Totenstille über dem Lago Maggiore

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1

»Wenn es dir nicht gut geht, wenn die Welt dir übel mitspielt, steige auf einen Berg«, hatte sein Vater immer gesagt, »setz dich auf den Gipfel, schau auf all die winzigen Gestalten da unten, und du wirst erkennen, wie lächerlich sie sind mit all ihren Sorgen und Befindlichkeiten. So wie du selbst es natürlich auch bist.« Weise gesprochen, alter Mann, dachte Matteo und leerte gierig seine Wasserflasche.

Hatte er vor ein paar Minuten allen Ernstes noch den Gefangenenchor aus Nabucco vor sich hin gesummt, um das Puccini-Gedudel, das im Agriturismo gelaufen war, aus seinem Kopf zu vertreiben? Und, zugegeben, um ein wenig in Selbstmitleid zu baden? Das war doch wirklich albern. Ging es vielleicht ein bisschen weniger bombastisch? Die Landschaft war doch spektakulär genug.

Die Berggeister hatten es gut mit ihm gemeint. Er war ganz

Aus dieser Höhe war die Blütenpracht, die die Gegend im Sommer in Matteos Augen beinahe eine Spur zu schön und lieblich machte, allenfalls zu erahnen. Nur die Farbe des Wassers und das Grün der Bäume an den Berghängen ließen darauf schließen, dass man sich auf der Südseite der Alpen befand. Im Norden prägten Nadelbäume und türkisgrüne Bergseen das Bild, hier ließen die Farben bereits an das nicht allzu weit entfernte Mittelmeer denken.

Vom richtigen Standpunkt aus betrachtet, ist das Leben doch eigentlich ganz gut zu ertragen, dachte Matteo, und kickte, in einem Anflug von Unwillen, einen Stein über den Abgrund, weil ihm einfiel, dass genau die Frage des richtigen Standpunktes seine Beziehung zu Nina so kompliziert machte. Einerseits war er es, der das Gefühl hatte zu ersticken, wenn die Zweisamkeit, wie in den vergangenen Monaten, allzu selbstverständlich geworden war. Andererseits fand er es schwer zu ertragen, dass Nina kurzerhand und ohne ihn auch nur zu fragen, ob er sie begleiten wolle, eine Reise an die Amalfi-Küste gebucht hatte. Vielleicht hätte er ja ebenfalls Lust gehabt, ihren Vater wiederzusehen, den pensionierten Polizeibeamten, der vor Jahren während Matteos Mailänder Zeit einmal zu seinen Patienten gezählt hatte?

Als er sich vorbeugte, um zu verfolgen, wie das Gesteinsbröckchen in die Tiefe fiel, erstarrte er für einen Moment. Dann

»Hallo, können Sie mich hören?«

Eine Wolke schob sich vor die Sonne, was die Temperatur unmittelbar ein wenig zu drücken schien.

»Hallo? Hören Sie mich?«

Der Mann, der mit verdrehten Gliedmaßen auf dem Fels unter ihm lag, zeigte keinerlei Regung.

2

Matteo wusste, wie entbehrungsreich das Leben in den Bergen noch bis vor wenigen Jahrzehnten gewesen war und wie unglaublich hart die Arbeit, die die Menschen hier verrichtet hatten. Der Wirt dieses einfachen Agriturismo, der immer noch als Bergbauer arbeitete, mochte einer der letzten Vertreter dieser Spezies sein und die Größe der Portionen nach seinem eigenen Appetit bemessen, nicht nach dem Bedürfnis seiner Gäste.

»Keine Chance«, hatte Matteo gebrummt und, so gut es ging, die dünne, mit verblichenen rot-weißen Karos gemusterte Serviette über einer der Schüsseln drappiert, um wenigstens

Heute wurden im Nationalpark Val Grande und in den umliegenden Tälern nur noch wenige Alpen bewirtschaftet. Die meisten der traditionell aus Stein gebauten Hütten waren verfallen. Nur etwa ein Dutzend hatte man innerhalb des Parkareals restauriert. Sie dienten den Wanderern als Nachtlager. Anders war das mit den Rustici, die sich in der Nähe der schmalen Straße befanden, die hier am Fuße des Cima della Laurasca auf beinahe 1.300 Metern Höhe endete. Diese waren fast durchweg instand gesetzt und wurden als Ferienhäuser oder Wochenenddomizile genutzt.

