. Also nicht uns. Genügt das zu deiner Erleuchtung?«

»Sachwerte!« Ich sehe hinaus in den Garten, in dem unser Lager steht. »Wir haben wahrhaftig nicht mehr allzu viele. Hauptsächlich Sandstein und gegossenes Zeug. Aber wenig Marmor und Granit. Und das bißchen, was wir haben, verkauft uns dein Bruder mit Verlust. Am besten wäre es, wir verkauften gar nichts, was?«

Georg braucht nicht zu antworten. Eine Fahrradglocke erklingt draußen. Schritte kommen über die alten Stufen. Jemand hustet rechthaberisch. Es ist das Sorgenkind des Hauses, Heinrich Kroll junior, der zweite Inhaber der Firma.

 

Heinrich legt seinen Hut ab und wischt sich mit dem Taschentuch über die Stirn. Es ist draußen ziemlich kühl, und er schwitzt nicht; er tut es nur, um uns zu zeigen, was für ein Schwerarbeiter er gegen uns Schreibtischwanzen ist.

»Ich habe das Kreuzdenkmal verkauft«, sagt er mit gespielter Bescheidenheit, hinter der ein gewaltiger Triumph schweigend brüllt.

»Welches? Das kleine aus Marmor?« frage ich hoffnungsvoll.

»Das große«, erwidert Heinrich noch schlichter und starrt mich an.

»Was? Das aus schwedischem Granit mit dem Doppelsockel und den Bronzeketten?«

»Das! Oder haben wir noch ein anderes?«

Heinrich genießt deutlich seine blöde Frage als einen Höhepunkt sarkastischen Humors.

»Nein«, sage ich. »Wir haben kein anderes mehr. Das ist ja das Elend! Es war das letzte. Der Felsen von Gibraltar.«

»Wie hoch hast du verkauft?« fragt jetzt Georg Kroll.

Heinrich reckt sich. »Für dreiviertel Millionen, ohne Inschrift, ohne Fracht und ohne Einfassung. Die kommen noch dazu.«

»Großer Gott!« sagen Georg und ich gleichzeitig.

Heinrich spendet uns einen Blick voll Arroganz; tote Schellfische haben manchmal so einen Ausdruck. »Es war ein schwerer Kampf«, erklärt er und setzt aus irgendeinem Grunde seinen Hut wieder auf.

»Ich wollte, Sie hätten ihn verloren«, erwidere ich.

»Verloren! Den Kampf!«

»Was?« wiederholt Heinrich gereizt. Ich irritiere ihn leicht.

»Er wollte, du hättest nicht verkauft«, sagt Georg Kroll.

»Was? Was soll denn das nun wieder heißen? Verdammt noch mal, man plagt sich von morgens bis abends und verkauft glänzend, und dann wird man als Lohn in dieser Bude mit Vorwürfen empfangen! Geht mal selber auf die Dörfer und versucht –«

»Heinrich«, unterbricht Georg ihn milde. »Wir wissen, daß du dich schindest. Aber wir leben heute in einer Zeit, wo Verkaufen arm macht. Wir haben seit Jahren eine Inflation. Seit dem Kriege, Heinrich. Dieses Jahr aber ist die Inflation in galoppierende Schwindsucht verfallen. Deshalb bedeuten Zahlen nichts mehr.«

»Das weiß ich selbst. Ich bin kein Idiot.«

Niemand antwortet darauf etwas. Nur Idioten machen solche Feststellungen. Und denen zu widersprechen ist zwecklos. Ich weiß das von meinen Sonntagen in der Irrenanstalt. Heinrich zieht ein Notizbuch hervor. »Das Kreuzdenkmal hat uns im Einkauf fünfzigtausend gekostet. Da sollte man meinen, daß dreiviertel Millionen ein ganz netter Profit wären.«

Er plätschert wieder in Sarkasmus. Er glaubt, er müsse ihn bei mir anwenden, weil ich einmal Schulmeister gewesen bin. Ich war das kurz nach dem Kriege, in einem verlassenen Heidedorf, für neun Monate, bis ich entfloh, die Wintereinsamkeit wie einen heulenden Hund auf den Fersen.

