utb 4767
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Otto Kruse
Kritisches Denken und Argumentieren
Eine Einführung für Studierende
UVK Verlagsgesellschaft mbH · Konstanz
mit UVK/Lucius · München
Der Autor
Prof. Dr. Otto Kruse war lange Zeit als klinischer Psychologe tätig, dann als Professor für Psychologie der sozialen Arbeit und zuletzt als Dozent für Angewandte Linguistik. Er hat sich auf wissenschaftliches Schreiben spezialisiert und unterrichtet dieses Fach in mehreren Studiengängen. Er lebt in Zürich und Potsdam.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
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© Verlag Huter & Roth KG, 2017. www.huterundroth.at
Lizenznehmer: UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz
Satz und Layout: Claudia Wild, Konstanz
Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart
Coverillustration: Graf+Zyx
eBook-Produktion: Pustet, Regensburg
UVK Verlagsgesellschaft mbH
Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz
Tel. 07531-9053-0 · Fax 07531-9053-98
www.uvk.de
UTB-Band Nr. 4767
ISBN 978-3-8463-4767-6 (ePUB)
ISBN 978-3-8252-4767-6 (Print)
Studieren, aber richtig
Herausgegeben von Theo Hug, Michael Huter und Otto Kruse
Die Bände behandeln jeweils ein Bündel von Fähigkeiten und Fertigkeiten. Das gesamte Paket versetzt Studierende in die Lage, die wesentlichen Aufgaben im Studium zu erfüllen. Die Themen orientieren sich an den wichtigsten Situationen und Formen des Wissenserwerbs. Dabei werden auch das scheinbar Selbstverständliche behandelt und die Zusammenhänge erklärt.
Weitere Bände:
Otto Kruse: Lesen und Schreiben (UTB 3355)
Klaus Niedermair: Recherchieren und Dokumentieren (UTB 3356)
Theo Hug, Gerald Poscheschnik: Empirisch Forschen (UTB 3357)
Steffen-Peter Ballstaedt: Visualisieren (UTB 3508)
Jasmin Bastian, Lena Groß: Lerntechniken und Wissensmanagement (UTB 3779)
Mautner: Wissenschaftliches Englisch (UTB 3444)
Melanie Moll, Winfried Thielmann: Wissenschaftliches Deutsch (UTB 4650)
Informationen, Materialien und Links: star.huterundroth.at
Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d. i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung.
Immanuel Kant (1786), »Was heißt: Sich im Denken orientieren?«
Worum es in diesem Buch geht
Dieses Buch bietet Ihnen Gelegenheit, sich mit dem eigenen Denken auseinanderzusetzen und es mit dem abzugleichen, was heute als »kritisches Denken« bezeichnet wird. Es geht zunächst auf das ein, was »Denken« eigentlich bedeutet und erläutert dann nach und nach, wie man vom Denken zum kritischen Denken gelangen kann. Kritischen Denken wird dabei nicht als eine bestimmte Art des Denkens angesehen oder als Mittel zum Vermeiden von Denkfehlern. Es ist auch kein regelgeleitetes und kein normiertes Denken, sondern eher ein Denken, das in sich selbst Halt findet. Es geht beim kritischen Denken also darum, Sicherheit im eigenen Denken zu finden, um perspektivisch so etwas wie intellektuelle Autonomie zu gewinnen und den eigenen Verstand als verlässliches Arbeits- und Erkenntnismittel nutzen zu können.
Kritisches Denken gilt heute als eines der wichtigsten Bildungsziele der Gymnasien und Hochschulen. Auch wenn unter Bologna zwischenzeitlich andere Ziele höher bewertet worden sind, so gibt es unter den Lehrenden aller Fächer kaum eines, das mehr Akzeptanz besäße als das kritische Denken. Dabei nimmt kritisches Denken in jeder Disziplin etwas andere Formen an, so dass eine Einigkeit über das, was es genau ausmacht, über die verschiedenen Fächer hinweg nicht einfach herzustellen ist. Dennoch schälen sich einige Kernelemente heraus, die für die Umschreibung von kritischem Denken regelmässig verwendet werden. Sie sollen in diesem Buch ausgelotet werden sollen.
Patentrezepte für kritisches Denken sollte niemand in diesem Buch erwarten, denn kritisches Denken ist kein normiertes oder in Ablaufschemata pressbares Denken. Es bezeichnet eher die Freiheitsgrade, die Menschen im Denken haben, ihre Fähigkeit also, sich über Denkroutinen und Konventionen zu erheben und reflektiert eigene Wege zu gehen. Das Konzept des kritischen Denkens ist aus der Notwendigkeit heraus entstanden, sich über das zu verständigen, was an Denkqualitäten wünschenswert erscheint. Es umschreibt damit nicht nur benennbare Anforderungen, sondern auch Ideale des Denkens, die der Schul- und Hochschulausbildung als Zielprojektionen dienen. Die Unbestimmtheit, die dem Konzept dadurch anhaftet, mag man bedauern, sie ist aber ein notwendiges Tribut an seine Flexibilität und Entwicklungsfähigkeit.
Im Studium ist Denken konkret. Jedes Studium ist auch eine Denkschulung, in der die kritische Auseinandersetzung mit fachlichen Problemen trainiert wird. Diese Denkschulung findet in der Regel in indirekter Form statt, eingebunden also in die Auseinandersetzung mit den Themen oder Handlungsfeldern des Fachs und integriert in das gemeinsame Reden darüber im Unterricht. Und das ist auch gut so, denn kritisches Denken lässt sich nicht abstrakt lernen. Es braucht immer ein Thema, an dem es sich abarbeiten kann, und es kann seine kritischen Qualitäten nur im Ringen um Tiefenverständnis zu fachlichen Problemen entfalten. Was in der Lehre dagegen eher knapp ausfällt, ist der direkte Blick auf das, was kritisches Denken ausmacht. Das soll der Beitrag dieses Buches sein: Denkmuster und Konzepte bereitzustellen, mit denen man sich über seine Bedeutung verständigen und es im Lehren und Lernen konkretisieren kann.