Seufzend lehnte Matteo sich zurück. Sein Blick wanderte über die mächtigen, zerklüfteten Gipfel, die das Hochplateau des Valle Loana umschlossen. Mit beinahe übernatürlicher Klarheit stand das graue Felsgestein vor ihm, eingerahmt vom Blau des wolkenlosen Himmels und des satten Grüns der Bergwiesen und Bäume. Enzianblau, dachte Matteo, streckte den Rücken durch und sog die frische Luft tief ein.

Weit war es nicht bis zum belebten Ufer des Lago Maggiore, und doch hätte die Welt, die sich hier vor ihm auftat, nicht unterschiedlicher sein können. Unten im Tal herrschte ein vom Tourismus geprägtes buntes Treiben und die Menschen flanierten vor pittoresker Kulisse an Boutiquen vorbei oder bevölkerten die zahlreichen Bars und Restaurants, während sich hier oben, gleich hinter der Alpsiedlung Fondo Li Gabbi, die letzte Wildnis der Alpen verbarg. Ein Ort karger Schönheit, eine seit Jahrzehnten unberührte Landschaft, die dem Idealbild des Paradieses schon sehr nahe kam, gehüllt in eine geradezu majestätische Stille, die man

Unter dem vom Wetter zerfurchten Holztisch schnaufte es wohlig, und etwas für diese Temperaturen entschieden zu Warmes legte sich auf Matteos Fuß.

»Gustavo, bitte.« Erfolglos versuchte Matteo sich von dem ausladenden Kopf des Hundes zu befreien, aber dieses Wesen – wirklich, es war ein Wesen, eine andere Bezeichnung war schwerlich zu finden – dachte gar nicht daran, seinem Wunsch nachzugeben. Unweigerlich musste er grinsen. Dieses Tier passte zu ihm. Es war ebenso eigensinnig wie er.

Der Hund hatte einem Galeristen gehört, der in einen Mordfall verwickelt gewesen war, den Matteo gemeinsam mit Nina, die er damals noch Kommissarin Nina Zanetti genannt hatte, aufgeklärt hatte.

Anfangs hatte Matteo sich gesträubt, den Hund, den Nina ihm ungefragt zugeschoben hatte, zu behalten. Ein Hund in einer Macelleria? Das konnte nicht gut gehen und war – auch wenn Matteo sich sonst herzlich wenig um Vorschriften kümmerte – ganz sicher verboten. Früher oder später würde man sein Lädchen vor der Ortseinfahrt von Cannobio schließen, hatte er gegenüber Nina zu argumentieren versucht. Aber weder hatte sie sich davon beeindrucken lassen, noch hatte bisher irgendjemand Anstoß an Gustavos Anwesenheit genommen. Völlig ungestört konnte sich Matteo nach wie vor mit einer überwältigenden Aussicht auf den Lago Maggiore der Zubereitung von Prosciutto und Salsicce widmen, zumindest dann, wenn er das störrische

Viel Zeit hatten der Hund und er auch in Ninas Wohnung verbracht. Matteo ruckelte noch einmal entschieden mit dem Fuß, um ihn von dem erhitzten Hundekopf zu befreien, und wunderte sich, wie eigentlich jeden Tag, darüber, dass ihm so etwas noch einmal passiert war. Nannte man das jetzt schon Beziehung? Irgendetwas in ihm sträubte sich mit aller Macht dagegen. Und wenn er ganz ehrlich war, dann lag das nicht nur an dem Nachklang der schmerzhaften Trennung von Teresa, wegen der er vor ein paar Jahren alle Zelte in Mailand abgebrochen und seine Arbeit als Polizeipsychologe an den Nagel gehängt hatte.

Vielleicht war er, obwohl sein fünfzigster Geburtstag noch in äußerst erträglicher Ferne lag, mittlerweile wirklich der heillos verschrobene Dickkopf, als den Nina ihn mitunter bezeichnete. Und vielleicht hätte er das sogar als Kompliment aufgefasst, wenn ihm nicht aufgefallen wäre, dass das belustigte Glucksen, das anfangs in Ninas Stimme gelegen hatte, in den vergangenen Wochen mehr und mehr verklungen war.

Endlich hatte Gustavo ein Einsehen und bequemte sich, den Kopf zwischen die Vorderpfoten zu betten. Einen Wimpernschlag später erklang ein lautes Schnarchen.