»Den Obelisken? Was hat der Obelisk mit diesem Geschäft zu tun? Der Obelisk ist unverkäuflich, das weiß jedes Kind.«

»Eben deshalb«, sage ich. »Um den wäre es nicht schade gewesen. Um das Kreuz ist es schade. Das müssen wir für teures Geld wiederkaufen.«

Heinrich Kroll schnauft kurz. Er hat Polypen in seiner dicken Nase und schwillt leicht an. »Wollen Sie mir vielleicht erzählen, daß ein Kreuzdenkmal heute dreiviertel Millionen im Einkauf kostet?«

»Das werden wir bald erfahren«, sagt Georg Kroll. »Riesenfeld kommt morgen hier an. Wir müssen bei den Odenwälder Granitwerken neu bestellen; es ist nicht mehr viel auf Lager.«

»Wir haben noch den Obelisken«, erkläre ich tückisch.

»Warum verkaufen Sie den nicht selber?« schnappt Heinrich. »So, Riesenfeld kommt morgen; da werde ich hierbleiben und auch mal mit ihm reden! Dann werden wir sehen, was Preise sind!«

Georg und ich wechseln einen Blick. Wir wissen, daß wir Heinrich von Riesenfeld fernhalten werden, selbst wenn wir ihn besoffen machen oder ihm Rizinusöl in seinen Sonntagsfrühschoppen mischen müssen. Der treue, altmodische Geschäftsmann würde Riesenfeld zu Tode

»Preise wechseln jeden Tag«, sagt Georg. »Da ist nichts zu besprechen.«

»So? Glaubst du vielleicht auch, daß ich zu billig verkauft habe?«

»Das kommt darauf an. Hast du Geld mitgebracht?«

Heinrich starrt Georg an. »Mitgebracht? Was ist denn das nun wieder? Wie kann ich Geld mitbringen, wenn wir noch nicht geliefert haben? Das ist doch unmöglich!«

»Das ist nicht unmöglich«, erwidere ich. »Es ist im Gegenteil heute recht gebräuchlich. Man nennt das Vorauszahlung.«

»Vorauszahlung!« Heinrichs dicker Zinken zuckt verächtlich. »Was verstehen Sie Schulmeister davon? Wie kann man in unserem Geschäft Vorauszahlungen verlangen? Von den trauernden Hinterbliebenen, wenn die Kränze auf dem Grab noch nicht verwelkt sind? Wollen Sie da Geld verlangen, für etwas, was noch nicht geliefert ist?«

»Natürlich! Wann sonst? Dann sind sie schwach und rücken es leichter heraus.«

»Dann sind sie schwach? Haben Sie eine Ahnung! Dann sind sie härter als Stahl! Nach all den Unkosten für den Arzt, den Sarg, den Pastor, das Grab, die Blumen, den

Wieder eine der persönlichen Entgleisungen Heinrichs! Ich beachte sie nicht. Es ist wahr, ich habe die Grabdenkmäler für unseren Katalog nicht nur gezeichnet und auf dem Presto-Apparat vervielfältigt, sondern sie auch, um die Wirkung zu erhöhen, bemalt und mit Atmosphäre versehen, mit Trauerweiden, Stiefmütterchenbeeten, Zypressen und Witwen in Trauerschleiern, die die Blumen begießen. Die Konkurrenz starb fast vor Neid, als wir mit dieser Neuigkeit herauskamen; sie hatte weiter nichts als einfache Lagerphotographien, und auch Heinrich fand die Idee damals großartig, besonders die Anwendung des Blattgoldes. Um den Effekt völlig natürlich zu machen, hatte ich nämlich die gezeichneten und gemalten Grabsteine mit Inschriften aus in Firnis aufgelöstem Blattgold geschmückt. Ich verlebte eine köstliche Zeit dabei; jeden Menschen, den ich nicht leiden konnte, ließ ich sterben und malte ihm seinen Grabstein – meinem Unteroffizier aus der Rekrutenzeit, der heute noch fröhlich lebt, zum Beispiel: Hier ruht nach langem, unendlich qualvollem Leiden, nachdem ihm alle seine Lieben in den Tod vorausgegangen sind, der Schutzmann Karl Flümer. Das war nicht ohne Berechtigung – der Mann hatte mich stark

