LOST IN FUSETA

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Inhaltsverzeichnis

Er ist nur eine grenzenlose Chance.

Aber er ist der grenzenlos

Verantwortliche für diese Chance.

– Albert Camus –

Man war schon zum wiederholten Male mit dem Wunsch an ihn herangetreten, er möge jemanden verschwinden lassen. Einmal hatte er dieses Ansinnen ausgeschlagen, aber mehrfach schon mit seiner Moral vereinbaren können.

Moral war etwas sehr Anpassungsfähiges. Sie war stets Produkt einer Epoche, einer Zeitströmung, einer Kultur, der Tradition und vieler, vieler Faktoren mehr. Beständig wandelte sie ihre Gestalt. Moral war ein großer Opportunist. Man konnte sie seinen Bedürfnissen anpassen.

Auch Nélsons Moral war früher eine andere gewesen als heute. Den Mord, der vor ihm lag, hätte er noch vor zehn Jahren nicht begangen. Heute, als er auf dem Aeroporto de Faro landete, schon.

 

Nélson hatte sich für einen hellgrauen Anzug und ein Hemd ohne Krawatte entschieden – ein Geschäftsreisender unter vielen. Dazu passte, dass er nur Handgepäck bei sich hatte. Den Blick der Zollbeamtin konnte er durch seine Brille reinen Gewissens erwidern, er schenkte ihr sogar ein Lächeln. Sein Handgepäck war sauber, es existierte auch kein versteckter Hohlraum im Deckel. Sie kontrollierte ihn nicht, sondern prüfte nur seine Papiere und winkte ihn dann freundlich durch.

Zwei Dinge waren ihm von seinem Vater mit auf den Weg gegeben worden, die Nélson so sehr verinnerlicht hatte, dass sie Teil seines Wesens geworden waren.

A dor é o melhor professor. Schmerz ist der beste Lehrmeister – deswegen hatte sein Vater es auch nicht verhindert, als er mit

Das andere bestand darin, Dinge zu einem Ende zu führen: Dass ein gegebenes Wort ein gegebenes Wort war und bei Männern wie Nélsons Vater und in den Kreisen, in denen er verkehrte, hoch im Kurs stand. Ein Mann, der etwas auf sich hielt, agierte souverän und diszipliniert. Und die Selbstdisziplin gebot es, ein gegebenes Versprechen zu halten. Koste es, was es wolle.

Daran dachte er, während er gegenüber vom Flughafengebäude bei Hertz auf seinen Mietwagen wartete und ihm die warme Mai-Sonne ins Gesicht schien.

 

Belmiro und Pepe waren nur zehn Minuten vor ihm in Faro gelandet. Sie waren nicht direkt geflogen. Nélson hatte sie sicherheitshalber mit einem Gabelflug über Paris hierher gelotst. Und natürlich waren Belmiro und Pepe nicht ihre richtigen Vornamen, sondern diejenigen, die in ihren gefälschten Papieren standen.

Nélson bestand grundsätzlich darauf, dass sie sich gegenseitig mit ihren falschen Namen anredeten und sie auch möglichst in ihren Gedanken verwendeten. Die Namen sollten ihnen für die Dauer des Einsatzes in Fleisch und Blut übergehen.

Mit Pepe arbeitete er schon lange. Und obwohl er Geschäftliches und Privates ansonsten rigoros trennte, waren sie so etwas wie Freunde geworden. Belmiro hingegen war erst vor zwei Jahren zu ihnen gestoßen. Und Nélson wusste, dass der junge Mann über seine Sicherheitsmaßnahmen wie den Umweg über Paris heimlich den Kopf schüttelte.

»Wen kümmert es später, wenn die Sache vorbei ist, ob wir alle drei in einer Maschine angekommen sind oder in zweien?«, hatte er gefragt, als Nélson ihm die Tickets übergeben hatte.

»Nur mich«, hatte Nélson wahrheitsgemäß geantwortet.

Möglicherweise hatte Belmiro also recht, aber Nélson schloss Fehler im Vorhinein durch zwei- und dreifache Absicherung aus. Wem ein Fehler unterlief, hatte sich nicht ausreichend vorbereitet.

Natürlich hätten sie auch denselben Wagen nehmen können, aber hier griff Nélsons nächste Sicherheitsvorkehrung. Er nahm den Mietwagen, sie den Shuttlebus nach Faro.

 

Auf einem Feldweg kurz vor der Autobahn, über die er nach Lagos fahren wollte, fand er wie vereinbart das Wohnmobil vor. Er hatte einen Kontaktmann in Portugal, der alle logistischen Dinge für ihn erledigte. Das Anmieten einer Wohnung etwa, den Einkauf von Lebensmitteln, Kleidung, Medikamenten und allerlei mehr – oder eben das Organisieren eines toten Briefkastens wie dieses Wohnmobil. Er nannte seinen Kontaktmann João, einfach, weil es der am weitesten verbreitete männliche Vorname im Land war.

Das Wohnmobil war ein kleines, älteres Modell mit deutlichen Gebrauchsspuren. Es stand im Schatten eines violett blühenden Jacarandabaumes, dessen verschwenderischer Pracht Nélson durchaus Aufmerksamkeit schenkte. Mit einem Zweitschlüssel öffnete er die Tür und klappte die Sitzfläche der Dinette hoch. In dem Stauraum darunter fand er – in drei grobe Decken eingewickelt – das, mit dessen Beschaffung er João beauftragt hatte. Eine kleine Pistole, geladen, dazu drei Ersatzmagazine. Die »Damenpistole«, wie sie manchmal von Laien tituliert wurde, verschwand beinahe gänzlich in seiner Hand, so klein war sie. Und dazu federleicht. Nélson verstaute sie problemlos in der

Nélson betrat das kleine Bad. Dort entledigte er sich der grauhaarigen Perücke, deren Locken ihm bis auf den Kragen hinabgefallen waren. Die Brille mit Fensterglas warf er in den Müll und rasierte sich den grau gefärbten Vollbart fein säuberlich ab. Anschließend spreizte er die Augenlider mit Daumen und Zeigefinger auseinander und nahm die hellblauen Kontaktlinsen heraus, die der Brille folgten.