Üblicherweise fand man auf dieser Höhe Schutz vor heißen Julitagen. Aber die Hitze hatte in diesem Jahr schon im Juni begonnen, ohne dass abendliche Gewitter für Abkühlung gesorgt hätten. Selbst nachts fielen die Temperaturen hier oben nicht unter zwanzig Grad. Matteo nahm einen Schluck Wasser, das direkt vom hauseigenen Brunnen

»Grappa?«, fragte der gedrungene Wirt, dessen zusammengewachsene Augenbrauen wie ein borstiger Strich das schmale, wettergegerbte Gesicht durchzogen. Als Matteo gedankenverloren verneinte, traf ihn ein skeptischer, beinahe verächtlicher Blick, und Matteo bereute unmittelbar, den kostenlos offerierten Digestif ausgeschlagen zu haben. Er sah dem träge über die Holzbohlen der Veranda in den dunklen, kühlen Innenraum des Agriturismo schlurfenden Mann nach. Diesen Fauxpas konnte wohl auch ein noch so gutes Trinkgeld nicht wettmachen.

Um diese frühe Mittagszeit saßen außer ihm nur noch ein Wanderer und ein älteres Ehepaar auf der überdachten Terrasse. Zuerst betrachtete er den Mann mittleren Alters, der gerade den letzten Schluck Caffè, der sich mit dem Zucker zu einer süßen dickflüssigen Masse verbunden hatte, aus seiner Tasse löffelte. Dann blieb sein Blick an dem Ehepaar haften, das wohlig aneinandergelehnt zwei Tische von ihm entfernt saß und bereits mehrere Male versucht hatte, eine weitere Karaffe vom Hauswein zu ordern, was dem Wirt bislang entgangen war. Angesichts der Hitze erschien Matteo das durchaus fürsorglich.

Es versetzte ihm immer einen kleinen Stich, wenn er ältere Paare in derart trauter Zweisamkeit sah. Wie lange mochten die beiden sich kennen? Dreißig Jahre oder gar vierzig? Vielleicht waren sie sogar im selben Dorf aufgewachsen. Kinder hatten sie sicher. Mindestens zwei. Ob es einfach Glück war, dass manche Beziehungen so lange hielten? Oder war es, umgekehrt, meist eher ein Unglück, das man durchstand, aus einem gewissen Ehrgeiz, aus einer unerschütterlichen

Er nestelte die Futura-Packung aus der Tasche und klopfte eine Zigarette hervor. Eine automatisierte Handbewegung, ähnlich der Geste, mit der er seine Locken aus der Stirn strich, auch wenn sie ihm gar nicht ins Gesicht hingen. Für einen Moment sah er das spöttische Lächeln von Nina vor sich, das sie ihm bei ihren ersten Begegnungen immer dann geschenkt hatte, wenn er, vor Nervosität fahrig, in seinen Haaren gewühlt hatte.

Ein Lächeln, das irgendwann immer liebevoller geworden war, ohne dass der Spott daraus verschwunden wäre – wann hatte er es zuletzt an ihr gesehen? Energisch schob er die Zigarette in die Packung zurück. Bei dieser Hitze zu rauchen, kam selbst ihm absurd vor, und überhaupt, ein bisschen Nikotinentzug konnte jetzt nicht schaden, dann hatte er wenigstens einen Grund, gereizt zu sein. Nina verbrachte gerade einen fantastischen Urlaub, so fantastisch, dass sie ihm lediglich vor drei Tagen in einer kurzen SMS ihre Ankunft an der Amalfi-Küste vermeldet hatte und seitdem nichts mehr von sich hören ließ.

Und deshalb war es die richtige Entscheidung gewesen, den Tag freizunehmen und hierherzukommen. Auch wenn sein geliebtes, über dreißig Jahre altes Lancia Gamma Coupé bei den letzten steilen Kurven bedenklich zu keuchen begonnen hatte. Er würde den Wagen demnächst zur Inspektion in die Werkstatt der drei Alten bringen müssen. Denn

Angesichts der Grobheiten, die die alten Herren untereinander austeilten, war Matteo immer wieder erstaunt, mit welch liebevoller Hingabe sie sich den Reparaturen an den Oldtimern widmeten. Es waren ganz besondere Liebhaberstücke, vor allem aus italienischer Produktion. Nur in Ausnahmefällen ließen die drei Wagen jüngerer Jahrgänge auf ihre Hebebühne.