Auch angesichts der populistischen Strömungen, die sich gegenwärtig ausbreiten, ist es wichtig, sich damit auseinanderzusetzen, was klares, rationales, reflektiertes und faktenbezogenes Denken ist. Kritisches Denken ist nicht nur in der Bildung wichtig, sondern ist genauso sehr Grundlage politischer Auseinandersetzungen, nachhaltigen Wirtschaftens und individueller Lebensgestaltung. Nur in Demokratien ist kritisches Denken letztlich ein wünschenswertes Bildungsziel. Dort, wo gegenwärtig demokratische Regierungsformen in autoritäre umkippen, gerät zusammen mit der Meinungs- und Pressefreiheit auch schnell das kritische Denken unter Beschuss. Es ist mit nationalistischen, fundamentalistischen, opportunistischen oder faschistoiden Ideologien nicht vereinbar. Kritisches Denken zu verstehen ist also auch deshalb wichtig, weil es etwas darstellt, das demokratische Gesellschaften heute zu verteidigen haben.
Trotz dieser politischen Bezüge gilt, dass kritisches Denken nicht in erster Linie gesellschaftskritisches Denken ist. Es sollte nicht als Aufforderung verstanden werden, Gott und die Welt zu kritisieren, sondern es ist in erster Linie eine geistige Haltung, die am eigenen Denken ansetzt und vor das Urteil eine genaue Reflexion setzt. Der Begriff »kritisch« steht also weniger dafür, Kritik zu üben, als dafür, sich kritisch mit dem Wissen über die Welt – und das ist vor allem das Wissen, das man sich selbst gerade aneignet – auseinanderzusetzen. Das darf durchaus auch engagiert sein und in Opposition zu anderen Ideen geschehen, denn daran schärft sich das Denken. Im Kern heißt kritisches Denken aber, Verantwortung für die Qualität des eigenen Denkens zu übernehmen.
Der Schritt vom Denken zum kritischen Denken geht nicht vom Einfachen zum Komplizierteren, sondern eher vom Komplizierten zum Einfachen. Es geht darum, hinter der Flut an Wissen die elementaren Fragen zu finden, die ein bewusstes, reflektiertes Nachdenken aufwirft, wie etwa die folgenden:
Die Suche nach Antworten auf solche Fragen führt in Disziplinen wie Philosophie, Psychologie, Linguistik, Medienwissenschaft hinein, in denen traditionellerweise diese Themen diskutiert werden. Bei der Begründung kritischen Denkens muss man sich des Wissens dieser Disziplinen bedienen. Ob sich das kritische Denken darüber hinaus auch als eigene Disziplin konstituieren wird, gewissermaßen als angewandte Denkwissenschaft, wird die Zukunft erweisen.
Als Motto ist diesem Buch Kants (1786) Definition von Aufklärung vorangestellt, in der er die Aufklärung in der Vernunft begründet sehen will und die Vernunft im selbständigen Denken: »Selbstdenken heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d. i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die Aufklärung.«
Dieses Zitat steht wie kein anderes in der Geschichte der Wissenschaften für den Glauben an die Macht der Vernunft und des Denkens. Es ist unser eigenes Denken, auf das es ankommt, nicht das, was andere vorgedacht haben. Natürlich gilt das auch fürs Studium, dessen Kern letztlich darin besteht, selbständig wissenschaftliche denken und arbeiten zu lernen, auch wenn manche der knappen Bologna-Studiengängen heute die dafür nötige Zeit nicht mehr zur Verfügung stellen.
Denn allein mit dem Selbstdenken ist es nicht getan. Das Denken will nicht nur in Gang gesetzt und praktiziert sein, es muss sich auch an Qualitätsmaßstäben orientieren. Dazu braucht es Anregung, Zeit, Motivation, Rückmeldung, Reflexion und die Fähigkeit, sich des vorhandenen Wissens zu bedienen. Jeder Blick in die Leserkommentare einer beliebigen Onlinezeitung zeigt heute, wie schnell das Selbstdenken danebengehen kann, wenn statt Argumenten nur noch Hassbotschaften und abwertende Beleidigungen abgeliefert werden. Und es sind nicht immer die Trolle, die dafür verantwortlich sind, sondern Menschen, die glauben nur so ihrer Meinung Nachdruck verleihen zu können. Das Argumentieren ist ein Spiegel des Denkens oder, um eine andere Metapher zu nehmen, ein nach außen gewendetes, versprachlichtes Denken. Deshalb können wir es auch als Zugang zum Denken nutzen und das Denken durch Argumentieren entwickeln. Neben dem Denken ist das Argumentieren deshalb das zweite große Thema dieses Buches.
Zur Lektüre dieses Buches brauchen Sie drei Dinge: Zeit, Neugierde auf das Thema und die Bereitschaft zu etwas Selbstreflexion. Die Themen dieses Buches sind nicht schwer zu verstehen, verlangen aber immer den doppelten Blick auf das, was vom Denken in den Wissenschaften verlangt wird und auf das, was im eigenen Kopf dabei vorgeht. Kritisches Denken erfordert, beides in Beziehung zu setzen und dabei muss sich erfahrungsgemäß einiges erst zurechtrücken, bis es passt. Denkfähigkeit entwickelt sich langsam, aber stetig, wenn man offen ist. Deshalb die Bereitschaft zur Selbstreflexion und deshalb auch der erforderliche Zeitaufwand.
Zu Dank verpflichtet bin ich Gabriela Ruhmann und Michael Huter, die die Entstehung des Buches mit ihren Gedanken und Kommentaren hilfreich (und kritisch) begleitet haben. Uta Preimesser danke ich für ihre umsichtige lektorielle Betreuung.
1. Arten des Denkens: Drei Beispiele
2. Aufbau von Denkkompetenz
3. Denken lernen: Einzelne Hebel
4. Schreiben als Königsweg, um Denken zu lernen
Beginnen wir mit einer Einführung in das, was unter »Denken« zu verstehen ist und was Sie über das Denken wissen sollten, wenn Sie studieren. Drei Beispiele machen das Denken konkret, damit verschiedene Facetten des Denkens und Aufgaben des Denkenlernens sichtbar werden. Denken ist zwar eine abgrenzbare mentale Aktivität, aber dennoch nichts Homogenes oder Einheitliches. Es ist wichtig, verschiedene Arten des Denkens und unterschiedliche Anforderungen zu verstehen, die an das Denken gestellt werden können. Das Kapitel soll dabei helfen, das eigene Denken in den Blick zu nehmen und es der Reflexion bzw. Steuerung zugänglich zu machen. Seine Verbindungen zum Erkennen, Lesen, Schreiben, Lernen und Kommunizieren sollten sichtbar werden.
