3Zygmunt Bauman
Retrotopia
Aus dem Englischen von Frank Jakubzik
Suhrkamp
7
Für Aleksandra, Kameradin im Leben wie im Denken
Wie sagte noch Walter Benjamin in seinem Aufsatz »Über den Begriff der Geschichte« (1940), nachdem er in Paul Klees Zeichnung Angelus Novus (1920) den »Engel der Geschichte« entdeckt hatte:
Der Engel der Geschichte […] hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.1
Betrachtet man Klees Zeichnung heute, mehr als ein Dreivierteljahrhundert nach Benjamins unergründlicher und unvergleichlicher Deutung, sieht man den Engel der Geschichte nach wie vor in ungebremstem Flug. Allerdings hat er zur Verblüffung des Betrachters einen U-Turn vollzogen: Nunmehr kehrt er der Vergangenheit den Rücken und blickt entsetzt in Richtung Zukunft. Seine Flügel werden von einem Sturm nach hinten gedrückt, der einem imaginierten, antizipierten und vorauseilend gefürchteten höllischen Morgen entstammt und ihn unaufhaltsam auf das (im Rückblick, nach seinem Verlust und Verfall) paradiesisch erscheinende Gestern zutreibt. Und wieder ist 10der Sturm so stark, dass er die Flügel »nicht mehr schließen« kann.
Vergangenheit und Zukunft haben auf der Zeichnung die Eigenschaften vertauscht, die Klee ihnen, Benjamin zufolge, vor fast hundert Jahren zuschrieb. Heute ist es die Zukunft, auf die man nicht vertrauen kann, da sie vollkommen unbeherrschbar erscheint. Sie wird auf der Sollseite gebucht. Dafür erscheint jetzt die Vergangenheit auf der Habenseite — dank ihres (verdienten oder unverdienten) Rufs, ein Hort der Freiheit gewesen zu sein, auf den sich noch nicht diskreditierte Hoffnungen setzen lassen.
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Svetlana Boym zufolge, Professorin für Literaturwissenschaft in Harvard, »ist Nostalgie zwar ein Gefühl des Verlusts und der Entwurzelung, zugleich aber auch eine Romanze mit der eigenen Fantasie«.2 Galt sie im 17. Jahrhundert noch als heilbare Krankheit, gegen die beispielsweise Schweizer Ärzte zu Opium, Blutegeln und Reisen in die Berge rieten, »ist aus der vorübergehenden Indisposition im 21. Jahrhundert eine unheilbare Bedingung des modernen Lebens geworden. Das 20. Jahrhundert, das mit futuristischen Utopien begann, endete in Nostalgie.«3 Nach Boyms Diagnose leidet die Gegenwart an einer »globalen Nostalgie-Epidemie, an schmachtendem Verlangen nach Gemeinschaftlichkeit und gemeinsamer Vergangenheit, an der verzweifelten Sehnsucht nach Kontinuität in einer fragmentierten Welt«. Diese epidemische Nostalgie fungiere als »Abwehrmechanismus in Zeiten beschleunig11ter Lebensrhythmen und historischer Umwälzungen«,4 der im Wesentlichen aus »dem Versprechen [besteht], jene ideale Heimat wiederzuerrichten, die im Zentrum vieler heute einflussreicher Ideologien steht und uns dazu verleiten soll, das kritische Denken zugunsten emotionaler Bindungen aufzugeben«. Das Gefährliche daran, so Boym, ist die »Neigung, unsere tatsächliche mit einer idealen Heimat zu verwechseln«.5 Diese Gefahr zeige sich am deutlichsten in der »restaurativen« Spielart der Nostalgie, wie sie uns in »nationalen und nationalistischen Revivals überall auf der Welt« begegnet, »die mit Hilfe des Rückgriffs auf nationale Symbole und Mythen, zuweilen auch indem sie Verschwörungstheorien in Umlauf bringen, eine antimoderne Mythologisierung der Geschichte betreiben«.6
Zu ergänzen wäre, dass die Nostalgie nur ein Mitglied der weitverzweigten Familie affektiver Bindungen an ein »Anderswo« ist. Derartige Gefühlsregungen (und mit ihnen auch die Verlockungen und Fallen, die Boym der »globalen Nostalgie-Epidemie« zurechnet) sind endemische, unverzichtbare Zutaten der Conditio humana seit wenigstens dem — nur schwer genau bestimmbaren — Moment, in dem den Menschen die Optionalität ihres Handelns bewusst geworden ist; genauer gesagt: in dem sie begriffen haben, dass ihre Lebensführung ihrer Entscheidungsfreiheit unterliegt, und dass die hier und jetzt existierende Welt (dank unserer naturgegebenen Vorstellungskraft) immer nur eine von unzähligen möglichen Welten ist — und zwar in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Im Staffellauf der Weltgeschichte hat die »globale Nostalgie-Epidemie« den Stab vom (langsam, aber un12aufhaltsam globalisierten) »Fortschrittsrausch« übernommen.