Erst vor ein paar Tagen hatte Flavio wieder einem Kunden erklärt, er solle mit seinem lächerlichen Aluminium-Monstrum gefälligst in eine dieser gesichtslosen Großwerkstätten im nächsten Gewerbegebiet fahren. Den Hinweis des sichtlich konsternierten Mannes, dass es sich nur um einen kleinen Lackschaden handele, hatte Flavio mit einem angedeuteten Schulterzucken quittiert und sich dann übergangslos der Felgenpolitur eines BMW 503 Coupé zugewandt.

Die Wiese, die sich vor der Terrasse des Agriturismo bis zu den umliegenden Bergen erstreckte, von einem eiskalten Bach durchzogen, bot ein idyllisches, wie aus der Zeit gefallenes Bild. Zwei Esel trotteten vorbei und im Schatten einer Baumgruppe grasten stämmige Pferde. Haflinger, wie Matteo vermutete. Ein paar Hühner huschten aufgescheucht umher, ohne dass es einen ersichtlichen Grund für ihre Aufregung gab.

Die wenigen Kühe standen ausnahmslos träge herum, sogar zu faul, die Fliegen zu vertreiben. Nur wenn der Durst

Aus den Augenwinkeln nahm Matteo eine Gruppe von vier Personen wahr, die sich der Veranda näherte. Sie störten das Bild, wie er sofort feststellte, als er die neuen Besucher genauer in Augenschein nahm. Voran gingen zwei Männer, dahinter, mit etwas Abstand, zwei junge Frauen in Miniröcken, die sichtlich Mühe hatten, auf ihren hochhackigen Sandalen vorwärts zu kommen.

Der eine der beiden Männer mochte in seinem Alter sein. Mitte, eher Ende vierzig. Er war Matteo auf Anhieb unsympathisch, was seinem albernen Aufzug geschuldet war. Ein blau-metallisch glitzerndes, bis zum Bauchnabel geöffnetes Hemd, eine betont jugendliche Jeans mit seitlich aufgesetzten Taschen und dazu weiße Lacklederschuhe waren nicht nur für diese Gegend eindeutig das falsche Outfit, sondern gehörten generell verboten. Vielleicht hätte Matteo ihn nicht ganz so unmöglich gefunden, wenn der Mann nicht ohne Pause und wild gestikulierend in sein Handy gesprochen hätte.

Matteos Smartphone hingegen, das ihm, dem erklärten Telefon-Muffel, Nina ebenso aufgezwungen hatte wie den Hund, vermeldete ein Funkloch. Dabei hätte er gern mit den drei Alten telefoniert, um zu hören, in welchem Zustand sich seine Macelleria befand. Ob sie überhaupt noch stand, musste er wohl eher fragen. Was für ein Irrsinn! Wie hatte

»Da musst du gar nicht so unschuldig tun, mein Lieber.« Matteo warf einen Blick auf den schlafenden Hund. »Wir brauchen mehr Platz, wenn wir es dauerhaft und ohne Konventionalstrafe dort miteinander aushalten wollen.« Der Hund schnarchte unbeeindruckt weiter.

So möchte ich die Dinge auch mal aussitzen können, dachte Matteo und ertappte sich dabei, dass er doch wieder an Nina und die Auseinandersetzungen dachte, die sie vor ihrer Abreise hatten. Es mochte ja sein, dass das von ihr alles gut gemeint war. Aber warum hörte sie nicht darauf, wenn er ihr sagte, dass er ganz sicher nicht in den Polizeidienst zurückkehren wollte? Seine Mailänder Jahre als Polizeipsychologe gehörten der Vergangenheit an, und das war gut so. Er hatte die Macelleria seines verstorbenen Vaters übernommen und war glücklich damit, basta!

Ja, verflucht noch mal, zweimal war er während dieser Zeit mehr oder weniger unfreiwillig zum Ermittler geworden, porca miseria, was konnte er dafür? Es stimmte, seine Arbeit war für Nina und ihre Kollegen auf dem Präsidium in Verbania hilfreich gewesen. Aber Matteo glaubte nicht, dass das der Grund war, warum sie ihn zu einer offiziellen Rückkehr bewegen wollte. Eher hatte er den Eindruck, dass es ihr schlichtweg peinlich war, mit einem Fleischer liiert zu sein. Ihr Problem. Matteo nahm einen Schluck Wasser und zog im gleichen Moment mit der anderen Hand die Futura-Packung erneut aus der Tasche. So weit kam es noch, dass er sich vom Wetter seine Rauchgewohnheiten

Der Wirt schlurfte heran und schob Gustavo eine Schale Wasser unter den Tisch. Matteos »Grazie, un caffè per me, per favore« schien er schon nicht mehr zu hören, während er sich dem Tisch der vier Neuankömmlinge näherte. Der unsympathische Anführer der Truppe hatte sein Telefonat beendet und diskutierte stattdessen mit seinem wesentlich jüngeren Begleiter, der ihn unverwandt mit weit aufgerissenen Augen ansah und nur hin und wieder den Versuch unternahm, etwas zu erwidern.