Ich sehe hin und wieder zu, wie Kinder, die erst kürzlich einen Schachkurs gemacht haben, ihre ersten Turnierpartien spielen. Schach ist reiner Denksport, der eine Palette unterschiedlicher strategischer, taktischer und sozialer Denkfähigkeiten verlangt. Wenn nun die Sieben- bis Achtjährigen ihre ersten Turnierpartien spielen, so sieht man sie auf ihren Stühlen eher knien als sitzen. Sie wollen mit den Augen nah am Geschehen sein. Ihrer Mimik kann man deutlich ansehen, ob sie besser oder schlechter zu stehen glauben und wenn sie einen guten Zug gesehen haben, dann greift die Hand automatisch, und nicht selten mit einem Ausdruck von Triumph im Gesicht, nach der Figur und führt den Zug aus. Das Denken ist noch unmittelbar in das Handeln und Fühlen integriert und nur rudimentär als eigene Funktion separiert. Die Partien gehen meist schnell und überraschend zu Ende.
Schaut man denselben Kindern zwei Jahre später zu, dann sieht das Bild völlig anders aus. Sie sitzen aufrecht vor dem Schachbrett, die Hände auf dem Schoß, regungslos, und nur ihre Augen bewegen sich über das Schachbrett. Die Mimik ist leer. Sie kalkulieren intensiv mögliche Zugfolgen und führen den ausgewählten Zug kontrolliert aus, wenn sie mit ihren Berechnungen zu Ende sind. Sie reden während des Denkens wahrscheinlich intensiv zu sich selbst, wie alle Schachspielerinnen und Schachspieler das tun. Aber nichts davon würden Außenstehende mitbekommen, denn sie haben gelernt ein Pokerface aufzusetzen.
Die erfahreneren Spielerinnen und Spieler sind in der Lage, ihren Denkprozess zu organisieren und haben eine Art inneren Raum für das schachliche Denken geschaffen, der es ihnen ermöglicht, die Züge der Figuren effizient zu berechnen und die jeweils daraus entstehenden Stellungen (wenigstens ansatzweise) zu bewerten. Sie haben viele der elementaren taktischen Wendungen so oft durchgespielt, dass sie als kognitive Routinen automatisiert oder in die Wahrnehmung integriert sind. Die Kinder werden nicht mehr von Angst- oder Triumphgefühlen überflutet, wie noch am Anfang, sondern können ihre Emotionen besser regulieren und dazu nutzen, Energie für entsprechende Berechnungen bereitzustellen. Ihre inneren Stimmen helfen mit Fragen und Kommentaren wie: »Wo soll ich mit meinem König jetzt hingehen?«, »Welches Schach gebe ich am besten?«, »Was droht jetzt?« Die Kinder haben also die zwei Jahre dazu genutzt, in ihren Gehirnen eine Struktur aufzubauen, die ihnen erlaubt, genau, effizient und emotional unterstützt Schach zu spielen. Sie haben eine Art Denkraum angelegt, der Grundlage für die Kalkulation konkreter Interaktionen auf dem Schachbrett ist.
Schach ist ein Beispiel für eine Art des Denkens, der Sie auch im Studium begegnen, wo es ähnliche »Denkräume« anzulegen gilt. Das Schachspiel ist – das macht seine Natur aus – kein offenes Handlungsfeld, wie etwa das Schreiben oder das Design, bei dem es auf kreative Fähigkeiten ankommt, sondern eines, das genau definierten Regeln folgt, in denen denkerische Qualitäten wie Genauigkeit, Präzision, Fehlerfreiheit und Rechentiefe immer auf die Anwendung dieser Regeln bezogen sind. »Rechentiefe« bezeichnet dabei die Anzahl der Züge, die man vorauszudenken in der Lage ist. Ähnliche Anforderungen an das Denken finden Sie in der Mathematik, Physik oder Informatik. Kreativität in diesen Fächern lässt sich erst auf einer sehr hohen Stufe des Verständnisses erreichen. Aktives Denken jedoch ist von Anfang an gefragt.
Nehmen wir ein zweites Beispiel, das andere Anforderungen an das Denken stellt und eher einem Feld angewandter Wissenschaft zuzuordnen ist. Es stammt aus einer Untersuchung, die Dörner (2003) und seine Mitarbeiter in den 1980er und 90er Jahren zum Thema »Umgang mit komplexen Situationen« angestellt haben. Sie entwickelten zwei Simulationsspiele, um untersuchen zu können, wie Menschen sich strategisch in komplexen, vernetzten und dynamischen Handlungsräumen verhalten und welche Denkfehler sie dabei machen. Das Setting eines der beiden Spiele war eine fiktive Kleinstadt namens »Lohhausen«, das des anderen ein fiktives afrikanisches Land namens »Tanaland«. In Lohhausen mussten die Versuchspersonen als Bürgermeisterinnen die Geschicke der Stadt leiten und sich um das Wohlergehen der Bürger in einem Zeitraum von 120 Monaten sorgen. Dabei konnten sie sechs Mal verschiedene Aktionen in Gang setzen und erhielten vom Computer Rückmeldung über deren Ergebnisse. Als Aktionsmöglichkeiten hatten sie größere Spielräume als es wirkliche Bürgermeister haben, denn sie konnten z. B. die Steuern neu festsetzen, Lehrer einstellen und entlassen, sich um Freizeitmöglichkeiten kümmern oder neue Wohnungen bauen und die Mieten festlegen. In Tanaland konnten sie als Entwicklungshelfer die Geschicke des halbnomadischen Stammes der »Moros« in der Sahelzone lenken und hatten dabei Aktionen zur Verfügung wie den Bau von Brunnen, die Verringerung der Säuglingssterblichkeit durch bessere medizinische Versorgung, die Bekämpfung der Tsetsefliege, die Düngung der Hirsefelder, die Dezimierung von Nahrungskonkurrenten wie Kleinsäugern oder Insekten oder die Bewässerung der Weideflächen. Aufschluss über das Denken der Versuchspersonen erhielten die Versuchsleiter dadurch, dass sie sie laut denken ließen, so dass sie über ihre Erwägungen immer im Bild waren.
Es stellte sich in dieser Untersuchung heraus, dass viele der Versuchspersonen die ihnen anvertrauten Gemeinschaften eher ruinierten als sie zum Blühen zu bringen, und die Versuchsleiter studierten die Gründe, die für das Versagen der Bürgermeister und Entwicklungshelferinnen verantwortlich waren. Der wichtigste Grund lag darin, dass diese kurzfristige Effekte erzielen wollten und dabei langfristige Effekte, Nebeneffekte und Wechselwirkungen vernachlässigten. Hungersnöte (in Tanaland) und ausufernde Arbeitslosenzahlen (in Lohhausen) waren die unangenehmsten Indikatoren für dieses Versagen. Auch das gleichzeitige Verfolgen mehrerer Ziele und das Gewichten der einzelnen Ziele bereitete ihnen Probleme.