Nachdem er das Wohnmobil abgeschlossen und die Einzelteile des Gewehrs beim Reserverad unterhalb des Kofferraums in seinem Mietwagen verstaut hatte, warf er einen Blick auf seine Armbanduhr. Zum jetzigen Zeitpunkt sollten Belmiro und Pepe bereits die wendige Motorjacht, die João auf Nélsons Weisung gechartert hatte, aus der Marina von Faro manövriert und Kurs nach Westen genommen haben. Wenn alles planmäßig verlief, würden sie unabhängig voneinander operieren und sich erst im Anschluss im Four Seasons in Rabat wiedersehen.

Später, als alles vorüber war, fragten sich sämtliche portugiesischen Tageszeitungen von der Correio da Manhã bis zur Público, ja selbst Abgeordnete des Lissaboner Parlaments, wann und wo all das seinen Anfang genommen hatte.

Antworten gab es viele.

Die Wahrheit war: am 15. Mai 2017.

Als der Frühling an der Algarve dem Frühsommer gewichen und der Himmel von einem intensiven Azur gekennzeichnet war. Ein Azur – da waren sich alle hier unten an der Küste einig –, das es nirgendwo sonst gab. Die Landschaft war in ein kräftiges Grün getaucht, die Olivenhaine blühten in zartem Weiß, und seit ein paar Wochen standen wieder Tische und Stühle vor den kleinen Bars, den Restaurants und den Pastelarias mit ihren süßen Versuchungen. Jung und Alt bevölkerten die Lokale und tauschten Neuigkeiten aus oder schmunzelten einfach in die Sonne und genossen eine filterlose Zigarette und einen kräftigen Bica. All das fegte die Saudade, jene tiefe Melancholie und Teil der portugiesischen Seele, nicht gänzlich hinweg, aber immerhin ließ sie sich eine Weile nicht allzu sehr blicken.

Am 15. Mai jedenfalls, als die Angelegenheit ihren Anfang nahm, herrschten noch am späten Nachmittag angenehme 24 Grad. Und es begann in dem schwarzen Volvo Kombi, der auf dem Weg von Faro zu dem kleinen Küstenstädtchen Fuseta auf der Nationalstraße N 125 am Abend jenes Tages trotz Gegenverkehrs zwei Laster überholte.

Gelenkt wurde der Wagen von Graciana Rosado, Sub-Inspektorin der Polícia Judiciária, die an Holly Hunter erinnerte. Ihre

Neben ihr saß ihr Kollege Carlos Esteves in einem beigen, wie immer zerknitterten Leinenjackett und knabberte an einem Hähnchenspieß, die Sonnenbrille ins halblange, lockige Haar geschoben. Er hatte aufgehört, sich bei den Überholmanövern Gracianas Sorgen um seine nähere Zukunft zu machen. Irgendwie hatte sie es immer fertiggebracht, sie lebend da durchzubringen. Und wenn er sterben sollte, weil er an ihrer Seite verunglückte, dann wenigstens mit einem nichts ahnenden Lächeln und etwas zu essen in der Hand. Es gab schlimmere Möglichkeiten zu sterben.

Aber natürlich gelang Graciana Rosado das Überholmanöver auch dieses Mal, was beide Lkw-Fahrer mit einem lang gezogenen Hupen quittierten. »Was dagegen, wenn wir für morgen noch die Post aus Moncarapacho mitnehmen?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. »Ich bin sowieso mit den Jungs da verabredet.«

Sie runzelte die Stirn. »Nicht in der Bar Fuzeta?«

Für gewöhnlich traf Carlos Esteves sich mit den Jungs jeden Montagabend in der Bar Fuzeta, deren Besitzer sein kleines, von leckeren Küchendünsten durchwehtes Lokal trotzig mit der ursprünglichen Schreibweise des Ortes versehen hatte.

»Uns war nach Abwechslung.«

Sie warf ihm einen wissenden Seitenblick zu. »Abwechslung?«

Ihre Intuition war einfach untrüglich. Aber Carlos Esteves machte das Gesicht einer Sphinx, während die weißen Häuser mit ihren gelb, blau und grün umrahmten Fenstern an ihnen vorbeiflogen. Und mit ihnen die Cafés und Bars mit den alten Männern auf Plastikstühlen davor, die sich mit Schiebermütze und einem Bier in der Hand von früher erzählten. Oder schwiegen und der Luft beim Vorbeiwehen zusahen.

Das stimmte – in die Bar Fuzeta verirrten sich überwiegend nur noch Touristen, die Fuseta das erste Mal besuchten. Alle anderen bevölkerten das benachbarte Capri.

In Fuseta kannte noch jeder jeden – was natürlich nicht immer einen Vorteil barg –, aber meistens schon. Die Familien von Graciana Rosado und Carlos Esteves waren hier seit Generationen tief verwurzelt. Jede Hausecke, jede Bar, jeder Hund hatte hier seine ganz eigene Geschichte, mit der die beiden Sub-Inspektoren seit Kindesbeinen an groß geworden waren. Ja, Fuseta hatte sogar seinen eigenen Geruch und sich seine Ursprünglichkeit bewahrt. Denn während andere Orte an der Westalgarve von Bettenburgen und Golfplätzen heimgesucht worden waren, blieben Fuseta und andere Orte an der Ostalgarve bis heute verschont. Kein einziges Hotel, keine Strandpromenade, nur ein Campingplatz. Die Ria Formosa, die gigantische Lagunenlandschaft mit den vorgelagerten Inseln, die sich während des verheerenden Bebens 1755 aus dem Atlantik erhoben hatten, lag wie ein schützender Gürtel vor Fuseta und dem östlichen Teil der Algarve.

