Das Buch
Lu wird so lange die Luft anhalten, bis Mama es sich anders überlegt und nicht wegen ihres neuen Freundes mit ihr zu Oma Käthe zieht. Eine neue Schule, ohne ihre Freunde? Das ist Bullshit! Doch leider hilft alles nix, Lu muss wohl oder übel ihre Kakteensammlung einpacken. Aber an den neuen Freund ihrer Mutter will sie sich niemals gewöhnen und beschließt, ihre Stacheln auszufahren. Doch Lus Vorhaben gestaltet sich schwieriger als gedacht, da Jo dummerweise wirklich nett ist. Und dann ist da auch noch Julian, ein Junge aus ihrer neuen Klasse, und mit dem ist alles noch viel komplizierter … Die alles entscheidende Frage lautet also: Welche Eigenschaften von Kakteen können sich im wahren Leben als wirklich nützlich erweisen?
Die Autorin
© privat
Mina Teichert wurde in dem schneereichen Jahr 1978 in Bremen geboren und lebt mit ihrer kleinen Familie im ländlichen Idyll Niedersachsens. Nachdem sie zunächst als Kind hartnäckig das Ziel verfolgte, Kunstreiterin im Zirkus und Wahrsagerin zu werden, sattelte sie mit vierzehn um und träumte von dort an von der Schriftstellerei. Heute schreibt sie mit Begeisterung Geschichten für Jung und Alt.
Mehr über Mina Teichert: www.minateichert.jimdo.com
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Der Verlag
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Viel Spaß beim Lesen!
Für meine Tochter Lu
Mama verhält sich komisch. Sie pfeift die ganze Zeit vergnügt vor sich hin, und das auch noch ziemlich schief. Es geht mir ganz schön auf die Ohren, also schließe ich mit einem Knall meine Zimmertür. Soll sie ihre gute Laune doch woanders versprühen.
Eine Weile stehe ich vor meinem Spiegel und betrachte mich. Die blonden Locken stehen mir widerspenstig vom Kopf ab und meine blauen Augen schauen fragend zurück.
Meine Laune ist ganz und gar nicht gut, seitdem ich weiß, was hier los ist: Mama hat sich in Jo verknallt und hat meinem Papa erklärt, dass sie nun endgültig mit mir ausziehen wird! Saublöd. Okay, es ist nicht immer gemütlich mit Mama und Papa im selben Haus, weil sie sich meistens anschweigen oder anmotzen. Trotzdem bin ich nicht bereit, hier wegzugehen.
Ich lasse mich auf mein Bett fallen und ziehe mir die Decke bis zum Hals.
Eigentlich dachte ich, dass sich nur junge Leute verlieben. So wie Pia, unsere Nachbarin. Die ist siebzehn und verliebt sich jede Woche in jemand anderen. Beängstigend, wenn man mich fragt. Mama sagt, mit der Liebe ist das so eine Sache. Sie kommt und geht. Und man kann nichts dagegen machen. Nur mit den eigenen Kindern ist das anders, die liebt man ewig und drei Tage.
Im Flur höre ich jetzt Türen auf- und zuschlagen und das Rumpeln von Kartons. Bestimmt hat Mama sie wieder komisch gestapelt und sie sind umgefallen. Denn mit dem Stapeln von Gegenständen und mit Geometrie hat Mama es nicht so. Papa flucht. Ich verdrehe die Augen.
Also würde es jetzt wohl ernst werden? Das heißt dann fürs Erste: Ade, Paps. Ade, Streitereien und Kummer am Morgen. Ade, Riesenplasmafernseher, der gehört nämlich Papa. Ade, Swimmingpool im Sommer, denn der wird auch nicht mitkommen, und ade, supergeile Wii.