»Herr Kroll«, sage ich, »erlauben Sie, daß wir Ihnen noch einmal kurz die Zeit erklären. Die Grundsätze, mit denen Sie aufgewachsen sind, sind edel, aber sie führen heute zum Bankrott. Geld verdienen kann jetzt jeder; es wertbeständig halten fast keiner. Das Wichtige ist nicht, zu verkaufen, sondern einzukaufen und so rasch wie möglich bezahlt zu werden. Wir leben im Zeitalter der Sachwerte. Geld ist eine Illusion; jeder weiß es, aber viele glauben es trotzdem noch nicht. Solange das so ist, geht die Inflation weiter, bis das absolute Nichts erreicht ist. Der Mensch lebt zu 75 Prozent von seiner Phantasie und nur zu 25 Prozent von Tatsachen – das ist seine Stärke und seine Schwäche, und deshalb findet dieser Hexentanz der Zahlen immer noch Gewinner und Verlierer. Wir wissen, daß wir keine absoluten Gewinner sein können; wir möchten aber auch nicht ganz zu den Verlierern zählen. Die dreiviertel Million, für die Sie heute verkauft haben, ist, wenn sie erst in zwei Monaten bezahlt wird, nicht mehr wert als heute fünfzigtausend Mark. Deshalb –«

Heinrich ist dunkelrot angeschwollen. Jetzt unterbricht er mich. »Ich bin kein Idiot«, erklärt er zum zweiten Male. »Und Sie brauchen mir keine solchen albernen Vorträge zu halten. Ich weiß mehr vom praktischen Leben als Sie. Und ich will lieber in Ehren untergehen als zu fragwürdigen Schiebermethoden greifen, um zu existieren. Solange ich Verkaufsleiter der Firma bin, wird das Geschäft im al

Er greift nach seinem Hut und wirft die Tür schmetternd hinter sich zu. Wir sehen ihn auf seinen stämmigen X-Beinen über den Hof stampfen, halbmilitärisch mit seinen Radfahrklammern. Er ist im Abmarsch zu seinem Stammtisch in der Gastwirtschaft Blume.

»Freude am Geschäft will er haben, dieser bürgerliche Sadist«, sage ich ärgerlich. »Auch das noch! Wie kann man unser Geschäft anders als mit frommem Zynismus betreiben, wenn man seine Seele bewahren will? Dieser Heuchler aber will Freude am Schacher mit Toten haben und hält das noch für sein angestammtes Recht!«

Georg lacht. »Nimm dein Geld und laß uns auch aufbrechen! Wolltest du dir nicht noch eine Krawatte kaufen? Vorwärts damit! Heute gibt es keine Gehaltserhöhungen mehr!«

Er nimmt den Koffer mit dem Geld und stellt ihn achtlos in das Zimmer neben dem Büro, wo er schläft. Ich verstaue meine Packen in einer Tüte mit der Aufschrift: Konditorei Keller – feinste Backwaren, Lieferung auch ins Haus.

»Kommt Riesenfeld tatsächlich?« frage ich.

»Ja, er hat telegraphiert.«

»Was will er? Geld? Oder verkaufen?«

»Das werden wir sehen«, sagt Georg und schließt das Büro ab.

Wir treten aus der Tür. Die heftige Sonne des späten Aprils stürzt auf uns herunter, als würde ein riesiges, goldenes Becken mit Licht und Wind ausgeschüttet. Wir bleiben stehen. Der Garten steht in grünen Flammen, das Frühjahr rauscht im jungen Laub der Pappel wie eine Harfe, und der erste Flieder blüht.

