Für Fabian
»Ibsen, Grieg, Munch und MAYHEM«
Jørn »Necrobutcher« Stubberud
»Cannot the kingdom of salvation take me home?«
Metallica, »To Live is to Die«
Es war ein kalter, klarer Novembernachmittag. Der Mann registrierte mit Genugtuung, dass alles demselben Muster folgte wie an den Tagen zuvor. Derselbe Rhythmus, dieselben Routinen. Er saß in seinem Wagen und beobachtete aus sicherer Entfernung, wie der altersschwache Transporter auf den Parkplatz hinter dem Schulzentrum rollte und zum Stehen kam. Die Türen des auf dilettantische Weise mattschwarz lackierten Wagens öffneten sich und heraus stolperte eine Handvoll Jugendlicher: schulterlanges Haar, Jeansjacken, in den Händen Gitarrenkoffer, Zigaretten und Dosenbier. Sie nannten sich FLAMETHROWER, wie der Schriftzug auf dem Transporter verriet, Flammenwerfer, aber natürlich wusste dies der Mann längst, er war vorbereitet, er folgte der Band, seit sie vor fünf Tagen zu einer kurzen Tournee aufgebrochen war.
Eslöv, Nässjö, Ulricehamn, Sölvesborg und an diesem Tag Hallsberg.
Allesamt Kleinstädte, die Auftrittsorte waren Jugendzentren, Schulaulen und Turnhallen. Der Mann unterdrückte ein Gähnen. Die Musiker begannen damit, ihr Equipment in den hell erleuchteten Zweckbau zu schleppen. Gegen 19 Uhr tauchten 20 bis 30 junge Leute vor der Schule auf. Wie an den anderen Abenden auch war das Publikum äußerlich kaum von den Musikern zu unterscheiden. Teenager, überwiegend Jungen, 14 bis 18 Jahre alt. Der Mann stellte seinen Feldstecher scharf. Im gelben Licht der Außenbeleuchtung war ziemlich oft das Wort DEATH auf den Aufnähern der Jeansjacken zu lesen, Tod.
Um halb acht öffneten sich die Türen und die Konzertbesucher drängelten zum Eingang. Der Mann schaute auf seine Uhr. Anderthalb Stunden etwa, dann würde der Spuk vorbei sein. Er schaltete die Standheizung seines Wagens eine Stufe höher, lehnte sich in den Fahrersitz zurück, schenkte sich aus einer Thermoskanne Kaffee ein und aß ein Butterbrot. Er war vorbereitet, der Abend konnte lang werden.
Um kurz vor zehn verließen die letzten zerzausten Gestalten das Gebäude. Der Hausmeister schloss die Türen ab, vertrieb einige Nachzügler vom Schulhof und stellte die Außenbeleuchtung ab, dann stieg er in einen senfgelben Golf und fuhr davon. Nur in dem Transporter auf dem Parkplatz, in dem die Band übernachtete, brannte noch Licht. Auch dieses Ritual gehörte zum allabendlichen Ablauf: eine kreisende Wodkaflasche, viele Zigaretten, ein scheppernder Kassettenrekorder. Der Mann war jetzt konzentriert. Gespannt wartete er darauf, ob einer der Insassen wie an den Abenden zuvor eines der Fenster öffnete, weil die Luft in dem Wagen selbst für feierwütige Jugendliche zu verraucht geworden war. Für seinen Plan war dieses Detail nicht entscheidend, aber es würde den Ablauf leichter machen, eleganter. Und tatsächlich: Um Punkt 0.22 Uhr wurde eine der Scheiben eine Handbreit heruntergelassen. Der austretende Zigarettenqualm waberte in langen Schwaden durch die kalte Herbstluft, am Himmel stand ein bläulicher Dreiviertelmond, ein fast poetischer Moment, dachte der Mann. Auch er kurbelte das Fenster der Fahrertür ein Stück weit herunter und lauschte in die Nacht. Nach einer Weile ging die Schiebetür des provisorischen Bandbusses auf, drei der Langhaarigen sprangen heraus und pinkelten an den nächsten Baum. Jemand rülpste lautstark, es folgte ein mehrstimmiges Lachen, bevor das Trio wieder einstieg. Um kurz nach eins öffnete sich die Wagentür erneut, zwei Mädchen stiegen aus dem Transporter und verschwanden kichernd und einander untergehakt in der Nacht. Nicht lange darauf verstummte die Musik und das Licht erlosch. Geduldig wartete der Mann eine weitere Stunde. Doch in dem Wagen schien sich nichts mehr zu rühren. Vollrausch und Tiefschlaf, dachte er zufrieden und stieg bedächtig aus dem Auto. Seine weichen Sohlen machten auf dem asphaltierten Untergrund so gut wie keine Geräusche. Als er den Transporter erreichte, betrachtete er für einen Augenblick den Gegenstand in seiner Hand, der metallisch im Mondlicht schimmerte.