Von ihrer Dienststelle in Faro trennten Graciana Rosado und Carlos Esteves rund 30 Minuten Autofahrt, eine Dauer, die Graciana selbstredend noch nie benötigt hatte. Nur wenige Kilometer weiter nördlich befand sich Moncarapacho, das mit seinen 8000 Einwohnern das Fischerdorf an der Küste um das Vierfache übertraf. Hier befand sich der nächste Posten der GNR, der Guarda Nacional Republicana.

Beide hatten dort ihre Laufbahn begonnen und sich mit kleineren Gesetzesübertretungen herumgeschlagen: Fahren ohne Führerschein etwa, Ladendiebstahl oder Ehekrach. Verkehrsunfälle, entlaufene Hunde, Körperverletzung. Seit ihrem Wechsel zur Kripo in Faro bearbeiteten sie Kapitalverbrechen: schwere Körperverletzung, Betrug, Raub, Mord und dergleichen. Ihr

Doch wenn es sich ergab, schauten sie gerne in ihrer alten Wirkungsstätte vorbei, plauderten mit den früheren Kollegen und nahmen die Post mit, die für die Polícia Judiciária bestimmt war.

 

Also nahm Graciana Rosado die N 398 nach Norden, eine schmale, zweispurige Straße, die sie an grünen Wiesen und sandigen Äckern entlangtrug. Hier und da grasten Pferde oder ein Esel, und im Juli, spätestens August, würden sich die Wiesen unter der sengenden Hitze in Steppen aus gelben Halmen verwandeln.

Nach drei Kilometern führte sie ihr Weg vorbei am örtlichen Friedhof mit seinen verwitterten und neuen Gruften mitten auf die Hauptstraße des Ortes, vorbei an der Galp-Tankstelle mit ihren drei knapp überdachten Zapfsäulen und den baufälligen, verlassenen Gebäuden, die sich mit modernen abwechselten. All das von Bäumen flankiert, die in den Bürgersteigen aus Pflastersteinen eingefasst waren.

Am Ende der Hauptstraße führte eine enge Gasse weiter zum Revier der GNR. Das Gebäude selbst war ein zweigeschossiger, pinkfarbener Eckbau mit weißen Fensterläden und einem maurisch geschwungenen Bogen über dem Eingang, auf dem in grüner Schrift auf weißem Grund das Kürzel GNR prangte. Umgeben war das Gebäude von weiß getünchten Häusern mit flachen Dächern aus Tonziegeln – oder mit Dachterrassen, auf denen die Wäsche flatterte.

Gleich im ersten Raum trafen sie Luís Dias an, dessen mangelnde Reflexe das Solitaire-Spiel auf seinem Monitor nicht rechtzeitig verschwinden ließen.

»Olá, Luís.«

»Olá.«

Luís Dias schob mit seinen 62 Jahren eine ruhige Kugel bis zu

Ana Gomes hingegen, die sich die Schichten mit Luís und ihrer Nagelfeile teilte, war in Gracianas Alter. An ihrem ersten Tag hatte sie ihre Uniform so umgenäht, dass sich die männlichen Verkehrsteilnehmer gerne Knöllchen von ihr an den Scheibenwischer heften ließen. Ana patrouillierte bevorzugt mit dem Wagen durch das Städtchen und die Umgebung, hielt hier und da einen Plausch und verteilte die erwähnten Knöllchen, wenn es nicht gelang, sie rechtzeitig mit einem Bica umzustimmen. Oder einem Kompliment.

»Ist Ana noch unterwegs?«, fragte Carlos.

»Nein, sie … ähm, sie ist …«

Luís wird wirklich alt, dachte Graciana, früher hätte er schneller eine Ausrede parat gehabt. Seine Kollegin hatte augenscheinlich ihren Dienstschluss ein wenig vorgezogen. »Ihre alte Mutter, hm?«, baute Graciana ihm daher eine Brücke.

»Genau«, bestätigte Luís erleichtert.

Graciana nickte verständnisvoll, während Carlos eine Augenbraue hochzog und ihr einen vielsagenden Blick zuwarf.

Luís stand auf und schob den Stuhl geräuschvoll unter den Schreibtisch. Um dann einen demonstrativen Blick auf die Uhr an der Wand zu werfen. »Meu deus, schon drei nach sechs«, sagte er mit schlecht gespielter Verwunderung, »seid ihr noch einen Moment hier?«

Dabei vermied er den Blickkontakt mit Carlos, der ihm gegenüber nicht so nachsichtig auftrat wie Graciana. Carlos fand nämlich, Luís und Ana überspannten bisweilen den Bogen. Wobei bisweilen eine gutherzige Untertreibung war.

Graciana nickte: »Geh ruhig. Wer hat Nachtschicht? Teresa?«

»Sim.«

»Gut. Ich warte hier, bis sie kommt.«

Graciana wandte sich den Postfächern in der Ecke des Raumes zu: verwitterte, offene Holzschubladen, an denen die Namen der Polizisten prangten. Und eines, dessen Inhalt für die Weiterleitung an das Kommissariat in Faro bestimmt war. Sie blätterte die Kuverts durch, ein Brief war an sie persönlich gerichtet. Der Absender trug den Stempel des Lissabonner Innenministeriums. Graciana verstaute den Brief in der Innentasche ihrer Jacke, die so weit hinabreichte, dass sie die Glock 26 verdeckte, die sie im Gürtelholster trug.