Matteo machte sich nichts aus Mode, aber dieses metallisch-blaue Hemd war wirklich eine Zumutung. Vielleicht stach es auch nur deshalb so ins Auge, weil aus dem Blau des Himmels all das Gute herauszuleuchten schien, das er mit dieser Farbe eigentlich verband: Weite, Hoffnung, Sehnsucht. Nicht eitle, schmierige Typen.

Die beiden blondgefärbten, aus der Nähe sehr jung wirkenden Frauen hatten aus ihren bunten Gucci-Taschen Modezeitschriften gekramt, die eine wie die andere hätten auf die Mailänder Via Montenapoleone oder in eine x-beliebige Strandbar gepasst, aber nicht in ein Agriturismo auf mehr als 1.200 Metern Höhe. Matteo spekulierte, ob sie wirklich in den Zeitschriften lasen oder ob sie nur eine Rechtfertigung brauchten, um sich nicht am Gespräch der Männer beteiligen zu müssen.

Obwohl ihre Münder zu einem Dauerlächeln verzogen waren, wirkten sie eigentümlich apathisch. Die Augen waren hinter den Designersonnenbrillen nicht zu erkennen. Mit leichtem Unbehagen registrierte Matteo, dass der ältere der beiden gelackten Machos die Hand unter den Rock einer

Es war allerdings nicht zu leugnen, musste er sich eingestehen, dass er selbst ebenfalls nicht gut ausgestattet war, um seinen Plan umzusetzen, bis zur Alpe Scaredi zu wandern. Vielleicht sogar bis zum Gipfel in 2195 Metern Höhe. Ein Paar leidlich ramponierte Wanderschuhe war das Einzige, was ihn als Wanderer auswies. Darüber hinaus hatte er nur eine dünne Jacke und einen kleinen Rucksack bei sich, in dem sich allerdings kein Proviant befand. Aber die üppige Mahlzeit hier würde lange vorhalten, und Wasser, das er in seine Halbliter-PET-Flasche füllen konnte, würde es auf dem Weg ausreichend geben. Außerdem vertraute er der kürzlich installierten Wetterapp, die bisher immer recht behalten hatte und für heute keinen Wetterumschwung prognostizierte.

Knappe drei Stunden würde der Aufstieg dauern. In der ersten Hälfte war er sehr steil und anstrengend, ein alter Maultierpfad, der aus einer endlosen Folge von Steinstufen bestand, es war, als würde man zu Fuß das Empire State Building besteigen und gleich darauf, weil es so schön war, noch das Rockefeller Center.

Dafür wurde man, hatte man die Baumgrenze erreicht, mit einem herrlichen Ausblick über das Loana-Tal und die Walliser Alpen belohnt. Das Panorama, das sich einem schließlich auf Höhe der Alpe Scaredi bot, war atemberaubend und gab den Blick frei auf das Herz des Val Grande und den von weithin sichtbaren Monte Rosa. Von der Spitze des Cima della Laurasca schaute man über die benachbarten Täler Val Vigezzo, Centovalli, Val Grande, Val Ossola sowie den Lago Maggiore, den Orta- und den Luganersee. Und

 

Wer wollte, konnte das symbolisch finden – oder sogar theatralisch, aber für ihn gab es keinen besseren Ort, um das Dasein zu überdenken, um schließlich, da war Matteo sicher, zu dem Ergebnis zu kommen, dass sich alles in bester Ordnung befand. Und wenn erst der Ausbau der Macelleria erledigt war, würde sich auch die elende Diskussion mit Nina erübrigt haben, ob das kleine weiß getünchte Häuschen ein adäquater Lebensraum für einen erwachsenen Mann oder eben nun einen erwachsenen Mann und einen hünenhaften Hund war. Genauso wie die sich daran anschließende Auseinandersetzung darüber, ob er nicht doch in den Polizeidienst – Matteo hatte es wirklich über. Unwirsch rieb er sich mit der flachen Hand über das Gesicht.