Wie die eiserne Miniatur einer Ananas.
Er zog den Sicherheitsstift und ließ das kleine, schwere Ding durch das offene Autofenster fallen.
Dann rannte er, so schnell er konnte, davon.
Hauptkommissarin Ingrid Nyström war von Anfang an dagegen gewesen. Es gab wenig, das ihr so viel Unbehagen bereitete, wie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Und dann auch noch einen ganzen Abend lang! Aber was hätte sie schon für Einwände anführen können? Jeder Protest wäre in dem lautstark orchestrierten Trubel untergegangen, den ihre drei erwachsenen Töchter seit Wochen veranstalteten, und Anders, ihr meistens sehr wunderbarer Ehemann, war in diesem Fall auch keine Hilfe gewesen, im Gegenteil, er schien in vielerlei Hinsicht sogar der eigentliche, wenn auch mehr oder weniger heimliche Dirigent dieses ihrer Meinung nach völlig überdimensionierten Werks zu sein. Die ganz große Oper statt eines romantischen Nachtlieds in pianissimo, was ihr zweifelsohne mehr behagt hätte. Doch nun stand sie hier, in einem zu tief ausgeschnittenen Kleid, das an den Hüften spannte – wie hatte sie ernsthaft den Ratschlägen der viel zu jungen Verkäuferin in der Boutique folgen können? –, blickte in siebenundfünfzig erwartungsvolle Gesichter und versuchte, sich ein Lächeln abzuringen, während die Band hinter ihr das obligatorische Hoch soll sie leben ausklingen ließ. Siebenundfünfzig geladene Gäste, die vielen umhertollenden Kinder nicht mitgerechnet, einen Gast für jedes ihrer Lebensjahre. Wie originell, dachte sie, wie sinnbildlich, besser hätte man mein biblisches Alter kaum visualisieren können. Vielen Dank auch! Eigentlich hätte dieses große Fest bereits vor zwei Jahren stattfinden sollen, fünfundfünfzig war wenigstens eine Schnapszahl, etwas, auf das man im großen Stil anstoßen konnte, aber damals hatte sie gerade eine Krebserkrankung überstanden, und eine rauschende Party war das Letzte gewesen, auf das sie Lust verspürt hatte.
»Eine Rede!«, rief jemand von einem der hinteren Tische. Nyström meinte, ihren Großcousin Bertil auszumachen, aber sicher war sie sich nicht. Vielleicht brauchte sie wirklich bald eine Brille. Und in fünf Jahren dann wahrscheinlich ein neues Hüftgelenk. Und von da aus war es ja wohl kaum mehr weit bis ins Grab.
»Eine Rede, eine Rede!«, forderte nun die gesamte Menge.
Der Bandleader drückte ihr mit einem süffisanten Lächeln das Mikrofon in die Hand.
Es wurde still im Saal des Lokals, sogar die vielen Kinder hielten für einen Moment in ihrem Toben inne. Nyström stand der Schweiß auf der Stirn. Sie versuchte das unangenehme Kribbeln unter der Haut zu kontrollieren, indem sie sich wahllos auf die merkwürdige Tischdekoration konzentrierte, die schon seit Beginn des Abends unterschwellig ihre Aggression fütterte: Arrangements aus Kastanienmännchen, Rosen und neongelbem Tüll.
»Wie wunderbar, dass wir heute an diesem unglaublich schönen Ort versammelt sind!«, hob sie an.