Das Rennen selbst geht jedoch weiter, ohne Pause. Die Laufrichtung mag sich ändern oder sogar die Rennbahn — anhalten wird es nie. Den ebenso unauslöschlichen wie unersättlichen inneren Imperativ, der uns antreibt und das wahrscheinlich tun wird, bis die Hölle zuzufrieren beginnt, hat Franz Kafka auf eine Formel gebracht:
Ich befahl mein Pferd aus dem Stall zu holen. Der Diener verstand mich nicht. Ich ging selbst in den Stall, sattelte mein Pferd und bestieg es. In der Ferne hörte ich eine Trompete blasen, ich fragte ihn, was das bedeute. Er wußte nichts und hatte nichts gehört. Beim Tore hielt er mich auf und fragte: »Wohin reitest du, Herr?« »Ich weiß es nicht«, sagte ich, »nur weg von hier, nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen.« »Du kennst also dein Ziel?« fragte er. »Ja«, antwortete ich, »ich sagte es doch: ›Weg-von-hier‹, das ist mein Ziel.«7
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Fünfhundert Jahre nachdem Thomas Morus dem jahrtausendealten Menschheitstraum von der Rückkehr ins Paradies beziehungsweise der Errichtung eines Himmels auf Erden den Namen »Utopia« gegeben hat, nähert sich eine Hegel'sche Triade doppelter Negation der Vollendung. Nachdem die seit Morus stets an einen festen topos — einen konkreten Ort, eine Polis oder Stadt, einen souveränen Staat unter einem weisen und wohlwollenden Herrscher — geknüpfte Aussicht auf ein diesseitiges Glück von jedem bestimmbaren topos abgelöst und damit negiert worden ist, damit sie individualisiert, privatisiert und personalisiert (und nach dem Prinzip der »Subsidiarität« auf 13den Einzelnen in seinem Schneckenhaus übertragen) werden konnte, geht sie jetzt durch eine weitere Negation eine Synthese mit dem ein, was sie ihrerseits lange Zeit tapfer, aber erfolglos zu negieren versuchte. Dieser doppelten Negation klassischer, an Morus orientierter Utopien — ihre Zurückweisung, gefolgt von ihrer Wiederbelebung — entspringen die zahlreichen gegenwärtigen »Retrotopien«: Visionen, die sich anders als ihre Vorläufer nicht mehr aus einer noch ausstehenden und deshalb inexistenten Zukunft speisen, sondern aus der verlorenen/geraubten/verwaisten, jedenfalls untoten Vergangenheit:
Oscar Wilde erklärte, sobald wir das Land des Überflusses erreicht hätten, müssten wir unseren Blick auf den Horizont richten und erneut die Segel setzen: »Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien.« Aber der Horizont bleibt leer. Das Land des Überflusses ist in Nebel gehüllt. Just in dem Moment, in dem wir uns der historischen Aufgabe hätten stellen sollen, diese reiche, sichere und gesunde Welt mit Sinn zu erfüllen, beerdigten wir stattdessen die Utopie. Und wir haben keinen neuen Traum, durch den wir sie ersetzen könnten, weil wir uns keine bessere Welt als die vorstellen können, in der wir heute leben. Tatsächlich glauben die meisten Menschen in den reichen Ländern, daß es ihren Kindern schlechter gehen wird als ihnen.
Das konstatiert der Historiker Rutger Bregman in seinem Buch Utopien für Realisten (dessen Untertitel Die Zeit ist reif für die 15-Stunden-Woche, offene Grenzen und das bedingungslose Grundeinkommen lautet).8
Die Privatisierung beziehungsweise Individualisierung der Idee des »Fortschritts« und des Strebens nach einem besseren Leben wurden von den herrschenden Mächten als Befreiung verkauft und von den meisten ihrer Unter14gebenen als solche begrüßt: die Entlassung aus den strengen Anforderungen der Unterordnung und Disziplinierung — auf Kosten der sozialstaatlichen Absicherung. Für eine große und nach wie vor wachsende Anzahl der »Untertanen« hat sich diese »Befreiung« langsam, aber stetig als überaus zweifelhafter Segen erwiesen, der immer mehr Beimischungen eines Fluchs enthält. An die Stelle der Gängelung durch staatliche Einschränkungen sind die ebenso erniedrigenden, furchteinflößenden und belastenden Risiken getreten, die die von oben dekretierte Eigenverantwortlichkeit unvermeidlich mit sich bringt. Die Furcht vor Ausschluss/Bestrafung, die ihr unmittelbarer Vorgänger, der Konformitätsdruck, erzeugte, wurde von der gleichermaßen quälenden Angst abgelöst, sich als unfähig zu erweisen. Als die alten Ängste in Vergessenheit geraten waren und die neuen an Ausmaß und Intensität gewannen, stellte sich heraus, dass Förderung durch Degradierung, Fortschritt durch Rückschritt abgelöst worden war — zumindest für eine wachsende Zahl hilfloser Opfer der politischen Ränke, die — zumindest aus ihrer eigenen Sicht — zum Scheitern verdammt waren. Daraufhin kam es zu einer Kehrtwende der öffentlichen Meinung und der Mentalität: Statt in eine ungewisse und allzu offensichtlich nicht vertrauenswürdige Zukunft investierte man alle Hoffnungen auf gesellschaftliche Verbesserungen nunmehr in ein halbvergessenes Gestern, an dem man vor allem dessen vermeintliche Stabilität und folglich Vertrauenswürdigkeit schätzenswert fand. Durch diese Kehrtwende wird die Zukunft, vormals natürliches Habitat der Hoffnung und berechtigter Erwartungen, zum Schreckensszenario drohender Alpträume: vom Ver15lust des Arbeitsplatzes und der an ihn geknüpften sozialen Stellung, von der Pfändung des auf Kredit erworbenen Eigenheims mitsamt allen Möbeln und sonstigen Gütern, von der Ohnmacht angesichts des sozialen Abstiegs der eigenen Kinder und des rapide sinkenden Marktwerts der eigenen mühsam erlernten und erweiterten Qualifikationen. Die Straße nach Morgen wird zum düsteren Pfad des Niedergangs und Verfalls. Vielleicht erweist sich da der Weg zurück, ins Gestern, als Möglichkeit, die Trümmer zu vermeiden, die die Zukunft jedes Mal angehäuft hat, sobald sie zur Gegenwart wurde?