»Inflation!« sage ich. »Da hast du auch eine – die wildeste von allen. Es scheint, daß selbst die Natur weiß, daß nur noch in Zehntausenden und Millionen gerechnet wird. Sieh dir an, was die Tulpen da machen! Und das Weiß drüben und das Rot und überall das Gelb! Und wie das riecht!«

Georg nickt, schnuppert und nimmt einen Zug aus der Brasil; Natur ist für ihn doppelt schön, wenn er dabei eine Zigarre rauchen kann.

Wir fühlen die Sonne auf unseren Gesichtern und blicken auf die Pracht. Der Garten hinter dem Hause ist gleichzeitig der Ausstellungsplatz für unsere Denkmäler. Da stehen sie, angeführt wie eine Kompanie von einem dünnen Leutnant, von dem Obelisken Otto, der gleich neben der Tür seinen Posten hat. Er ist das Stück, das ich Heinrich geraten habe zu verkaufen, das älteste Denkmal der Firma, ihr Wahrzeichen und eine Monstrosität an Geschmacklosigkeit. Hinter ihm kommen zuerst die billigen, kleinen Hügelsteine aus Sandstein und gegossenem Ze

Alle diese Denkmäler sind noch das, was man als Kleinvieh bezeichnet – erst hinter ihnen kommen die Klötze aus Marmor und Granit. Zunächst die einseitig polierten, bei denen die Vorderflächen glatt sind, Seiten und Rückenfläche rauh gespitzt und die Sockel allseitig rauh. Das ist bereits die Klasse für den wohlhabenderen Mittelstand, den Arbeitgeber, den Geschäftsmann, den besseren Ladenbesitzer und, natürlich, den tapferen Unglücksraben, den höheren Beamten, der, ebenso wie der kleine, im Tode mehr ausgeben muß, als er im Leben verdient hat, um das Dekorum zu wahren.

Wir blicken gleichzeitig auf das einzige dieser Glanzstücke, das bis vor einer Viertelstunde noch Eigentum der Firma war. Da steht es, schwarz und blitzend wie der Lack eines neuen Automobils, das Frühjahr umduftet es, Fliederblüten neigen sich ihm zu, es ist eine große Dame, kühl, unberührt und noch für eine Stunde jungfräulich – dann wird ihm der Name des Hofbesitzers Heinrich Fleddersen auf den schmalen Bauch gemeißelt werden, in lateinischer, vergoldeter Schrift, der Buchstabe zu achthundert Mark. »Fahre wohl, schwarze Diana!« sage ich. »Dahin!« und lüfte meinen Hut. »Es ist dem Poeten ewig unverständlich, daß auch vollkommene Schönheit den Gesetzen des Schicksals untersteht und elend sterben muß! Fahr wohl! Du wirst nun eine schamlose Reklame für die Seele des Gauners Fleddersen werden, der armen Witwen aus der Stadt ihre letzten Zehntausender

»Du machst mich hungrig«, erklärt Georg. »Auf zur ›Walhalla‹! Oder mußt du vorher noch deinen Schlips kaufen?«

»Nein, ich habe Zeit, bis die Geschäfte schließen. Sonnabends gibt es nachmittags keinen neuen Dollarkurs. Von zwölf Uhr heute mittag bis Montag früh bleibt unsere Währung stabil. Warum eigentlich? Da muß irgendwas mächtig faul dabei sein. Warum fällt die Mark über das Wochenende nicht? Hält Gott sie auf?«

»Weil die Börse dann nicht arbeitet. Sonst noch Fragen?«

»Ja. Lebt der Mensch von innen nach außen oder von außen nach innen?«

»Der Mensch lebt, Punkt. Es gibt Gulasch im ›Walhalla‹, Gulasch mit Kartoffeln, Gurken und Salat. Ich habe das Menü gesehen, als ich von der Bank kam.«

»Gulasch!« Ich pflücke eine Primel und stecke sie mir ins Knopfloch. »Der Mensch lebt, du hast recht! Wer weiter fragt, ist schon verloren. Komm, laß uns Eduard Knobloch ärgern!«

 

Wir betreten den großen Speisesaal des Hotels »Walhalla«. Eduard Knobloch, der Besitzer, ein fetter Riese mit einer braunen Perücke und einem wehenden Bratenrock, verzieht bei unserem Anblick das Gesicht, als hätte er bei einem Rehrücken auf eine Schrotkugel gebissen.