Kommissarin Stina Forss steuerte ihren mehr als dreißig Jahre alten BMW durch den Schneeregen. Die Seitenfenster waren beschlagen, irgendetwas stimmte mit der Lüftung nicht, auch einer der Scheibenwischer arbeitete nicht mehr einwandfrei und zog Schlieren über die Windschutzscheibe. Die Sicht auf den Verkehr war daher alles andere als gut und der Umstand, dass sie vor etwas mehr als einem Jahr ihr linkes Auge verloren hatte, machte die Situation nicht besser. Das andere, das heile Auge war von der viereinhalbstündigen Autofahrt unter schlechten Sichtbedingungen überanstrengt, sie merkte, dass sie Kopfschmerzen bekam. Das Navigationsgerät leitete sie durch endlos erscheinende Stockholmer Vororte. Was für eine Reihenhaushölle das hier ist, dachte sie und musterte misstrauisch die winzigen Vorgärten, in denen Kindertrampoline oder auf Anhänger gebockte und mit Persenningen geschützte Segelboote unter ihren Schneehauben sichtbare Versprechen von Familienleben und Sommerurlauben darstellten. Das Glück im Kleinen, dachte sie, na dann, und gab Gas. Eine Viertelstunde später hatte sie endlich ihr Ziel erreicht.
Der erste Grund, warum sie hier war.
Sie parkte den Wagen, überprüfte im Spiegel den Lippenstift, rückte die Augenklappe zurecht, stieg aus und öffnete den Kofferraum. Zu ihrem Verdruss stellte sie fest, dass sie keinen Regenschirm dabeihatte. Dann musste es eben ohne gehen. Entschlossen klappte sie den Mantelkragen hoch und schob die Hände tief in die Taschen. Der Wind, der aus Richtung der nahen Schärenküste wehte, trieb ihr das eisige Nass nahezu waagerecht entgegen und ließ die Kiefern, die den Kiesweg säumten, in einem eigenwilligen Takt wiegen. Ihre Stämme hatten die Farbe von Bronze.
Der weitläufige Friedhof war menschenleer, außer ihr schien niemand dem unwirtlichen Wetter zu trotzen. Sie brauchte eine Weile, um sich zu orientieren. Die Position des Grabs hatte sie auf einem Notizzettel skizziert, es lag am nordöstlichen Rand des Friedhofs. Sie spürte, wie ihr Gang mit jedem Schritt unsicherer wurde. Das hatte nichts mit dem böigen Wind zu tun. Sie wusste, dass sie längst hätte hierherkommen sollen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Doch wie hätte das gehen sollen? Wie trauerte man um einen Mann, der sein eigenes Leben gegeben hatte, um ihres zu retten? Und das von über sechstausend anderen Menschen noch dazu? Wie trauerte man um einen Helden? Um jemanden, den man viel zu wenig gekannt hatte, um ihn zu lieben, aber dennoch oft so schmerzlich vermisste, dass es einem die Luft zum Atmen nahm?
Sie kannte auf diese Fragen keine Antwort, sie wusste noch nicht einmal, wie sie die kommenden fünfzehn Minuten überstehen sollte. Als sie endlich das Grab erreicht hatte, vor der schmucklosen Betoneinfassung stand und die schlichte Steintafel mit seinem Namen betrachtete, fand sie in sich keine Tränen. Dass ihre Wangen feucht waren, hatte sie ausschließlich dem Regen zu verdanken. Sie stand dort eine Zeit lang, fröstelnd und ratlos dem Wind lauschend.
»Danke«, flüsterte sie schließlich heiser. »Danke, Kent Vargen.«
Zwei Stunden und zweieinhalb Gläser Weißwein später war Ingrid Nyström um einiges milder gestimmt. Das viergängige Menü war wirklich hervorragend gewesen und die meisten Gäste waren so taktvoll und hinterlegten ihre Präsente dezent auf einem Gabentisch und ersparten ihr so einen öffentlichen Auspackmarathon voller übertriebener Ahs und Ohs. Man hatte mittlerweile die Tische mitsamt der grotesken Dekoration beiseitegestellt und der Band gelang es tatsächlich, das Gros der Gäste zum Tanzen zu animieren. Nach drei Runden Bug war Nyström verschwitzt, aber deutlich entspannter. Zum Takt des Gassenhauers Guld och gröna skogar wiegte sie Albert, den vier Monate alten Sohn ihrer jüngsten Tochter Anna, im Arm. Anschließend drehte sie eine Runde durch den Saal, um sich bei allen Anwesenden noch einmal persönlich für ihr Kommen zu bedanken. Diejenigen, die nicht tanzten, hatten sich zu kleinen Gruppen zusammengefunden, plauderten, lachten und stießen miteinander an.