»Ich wusste es«, sagte Carlos mit vollem Mund. Sie schaute über ihre Schulter: Er kam gerade mit zwei Blätterteigpastetchen aus der Teeküche. Dabei strahlte sein Gesicht von innen mit so kindlicher Freude, dass sie einfach lächeln musste.

»Auch?« Er hielt ihr eine der Pasteten entgegen.

Diese Geste rührte Graciana. Selbst wenn sie beide auf einem eisigen Berggipfel am Verhungern wären, würde er das letzte Stück Brot mit ihr teilen. »Obrigada«, lehnte sie ab und schaute hinaus in den Himmel, in den sich das spezielle Azur mischte, mit dem sich die beginnende Dämmerung ankündigte. Azul – das portugiesische Wort für Farbe klang viel sinnlicher.

Dieses Azul war unvergleichlich. Sicherlich, das gab es auch in Lissabon oder weiter oben in Porto, aber hier unten an der Algarve, war es … anders. Weicher. Satter. Vertrauter.

Fünf Minuten später hatte Carlos die Pasteten verputzt. Sie schauten beide hoch zur Uhr an der Wand: zehn nach sechs. Carlos seufzte, stand auf und verschwand erneut in der Küche. Graciana fragte sich, wo er all die Kalorien ließ. Er machte schließlich einen großen Bogen um jedes Fitnessstudio und ging nie schneller als unbedingt nötig. Ein großer, in sich ruhender Kerl. Massig, aber nicht übergewichtig. Einer, mit dem man sich

 

Ein Bier und zehn Minuten später war Teresa Fiadeiro immer noch nicht im Revier erschienen. Graciana ging hinüber zum Flur, von wo aus sie einen Blick auf den Innenhof der GNR hatte, wo sich der Parkplatz befand. Aber der kleine blaue Renault der Kollegin war dort nicht zu sehen.

Teresa Fiadeiro war 57 Jahre alt und hatte vierzig davon in den Diensten der Guarda Nacional verbracht. Wenn Graciana sich recht entsann, war sie äußerst selten krank gewesen. Auf jeden Fall hätte sie in so einem Fall entweder angerufen oder ihren Mann vorbeigeschickt, als der noch lebte.

»Ich ruf Teresa an«, sagte Carlos. Graciana nickte und ging hinaus vor die Tür, von wo aus sie einen freien Blick in die Rua João Filipe Mendonça Vargues hatte, was ein langer Name für eine kurze Straße war, über die Teresa üblicherweise von ihrer Wohnung zu Fuß hierherkam. Bis auf eine Podenco-Hündin, die die Straßenseite wechselte, und einen Mopedfahrer, der ihr routiniert auswich, war niemand sonst auf der Rua Vargues unterwegs.

Teresa würde nicht kommen. Es war etwas passiert, das spürte Graciana. In ihrem Bauch. Und es würde ihr keiner glauben, auch das war Graciana klar. Denn im Augenblick hatte sich bei Licht betrachtet eine Kollegin lediglich um 20 Minuten verspätet.

Hinter ihr näherten sich Schritte, die neben ihr abstoppten: Carlos. Sie fing einen dezenten Duft von Parfüm auf. Er musste es gerade aufgetragen haben. Herb, frisch. Es passte zu ihm. Aber sie hatte noch nie erlebt, dass er sich eines Parfüms bediente, wenn er die Jungs traf.

»Sie geht nicht ran.«

»Handy oder Festnetz?«

»Beides.«

»Vielleicht ist sie krank.«

»Nein.«

»Oder sie steckt irgendwo im Stau oder …«

»Dann hätte sie sich gemeldet«, unterbrach Graciana ihn, »du kennst Teresa. Ich geh rüber zu ihr.« Sie wartete seine Reaktion nicht ab, sondern machte sich auf den Weg.

Ein Räuspern hinter ihr, das sie zu einem Blick über ihre Schulter veranlasste. »Ich bin im António, falls du mich suchst«, sagte Carlos. »Ich schließe hier ab.«

»Euer neuer Treffpunkt?«

Carlos Esteves nickte.

 

Die Wohnung von Teresa Fiadeiro lag nur rund dreihundert Meter vom GNR-Posten entfernt. Im ersten Stock über einem kleinen Supermarkt, Loja Fresca, der sein frisches Obst in blauen Plastikkästen auf dem schmalen Gehweg anbot.

Von unten konnte man die zwei großen verglasten Türen sehen, die aus Teresas Wohnung auf einen Balkon mit einem bauchigen schwarzen Metallgeländer führten. Die Rollläden waren hochgezogen.

Über eine abgewetzte, massive Steintreppe erreichte Graciana Rosado die unscheinbare, weiß gestrichene Wohnungstür, klingelte und lauschte. Drinnen war die Wohnung mit dunklen Holzdielen ausgelegt, wie sie wusste, aber kein Knarren drang an ihr Ohr. Nichts. Ein nochmaliges Klingeln ging auch ins Leere.

Für ein paar Augenblicke wusste Graciana nicht, was zu tun war. Aber dann erinnerte sie sich an Teresas Handy. Für ihre Generation sehr ungewöhnlich trug sie es immer bei sich. Teresa und ihr Handy an zwei verschiedenen Orten – unmöglich. Also zückte Graciana ihr eigenes und wählte die Mobilnummer von Teresa Fiadeiro.

Graciana wartete, bis das Lied zum fünften Mal begann. Beim sechsten Mal schlug sie mit dem Knauf ihrer Dienstwaffe das Glas oberhalb der Türklinke ein, griff hindurch und öffnete sich selbst.