Eduard zuckt nervös die Achseln. »Zuviel essen ist ungesund! Schadet der Leber, der Galle, allem.«

»Nicht bei Ihnen, Herr Knobloch«, erwidert Georg herzlich. »Ihr Mittagstisch ist gesund.«

»Gesund, ja. Aber zuviel gesund kann auch schädlich sein. Nach den neuesten wissenschaftlichen Forschungen ist zuviel Fleisch –«

Ich unterbreche Eduard, indem ich ihm einen leichten Schlag auf seinen weichen Bauch versetze. Er fährt zurück, als hätte ihm jemand an die Geschlechtsteile gegriffen. »Gib Ruhe und füge dich in dein Geschick«, sage ich. »Wir fressen dich schon nicht arm. Was macht die Poesie?«

»Geht betteln. Keine Zeit! Bei diesen Zeiten!«

Ich lache nicht über diese Albernheit. Eduard ist nicht nur Gastwirt, er ist auch Dichter; aber so billig darf er mir nicht kommen. »Wo ist ein Tisch?« frage ich.

Knobloch sieht sich um. Sein Gesicht erhellt sich plötzlich. »Es tut mir außerordentlich leid, meine Herren, aber ich sehe gerade, daß kein Tisch frei ist.«

»Das macht nichts. Wir warten.«

Eduard blickt noch einmal umher. »Es sieht so aus, als ob auch einstweilen keiner frei würde«, verkündet er strahlend. »Die Herrschaften sind alle erst bei der Suppe. Vielleicht versuchen Sie es heute einmal im ›Altstädter Hof‹ oder im Bahnhofshotel. Man soll dort auch passabel essen.«

Passabel! Der Tag scheint von Sarkasmus zu triefen.

Doch Eduard ist nicht nur Poet, sondern scheint auch Gedankenleser zu sein. »Keinen Zweck zu warten«, sagt er. »Wir haben nie genug Gulasch und sind immer vorzeitig ausverkauft. Oder möchten Sie ein deutsches Beefsteak? Das können Sie hier an der Theke essen.«

»Lieber tot«, sage ich. »Wir werden Gulasch kriegen, und wenn wir dich selbst zerhacken müssen.«

»Wirklich?« Eduard ist nichts als ein fetter, zweifelnder Triumph.

»Ja«, erwidere ich und gebe ihm einen zweiten Klaps auf den Bauch. »Komm, Georg, wir haben einen Tisch.«

»Wo?« fragt Eduard rasch.

»Dort, wo der Herr sitzt, der aussieht wie ein Kleiderschrank. Ja, der mit dem roten Haar und der eleganten Dame. Der, der aufgestanden ist und uns zuwinkt. Mein Freund Willy, Eduard. Schick den Kellner, wir wollen bestellen!«

Eduard läßt ein zischendes Geräusch hinter uns hören, als wäre er ein geplatzter Autoschlauch. Wir gehen zu Willy hinüber.

 

Der Grund dafür, daß Eduard das ganze Theater aufführt, ist einfach. Früher konnte man bei ihm auf Abonnement essen. Man kaufte ein Heft mit zehn Eßmarken und bekam die einzelnen Mahlzeiten dadurch etwas billiger. Eduard tat das damals, um das Geschäft zu heben. In den letz

Willy erhebt sich. Er trägt einen dunkelgrünen, neuen Anzug aus erstklassigem Stoff und sieht darin aus wie ein rotköpfiger Laubfrosch. Seine Krawatte ist mit einer Perle geschmückt, und auf dem Zeigefinger der rechten Hand trägt er einen schweren Siegelring. Vor fünf Jahren war er Gehilfe unseres Kompaniefuriers. Er ist so alt wie ich – fünfundzwanzig Jahre.