Stattdessen darf ich jetzt mit Mama in die kleine Einliegerwohnung von Oma Käthe ziehen. Mein Blick fällt auf meine Kakteen, die immer noch auf meiner Fensterbank stehen. Sie warten darauf, von mir in den Umzugskarton gestellt zu werden. Ich liebe sie und eigentlich sollte ich mich schleunigst darum kümmern, damit sie nicht zu Schaden kommen. Doch dann denke ich an Oma Käthe. Das Grauen! Wenn ich mit der in einem Haus wohnen muss, wäre ich auch gerne ein Kaktus. Denn ich bin mir nicht sicher, wie ich mir Oma sonst vom Hals halten soll. Ich kann mich noch gut an das letzte Mal erinnern, als mich Mama dort geparkt hatte. Drei Tage lang habe ich bei ihr übernachtet – der blanke Horror!
Plötzlich wird meine Zimmertür aufgerissen und Mama stürmt herein. Im Nullkommanix öffnet sie mein Fenster, ich kann gar nicht so schnell protestieren. Erwin, mein größter Kaktus, steht direkt davor.
»Vorsicht!«, stoße ich aus.
»Autsch«, murrt Mama und zuckt zurück.
Erwin wackelt und ich halte die Luft an. Wenn Erwin jetzt auch noch abstürzt, platze ich.
»Du weißt doch, dass Erwin pikst«, sage ich angespannt, während Mama auf ihre Hand pustet.
»Vergessen«, meint sie und kommt zu mir herüber. »Steh auf, Süße, komm schon«, fordert sie und schaut sich prüfend im Zimmer um.
Ich denke gar nicht daran, mich zu rühren, und ziehe meine Decke bis zur Nase.
»Schätzchen, in deinem neuen Zimmer solltest du aber öfter lüften«, erklärt mir Mama mit einem Naserümpfen.
»Was soll das denn jetzt heißen?«, knurre ich und linse vorsichtig über den Rand der Bettdecke.
»Soll heißen: Hier stinkt’s wie im Pumakäfig«, antwortet Mama ungerührt.
Nett. Mir kommt der letzte Zoobesuch wieder in den Sinn. Wir standen lange vor den Gehegen der Raubkatzen und meine kleine Cousine Ella hat mir vor die Füße gekotzt. Ob von dem Gestank der riesigen Katzen oder der Karussellfahrt mit Schmalzkuchen und Eis im Bauch, wer wusste das schon?
»Danke auch, Mama«, sage ich knapp und sehe sie wütend an.
»Gern geschehen, Süße.« Mama zwinkert und zieht gleich noch die Vorhänge auf. Vorsichtig diesmal, um nicht wieder einem Kaktus zu nahe zu kommen. Ich blinzle.
»Lu, kannst du bitte deine Stofftiere in die blauen Säcke stopfen, und die Kissen gleich dazu?«, fragt Mama und durchquert mit schnellen Schritten mein Zimmer. Rumms! Das war mein Stapel unordentlich aufeinandergetürmter Bücher, der vom Schreibtisch gekippt ist.
»Ja, vielleicht«, antworte ich maulend und sehe sie aufmerksam von der Seite an, während sie die Bücher wieder aufhebt und in einem Karton verstaut.
»Schätzchen, du musst ein wenig mithelfen. Ich kann nicht alles alleine machen.« Jetzt hört sie sich vorwurfsvoll an.
»Ich will ja gar nicht umziehen«, erkläre ich geduldig. »Nur du.«
Mama runzelt die Stirn. »Aber Schatz. Das haben wir doch schon geklärt«, gibt sie zurück.
»Ja, ich weiß. Manchmal ist es besser, wenn zwei Menschen Abstand haben. Aber mich hat eigentlich keiner gefragt, wie viel Abstand ich zu Oma haben muss«, maule ich.
»Als Erwachsene haben wir die Verantwortung, solche Entscheidungen zu treffen. Und das ist auch nicht immer leicht. Das wirst du verstehen, wenn du groß bist, Lu.« Mama macht eine Pause und schaut mich forschend an.
»Ich hab keinen Bock auf Omas Landleben. Und schon gar nicht auf den blöden lauten Hahn und seine dämlichen Hennen, die einem das ganze Ausschlafen am Sonntag versauen.«
Mama muss grinsen. »Ich auch nicht. Aber der Gockel gehört nun mal dazu. Wir werden das Beste daraus machen.«
»Ich will aber nicht. Ich könnte dir einfach weglaufen«, schlage ich vor.