Anders als beim Schach stehen die Akteure in diesen beiden Spielen in einem Handlungsfeld, in dem nicht alles offen auf dem Tisch liegt, sondern vieles im Verborgenen geschieht. Die Handelnden müssen in einen laufenden Prozess eingreifen, der sich von alleine entwickelt, wenn die Akteure nicht handeln (und nicht stillsteht wie beim Schach, wenn keiner einen Zug macht). Sie haben es mit vielen interagierenden Variablen zu tun, die aufeinander einwirken und sich gegenseitig verstärken oder abschwächen können. Die einzelnen denkerischen Aufgaben der Versuchspersonen sind nicht so anspruchsvoll wie beim Schach oder in der Mathematik, jedoch unübersichtlicher und weniger offensichtlich.
Die Versuchspersonen mussten zudem mit Stress und Misserfolg umgehen und nicht wenige flüchteten sich in Aktionismus oder zynische Reaktionen, wenn sie z. B. eine Hungersnot in Tanaland angerichtet hatten oder die Arbeitslosenzahlen in Lohhausen nicht in den Griff bekamen. Aufschlussreich ist, was Dörner über die Unterschiede zwischen erfolgreichen und nicht erfolgreichen »Bürgermeistern« herausfand. Die guten schafften es, sich auf wesentliche Aspekte zu konzentrieren und sich nicht in Nebensächlichkeiten zu verzetteln. Sie trafen mehr Entscheidungen pro Spieleinheit und erkannten früher, wo die Probleme der Lohhausener lagen. Sie waren fokussierter, wechselten seltener das Thema, ließen sich seltener von Nebensächlichkeiten ablenken, zeigten weniger »Verkapselungsverhalten« bei schlechten Nachrichten. Sie organisierten ihr Denken besser, betrachteten ihre eigenen Gedanken selbstkritischer und reagierten verantwortlicher auch bei Misserfolg und Unsicherheit.
Fast jede einzelne Aktionsmöglichkeit in diesem Spiel war in ihrer Wirkung unschwer nachvollziehbar. Die Sterblichkeit durch bessere medizinische Versorgung zu senken sollte doch nützlich sein, ebenso wie das Ausschalten von lästigen Nahrungskonkurrenten, die ein Viertel der Ernte auffrassen? Allein mit guten Absichten jedoch, so erklärt Dörner, ist hier nichts zu gewinnen, solange man nicht die langfristigen und sekundären Folgen berücksichtigt. Man muss ein System beeinflussen und braucht dazu vorab eine Situationsanalyse, in der Fern- und Nebenwirkungen kalkuliert werden. Was passiert, wenn man die Geburtenrate erhöht, ohne Geburtenregulierung einzuführen? Was passiert, wenn man Brunnen baut, ohne daran zu denken, dass der Wasservorrat in der Tiefe begrenzt ist? Anders als im Schach handelt es sich im Lohhausen-Paradigma um ein offenes Handlungsfeld. Die Regeln, nach denen sich die Ereignisse entwickeln, sind nicht festgelegt wie im Schach, sondern müssen beim Handeln erschlossen werden. Umgang mit ungefährem, unscharfem Wissen war hier die größere Herausforderung als die präzisen Kalkulationen entlang festgelegter Regeln wie im Schach.
Es ist auch Aufgabe des Studiums, Sie auf den Umgang mit Komplexität, Unsicherheit und multiplen Zielsetzungen vorzubereiten. Jede Management-Aufgabe stellt solche Anforderungen, jedes Projekt und jede komplexe wissenschaftliche Arbeit verlangt einen reflektierten Umgang mit Unsicherheit und ein bewusstes Selbstmanagement. Auch dort, wo von der Sache selbst keine großen Denkanforderungen gestellt sind, geht von komplexen Aufgaben immer ein hoher Druck aus, nicht nur die verschiedenen Wechselwirkungen zu kalkulieren, sondern auch eine passende Einstellung zum Umgang mit Unsicherheit und beunruhigenden Emotionen zu finden. »Es gibt kein Denken ohne Gefühle« sagt Dörner (2003, S. 14) dazu. »Man ärgert sich zum Beispiel, wenn man mit einem Problem nicht fertig wird. Ärger wiederum beeinflusst das Denken. – Denken ist eingebettet in den Kontext der Gefühle, und Affekt beeinflusst diesen Kontext und wird selbst wieder von ihm beeinflusst.«
Nehmen wir das Schreiben von Seminar- und Hausarbeiten als eine dritte Variante von Denkaufgaben hinzu, die für das Studium besonders relevant und nicht weniger anspruchsvoll sind als die vorhergehenden. Das führt uns zu einer Art des Denkens, das eher sinnbildend als problemlösend und eher diskursiv als individuell ist.
Eine Seminararbeit verlangt, sich selbständig in ein Thema einzuarbeiten, einen einzelnen Aspekt herauszugreifen und mittels einer Fragestellung zu fokussieren. Dann müssen die Schreibenden einen Weg entwickeln, wie sie zur Beantwortung der Fragestellung gelangen können. Dafür müssen sie sich belesen und in das vorhandene Wissen einarbeiten. Sie müssen, zweitens, sich mit den Konventionen wissenschaftlicher Darstellungen vertraut machen und, drittens, sich mit ihren eigenen Ansprüchen bzw. Zielsetzungen auseinandersetzen, d. h. realistisch und fokussiert sein. Ähnlich wie die Lohhausen-Aufgabe verlangt diese Aufgabe das Jonglieren mit verschiedenen Anforderungen und Problemen, von denen keines allein gelöst werden kann. Alle drei Aufgaben bei der Themenwahl –sich Wissen darüber aneignen, Konventionen verstehen und eigene Ziele setzen – sind den Studierenden am Anfang nicht wirklich vertraut; sie müssen sie also während des Schreibens erst herausfinden und haben dabei nicht weniger Unsicherheit auszuhalten als die Lohhausener Bürgermeisterinnen.
Es gibt aber einige deutliche Unterschiede zwischen der Hausarbeit und den beiden vorher geschilderten Denksituationen. Der erste betrifft die kreative Natur des Schreibens, das immer eine Gestaltungsaufgabe ist, in der gedankliche, sprachliche, strukturelle, konventionelle und ästhetische Gesichtspunkte in einem Schritt-für-Schritt Prozess umgesetzt werden müssen. Jede Seminararbeit ist ein denkerisches Unikat, das zwar auf Vorgaben reagiert, jedoch von selbst gesetzten Zielen und selbst generierten Gedanken geprägt ist. In dieser Hinsicht ähnelt die Seminararbeit kreativen Aufgaben des Programmierens, Designens oder der Architektur.