Unter dem Tisch schmatzte es zufrieden. Das ältere Ehepaar, dem doch noch eine Karaffe Weißwein gebracht worden war, döste in der Mittagssonne.

Zu Matteos Überraschung stellte der Wirt einen Caffè vor ihm ab. Nachdenklich kratzte der Mann sich den Bauch.

»Das packt der nicht.«

»Bitte?«

Der Wirt deutete auf Gustavo.

»Alpe Scaredi?«

Matteo nickte. »Oder ganz hinauf.«

»Das schafft der Kerl nicht.«

Matteo schnupperte. Der Wirt roch, als hätte er die vergangenen zwei Tage in einem Räucherofen verbracht. Dann betrachtete er Gustavo, dessen behäbiges Atmen das schwarze gekräuselte Fell sachte hob und senkte. Wenn Matteo

»Lassen Sie ihn hier.«

»Scusi?« Matteo brauchte einen Moment, um zu verstehen, was er meinte.

Sein Gegenüber deutete auf Gustavo. Wahrscheinlich hatte er recht.

»Wenn es Ihnen keine Umstände macht.«

Der Wirt lachte trocken auf und auf einmal wirkte sein zerfurchtes Gesicht überraschend sympathisch.

»Der Kerl sieht mir nicht danach aus, als wäre er in der Lage, irgendwelche Umstände zu machen. Der soll hier gemütlich schlafen. Steigen Sie heute wieder herunter oder übernachten Sie auf der Alpe?«

»Ich komme zurück.«

Der Wirt nickte.

»Wir schließen um zweiundzwanzig Uhr. Soll ich Ihnen ein Zimmer zurechtmachen oder fahren Sie gleich weiter ins Tal?«

Unentschlossen wiegte Matteo den Kopf. Über die Möglichkeit, sich in dem Agriturismo einzumieten, hatte er noch nicht nachgedacht.

Eine Antwort blieb er ihm schuldig, weil der Aufschneider in seinem viel zu weit geöffneten Hemd ungeduldig und aggressiv mit dem Finger schnippte, um seine Essensbestellung aufzugeben. Matteo fluchte leise. Wenn er eins verabscheute, dann waren es Typen, die glaubten, andere Menschen nach Belieben herumkommandieren zu können. Wenn man, wie der Wirt vermutlich, auf jeden Gast angewiesen war, dann war man solchen Leuten hilflos ausgeliefert.

Offenbar entsponn sich zwischen ihnen gerade ein Disput. Skeptisch beobachtete Matteo die Szenerie, ohne etwas verstehen zu können, denn der Typ in dem Metallic-hemd und der Wirt hatten ihre Stimmen gedämpft. Die Schärfe, die in ihren Worten lag, war dennoch offenkundig. Plötzlich erhob sich der Gast mit einem Ruck, sodass der Wirt nach hinten weichen musste, damit sie nicht mit den Köpfen zusammenstießen. Der jüngere Begleiter betrachtete währenddessen betont interessiert das Treiben der Hühner. Auch die beiden Frauen ignorierten die Situation.

Mit einem Mal lachte der Mann auf, klopfte seinem Gegenüber auf die Schulter und ließ sich wieder auf seinem Stuhl nieder. Matteo runzelte die Stirn und bemerkte mit Bedauern, dass er wegen dieser Idioten seinen Caffè vergessen hatte, der nun nicht mehr so dampfend heiß war, wie er es gern hatte.

Auf dem Tisch surrte es. Verwundert bemerkte Matteo, dass sein Handy den Eingang einer Nachricht vermeldete. Und tatsächlich erspähte er auf dem Display einen winzigen Empfangsbalken.

Er ging zum Rand der Terrasse, in der Hoffnung, dass der Empfang dort besser war, und hörte die Mailbox ab. Der gellende Heulton ließ ihn das Handy schnell ein Stück vom Ohr weghalten, er seufzte. Für einen Moment hatte er natürlich doch gehofft, die Nachricht würde aus Amalfi kommen.

Das Heulen war in ein quietschendes Wimmern übergegangen.

»Nun

Im Hintergrund vernahm man abgehackte Laute, die von einem unterdrückten Weinen genauso hätten stammen können wie von dem Versuch, ein Lachen zu verbergen. Matteo verdrehte die Augen. Er hatte keinen Zweifel, wen er da in der Leitung hatte.

»Madonna mia«, jammerte Flavio, »was habe ich gesündigt, dass du mir diese Hölle auf Erden bescherst?« Ohne ohrenbetörendes Bohei ging bei den drei Alten nichts.