Mama hebt amüsiert eine Augenbraue. »Und wo willst du hin? Und was machst du mit deiner heiligen Kakteensammlung – nimmst du die dann einfach mit?« Eins zu null für Mama.
Missmutig schlage ich die Bettdecke zurück und stehe auf. Dabei kicke ich eine meiner Puppen durch das ganze Zimmer und höre Mamas Seufzen. Zögerlich hebe ich ein, zwei Stoffbären auf und greife mir einen der Säcke.
»Ich werde nicht umziehen, eher sterbe ich!«, versuche ich es jetzt dramatisch.
»Können die Comics weg?«, fragt sie mich, anstatt auf meine Drohung einzugehen.
»Hast du gehört? Eher sterbe ich«, versuche ich es noch mal.
Mama packt die Comics in einen Karton.
»Und schon gar nicht zu Oma Käthe«, gebe ich schnell hinterher. »Weißt du, was sie gesagt hat? Deine Aura wär’ wie ein schmutziger Tümpel voll Entendreck.« Mama sieht nur kurz auf. So, das müsste jetzt aber sitzen, oder? Oma erzählt nämlich andauernd irgendeinen Unsinn von Auren, die Menschen umgeben. So wie Farben in der Luft, die ihre Stimmungen verraten.
»Oma meinte damit nur, dass meine Aura aufgewühlt und belastet ist, vermutlich von den Streitereien hier zu Hause. Ein Zuhause sollte ein Ort der Entspannung sein und des Friedens. Und Oma ist nicht so schlimm, wie du denkst.« Jetzt schaut Mama mich ernst an. »Sie ist meine Mutter und hat mich großgezogen, hörst du?«
Ich überlege, ob mich das irgendwie trösten sollte, aber es versetzt mich eher in noch größere Unruhe. Denn meine Mama ist ganz sicher nicht normal. Oder besser gesagt: nicht wie andere Mütter. Sie ist chaotisch, vergesslich und bei jeder Gelegenheit unpünktlich.
»Mama, ich meine das ernst. Ich ziehe nicht um! Nur über meine Leiche.« Ich setze mich wieder auf das Bett.
»Und was wird aus deinen Kakteen, wenn du nicht mehr da bist?«, fragt Mama.
»Ich möchte mit ihnen bestattet werden«, presse ich hervor und verschränke die Arme vor der Brust.
»Okay, Schätzchen. Aber pack vorher noch ein paar Sachen ein, ja?«, sagt sie müde lächelnd und ich beschließe, die Luft anzuhalten. Ich werde dieses Haus ganz sicher nicht lebend verlassen! Komme, was wolle.
Die Tür schließt sich hinter mir und ich spüre, wie mein Gesicht rot anläuft. Das darf einfach nicht wahr sein! Umzugsalbtraum. Ich lausche meinem donnernden Herzschlag, der mir in den Ohren klingt. Wenn ich die Luft so lange anhalte, dass ich diesen Druck auf den Ohren bekomme, kann ich mein Herz ganz laut hören. Wie viel Zeit es wohl braucht, bis man erstickt und tot umfällt?
Die Zimmertür geht wieder auf und Papa kommt kurz herein, zwinkert mir zu und trägt ungeachtet dessen, dass ich am Sterben bin, einen Karton hinaus.
»Bernadette!«, ruft er jetzt laut in den Flur. »Unsere Tochter wird ganz rot im Gesicht. Ich glaube, sie hält mal wieder die Luft an.«
Dann ein Rumpeln und Mama streckt den Kopf herein. »Ich weiß«, sagt sie knapp, schnappt sich einen der blauen Säcke neben der Tür und beachtet mich nicht weiter.
»Mach was dagegen«, sagt Papa noch mal.
»Was soll ich denn tun? Es ist auch deine sture Tochter.«
»Tja, von wem sie das nur hat«, wundert sich Papa und lacht laut. Das Lachen hört sich unglücklich an.