Die zweite Anforderung, die anders ist: Jede Seminararbeit – wie überhaupt jede wissenschaftliche Arbeit – ist eine Mitteilung an jemand, ein Akt der Kommunikation. Schreiben ist also nicht einfach Problemlösen (wie die Aufgabe von Lohhausen) oder ein Bemühen um Denktiefe (wie das Schach), sondern ein Denken, das in einen Prozess des Kommunizierens eingebettet ist. Es geht also mit einer Kommunikationsabsicht oder einer Botschaft an andere einher. Was das Schreiben besonders anspruchsvoll macht, ist diese persönliche Positionierung und die Rückwirkung dessen, was man vertritt, auf die eigene Identität als Autorin oder Autor.
Dazu kommt als Drittes die Offenheit des Denkens in Bezug auf die Themen, die im Schreiben angesprochen werden. Wissenschaftliches Schreiben dient der Auseinandersetzung mit fachlichen Themen, für deren Erarbeitung das Schreiben nur der formale Rahmen ist. Wenn ich über die Ziele der Kriegspartien im Dreißigjährigen Krieg schreibe, dann ist das Schreiben nicht nur ein Mittel, um die Ergebnisse der vorangegangenen Denk- und Forschungsarbeit aufzufangen und aufzubereiten, sondern auch ein Weg, das eigene Denken zu organisieren.
Das Schreiben ist also auch ein Mittel, um gezielt nachdenken zu können. Schreibende denken vor allem über das nach, worüber sie schreiben. Allerdings zwingt der niedergeschriebene Text sie zu einer sehr viel größeren Genauigkeit, Vollständigkeit und Explizitheit, als wenn sie über das Thema nur im Kopf nachdenken. Schreibende müssen darüber nachzudenken, ob das, was als Text auf dem Papier entsteht, dem entspricht, was sie sagen wollen. Und weiter: ob es in der gewählten Form zu Recht so gesagt werden kann. Wir werden das Denken beim Schreiben noch mehrfach berühren, da es im Studium das mit Abstand wichtigste Mittel ist, um Denken zu lernen.
Wie das Schach hat auch das Schreiben Tiefendimensionen, die sich sowohl auf das fachliche Verständnis der Inhalte beziehen, als auch auf die sprachlichen Mittel, die zum Ausdruck der Gedanken nötig sind. Das Schreiben ist ein Weg, Gedanken zu produzieren, zu präzisieren, zu strukturieren und adressatengerecht zu präsentieren. Die denkerischen Aufgaben dabei: Stimmt das, was ich sage? Stimmt das, was ich geschrieben habe mit dem überein, was ich denke? Habe ich die richtigen Begriffe verwendet? Kann ich das belegen? Ist das eine logische Schlussfolgerung? Solche Fragen bringen die Schreibenden in eine sehr viel tiefere Interaktion mit dem Thema als beim einfachen Nachdenken im Kopf der Fall wäre. Viele inhaltliche Aspekte eines Themas werden erst sichtbar, wenn man darüber schreibt.
Das Schreiben bringt uns damit in ein Feld literaler Kompetenzen, die ihr eigenes Gepräge haben und die stark mit dem zusammenhängen, was wir »Bildung« nennen: Die Fähigkeit, von dem zu lernen, was andere erforscht, gedacht, publiziert und diskutiert haben, und die Fähigkeit, selbst einen Beitrag dazu zu leisten. Wir müssen annehmen, dass es auch spezielle denkerische Fähigkeiten sind, die die Teilhabe an solchen schriftlichen Konversationen möglich und profitabel machen. Auch um diese Fähigkeiten zu erwerben, ist – wie beim Schach – Training nötig, das vor allem in der Kombination von fachlichem Lesen, Verstehen, Zusammenfassen und Schreiben besteht (siehe z. B. Kruse, 2007, 2015 dazu).
Weder das Schreiben noch das Schachspiel oder die Lösung komplexer Aufgaben in Lohhausen sind als Fähigkeiten im Gehirn vorgebahnt, und es ist viel Zeit und Energie nötig, um sie jeweils als Kompetenzfelder aufzubauen. Alles Denken hat Voraussetzungen, und diese Voraussetzungen haben wir durch früheres Denken geschaffen, ebenso wie das, was wir im Augenblick denken, die Voraussetzung für späteres Denken bildet. Vor dem Studium haben Sie zwölf bis dreizehn Jahre die Schule besucht, zusätzliche vielleicht auch eine praktische Ausbildung absolviert oder einen Auslandsaufenthalt eingeschoben, und die Ergebnisse ihrer dortigen Denkleistungen müssen Ihr jetziges Denken im Studium tragen. Vieles von dem, was Sie im Studium lernen, ist nur deshalb relevant, weil es Raum für spätere berufliche Denk- oder Arbeitsleistungen schafft.
Die Kinder im Schachbeispiel haben in ihrem Gehirn eine funktionelle Infrastruktur hergestellt, die für das Berechnen von Figurenzügen und Stellungsbildern geeignet ist. Gedankliche Leistungen sind dabei automatisiert und routinisiert worden, so dass die bewussten Denkleistungen für neue, höhere Aspekte zur Verfügung stehen. Schreibende entwickeln Fertigkeiten, die sie für die Herstellung weiterer Texte bereitstellen können. Die Bürgermeisterinnen von Lohhausen würden – könnten sie ihre Stadt länger betreuen – Routinen im Berechnen von Wechselwirkungen und komplexen Fernwirkungen entwickeln und würden mit ruhiger Hand ihre Entscheidungen treffen lernen.
Gemeinsam ist allen drei Situationen, dass ein beträchtlicher Trainingsaufwand notwendig ist, um die jeweiligen Denkräume anzulegen, und oft sind es Hunderte von Stunden, die dafür benötigt werden. Sogar Tausende von Stunden sind es, wenn man es im Schach nicht nur dazu bringen will, dass man die Regeln kompetent anwendet, sondern wenn man in Schachtournieren mithalten will. Noch einmal mehr Zeit ist anzusetzen, wenn man es zu Meisterschaft bringen will. Unter Schachspielern wird geschätzt, dass der Aufwand dafür, es zu Bundesligaqualität zu bringen, etwa dem Äquivalent von zwei Bachelor-Studiengängen entspricht. Gladwell (2008) verweist in seinem lesenswerten Buch »Outliers. The Story of Success« auf Forschung, die belegt, dass um die zehntausend Stunden Training nötig sind, um Leistungen auf Spitzenniveau zu bringen, egal in welchem Bereich. Er führt das Beispiel von Microsoft-Gründer Bill Gates an, der sich schon als Jugendlicher jahrelang im Programmieren übte, ehe er sein bahnbrechendes Betriebssystem für den ersten Personal Computer entwickelte. Spitzenleistungen entstehen nie aus dem Stand heraus und sind nie ohne umfangreiche Übung zu erreichen.