»Tolle Party!«, lobte ihr langjähriger Mitarbeiter Lars »Lasse« Knutsson und klopfte ihr mit einer seiner Pranken auf die Schulter. »Das Essen war fantastisch!«
Neben dem bärtigen, bärenhaften Kollegen saßen in der kleinen Runde der Kriminalpolizei Kronoberg noch Hugo Delgado, der Computerexperte der Abteilung, und Anette Hultin, die sich seit über einem Jahr in Elternzeit befand. Aus Nyströms Team fehlte nur Stina Forss – aus irgendeinem nichtigen, wahrscheinlich vorgeschobenen Grund, was allerdings keine große Überraschung darstellte. Forss hatte mit menschlichem Miteinander so ihre Probleme, und nachdem sie vor einem Jahr während eines Einsatzes schwer verletzt worden war, war sie nicht gerade umgänglicher geworden. Im Gegenteil. Stattdessen hatte sich Nyströms Freundin Ann-Vivika Kimsel, eine alleinstehende, attraktive Frau ihres Alters, zu den Kollegen gestellt. Als Rechtsmedizinerin des Bezirks Kronoberg hatte Kimsel häufig mit Nyströms Team zu tun. Man kannte und schätzte sich.
»Schön, dass ihr gekommen seid«, sagte Nyström. »Ich hoffe, ihr langweilt euch nicht zu Tode.«
»Quatsch!«, protestierte Knutsson.
»Eine klasse Band!«, lobte Hultin.
»Und erst die Tischdekoration!«, scherzte Delgado.
Nyström verdrehte demonstrativ die Augen.
»Anders hat ein Händchen für vieles«, sagte sie. »Aber Blumengestecke?«
Die Runde lachte. Nach einigen Minuten Smalltalk nahm Kimsel Nyström zur Seite.
»Es gibt da etwas, über das wir beide uns dringend unterhalten müssten.«
»Das klingt ja vielversprechend.«
»Die Sache ist etwas … pikant.«
»Sollte ich rot werden?
»Nein, das Ganze ist eher beruflicher Natur.«
»Puh. Jetzt und hier?«
»Um Gottes willen! Ich dachte an Montagmorgen.«
»Dein Büro ist weitaus gemütlicher als meins. Sagen wir um acht?«
»Ich werde einen Tee aufsetzen. Darf ich deinen Anders nun auf einen Tanz entführen?«
»Unbedingt!«
Stina Forss fuhr vom Friedhof aus zu dem Motel, das sie im Vorhinein gebucht hatte, ein gesichtsloser, dreigeschossiger Bau, der eingeklemmt zwischen zwei Autobahnausfahrten lag. Auf dem Zimmer duschte sie heiß und zog sich anschließend trockene Sachen an. Nachdem sie sich die Haare geföhnt hatte, setzte sie sich auf das Bett und nahm ein altmodisches Brillenetui aus ihrer Kulturtasche, das sie vorsichtig aufklappte. Darin lagen gebettet auf einem gefalteten Stofftaschentuch zwei Gegenstände: ein großer Schlüssel mit einem komplizierten Bart sowie ein prachtvoller militärischer Orden. Es war ihr zum täglichen Ritual geworden, diese beiden Dinge anzuschauen, in die Hand zu nehmen, an sich zu drücken. Auch wenn sie nicht einmal annäherungsweise ihre Bedeutung verstand, versuchte Forss sie wortwörtlich zu begreifen. Denn es war ein Rätsel: Kent Vargen hatte ihr die beiden Gegenstände in die Manteltasche gesteckt, Sekunden bevor er sie und ein Fußballstadion voller Menschen vor dem Tod bewahrt hatte. Stattdessen hatte er sich selbst geopfert. Das Bombenattentat einer rechtsextremen Terroristenzelle auf ein Fußballspiel zweier Einwanderermannschaften in Södertälje hatte weltweit Schlagzeilen gemacht. Neben Kent Vargen, dem es gelungen war, den mit einem Zeitzünder versehenen Sprengstoff im letzten Moment aus dem Stadion zu schaffen und damit die Auswirkung der Explosion drastisch einzudämmen, waren fünf Terroristen und siebzehn Unbeteiligte zu Tode gekommen, fast hundertfünfzig Menschen waren schwer verletzt worden, darunter Stina Forss. Das Justizministerium hatte eine Untersuchungskommission eingesetzt, es hatte Verhaftungen gegeben und die umfangreichen Ermittlungen der Polizei und des Staatsschutzes dauerten bis heute an. Forss, die den Terroristen auf die Spur gekommen war und die Attentatspläne aufgedeckt hatte, war von der Landespolizeiführung persönlich belobigt worden. Das Angebot, eine leitende Ermittlerstelle in Stockholm anzunehmen, hatte sie jedoch abgelehnt, ohne