»Untersteh dich, den Namen der Heiligen Mutter Gottes in den Dreck zu ziehen, du Kanaille!« Das war Beppo. Der hielt sich nur zurück, wenn Flavio, den selbst die unsäglichsten Korruptionsskandale um Berlusconi und Co nicht von seiner Leidenschaft für die Lega Nord abbringen konnten, und Luigi sich über Politik stritten, was nicht ausblieb, war doch Letzterer seit seiner Zeit in Pariser Studentenkreisen glühender Sozialist. Während der Reparaturarbeiten pfiff er versonnen französische Arbeiterlieder, deren Text Flavio zwar nicht kannte, geschweige denn verstanden hätte, aber allein das Pfeifen empfand er schon als eine Provokation, die er kaum länger als eine halbe Minute auf sich sitzen lassen konnte.

Während dieser Dispute zwischen dem rechten und dem linker Lager begann Beppo meist, seine an der Werkstatt-Wand sorgsam aufgereihten Baseball-Caps auszuschlagen oder neu zu ordnen. Wenn es aber um Glaubensfragen ging, war nicht mit ihm zu spaßen.

»Wer zieht hier was in den Dreck? Wer zieht hier was in den Dreck?« Flavios Stimme überschlug sich beinahe und Matteo fragte sich, ob ausnahmsweise doch etwas Ernsthaftes vorgefallen war. Nicht so sehr der Gesundheit der Alten

»Matteo, du schräg gehobelter Radicchio«, kreischte nun Luigi über Flavio hinweg, der immer wieder etwas vor sich hin jammerte, das Matteo nicht verstehen konnte. »Du vertrocknete Peperoni, wie kannst du mich mit solchen Stümpern allein lassen?«

»Moment mal«, wollte Matteo gerade einwenden, aber dann fiel ihm ein, dass die drei ihn ja nicht hören konnten. Ohnehin hatte mittlerweile Beppo das Telefon an sich gerissen.

»Katastrophe! Katastrophe!«, keuchte er.

»Verdammt noch mal, jetzt redet schon.« Nervös tastete Matteo nach der Futura-Packung.

»Matteo, lieber Matteo«, diese Anrede war allerdings Grund zur Sorge, »du musst jetzt ganz tapfer sein.« Beppo räusperte sich ausgiebig »Ganz tapfer.«

»Es hat sich wirklich nur um eine klitzekleine Verwechslung gehandelt«, fügte Luigi eilfertig an. »Eine statistisch gesehen vollkommen unwahrscheinliche Statik-Angelegenheit.«

Matteo rieb sich entnervt das Gesicht.

»Nicht ernsthaft, Männer. Ich dreh euch den Hals um.«

»Du wirst uns jetzt vermutlich den Hals umdrehen wollen«, Beppo versuchte, seine Stimme in ein versöhnliches Schnurren zu verwandeln, was aber eher wie ein Gurgeln klang. »Aber im Grunde ist alles gar nicht so schlimm, wie es vielleicht auf den ersten Blick aussieht.«

»Oder auch auf den zweiten!«, krähte Luigi.

Die

In diesem Moment brach auf der anderen Seite ein Kreischen los, das Matteo das Telefon wieder vom Ohr wegreißen ließ.

»Spaß, du verschrumpelte Möhre! War nur Spaß!« Luigi konnte kaum sprechen vor Lachen. »Wir wollten dir nur schnell Bescheid sagen, dass hier alles in Ordnung ist! Es geht gut voran. Du wirst staunen, wenn du zurückkommst.«

Matteo ließ das Telefon in die Hosentasche gleiten.

»Extrem witzig, Jungs, echt, extrem witzig.«

Er wusste nicht recht, ob er erleichtert sein sollte, dass da unten alles nach Plan lief, oder ob er sich ärgern sollte, dass er den drei Alten mal wieder auf den Leim gegangen war. Wann würden diese Männer zur Vernunft kommen? An ihrem achtzigsten Geburtstag? Vermutlich niemals.

Matteo bedeutete dem Wirt, zahlen zu wollen. Dann warf er einen Blick auf das Zifferblatt seiner Courage, die glücklicherweise hatte repariert werden können, nachdem sie einen Wasserschaden erlitten hatte. Seine Lust, sich an diese brenzlige Situation zu erinnern, in die er während der Aufklärung des Mordfalls im vergangenen Jahr geraten war, hielt sich in Grenzen.