Über den Flur, dessen Dielen unter ihrem Leichtgewicht knarrten, folgte sie dem Klingeln von Teresas Handy. Vorbei am Schlafzimmer und hinein in die kleine Küche mit dem winzigen Balkon zum Hinterhof. Auf einem kleinen Holztisch lag das Handy und spielte unablässig den Anfang von Grândola, Vila Morena.

Graciana brach den Anruf ab, sodass das Mobiltelefon verstummte. »Teresa?«

Keine Antwort.

Es kostete Graciana keine drei Minuten, die kleine Wohnung zu durchforsten und festzustellen, dass Teresa Fiadeiro nicht zu Hause war.

Aber ihr Handy war es.

Das passte nicht zusammen.

 

Das António war ein kleines, mit dunklen Stühlen und ebensolchen Holztischen ausgestattetes Lokal. Um etwas Platz hinzuzugewinnen, hatten die Besitzer einfach ein Holzdeck zimmern lassen, das um eine Wagenbreite in die Straße ragte, was hier naturgemäß niemanden störte. Darauf fanden noch einmal rund

Trotz der schönen Abendstimmung befanden Carlos Esteves und die Jungs sich aber nicht draußen, was Graciana Rosado kurz stutzen ließ. Die Erklärung dafür trug einen kurzen schwarzen Rock, und die dunklen Haare fielen ihr bis hinab zu den Schulterblättern. Sie versprühte eine ansteckende Fröhlichkeit.

»Wer ist das?«, fragte Graciana so beiläufig wie möglich, als sie sich zu Carlos, Adrien und Gonçalo setzte, die dem Fußballspiel der Erzrivalen Benfica Lissabon und FC Porto nur mit geteilter Aufmerksamkeit folgten. Dass ihr Kollege seinen Blick auch nur für eine Zehntelsekunde von dem großen Flachbildschirm abwandte, war für Graciana weit mehr als ein Indiz.

Fußball war in Portugal Religion und Wissenschaft zugleich. Und heilig sowieso. Gestandene Männer wie ihr Vater schämten sich ihrer Tränen nicht, wenn ihr Lieblingsverein scheiterte. Jede Flanke, jedes persönliche Hoch oder Tief eines Spielers, jede Bemerkung auf einer Pressekonferenz wurde in fachmännischen Gesprächen seziert, von allen Seiten beleuchtet und heiß diskutiert.

Dass also Carlos Esteves, glühender Anhänger des FC Porto, seine Augen während des Spiels auf etwas richtete, was kein Fußball war, kam eigentlich nur vor, wenn man gerade von seiner Frau verlassen oder die Diagnose einer unheilbaren Krankheit erhalten hatte.

»Hm?«, merkte Adrien, der Fischer, auf und hob dabei nicht mal den Blick.

»Wer das ist«, wiederholte Graciana.

»Soares«, brummte Gonçalo, der dachte, sie frage nach dem Namen des Mittelstürmers, der gerade den Ball um einen Verteidiger von Benfica Lissabon herumzirkelte, um im Anschluss gegen die gegnerische Latte zu schießen.

»Ich glaube, sie heißt Rúbia«, sagte Carlos schließlich mit jener leichten Überdosierung Gleichgültigkeit, die ihn entlarvte.

Graciana schätzte Rúbia auf Anfang dreißig. Diese trug ein paar Pfunde mit sich herum, und da sie sich unübersehbar wohl in ihrer Haut fühlte und es ihr Lächeln nicht schmälerte, war es auch ihrer Umgebung einerlei. Auf Carlos, so kombinierte Graciana, hatte sie zumindest Eindruck genug gemacht, um den Treffpunkt mit den Jungs nach immerhin vier Jahren ins António zu verlegen und Rasierwasser aufzutragen.

»Teresa ist nicht zu Hause, ihr Autoschlüssel fehlt«, brachte Graciana unvermittelt hervor.

Carlos, der zusammen mit den Jungs gerade Pastéis de bacalhau, kleine Kroketten aus Kabeljau, aß, seufzte. »Bitte, sie könnte überall sein.«

»Ihr Handy liegt auch zu Hause. Aber bleib du ruhig hier, wenn du meinst.«

Carlos blies die Wangen auf und atmete geräuschvoll aus. Sein Blick ging zu Rúbia. Seit ziemlich genau zwölf Tagen arbeitete sie als Kellnerin im António. Der Zufall wollte es, dass sie in Fuseta lebte. Eine kleine Anfrage beim Einwohnermeldeamt – angeblich wegen Falschparkens – hatte nicht nur ihre Adresse zutage gefördert, sondern auch ihre Steuerklasse. Ledig. Er hatte mindestens den halben Abend lang gelächelt.

Sein zweiter Blick galt dem Match auf dem Bildschirm. »Du weißt schon, wer da spielt?«

Erst als er keine Antwort erhielt, bemerkte er, dass Graciana das Lokal schon verlassen hatte. »Merda«, grummelte er und stapfte hinter ihr her. Sie wusste eben, welche Knöpfe sie bei ihm drücken musste.

Kurz vor dem Parkplatz der GNR holte er sie ein. »Gut, ihr Handy. Das ist nicht normal«, räumte er ein. »Sonst noch was?«

Carlos war, als liefe er plötzlich gegen eine Wand. »Eine Fahndung? Überziehst du nicht etwas?«

Sie hatten den Volvo erreicht. Graciana öffnete die Fahrertür. »Nein«, antwortete sie bestimmt und machte dazu dieses Gesicht, das Carlos nur allzu gut kannte. Ihre Nasenflügel wurden dann schmal, die vollen Lippen verwandelten sich zu einem Strich, dazu blinzelte sie nervös. Das letzte Mal hatte sie es aufgesetzt, als sie ihm mitgeteilt hatte, dass ihr Bruder Elias ums Leben gekommen war. Es war ein Ausdruck der Not, etwas nicht erklären zu können. Die Unfähigkeit, eine Gewissheit in Worte zu kleiden. Eine quälende Ohnmacht.