Für Ihr Studium müssen Sie entscheiden, an welchen Stellen Sie wie viel Energie investieren, um Denkroutinen für komplexe Prozesse aufzubauen und an welchen Stellen nicht. Im Studium geht es nicht primär um Ihre allgemeine Intelligenz- oder Wissensentwicklung, sondern vor allem um Spezialisierung und Expertise, wie zum Beispiel:
Jede wissenschaftliche Disziplin selbst ist bereits eine Wissensspezialisierung, und in jeder Disziplin gibt es wiederum Unterdisziplinen, Forschungsfelder, Wissensgebiete und methodische Kompetenzen für weitere Spezialisierungen. Glücklicherweise gibt es heute auch computergestützte Trainingsprogramme (wie beim Schach), die man zum Training einsetzen kann. Letztlich aber müssen Sie, wie alle Schachspielerinnen und Schachspieler auch, das Training selbst in die Hand nehmen, sonst kommen Sie nicht auf die benötigte Stundenzahl.
Um zu verstehen, wie wir das Denken beeinflussen können, müssen wir es genauer wahrnehmen und von anderen mentalen Prozessen abgrenzen. Denn nicht alles, was im Kopf passiert, ist »Denken«. Es gibt verschiedene Prozesse, die parallel zum Denken ablaufen. Sie erfüllen andere Funktionen, auch wenn sie alle in irgendeiner Weise mit dem Denken verschränkt sind.
Unser Kopf ist nicht wie das Radio beschaffen, in dem immer nur eine Stimme zu hören ist, sondern es reden oft mehrere Stimmen durcheinander, und wir müssen lernen, einige von ihnen auszublenden, wenn wir uns konzentrieren. Neben dem fokussierten Denken sind auch Bilder und Filme zu sehen, also andere Modalitäten der mentalen Repräsentation als die stark verbal geprägten Stimmen des bewussten Denkens oder die mit ihnen verbundenen kognitiven Denkroutinen. Manche unserer Denkabläufe wirken wie Endlosschlaufen, die immer wieder von vorne durchlaufen werden. Und manche Denkprozesse können wir gar nicht wahrnehmen, weil sie automatisch vor sich gehen und vor langer Zeit zu kognitiven Automatismen geronnen sind. Was wir dabei unterscheiden müssen:
Wahrnehmung. Der sensorische Input durch die Sinneskanäle stellt die wichtigste Schnittstelle des Denkens zur Umwelt dar. Wir nehmen Information über das Hören, Sehen, Riechen, Schmecken sowie Haut- und Muskelsensoren auf. Diese sensorischen Informationen werden auf mehreren Stufen verarbeitet und zu mental registrierbaren Eindrücken verdichtet. Wahrnehmungen sind (schon auf den unteren Verarbeitungsstufen) eng mit emotionalen Reaktionen verbunden und müssen (auf den höheren Verarbeitungsstufen) subjektiv interpretiert werden, damit sie Bedeutung erlangen.
Gedächtnis. Es ist ein geräuschloses mentales System, das uns automatisch mit Erinnerungen versorgt. Nur wenn wir bewusst versuchen, uns an etwas zu erinnern und es uns nicht einfällt, merken wir, dass das Gedächtnis überhaupt da ist. Limitiert ist das Kurzzeitgedächtnis, das nur wenige Elemente auf einmal speichern kann, so dass wir gut beraten sind, wenn wir es dadurch entlasten, dass wir einen Teil der Dinge, über die wir nachdenken, in einem Medium deponieren (auf dem Papier oder dem Schachbrett). Dadurch können wir unser Kurzzeitgedächtnis überlisten und das Denken über sehr viel mehr Elemente ausdehnen. Davon wird noch zu sprechen sein. Das Langzeitgedächtnis hingegen hat eine fast unlimitierte Speicherkapazität, allerdings gibt es einen Flaschenhals beim Einspeichern, durch den nur relativ wenige Elemente in einem gegebenen Zeitraum hindurchpassen (was sich beim Lernen sehr schmerzlich bemerkbar macht). Das Durchdenken von Wissen hilft dabei, den Flaschenhals schneller zu passieren, da zusammengehörige Elemente sich gegenseitig stützen. Natürlich ist das Gedächtnis ein wichtiger Interaktionspartner für das Denken, denn ohne gespeicherte Inhalte kann Denken nicht stattfinden. Wir können auch sagen, dass das Denken eine Art Gebrauchsanweisung einschließlich von Regeln und Vorschriften für die Gedächtnisinhalte ist. Auch die Ergebnisse des früher Gedachten (Denkroutinen, Denkergebnisse) sind ja im Gedächtnis abgelegt und müssen aktiviert werden können, wenn wir sie wieder brauchen.
Vorstellung. Der menschliche Verstand kann gedankliche Konstruktionen von Sachverhalten oder Ereignissen herstellen, die eine rein mentale Betrachtung, losgelöst vom realen Objekt erlauben. Wer etwas verstehen will, muss es sich also »vorstellen« können. Vorstellungen beziehen sich nicht nur auf visuelle Eindrücke, sondern können ebenso akustische, haptische oder geschmackliche Empfindungen umfassen. Köche können sich den Geschmack eines Gerichts vorstellen, genau wie etwa Komponistinnen den Klang eines Musikstücks rein mental hören können. Mentale Repräsentationen von Ereignissen in komplexen Handlungs- und Denkräumen herstellen zu können, kennzeichnet Expertenwissen. Das Vorstellungsvermögen ist umso wichtiger, je abstrakter ein Sachverhalt ist, da dadurch Wissen anschaulich wird. Entsprechend wichtig sind Beispiele, die Zusammenhänge konkretisieren. Es ist einiges an Übung nötig, bis diese Fähigkeit sich einstellt, jedoch lässt sie sich auch gezielt trainieren. Für das Denken hat die Vorstellung die Bedeutung, dass sie Gehörtes oder Gelesenes nachvollziehbar macht.