Jetzt guckt Mama noch mal zu mir herein.
Hinter meinen Augen drückt es unangenehm und ich kann ihre Gestalt nicht scharf sehen.
»Schätzchen, du weißt, dass du davon Kopfschmerzen bekommst, oder?«, fragt sie.
Ich werfe einen Blick in den Spiegel mir gegenüber. Meine Ohren sind knallrot und ich balle die Hände zu Fäusten. Mein Gesicht hat die Farbe einer überreifen Tomate und wird bald in ein ungesundes Lila übergehen. Langsam beginnen meine Lungen zu brennen. Das sollen die beiden noch bereuen! Diesmal würde ich ganz sicher tot umfallen. Stumm zähle ich die Sekunden. Zweiunddreißig, dreiunddreißig … Meine Lunge möchte von ganz alleine weiteratmen und es beginnt, richtig fies wehzutun. Fünfunddreißig, sechsunddreißig … Scheiße!
Zischend ziehe ich die Luft ein, atme schnell und beobachte, wie mein Gesicht wieder eine normale Farbe annimmt. Verdammt! Wieder nicht geklappt. Gut, dann sterbe ich eben morgen.
Ich stoße mich vom Bett ab und beginne, meine Kakteen vorsichtig in den Karton zu packen. Da ich so gar nicht bei der Sache bin, pikse ich mich an der kleinen Louise. Doch irgendwie tut es gar nicht so weh wie sonst, weil mein Kopf so voll ist. Voll mit Umzugspanik.
»Lucinda Wolff! Würdest du jetzt bitte von der Kiste herunterkommen und ins Auto steigen?« Mama sieht mich genervt an, aber ich halte nur meine Trompete an den Mund und schmettere ihr den schrillsten Ton entgegen, den ich kann.
»Lucinda!«, brüllt sie jetzt und rennt wütend und beladen mit ihrem Lieblingsspiegel an mir vorbei.
Ich starre in den blauen Himmel über mir und zähle Schäfchenwolken. Dann ist es so weit und Mama brüllt erneut nach mir. »Lu, ich zähle bis drei, dann kracht es.«
Ich weiß nicht, ob ich grinsen möchte. Wenn’s bei drei kracht, ist es, als würde ein fieser Hurrikan über einen hinwegziehen. Da kann auch schon mal etwas zu Bruch gehen. Das letzte Mal war es mein MP3-Player. Den musste Mama mir dann erstatten und einen neuen besorgen.
»Mama, ich kann es nicht fassen, dass du mir immer noch damit drohst. Nach allem, was du mit dieser Masche schon angerichtet hast«, sage ich knapp und warte auf ihre Reaktion.
»Was meinst du?« Mama runzelt die Stirn.
»Na ja, wegen dir konnte ich nicht richtig zählen lernen, als ich klein war«, erinnere ich sie.
»Ach, du meinst, weil du die Drei als Zahl immer ausgelassen hast?« Sie lacht. »Du solltest dich jetzt bewegen, Schatz. Sonst gibt es gleich ’ne Drei«, sagt Mama und schleppt ihren Spiegel weiter.
»Pah«, antworte ich.
Um mich herum werden immer mehr Kisten fortgeschleppt und in den Transporter geladen. Bald ist nur noch die große auf dem Gehweg vor Paps Haus übrig, auf der ich sitze. Und ich denke nicht daran, aufzustehen.
»Lucinda«, ruft Jo, Mamas neuer Freund, und winkt mich zu sich. Er lächelt nett, aber ich denke gar nicht daran, zu reagieren. Soll er ruhig wie ein Bekloppter mit seinen Händen rumfuchteln, bis er sich albern vorkommt.
Papa steht am Fenster und verschwindet hinter den Gardinen. Noch heute wird er beruflich für eine Weile wegfliegen und dieses ganze Chaos hinter sich lassen.