»Es ist ihr etwas passiert.«

Carlos Esteves war das Gegenteil von überzeugt, aber da sie ohne eine weitere Erklärung einfach einstieg, nahm er neben ihr Platz. »Wo wird nach ihrem Auto gefahndet?«, fragte er, als sie in der hereinbrechenden Nacht Moncarapacho hinter sich ließen.

»Im ganzen Land«, antwortete Graciana. Sie schloss für einen Augenblick die Augen und sog die Luft durch die Nase ein. »Hier riecht’s nach Fisch«, stellte sie fest.

Carlos nickte. Er zog ein Knäuel aus Servietten aus seiner Jacketttasche, formte aus Zeigefinger und Daumen eine kleine Spitzzange und zog auf diese Weise eine Krokette Bacalhau aus den Servietten. »Hab mir was einpacken lassen. Wohin fahren wir?«

»Zu Senhor Lost.«

Carlos warf ihr einen irritierten Blick zu. »Was hat der damit zu schaffen?«

»Ich hab mir eine Einzelverbindungsübersicht für Teresas Handy kommen lassen – das letzte Gespräch hat sie mit Leander Lost geführt.«

Als Carlos Esteves und Graciana Rosado an der ausladenden Terrasse und an Flechten, Agavengewächsen und Johannisbrotbäumen vorbei zum zwölf Meter langen Swimmingpool gingen, der rundherum eingefriedet war und sich auf diese Weise neugierigen Blicken von außen entzog, begleitete sie das dutzendfache Zirpen der Grillen.

Zuerst sahen sie die schlaksige Gestalt des Deutschen, der in schwarzer Anzughose, weißem Hemd und Espadrilles am Beckenrand stand und mit einem Kescher Fliegen, Wespen und andere Insekten vor dem Ertrinken rettete. Hinter ihm glitzerte die aufgehende Venus am Abendhimmel. Und am Horizont gab sich eine überschaubare Anzahl an Lichtern ein Stelldichein – Fuseta.

Leander Lost hob den Blick, als sich seine portugiesischen Kollegen dem Pool näherten und ins indirekte Licht traten. »Boa noite«, begrüßte er sie.

»Boa noite, entschuldigen Sie die Störung, bitte«, gab Graciana zurück.

Sie und Carlos bemerkten jetzt die beiden Frauen unter dem Sonnenschirm, der immer noch aufgespannt war, obwohl sich langsam die Sterne gegen das Restlicht der Dämmerung durchsetzten.

Es waren Soraia Rosado und Zara Pinto, die dort im Schein einer Kerze saßen, sich unterhielten und an Oliven und Sardinen knabberten, die auf einem Grillrost schmorten.

»So«, sagte Graciana leise, die Koseform ihrer Schwester benutzend.

Diese stand auf und kam ihnen entgegen, die beiden nahmen sich kurz in den Arm, während Carlos sich dem Grill zuwandte.

»Darf ich?«

»Klar«, antwortete Zara. Sie waren sich vertraut. Trotzdem spürte Carlos, wie sich das Mädchen innerlich mit Siebenmeilenstiefeln von ihm entfernte und inzwischen eine Distanz

 

Die Villa Elias fand man nur, wenn man sich entweder verlief oder exakt wusste, wohin man wollte. Um sie zu erreichen, musste man von der zweispurigen Nationalstraße N 125 in einen unscheinbaren Feldweg abbiegen und ihm mehrere Hundert Meter vorbei an Schafwiesen und kleinen Hügeln folgen.

Sie bestand aus zwei Gebäuden: auf der einen Seite ein kleines Besucherhaus, das lediglich ein Schlafzimmer und ein Badezimmer beherbergte. Weiß getüncht und mit einer Dachterrasse, die sich über die gesamte Grundfläche erstreckte. Auf der anderen Seite das Hauptgebäude, das vier überschaubare Räume umfasste: Wohn-, Schlaf-, Esszimmer und Küche. Doch es bot darüber hinaus eine riesige überdachte Terrasse, in deren Ecke zwei Bänke und ein Tisch aus Stein einzementiert worden waren. Mit breiten Kissen ausgestattet, bot es eine herrliche Ecke zum Essen, Trinken, Lesen, Debattieren, Schlafen und Faulenzen. Es gab im Grunde nichts, was man in dieser vom Wind geschützten Ecke nicht tun konnte.

 

Hier hatte bis vor sieben Jahren Gracianas älterer Bruder Elias gelebt, der wie sie GNR-Polizist war, aber bei einem Raubüberfall erschossen worden war. Gracianas Eltern und ihre jüngere Schwester Soraia hatten das Anwesen in Schuss gehalten, aber nicht vermietet. Ein Verkauf wäre keinem von ihnen in den Sinn gekommen. Es blieb alles so, wie Elias es an jenem Morgen verlassen hatte.

»Irgendwann kommt der Punkt«, hatte ihr Vater gesagt, »dann fügt es sich.«

Und wie so oft bei ihrem Vater schwang da etwas Ungesagtes mit, was alle Mitglieder der Familie Rosado wie mit einem gesonderten Sinnesorgan wahrnahmen – nämlich, dass sie es spüren würden, wenn es so weit war.

Als im September des vergangenen Jahres im Zuge eines europäischen Austauschprogrammes der Hamburger Kommissar Leander Lost als Verstärkung der Polícia Judiciária zu ihnen stieß und die für ihn vorgesehene Wohnung wegen eines Wasserschadens kurzfristig ausfiel, fügte es sich. Alle Rosados spürten es. Ein Gefühl, das schwer in Worte zu fassen war. Soraia umschrieb es als die intuitive Ahnung, dass Elias damit einverstanden gewesen wäre. Und die anderen nickten.