lange darüber nachzudenken. In den ersten Monaten nach dem Koma und den Operationen, bei denen ein Metallsplitter aus ihrem Kopf entfernt und vergeblich versucht worden war, ihr linkes Auge zu retten, hatte sie viel über ihre Situation nachgedacht. Es war einige Jahre her, seit sie aus Berlin nach Schweden, in das Land ihrer Kindheit, zurückgekehrt war. Sie hatte damals ihr deutsches Leben einschließlich einer Karriere bei der Mordkommission des Landeskriminalamts hinter sich zurückgelassen, weil ihr todkranker Vater sie hier gebraucht hatte; zumindest hatte sie sich das eingeredet, ungeachtet der Tatsache, dass ihre Beziehung kaum existent war, seit er sie und ihre Mutter in ihrer Jugend schwer misshandelt hatte. Wunden, die nie verheilt, Dinge, die nie zur Sprache gekommen waren. Der zweite, ehrlichere Grund war daher, dass sie sich endlich eine offene Aussprache erhofft hatte. Ein Gespräch, das ihr Antworten auf die Frage geben konnte, warum ihr eigenes Leben so verkorkst war, warum eine gescheiterte Liebesbeziehung auf die nächste gefolgt war, warum sie gegenüber ihren Lebensabschnittspartnern so jähzornig gewesen war, so unkontrolliert und gewalttätig. Nun war Kjell Forss seit mehr als zwei Jahren tot, das klärende Gespräch hatte es nie gegeben, doch sie war immer noch hier. Es fiel ihr selbst schwer zu verstehen, warum. Sie war in Växjö gestrandet, in der småländischen Provinz, bewohnte das ehemalige Ferienhaus ihres Vaters, das weit außerhalb der Kreisstadt im Nirgendwo lag, hatte, ausgenommen von ihren Kollegen und vielleicht noch der Familie ihrer Cousine, keine nennenswerten zwischenmenschlichen Kontakte, keine Freunde, keine Wurzeln.
Andererseits: Was zog sie zurück nach Berlin? Dort war das Leben auch ohne sie weitergegangen. Ihre ehemalige Stelle war längst wieder besetzt worden, ihr Exfreund Sebastian hatte vor Kurzem geheiratet, und nach dem, was man so hörte, waren die Wohnungspreise und Mieten in den vergangenen Jahren explodiert. Was sollte sie in Stockholm, leitende Position hin oder her? Oder gar im Sauerland, wo ihre Mutter lebte? Forss war keine Träumerin. Ein Leben, das man führte, gleich wie blass und eindimensional es von außen betrachtet wirken mochte, war immer noch besser als eins, das man herbeifantasierte. Vielleicht bin ich für Utopien auch einfach zu kaputt, dachte sie oft in letzter Zeit. Immerhin hatte sie ihren Job bei der Kripo Kronoberg. Auch wenn ihr Leben ansonsten ein Trümmerfeld sein mochte, war sie wenigstens eine gute Polizistin. Für diese Gewissheit brauchte sie nicht das Lob des Landespolizeichefs.
Forss nahm den Orden aus dem Etui. Er war kühl und schwer, ein goldenes Andreaskreuz besonderer Machart. Seine vier gezackten Enden liefen auf einen Kreis zu, der mit drei Kronen geschmückt war. Längs durch die Mitte führte ein Schwert, dessen Spitze eine große, filigran gearbeitete Krone zierte. Die Krone wiederum war an der Spitze mit einer feingliedrigen Öse an einem geklöppelten gelben Ordensband befestigt, auf das blaue Streifen und ein weiteres goldenes Schwert gestickt waren. Auf der Rückseite waren die Worte PRO PATRIA, für das Vaterland, eingeprägt, sowie das Emblem des Königshauses. Natürlich hatte sie recherchiert, was es mit diesem Orden auf sich hatte, und war nach langem Suchen schließlich in der Stadtbibliothek in einem Heraldikführer fündig geworden. Das, was sie gerade in der Hand hielt, war das Kriegskreuz ersten Grades in Gold des Königlichen Schwertordens, dem Fachbuch zufolge die bedeutendste Tapferkeitsauszeichnung, die es in Schweden gab. Merkwürdigerweise stand dort ebenfalls, dass dieser Orden noch nie verliehen worden war. Wie auch, wenn die in den Fünfzigerjahren gestiftete Auszeichnung ausschließlich zu Kriegszeiten vergeben wurde und sich das Land seit mehr als zweihundert Jahren nicht mehr im Krieg befunden hatte?