Imagination. Imagination bezeichnet etwas Ähnliches wie das Vorstellungsvermögen, berührt aber zwei zusätzliche Aspekte. Zum einen pointiert die Imagination die Vorstellung von etwas Neuem, nicht einfach von etwas Gegebenem. Zum andern weist sie darauf hin, dass im Bewusstsein erzeugte Bilder auch in Bewegung geraten können, so dass sie wie ein innerer Film ablaufen. Der Traum ist beispielhaft für diese Fähigkeit, und er kann so lebendig sein, wie reale Erlebnisse. Wenn wir einen Roman lesen, sehen wir die Handlung und die Figuren wie vor einem inneren Auge in einer Art von fiktionalem Traum, der nicht nur Bilder, Geräusche, Gerüche und Bewegungsempfindungen, sondern auch intensive Gefühle mit sich bringt. Auch der Tagtraum kann ähnlich intensive Formen annehmen, kann aber subjektiv besser kontrolliert und für verschiedene Formen der Antizipation verwendet werden (wie z. B. mentales Training). Wer glaubt, Imagination sei nur für das Lesen oder Schreiben von Romanen wichtig, täuscht sich. Für Einstein war die Imagination eine zentrale Quelle der Erkenntnis:
»Imagination is more important than knowledge. For knowledge is limited to all we now know and understand, while imagination embraces the entire world, and all there ever will be to know and understand.«
Körperliche Empfindungen. Unser Denken ist immer an den Körper gebunden, der den Kopf samt Gehirn trägt und Letzteres mit Sauerstoff und Energie versorgt. Viele psychische Funktionen sind auf die Befriedigung körperlicher Bedürfnisse ausgerichtet, und diese Bedürfnisse wirken auf das Denken zurück. Wir denken anders, wenn wir hungrig, durstig oder müde sind. Auch das Gleichgewichtsorgan, sexuelle Empfindungen, die Temperaturwahrnehmung und der Sauerstoffdrang sind triebhafte oder triebähnliche körperliche Signale, die mit dem Denken interferieren können. Niemals, so sagen die Computerwissenschaften, wird ein Computer wie ein Mensch denken können, da ihm diese körperlichen Empfindungen fehlen. Für kritische Denkerinnen und Denker gilt es, die Körperlichkeit soweit wie möglich aus dem Denken herauszuhalten, um die Ergebnisse des Denkens nicht durch Hunger oder Müdigkeit zu verfälschen, jedoch werden Menschen nie so neutral wie ein Computer denken können.
Gefühle und Emotionen. Sie begleiten das mentale Geschehen ständig und untermalen das differenzierte und fokussierte Denken mit ihren angenehmen oder unangenehmen Gefühlstönen oder auch mit expressivem Verhalten. Gefühle variieren in Bezug auf Intensität und können in schwacher, kaum wahrnehmbarer oder in starker, alles Denken dominierender Form auftreten. Im Gegensatz zu kognitiven Prozessen, die per se zwar differenziert, aber nicht handlungsrelevant sind, sind Emotionen eher undifferenziert (Angst oder Ärger sind immer die gleichen Impulse), dafür aber aktivierend und motivierend. Das Denken muss entsprechend durch Emotionen aktiviert werden, erfordert aber auch, die beim Denken ständig involvierten Gefühle wahrzunehmen und sicher zu stellen, dass sie nicht unbewusst das Denken beeinflussen. Die meisten Vorstellungen und imaginativen Prozesse sind eng mit Gefühlen verknüpft, teils weil Vorstellungen bestimmte Gefühle auslösen (wenn ich mir eine gefährliche Situation vor Augen führe, spüre ich tatsächlich Angst), teils weil vorhandene Gefühle bestimmte Vorstellungen auslösen (wenn ich Angst habe, stellen sich bestimmte Bilder ein).
Motorik und Bewegungssteuerung. Ein großer Teil unseres Gehirns dient der Steuerung der Motorik und damit auch der Handlungssteuerung. Motorik wird üblicherweise im Gegensatz zu den Denkfunktionen gesehen, obwohl es derselbe Kopf ist, der die Motorik steuert, und nicht etwa die Glieder, die die Bewegungen ausführen. Es gibt aber eine spezielle Bewegungsintelligenz und aus der Steuerung der Bewegung (vor allem der Hände) lernen wir viel über die Beschaffenheit von Gegenständen, ebenso wie wir aus den Bewegungen des Körpers viel über die räumliche Anordnung der Welt lernen und die Kräfte, die in ihr wirken. Die Hände sind das primäre Instrument, um Objekte zu manipulieren, prüfen, untersuchen und damit, ihre Eigenschaften zu erkennen. Manchmal brauchen wir also auch die Hände zum Denken.
Damit ist die Revue der mental relevanten Größen erst einmal beendet. Jede von ihnen ist mit wahrnehmbaren Signalen mental präsent und ihr Gesamt nennen wir auch »Bewusstsein«. »Denken« heißt auch, die Vielfalt an Informationen und Signalen, die im Bewusstsein auftauchen, zu steuern und selektiv bestimmte Informationen auszuwählen, zu bewerten und auf eine Aufgabe hin auszurichten.
Voraussetzung für gezieltes Denken ist mithin, dass es neben den eher eigengesetzlich ablaufenden mentalen Prozessen (Wahrnehmung, Imagination, Traum) einen steuernden, unserem Willen gehorchenden Prozess gibt. Wir können ihn als eine bestimmte Form von fokussierter Aufmerksamkeit verstehen (oft tatsächlich von dem dominiert, worauf wir den Blick richten), in die hinein wir mit einer inneren Stimme versuchen, einen koordinierten Ablauf von Gedanken zu organisieren (»Also, vielleicht sollte ich mir jetzt mal einen Plan machen. Als erstes muss ich mal die Instruktion durchlesen …«). Kinder üben diese Form der sprachlichen (Selbst-)Instruktion im Rollenspiel, wenn sie sich gegenseitig sagen, was zu tun ist. Sie übernehmen dies auch als Selbstinstruktion im Phantasiespiel, wenn Sie z. B. mit einem Karton »Auto« spielen und sich dabei selbst vorsagen, was Ihr Auto gerade macht oder was Sie mit dem Auto gerade machen. Die Steuerung des Denkens durch inneres Sprechen, wie von Wygotski (1964) am besten beschrieben, ist keine naturgegebene Sache, sondern wird in der Entwicklung in tausenden von Spielstunden eingeübt und langsam perfektioniert. Ist es am Anfang noch mehr ein egozentrischer Prozess, wird es immer mehr zu einem Bestandteil eines reflektierten, gezielten und selbstgesteuerten Denkens.