So zog erst Lost hier ein und wenig später die Vollwaise Zara Pinto. Die widerspenstige Jugendliche, die in ihrem ersten gemeinsamen Fall die entscheidende Zeugin war, war anfangs so angenehm wie ein Schlangenbiss. Eine unbarmherzige Wut brodelte in ihr und lag in jedem Blick und ergoss sich in ihre Sätze – ein vernichtender Zorn auf ihre Mitmenschen, die ganze Welt und vor allem darüber, welch mieses Blatt das Leben ihr zugeschanzt hatte. Wie ein getretener und in die Enge getriebener Hund schnappte sie nach allem, was sich ihr näherte.

Und alle waren zurückgezuckt – nur der Deutsche nicht, der Alemão.

Die Unerbittlichkeit seiner Logik machte auch vor ihr nicht halt. Es gab nichts, was er beschönigte. In seiner Art zu denken und die Welt zu betrachten, gab es das Wort Rücksicht nicht. Noch dazu stellte Zara Tag um Tag fest, dass er sie niemals belügen würde.

Und so hatten zwar Gracianas Eltern offiziell die Vormundschaft für Zara übernommen – sie hatte vor einem Monat ihren 17. Geburtstag gefeiert –, aber ihr Zuhause war seitdem die Villa Elias.

 

Lost. Leander Lost. Ein überkorrekter, pedantischer, humorloser Deutscher – das nennt man einen Pleonasmus, hatte Antonio Rosado gesagt –, der es fertiggebracht hatte, im ausgehenden Hochsommer in einem schwarzen Anzug mit Krawatte hier

Allerdings war nichts davon auf sein Herkunftsland zurückzuführen, sondern auf den Umstand, dass er gebürtiger Asperger-Autist war. Blind für nonverbale Kommunikation. Überfordert damit, die Mimik seiner Mitmenschen richtig zu deuten. Ohne Verständnis für Humor oder gar Ironie. Obendrein war er der Lüge unfähig – was die ersten gemeinsamen Ermittlungen von Graciana Rosado, Carlos Esteves und ihm durchaus erschwert hatte. Und als Leander Lost im Zuge einer Geiselnahme eine freie Schussbahn auf den Täter dadurch herstellte, dass er zunächst der Geisel ins Bein schoss, kam das nicht überall gut an. Insbesondere nicht bei der Geisel Carlos Esteves.

Aber als sie alle drei schließlich beim jeweils anderen das ehrliche Bemühen entdeckten, aufeinander zuzugehen und ein echtes Team zu bilden, brach das Eis. Spätestens als Leander Lost beim Abschluss ihres ersten Falles selbst schwer angeschossen worden war und die Lider schloss, bevor der Rettungswagen eintraf, konnten die portugiesischen Sub-Inspektoren an ihrem Entsetzen ablesen, wie sehr er schon einen festen Platz in ihrem Leben eingenommen hatte.

Mehr jedenfalls, als sie vermutet hätten.

Es war seine bisweilen kindlich anmutende Aufrichtigkeit, mit der er geradewegs in ihre Herzen marschiert war.

Aber Losts kleine Marotten, die das alltägliche Miteinander gehörig verkomplizieren konnten, sorgten verlässlich dafür, dass sich diesbezüglich keine trügerische Sentimentalität einschlich.

So hatten Graciana und Carlos ihn über den Dienst hinaus auch vorsichtig in ihr Privatleben eingebunden, siezten ihn aber nach wie vor, da er darauf Wert zu legen schien. Mittlerweile hatten sie so etwas wie einen normalen Umgang miteinander gefunden, der von Vertrauen und Wertschätzung geprägt war.

 

»Das ist gut«, sagte Graciana und bemühte sich, ihrer Stimme einen neutralen Klang zu verleihen. Soraia hatte vor Kurzem bei einem Aufbauprojekt für Kinder in Brasilien geholfen. Eigentlich hatte sie sich dort für ein Jahr engagieren wollen, war aber nach ziemlich genau vier Wochen wieder an ihre alte Arbeitsstelle im örtlichen Kindergarten zurückgekehrt.

Seitdem war Soraia wieder häufig in der Villa Elias anzutreffen, räumte auf, schnitt die Pflanzen zurück oder gab besagte Nachhilfe. Eine Unterstützung, die Zara dringend nötig hatte, immerhin hielt sie den Rekord im Schulschwänzen und hatte fächerübergreifend einiges nachzuholen.

»Lecker«, gab Carlos zu, als Leander Lost zu ihm trat. Er schnappte sich noch eine weitere Sardine. »Schöne Nacht«, fügte er hinzu.

Der Deutsche nickte, sah kurz in den Sternenhimmel und bestätigte dann Carlos’ Feststellung. »Wir haben eine Regenwahrscheinlichkeit von 17 Prozent.«

Carlos sah, wie Zara im Halbdunkel grinsen musste. »Gut zu wissen, Senhor Lost.«

Ja, das Wissen. Leander wusste, dass die Menschen üblicherweise Regen nicht mit schönem Wetter verbanden. Er schon. Wenn er in seinem Bett lag, die Regentropfen gegen das Fenster trommelten und bei ihrem Aufprall einen Singsang auf dem Dach erzeugten, gab es für ihn nichts Beruhigenderes auf der Welt. Denn dann war er zurück im Bauch seiner Mutter. Weit weg von den Fallstricken, Boshaftigkeiten und Rätseln des menschlichen Miteinanders.