Plötzlich packen die zwei bulligen Männer des Umzugsunternehmens meine Kiste von beiden Seiten und heben sie hoch. Ich kann gerade noch meine Trompete festhalten und mich ausbalancieren, damit ich nicht herunterrutsche.
»Na, Prinzessin?«, fragt der eine und grinst breit. »Willst du auf der Ladefläche mitfahren?«
Ich überlege, ob ich das machen sollte. Wär mal was anderes.
Jos alter Skoda röhrt neben dem Transporter auf, als er angelassen wird. Wieder winkt Jo aus dem Auto heraus zu mir herüber.
»Du bist ganz schön schwer, du kleine Ratte«, sagt der andere Mann vom Umzugsunternehmen und zeigt mir seine etwas zu dunklen Zähne beim Lachen. Zumindest die, die noch übrig sind. In der unteren Reihe hat er nämlich nur noch einen. Allem Anschein nach hat seine Mama ihm nicht beigebracht, wie man Zähne putzt. Ich gebe mir Mühe, nicht mein Gesicht zu verziehen und antworte: »Das bin nicht ich, das sind die Bücher in der Kiste.« Ich gerate ins Rutschen und der Mann vor mir grunzt komisch, bevor er die Kiste beinahe fallen lässt. Plötzlich packt jemand meinen Arm und zieht mich runter. Ich sehe mein geliebtes Instrument fast auf die Erde fallen.
»Mann, Mama!«, kreische ich und stolpere.
»Oh, die Prinzessin ist weg«, murrt der Mann mit den wenigen Zähnen.
»Danke, Jungs. Aber dieses Paket nehme ich jetzt an mich«, trällert Mama den beiden Männern zu und schiebt mich vor sich her.
Ich gebe den Widerstand auf. »Okay, du hast gewonnen, ja? Aber lass mich los. Du bist ja so was von peinlich!«, zische ich und merke, wie meine Ohren glühen. Das tun sie immer, wenn ich mich schäme. Egal für wen.
»Fräulein, ich erwarte jetzt von dir, dass du mithilfst und mir nicht zusätzlich das Leben schwer machst«, höre ich Mama streng sagen, während sie mir einmal durch meine Locken streicht. »Im Ernst jetzt!«
Ich drehe mich kurz zu ihr um. »Wer macht hier wem das Leben schwer?«, grummele ich zurück und lasse es zu, dass sie mir die Trompete abnimmt. »Sei vorsichtig damit«, mahne ich sie mit erhobenem Zeigefinger.
Wenig später stehe ich vor Jos Auto. Ich stemme die Beine in den Boden und halte an, weil ich nicht einsteigen will.
»Lu, wirklich, ist das nötig?« Jetzt sieht Mama für einen Moment traurig aus und es tut mir plötzlich leid. Neben der Autotür wartet die Kiste mit meinen Kakteen.
»Nein, ’tschuldigung«, sage ich kleinlaut und hebe sie auf.
»Schätzchen, wir schaffen das«, muntert mich Mama auf.
Ich nicke unwillig. Sie muss ja nicht in eine neue Schule mit neuen Leuten. Okay, mit Oma Käthe muss sie auch zusammenleben. Aber das kennt sie ja schon aus ihrer Kindheit. Sicherlich hat sie bereits einige Überlebensstrategien entwickelt. Und ich? Ich muss das schließlich erst noch lernen.
»Ja, sicher«, sage ich und versuche zu lächeln, während sie mich auf den Rücksitz des Wagens schiebt und mir mit der Kiste voll piksender Pflanzen hilft. Dann drückt sie mir einen Kuss auf die Stirn und will die Autotür schließen.
»Mama?« Sie wartet und schaut mich an. Eigentlich will ich sagen, dass ich mir vielleicht doch Mühe geben möchte, mit dem ganzen Neuanfang. Doch dann dreht sich Jo zu mir um und grinst so schief, dass es mir wehtut.
»Na, Prinzessin? Endlich den Weg ins Auto gefunden?«, fragt er. Und ich fordere stumm meine Trompete von meiner Mutter.