Das führte unweigerlich zu der Frage, wie eine derart exklusive Medaille in Kent Vargens Besitz gekommen war. Und warum hatte er, seinen unmittelbaren Tod vor Augen, den Orden an sie weitergereicht? Welche Bedeutung hatte der Schlüssel? Gab es womöglich einen Zusammenhang zwischen den beiden Gegenständen? Was wollte ihr Kent mit seiner letzten Geste sagen? Barg sein Erbe, wie sie die beiden Dinge nannte, eine Aufforderung? Einen Auftrag?
Die Fragen trieben sie seit den Tagen um, die sie nach dem Unglück im Krankenhaus verbracht hatte; und dafür, dass die wenigen positiven Aspekte ihres Selbstbilds im Grunde einzig und allein auf dem Umstand fußten, eine gute Ermittlerin zu sein, hatte sie im vergangenen Jahr bemerkenswert wenige Antworten gefunden, wie sie nicht ohne Bitterkeit immer wieder feststellte.
Eine Tapferkeitsmedaille, die nie vergeben worden war.
Ein Schlüssel, der sich nicht zuordnen ließ.
Beides unter den denkbar dramatischsten Umständen überreicht von ihrem … Geliebten – ihr fiel kein passenderes Wort ein –, einem Mann, den es eigentlich gar nicht gab. Sie wiederholte die Worte, sprach sie laut vor sich hin, wie um sich dadurch ihrer Wahrhaftigkeit zu versichern:
Einem Mann, den es eigentlich gar nicht gab.
Denn das war die größte und beunruhigendste Entdeckung ihrer monatelangen, heimlichen Recherche gewesen: Kent Vargen war ein Phantom. Der Mann, mit dem sie das Bett geteilt, der Kollege, der ein halbes Jahr lang ihre Abteilung verstärkt, mit dem sie täglich zusammengearbeitet hatte, schien außerhalb dieser sechsmonatigen Zeitblase nicht zu existieren. Sie fand ihn in keinem Archiv und in keinem Register. Seine Personalnummer war keiner Steuerakte zuzuordnen. Es gab keine Angehörigen und offenbar keine Freunde. Zu seiner Beerdigung, die stattgefunden hatte, während Forss noch mit einem Metallsplitter im Kopf im Koma gelegen hatte, war außer ihrer Chefin Ingrid Nyström niemand erschienen. Die Personalverwaltung in Stockholm, die Kent der Kripo in Kronoberg zugeteilt hatte, ließ ihre Anfragen unbeantwortet, angeblich fehlte der zuständige Sachbearbeiter seit Monaten krankheitsbedingt. Sicher, sie hätte ihre Chefin in die Sache einweihen und auf offiziellen Wegen mehr Druck machen können. Sie hätte sich an den Växjöer Polizeichef Edman oder gleich direkt an die Landespolizeiführung wenden können, nun, wo sie eine belobigte Toppolizistin war, der sogar der Innenminister persönlich die Hand geschüttelt hatte. Doch das Letzte, was sie wollte, war, in der Sache Staub aufzuwirbeln und unnötige Aufmerksamkeit zu erregen. Nicht, bevor sie wenigstens ansatzweise ahnte, was es mit Kents Nichtexistenz auf sich hatte. Das Einzige, was sie fand, waren dürftige Spuren im Internet, ein Facebook- und ein Twitteraccount, beide genau eine Woche vor dem Zeitpunkt erstellt, an dem Kent in Växjö aufgetaucht war, offenbar aus dem Nirgendwo.
Wer warst du, Kent?
Wer warst du wirklich?