Es war kurz nach halb eins. Wenn er jetzt aufbräche und oben nicht allzu lange pausierte, würde er am frühen Abend zurück sein. Er ging zum Tisch zurück und beugte sich zu Gustavo hinunter.

»So lange hältst du es ohne mich aus, oder?«

Alles wie gehabt: Der Hund schnarchte seelenruhig vor sich hin.

»Alles klar. Ich hab dich auch sehr lieb.«

Kopfschüttelnd

»Sind das nur die Getränke?«

Der Wirt schien es nicht für nötig zu halten, Matteos Frage zu kommentieren.

»So werden Sie aber nicht reich.«

Der Wirt machte eine unbestimmte Handbewegung, es war nicht erkenntlich, ob sie nur die Tiere, die vor der Veranda grasten und von denen sich ein paar mittlerweile in den Schatten der Bäume zurückgezogen hatten, oder das ganze Bergmassiv einschloss.

»Ich habe alles, was ich brauche.«

Fast unmerklich wandte er den Kopf zur Tür, die in den Gastraum führte. Matteo folgte seinem Blick, konnte aber niemanden ausmachen.

»Wir haben alles, was wir brauchen.«

Matteo legte einen Zehn-Euro-Schein auf die grob gearbeitete Tischplatte. Was der Wirt gesagt hatte, war zweifelsohne die einzige richtige Antwort auf seine dümmliche Bemerkung gewesen. Erst jetzt nahm er die leise Musik wahr, die aus dem Innern des Gastraums drang. Obwohl Matteo selbst meistens zu alten Verdi-Aufnahmen griff, wenn er in seinen nicht unbedingt seltenen Anflügen von Melancholie den altertümlichen Plattenspieler in Gang setzte, erkannte er sehr wohl, was da gerade zu ihm hinausplätscherte.

Puccini wäre ja noch in Ordnung gewesen. Aber dass ihn ausgerechnet La Rondine, dieses so selten gespielte, für seinen Geschmack viel zu liebliche und simple Liebesgesäusel, hier heimsuchte! So war die Welt, aber sicher doch,

Um sich abzulenken, deutete Matteo auf die deplatziert wirkende Vierergruppe.

»Ärger ?«

Der Wirt winkte ab.

»Ist schon in Ordnung. Sie haben sich über die Essensauswahl beschwert. Aber wer hier heraufkommt, muss sich mit dem begnügen, was es gibt.«

Matteo erhob sich. Wahrscheinlich hatten sie sich darüber echauffiert, dass kein Champagner kaltgestellt war. Aber war das wirklich alles? Die Situation hatte einen ernsteren Eindruck auf ihn gemacht. Andererseits, was gingen ihn anderer Leute Angelegenheiten an?

»Danke, dass Sie den Hund dabehalten.«

»Di niente«, gab der Wirt zurück. Unter seinen borstigen Augenbrauen blitzte es freundlich, als er die Hand zu einem angedeuteten Gruß hob.

Matteo schob sich zwischen den Tischen hindurch und merkte, dass die Schwere in seinem Magen sich noch nicht aufgelöst hatte.

Als er an dem Tisch vorbeikam, an dem der blau behemdete

Mit einem Sprung setzte er von der Terrasse auf die Wiese, wo zwei der ohnehin aufgeregten Hühner empört aufflatterten. Als er sich noch einmal umwandte, bemerkte er, wie der Wortführer der Gruppe ihm abschätzig nachschaute. Und vielleicht war es dieser Blick, der Matteo davon überzeugte, dass er so falsch mit seiner Vermutung doch nicht gelegen hatte.

Ohne sich noch einmal umzusehen, strebte er dem Aufstieg entgegen, vorbei an bunt angestrichenen Bienenstöcken, über denen es emsig summte. Er widerstand dem Drang, sich in dem eiskalten Bach, der den Weg säumte, und dessen Wasserstand aufgrund der Hitze weit abgesunken war, schon jetzt eine Erfrischung zu gönnen. Er wollte erst ein paar Höhenmeter zurücklegen, bevor er pausierte. Nur die Wasserflasche füllte er am Brunnen, wofür er eine der friedlich dösenden Kühe zur Seite schieben musste, die nun doch auf die Idee gekommen war, dort stehen zu bleiben. Klaglos trottete das Tier von dannen, schlug mit dem Schwanz erfolglos nach ein paar Fliegen, von denen es gepiesackt wurde, die Augen halb geschlossen.