Noch ehe wir losfahren, verfällt Mama wieder in einen Redefluss, der einem die Sinne rauben kann. Sie erzählt, was wir gleich zu tun haben. Was wer zuerst macht und woran wir alle denken müssen, weil sie es nicht schafft, alleine an alles zu denken.
Sie ist so aufgedreht dabei, dass ich auch ganz hibbelig werde. Meine Lippen legen sich an das Mundstück meiner Trompete und ganz langsam füllen sich meine Lungen mit Luft. Ganz viel Luft. Was hat mein Musiklehrer gesagt? Keine dicken Backen dabei machen, wenn du spielst. Okay!
Blitzschnell dreht sich Mama zu mir um und ich zucke zusammen. »Denk nicht mal dran!«, faucht sie und ich lasse die angestaute Luft aus meinen Lungen entweichen.
»Ist ja gut!«, sage ich, während sie mich immer noch so ansieht, als würde sie mich gleich fressen.
Wir fahren auf die Autobahn und verlassen die Stadt.
»Am besten, wir räumen zuerst die Küche ein. Dann ist das Wichtigste geschafft«, weist Mama uns ein.
»Klar, das bekommen wir schon hin«, beruhigt Jo sie.
Mama schaut ihn mit einem seltsamen Dackelblick an und beugt sich zu ihm. Knutsch. Bäh. Ist das widerlich.
Irgendwas anderes ist auch irgendwie widerlich. Und zwar ein Geruch. Ich rümpfe die Nase und schaue mich in Jos Gefährt um.
»Mama, was stinkt hier so?«, frage ich und sie sieht über die Schulter zu mir.
»Lu«, sagt sie tadelnd.
»Was?! Riech doch mal.« Ich schnuppere und sehe mich weiter in dem schön schmutzigen Wagen um. Überall auf dem Boden liegen Halme von Stroh und Heu. Von den Abdrücken dreckiger Stiefel ganz zu schweigen.
»Boah, wenn ich so was in meinem Zimmer machen würde!«, sage ich tadelnd zu Mama.
Jo wirft mir lächelnd einen Blick zu. »Das ist mein Arbeitsfahrzeug. Ich fahre auch in Stallklamotten damit herum, ich kann mich ja nicht jedes Mal umziehen«, beichtet Jo. »Was du riechst, sind vermutlich Stallgerüche.«
Ich hatte fast vergessen, was Jo von Beruf ist. Bauer! Er mag es zwar lieber, wenn man ihn als Landwirt betitelt, aber ich werde weiter Bauer sagen. Vorsichtig schnuppere ich noch einmal. So soll also mein neues Leben riechen? Ein Kaktus müsste man sein, die riechen nichts.
Ella, meine Cousine, hatte einmal einen Hamster. Der Gute war ihr abgehauen und nach etwa einer Woche haben wir ihn tot in einer Spielzeugkiste wiedergefunden. Er roch so ähnlich, wie es in diesem Auto riecht. Süßlich, muffig und sehr ekelig. Allerdings sah der Hamster noch ekeliger aus, als er roch. Schnell schlage ich mir meine Hand auf den Mund und versuche, die Bilder wieder aus meinem Kopf zu bekommen.
»Du magst doch sicher Tiere, oder, Lu?«, fragt der Bauer.
»Nein«, sage ich knapp. »Ich mag Kakteen. Die stinken nicht.«
Mama dreht sich wieder zu mir um. »Das stimmt doch gar nicht, Lu. Du willst ein Haustier haben, seitdem du auf der Welt bist.«
Ich seufze laut, weil sie mich verraten hat. Und weil ich keins haben darf. Mama reagiert nämlich auf alles allergisch, was Haare hat. Also warum nicht auf den Bauer, der ständig Tierhaare an den Klamotten hat?
»Weißt du, ich habe dir ja schon erzählt, dass wir auf dem Hof ganz viele haben. Nicht nur Kühe«, erzählt Jo weiter.
»Mmh.«
»Wir haben auch Katzen, die immer mal wieder einen Wurf Junge bekommen.«
Oh, Babykatzen? Mein Herz macht einen Satz. Ich liebe Babykatzen.