Mehr als auffällig war ebenfalls, dass Kent Vargen in der Berichterstattung über das Attentat im Gegensatz zu ihr selbst überhaupt nicht auftauchte. Immer wieder war überall dasselbe fürchterliche Archivbild von ihr abgedruckt worden, sie hatte Interview- und Talkshowanfragen abwimmeln müssen, ein Verlag hatte ihr gar einen Buchvertrag angeboten. Sie war die Heldin der Stunde gewesen, das Gesicht der halbwegs vereitelten Stadiontragödie. Angesichts des Umstands, dass sie zwar den Sprengstoff entdeckt, es aber Kent gewesen war, der die Zeitbombe aus dem Stadion geschafft hatte, während sie hilflos und gefesselt am Boden gelegen hatte, waren die Zeitungsberichte schwammig. Kents Rolle blieb in der medialen Darstellung die eines Geists.
Als sie nach Wochen endlich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war seine Wohnung bereits leer geräumt worden. Wenige Tage nach seiner Beerdigung. Wer das getan oder veranlasst hatte, war vollkommen unklar. Nyström wusste von nichts. Forss’ Befragung der Nachbarn blieb bis auf die zeitliche Eingrenzung ergebnislos. Stockholm blieb stumm.
Weitergeholfen hatte ihr schließlich ein Zufallstreffer. Vor gut einem Monat war sie in der Lokalzeitung auf einen Artikel über eine Langzeitverkehrsstudie in Växjö gestoßen. Über ein Jahr hinweg war die Verkehrsdichte und Abgasbelastung an den viel befahrenen Ausfallstraßen der Stadt aufgezeichnet, gemessen und ausgewertet worden. Unter dem Vorwand, in einem wichtigen Fall von Drogenkriminalität zu ermitteln, wandte sie sich an die Forschungsgruppe der Universität, die die Studie im Auftrag der Kommune erstellt hatte. Tatsächlich war das aufgezeichnete Videomaterial noch immer gespeichert. Vollumfänglich, wie der freundliche, ältere Verkehrswissenschaftler mit Bauchansatz lächelnd betonte. Der unerwartete Damenbesuch in seinem engen Büro schien ihn überaus zu erfreuen. Geduldig setzte er sich zusammen mit ihr vor den Monitor seines Rechners, sichtete stundenlang das Material im Schnelldurchlauf und servierte dazu Unmengen kaum genießbaren Kaffees. Kent Vargen hatte auf Teleborg gewohnt, unweit der südlichen Hauptverkehrsstraße, an der eine von insgesamt fünf Kameras installiert gewesen war. Forss hatte unverschämtes Glück. Auf der Plane des Lkw, der direkt vor der roten Ampel in der Videoaufnahme zum Stehen kam, stand in großen Lettern Umzug, Entrümpelung, Einlagerung. Das Nummernschild war zu entziffern. Das Unternehmen war in Stockholm ansässig, wie ihre spätere Nachforschung ergeben hatte.
Das war der zweite Grund, warum sie an diesem regnerischen Samstagabend in der Hauptstadt war. Sie legte den Orden vorsichtig zurück in das Etui neben den Schlüssel, stand auf, zog sich den noch immer feuchten Mantel über und machte sich auf den Weg.
Die Lagerhalle des Self-Storage-Unternehmens lag eine Dreiviertelstunde Autofahrt entfernt in einem der südlichen Industriegebiete. Hinter dem Empfangstresen saß ein gelangweilt aussehender junger Mann und wischte auf einem Smartphone herum. Forss wedelte mit ihrem Dienstausweis und erklärte ihr Anliegen. Der Angestellte tippte etwas in den Computer, der vor ihm stand.
»Kent Vargen haben wir hier nicht. Überhaupt keinen Vargen.«
Damit hatte Forss durchaus gerechnet.
»Kannst du gezielt nach einem Datum suchen? Es geht um eine Lieferung aus Växjö.«
Der Mann nickte und tippte entsprechend ihren Anweisungen.
»Oh«, sagte er dann und zog eine Grimasse.
»Was, oh?«
»Es gab tatsächlich etwas, was an dem Tag aus Växjö gekommen ist.«
Sie spürte ihr Herz pochen.
»Gab?«
»Tja, es sieht so aus, als ob du zwei Wochen zu spät kommst.«
»Hat die Lieferung bereits jemand abgeholt?«
Wieder eine Grimasse, diesmal eine andere.