Graciana stellte sich ebenfalls neben den Grill und suchte den Blickkontakt mit ihm.

Aus ihrem mangelnden Blinzeln, der Andeutung jener

»Wir müssen Sie kurz sprechen«, eröffnete sie ihm. »Unter vier Augen.«

Lost hatte inzwischen begriffen, dass sie keinen Platz aufsuchen wollte, über dem vier Augen hingen, sondern dass es sich um eine Redewendung für ein vertrauliches Gespräch handelte. Ein vertrauliches Gespräch zwischen zwei Menschen, die durch jeweils ein Augenpaar repräsentiert wurden. Wendete man es auf Einäugige an, konnten damit sogar bis zu vier Personen gemeint sein. Zyklopen, zum Beispiel.

»Teresa Fiadeiro von der GNR in Moncarapacho ist verschwunden. Und den letzten Telefonkontakt hatte sie mit Ihnen.«

»Verschwunden? Wie meinen Sie das?«

»Sie ist nicht zum Dienst erschienen, sie ist nicht zu Hause und ihr Auto ist nicht da.«

»Sie könnte weggefahren sein«, sagte Leander Lost.

Carlos realisierte, dass er selbst kaum merklich nickte. Sie standen inzwischen in der Küche der Villa Elias.

»Ihr Handy liegt in ihrer Wohnung.«

»Warum sollte sie das am Fahren hindern?«

Sie erzählten ihm, wie vernarrt Teresa Fiadeiro in ihr Smartphone war. Genauer: in dessen Fähigkeit, ihre Schritte zu zählen, samt der Stockwerke, die sie täglich zurücklegte. Teresa Fiadeiro war eine Sportbesessene, für ihre 57 Jahre daher außergewöhnlich fit – sie hatte in den letzten fünf Jahren regelmäßig am Mai-Marathon in Lissabon teilgenommen und auch dieses Jahr wieder für ihn trainiert, Startnummer 249 am 21. Mai 2017 – und niemals ohne ihr Handy anzutreffen.

»Niemals?«, fragte Lost.

»Gibt es in ihrer Wohnung Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen?«

»Nein.«

»Dann«, so Lost, »sollten Sie umgehend eine Fahndung nach ihr auslösen.«

»Das hat Senhora Graciana schon veranlasst«, sagte Carlos, »eine verdeckte Fahndung nach ihrem Wagen läuft.«

»Das letzte Telefongespräch, das Senhora Teresa geführt hat, hatte sie mit Ihnen«, knüpfte Graciana Rosado an ihre Bemerkung am Pool wieder an, »und zwar heute um kurz nach zwölf. Worum ging es da?«

Lost, der üblicherweise keine Sekunde mit seinen Antworten zögerte, suchte nach einer passenden Formulierung. »Sie hat mir ein paar Ratschläge gegeben.«

»Ob es klug ist, in der Hitze schwarze Anzüge zu tragen?«, konnte Carlos sich nicht verkneifen und grinste.

Graciana warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, aber der Spaß war es wert gewesen. Zumal er bei Lost nichts dabei riskierte. Ironie war dem Mann schließlich fremd, er nahm jede Frage für bare Münze.

»Nein. Was bei der Anbahnung einer Vaterschaft zu berücksichtigen ist.«

 

Die Neugier nagte sich die ganze Nacht quer durch ihre Köpfe und wieder zurück. Vaterschaft? Wie kam er darauf? Und mit wem? Gab es denn überhaupt schon eine »sie«? Und wenn es sie gab, wusste sie schon von ihrer Rolle in seinem Vorhaben? Oder würde Senhor Lost wie gewohnt erst alles haarklein planen und sich dann die Frau für dieses Unterfangen suchen? Oder hatte er eine Adoption im Sinn?

Diese und viele weitere Fragen konnten Carlos Esteves und Graciana Rosado zu ihrem Bedauern leider nicht gemeinsam erörtern, denn sie durchforsteten bis fünf Uhr morgens in

Rund zwei Dutzend Beamte waren es, die bis zum Morgengrauen nach Teresa Fiadeiro suchten. Die GNR-Stationen aus Tavira, Olhão, Loulé und anderen Ortschaften rückten aus und suchten Planquadrate ab, die Graciana Rosado ihnen zugeteilt hatte. Sie begannen in Moncarapacho und breiteten sich dann kreisförmig immer weiter aus.

Aber neben diesen zwei Dutzend gab es über hundert andere, die sich mehr oder minder intensiv an der Suche beteiligten. Teresa Fiadeiro war in der Gegend bekannt. Ob es um einen platten Reifen ging, eine suizidgefährdete Tochter, einen entlaufenen Hund – immer war die Frau von der GNR zur Stelle, Tag und Nacht und wenn es die Situation erforderte, auch am Wochenende.

Moncarapacho war für sie nicht nur ein Ort, in dem sie lebte. Der Supermercado an der Ecke, die Kirche, das António, die Galp-Tankstelle – für Fremde sicherlich keine besonderen Orte, aber für Teresa waren sie angefüllt mit Erinnerungen, ihr ganzes Leben war an ihnen ablesbar. Sie waren ihre Heimat. Und diese Heimat – »Schon gehört? Teresa wird vermisst!« – kam gegen halb elf am Abend auf die Beine und beteiligte sich an der Suche.

 

Lost hingegen, der sich nach einem knappen halben Jahr zwar sehr gut in Fuseta und Umgebung zurechtfand, hier aber eben nicht aufgewachsen war, fügte währenddessen die GPS-Daten von Teresa Fiadeiros Handy mit jenen Orten, an denen sie in der letzten Zeit mit ihrer Kreditkarte gezahlt hatte, zu einem Profil zusammen. Auf diese Weise konnte er bestimmte auffällige Orte,

Vergeblich.