»Mmh«, brumme ich.
Jetzt sieht Mama noch weniger belustigt aus. Das Auto fährt eine Kurve und der Karton mit meinen Kakteen kommt ins Rutschen. Fast greife ich mit der Hand in Erwins lange Stacheln.
»Kannst du Jo bitte mindestens in Drei-Wort-Sätzen antworten, wie eine höfliche Zweijährige?«, fragt Mama.
»Oh, Mann«, zische ich.
Jo lacht heiser auf und zieht sich seinen Hut tiefer ins Gesicht. »Ach, lass sie doch, Bernadette. Sie muss sich erst an mich gewöhnen.«
Ich sehe Mama finster an. Ja, genau, ich muss mich erst an Jo gewöhnen. Wobei das eigentlich gar nicht nötig sein wird. Denn ich habe mir vorgenommen, dass er es nicht lange bei uns aushalten wird.
»Also, Lu? Du magst doch sicher mal mit den Katzen spielen? Oder den Kälbchen ihre Milch geben?«
Ich begegne Jos munterem Blick im Rückspiegel seines Wagens. Milch geben? Den Kälbern? Aus einer Flasche? Wie geil ist das denn?
»Nein, kein Bedarf!« Da hat er seinen Drei-Wort-Satz. Ich verschränke die Arme vor der Brust. So einfach bin ich nicht zu ködern. Bauer!
Jo fährt etwas zu zackig um die nächste Kurve und Erwin erwischt mich doch noch.
»Aua!«
»Hui, das war schnell«, meint der geistreiche Jo, während ich die Kakteen unter Kontrolle bringe und einen Stachel aus meinem Finger ziehe.
»Witzig«, brumme ich. Es ärgert mich immens, dass ich an die Katzenbabys denken und trotz Erwins Attacke lächeln muss. Verdammt!
Irgendwann kommt die Einfahrt zu Oma Käthes Hof in Sichtweite. Ich kaue missmutig auf einem alten Kaugummi herum, den ich in meiner Jackentasche gefunden habe. Wir biegen ab, schleichen den holprigen Weg entlang und kommen direkt auf Omas weißes Haus zu. Die grünen Fensterläden zeichnen sich stark ab und es sieht von Weitem aus, als hätte Omas Haus Augen und einen riesigen Mund. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ich mich gerade auf direktem Weg in die Hölle befinde. Denn es ist durchaus möglich, dass sich im Keller von Oma Käthe ein Portal in die Unterwelt befindet. Von dem leider nur ich etwas weiß. Mama ist ja so ahnungslos. Ich atme tief durch.
Jetzt torkelt uns auch der alte Hahn über den Weg.
»Komm schon, den kriegen wir noch!«, platzt es aus mir heraus und Jo tritt tatsächlich auf das Gaspedal.
Ich kann es nicht fassen, dass wir auf den Gockel zurasen.
»Oh Gott! Das war ein Scherz«, quieke ich im letzten Moment und Jo bremst.
»Ich habe gehört, du magst ihn nicht besonders. Da dachte ich, ich könnte vielleicht bei dir punkten, wenn ich ihn für dich beseitige«, erklärt Jo verschwörerisch und seine grauen Augen funkeln belustigt.
Ach du meine Güte!
Mama muss lachen.
»So ist das«, antworte ich. »Ich lasse dich dann wissen, wenn ich mit einem Lehrer Ärger habe, okay?« Na, der hat ja einen Clown gefrühstückt.
»Bernadette, hör doch! Deine Tochter spricht mit mir.« Jo zwinkert mir zu und fährt dann weiter. Blödmann!
Der Hahn bringt sich in Sicherheit und meine Mordgelüste konzentrieren sich weder auf Hahn noch Lehrer.
Jetzt kommt Oma Käthe aus dem Haus und winkt. Ich versuche, etwas freundlicher zu gucken, während der Wagen an ihr vorbeirollt und auf dem Parkplatz stehen bleibt.