Denken können wir, wie gesagt, als die bewusste und willentliche Steuerung mentaler Prozesse und ihre Ausrichtung auf relevante Objekte, ansehen. Im Lauf der individuellen Entwicklung bilden sich nicht nur verschiedene Werkzeuge des Denkens, sondern auch verschiedene »Gangarten« heraus, die jeweils eine unterschiedliche Funktion für das Leben einnehmen. Im Folgenden sind die wichtigsten Arten des Denkens in einem kurzen Überblick aufgeführt:
Problemlösendes Denken. Darunter verstehen wir ein Denken, das auf eine Aufgabe ausgerichtet ist und dessen Zweck die Lösung eines oder mehrere Probleme ist. Es ist ein Denken, das in der Regel einem Handlungszweck unterworfen ist und das wir im Alltagshandeln wie in den Wissenschaften ständig brauchen. Ein Problem entsteht dann, wenn einer gewünschten Veränderung ein Hindernis entgegensteht, das nicht durch Routinehandlungen oder -operationen beseitigt werden kann. Die meisten Probleme können wir mit erprobten Mitteln lösen. Gelingt das nicht, sind heuristische Strategien erforderlich, die helfen, neue Gesichtspunkte, Handlungsoptionen oder Denkweisen zu entwickeln, die dann zu einer Lösung führen. Für die Lösung vieler Probleme nehmen wir heute elektronische Hilfen in Anspruch, wenn wir z. B. etwas nicht wissen, etwas berechnen, ordnen oder erkunden müssen.
Reflektierendes Denken. Im Gegensatz zum problemlösenden Denken ist das Reflektieren eine Art vertieftes, genaues Denken, das um des Denkens Willen betrieben wird und nicht unbedingt zu einer Lösung gelangen will. Es dient der Erweiterung wie auch der Kontrolle des eigenen Denkens und ist mehr auf Verstehen ausgerichtet als auf Veränderung (wie beim Problemlösen). Reflexion ist in der Regel auch ein selbstbezügliches, das eigene Denken spiegelndes Denken. Es gibt allerdings auch eine weiter gefasste Begriffsverwendung, die »Reflexion« mit »Denken« gleichsetzt. Hier wird reflektierendes Denken als eine bestimmte Qualität des lösungsentlasteten Denkens verstanden.
Nachvollziehendes Denken. Wie denken wir eigentlich, wenn wir lesen? Seltsamerweise wissen wir nach wie vor wenig darüber. Zwar gibt es viele kognitive Studien zur Lesekompetenz, in denen solche Aspekte wie die kognitive Verarbeitung von Silben, Wörtern und Sätzen, die Verwendung von Vorwissen und die Kohärenzbildung behandelt werden (z. B. Richter & Christmann 2006), die aber kaum die individuelle Steuerung des Lesens und dessen Interaktion mit dem Denken berühren. Kern des lesenden Denkens ist das Nachvollziehen von dem, was andere gedacht haben, mithin die Wiederbelebung von in einem Medium konservierten Gedanken. Dies können wir nur durch die genannte automatisierte kognitive Aktivität leisten, in der wir aus den Begriffen, Ausdrücken und Sinneinheiten wieder eigene Vorstellungen entwickeln. Paradigmatisch dafür ist der Roman, den wir in eine Art inneren, fiktionalen Traum übersetzen und dessen Handlung wir somit gewissermaßen in der Vorstellung »sehen« können. Auch Sachtexte müssen wir in Vorstellung transformieren, damit wir etwas mit ihnen anfangen können. Allerdings sind sowohl das Nachvollziehen als auch die Transformation in Vorstellung nur notwendige Bedingungen für das Leseverständnis. Hinzukommen müssen analytische gedankliche Leistungen sowie bewusste Lesestrategien, mit denen wir aktiv mit dem Gelesenen umgehen und seine Wirkungen auf Verstand und Gemüt beeinflussen (z. B. Pette & Charlton 2006).
Kreatives und spielerisches Denken. Ein wichtiger Modus unseres Denkens ist der spielerische Umgang mit Personen, Objekten, Gedanken und Ereignissen. Auch wenn Kreativität nicht immer spielerisch ist, so teilen sich beide Domänen doch die Qualität des Nicht-Funktionalen, die sich in Humor, Spass, »Als ob« -Aktivitäten, Persiflage, Ironie etc. ausdrücken können. Gemeinsam ist diesen Aktivitäten die temporäre Auflösung des Rationalitätsdrucks, dem wissenschaftliches Denken sonst unterliegt.
Tagtraum und Mind Wandering. Damit ist eine Art des Denkens angesprochen, das die Kontrolle teilweise ganz an die Eigenaktivität der Psyche abgibt und die gedanklichen Abläufe treiben lässt. Der leider unübersetzbare englische Begriff »mind wandering« illustriert diesen Vorgang sehr schön und ist so zu verstehen, dass der Verstand sich selbständig auf Wanderschaft begibt, ohne aktive Steuerung durch das Denken. Solche Tagträume mögen nicht unbedingt als gezieltes Denken durchgehen, haben aber ein hohes Potenzial in der Handlungsvorbereitung, der Verarbeitung emotionaler Erfahrungen und der Kreativität. In dieser Art von schwach fokussiertem Denken ergeben sich Lösungen gerade nicht durch scharfes Nachdenken, sondern eher durch entspannte Unaufmerksamkeit (Gelernter 2016).
Eine weitere Differenzierung von Arten des Denkens kann für uns hilfreich sein. Das Denken lässt sich in zwei Prozesse unterteilen, die jeweils von unterschiedlicher Beschaffenheit und Geschwindigkeit sind, wie Kahneman (2011) in seinem Buch »Thinking, Fast and Slow« aufzeigt. Er ordnet die Prozesse zwei Systemen zu (die er der Einfachheit halber System1 und System 2 nennt). System 1 (schnell), so erklärt er, agiert aufwandlos und schnell. Es umfasst die automatisierten, kognitiven Funktionen sowie die routinisierten Wahrnehmungs- und Denkleistungen, aber auch die emotionalen Reaktionen und Wahrnehmungen. Viele dieser Funktionen lassen sich nicht unterdrücken wie z. B. die Gesichtserkennung, ästhetischen Wertungen, Gedächtnisleistungen, die Wortfindung sowie die emotionalen Reaktionen. Wir können diese automatische Seite nicht abschalten und haben gelernt, uns auf sie zu verlassen, wenn wir z. B. ein Auto über eine wenig befahrene Strasse steuern und auf den »mentalen Autopilot« umstellen.