»Darf ich vorstellen?« fragt Willy. »Meine Freunde und Kriegskameraden Georg Kroll und Ludwig Bodmer – Fräulein Renée de la Tour vom Moulin Rouge, Paris.«

Renée de la Tour nickt reserviert, aber nicht unfreundlich. Wir starren Willy an. Willy starrt stolz zurück. »Setzen Sie sich, meine Herren«, sagt er. »Wie ich annehme,

Wir gruppieren uns um den Tisch. Willy kennt unseren Krieg mit Eduard und verfolgt ihn mit dem Interesse des geborenen Spielers.

»Kellner!« rufe ich.

Ein Kellner, der vier Schritte entfernt auf Plattfüßen an uns vorüberwatschelt, ist plötzlich taub. »Kellner!« rufe ich noch einmal.

»Du bist ein Barbar«, sagt Georg Kroll. »Du beleidigst den Mann mit seinem Beruf. Wozu hat er 1918 Revolution gemacht? Herr Ober!«

Ich grinse. Es ist wahr, daß die deutsche Revolution von 1918 die unblutigste der Welt war. Die Revolutionäre selbst waren von sich so erschreckt, daß sie sofort die Bonzen und Generäle der alten Regierung zu Hilfe riefen, um sie vor ihrem eigenen Mutanfall zu schützen. Die taten es auch großmütig. Eine Anzahl Revolutionäre wurde umgebracht, die Fürsten und Offiziere erhielten großartige Pensionen, damit sie Zeit hatten, Putsche vorzubereiten, Beamte bekamen neue Titel, Oberlehrer wurden Studienräte, Schulinspektoren Schulräte, Kellner erhielten das Recht, mit Oberkellner angeredet zu werden, frühere Parteisekretäre wurden Exzellenzen, der sozialdemokratische Reichswehrminister durfte voller Seligkeit echte Generäle unter sich in seinem Ministerium haben, und die deutsche Revolution versank in rotem Plüsch, Gemütlichkeit, Stammtisch und Sehnsucht nach Uniformen und Kommandos.

»Herr Ober!« wiederholt Georg.

»Ober! Kerl, können Sie nicht hören?« brüllt plötzlich eine Donnerstimme in erstklassigem preußischem Kasernenhofton durch den Speisesaal. Sie wirkt auf der Stelle, wie ein Trompetensignal auf alte Schlachtpferde. Der Kellner hält an, als hätte er einen Schuß in den Rücken bekommen, und dreht sich um; zwei andere stürzen von der Seite herbei, irgendwo klappt jemand die Hacken zusammen, ein militärisch aussehender Mann an einem Tisch in der Nähe sagt leise: »Bravo« – und selbst Eduard kommt mit wehendem Bratenrock, um nach dieser Stimme aus höheren Sphären zu forschen. Er weiß, daß weder Georg noch ich so kommandieren können.

Wir sehen uns sprachlos nach Renée de la Tour um. Sie sitzt friedlich und mädchenhaft da, als ginge sie das Ganze nichts an. Dabei kann nur sie es sein, die gerufen hat – wir kennen Willys Stimme.

Der Ober steht am Tisch. »Was befehlen die Herrschaften?«

»Nudelsuppe, Gulasch und rote Grütze für zwei«, erwidert Georg. »Und flott, sonst blasen wir Ihnen die Ohren aus, Sie Blindschleiche!«

Eduard kommt heran. Er versteht nicht, was los ist. Sein Blick gleitet unter den Tisch. Dort ist niemand versteckt, und ein Geist kann nicht so gebrüllt haben. Wir auch nicht, das weiß er. Er vermutet irgendeinen Trick. »Ich muß doch sehr bitten«, sagt er schließlich, »in meinem Lokal kann man nicht solchen Lärm machen.«

»Wirt! Kommen Sie mal her!« brüllt plötzlich die Donnerstimme von vorher hinter ihm her.

Eduard schießt herum und starrt uns an. Wir alle haben noch dasselbe leere Lächeln auf unseren Schnauzen. Er faßt Renée de la Tour ins Auge. »Haben Sie da eben –?«

Renée klappt ihre Puderdose zu. »Was?« fragt sie in einem silberhellen, zarten Sopran. »Was wollen Sie?«