»Nicht direkt.«
»Was soll das heißen?«
Dem jungen Mann war nun offensichtlich unwohl zumute. Er wand sich auf seinem Schreibtischstuhl, kaute auf seiner Unterlippe herum. Forss spürte, dass er ein wenig moralische Unterstützung brauchte.
»Ich arbeite an einer landesweiten Morduntersuchung«, sagte sie. »Weißt du, welches Strafmaß für die Behinderung einer so wichtigen Ermittlung vorgesehen ist?«
Mit aufgerissenen Augen schüttelte er langsam den Kopf.
»Das glaube ich nämlich auch nicht«, sagte Forss und lächelte schmal.
Der junge Mann zögerte noch einen Augenblick, dann drehte er sich demonstrativ nach links und rechts um, als seien irgendwo versteckte Kameras montiert. Es hatte etwas Slapstickhaftes.
»Eigentlich dürfen wir gar nicht darüber sprechen«, begann er. »Aber, nun ja, wenn es um eine landesweite Mord-ermittlung geht.«
Forss nickte und setzte ihr ernstes Gesicht auf. Vielleicht schüchtert ihn auch die Augenklappe ein wenig ein, dachte sie zufrieden.
»Gegen einen gewissen Aufpreis bieten wir unter der Hand die Entsorgungsvariante K an.«
»K?«
»K steht für Krematorium.«
»Das heißt konkret?«
Wieder sah der Junge nach links und nach rechts, bevor er antwortete.
»Na, wir verbrennen den Scheiß! Nur dass wir hier gar kein Krematorium haben, natürlich auch keine Müllverbrennungsanlage, das wäre alles viel zu teuer.«
»Also?«
»Wir fackeln das Zeug in einem Container hinter der Halle ab. Ein bisschen Benzin darauf und los.«
Forss schluckte.
»Und diese Variante K, wann hat es die zuletzt gegeben?«
Der Junge griff unter den Tresen, zog einen Kalender heraus und begann, darin zu blättern.
»Das muss vor vierzehn Tagen gewesen sein. Lagernummer 34.788, die Fuhre aus Växjö.«
»Wo genau steht dieser Container?«
»Ich zeige es dir.«
Er kam hinter dem Tresen hervor und Forss folgte ihm durch ein Labyrinth aus Gängen und Türen. Sie passierten eine Unzahl an heruntergelassenen Rollgittern. Das Unternehmen warb damit, über 15.000 Quadratmeter Stellflächen zu haben. Durch eine Metalltür traten sie schließlich nach draußen. Der Regen hatte aufgehört, aber die Luft war weiterhin feucht und kalt und Forss nahm das Aroma des nahen Meeres wahr. Vor einem etwa zwei mal sechs Meter großen, offenen Metallcontainer blieb der junge Mann stehen.
»Unser sogenanntes Krematorium.«
Forss knipste ihre Mini-Maglite an und erklomm die Sprossen der in die Containerwand eingelassenen Leiter. Sie leuchtete in das verrußte Innere. Asche, Schlacke, schwarz verfärbte Metallreste. Forss kletterte über den Rand. Auf ihren hellen Mantel konnte sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Es roch penetrant nach Lagerfeuer. Ab und an bückte sie sich. Drähte, ein rostiges Scharnier, ein Kleiderbügel. Das Gehäuse einer Fotokamera. Glassplitter. Der Schirm einer Schreibtischlampe. Die Aluminiumschale eines Laptops. Dann trat sie unvermittelt auf etwas Hartes. Mit dem Stiefel schob sie Asche beiseite, dann ging sie in die Knie und hob den Gegenstand auf. Eine kompakte Metallkassette, von der Hitze bläulich angelaufen. Sie schüttelte sie, innen klapperte etwas. Sie hatte keine Ahnung, ob der Kasten jemals Kent gehört hatte, aber sie nahm ihn mit, denn ansonsten war in diesem Container nichts zu holen.
»Bekommt mein Chef jetzt Schwierigkeiten?«, fragte der Junge, als sie wieder herauskletterte.
»Am besten erfährt niemand, dass ich überhaupt hier gewesen bin«, entgegnete Forss. »Die ganze Ermittlung ist nämlich äußerst heikel und delikat, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Sind etwa Prominente in den Fall verwickelt?«
Forss nickte vielsagend.
»Ich wünschte, ich dürfte Namen nennen, aber leider …«
Sie hob entschuldigend die Schultern.
Seine Lippen formten ein lautloses »Wow«.