Die Folgen dieses Umschwungs werden, wie ich in diesem Buch zu zeigen versuche, auf allen Ebenen des sozialen Zusammenlebens sicht- und spürbar — in der aus ihnen erwachsenden Weltanschauung wie in den Lebensstrategien, die aus ebendieser Weltanschauung entspringen. Daher lässt sich die Diagnose, die der ehemalige Generalsekretär der Nato und des Rates der Europäischen Union Javier Solana im April 2016 in Bezug auf die Folgen der Kehrtwende ins Gestern auf EU-Ebene (dem avantgardistischen Experiment zur supranationalen Erweiterung nationalstaatlicher Integration) stellte, mit geringfügigen Anpassungen auf alle anderen Ebenen übertragen.9 Mögen sich die Begrifflichkeiten auch unterscheiden, die Geschichte ist immer wieder dieselbe.
»Die Europäische Union«, so Solana, »leidet an einem gefährlichen Fall von Nostalgie. Die Sehnsucht nach der ›guten alten Zeit‹ — vor dem vermeintlichen Eingriff der EU in die nationale Souveränität ihrer Mitgliedsländer — führt nicht nur zum Aufstieg nationalistischer Parteien, sondern auch dazu, dass die führenden Politiker ihre Ver16suche fortsetzen, den Problemen von heute mit den Lösungen von gestern beizukommen.« Solana erklärte auch, wie es dazu gekommen ist, und verwies auf die ebenso drastischen wie allgemein bekannten Entwicklungen der letzten Zeit:
Vor der globalen Finanzkrise von 2008 kämpften die wirtschaftsschwachen EU-Staaten mit himmelhoher Arbeitslosigkeit, vor allem unter jungen Menschen, während sich die wirtschaftsstarken Länder gedrängt sahen, »Solidarität zu üben« und den in Finanznot geratenen Mitgliedern der Union aus der Klemme zu helfen. Als die wirtschaftsstarken Staaten die benötigten Mittel bereitstellten, verknüpften sie dies mit Forderungen nach einer Austeritätspolitik, die die wirtschaftliche Erholung in den Empfängerländern behinderte. Viele empörten sich darüber und wiesen der europäischen Integration die Schuld zu.
Solana warnte davor, diese Schuldzuweisung für bare Münze zu nehmen. Das wäre ein fataler Fehler, der uns vom einzig möglichen, gerechten und hoffnungsvollen Weg zur Sanierung der Finanzprobleme abzubringen drohe:
Während die ökonomischen Nöte, unter denen viele Europäer leiden, zweifellos real sind, ist die von den Nationalisten angebotene Diagnose ihrer Ursachen falsch. Den Umgang der EU mit der Krise mag man kritisieren, aber man kann sie nicht für die weltweiten ökonomischen Ungleichgewichte verantwortlich machen, aus denen sich die wirtschaftlichen Konflikte seit 2008 speisen. Diese Ungleichgewichte gehen auf ein weitaus umfassenderes Phänomen zurück: die Globalisierung. Manche benutzen die Enttäuschungen der Globalisierung als Vorwand für die Forderung nach einer Rückkehr zum Protektionismus und in die vermeintlich glückliche Zeit der nationalen Abschottung. Andere wünschen sich sehnsüchtig einen Nationalstaat zurück, der so nie existiert hat, und führen die nationale Souveränität als Argument gegen jede weitere europäische Integration an. Beide Gruppen stellen die Grundlagen des europäischen 17Projekts in Frage. Aber ihre Erinnerung trügt sie, und ihre Sehnsüchte lassen sie in die Irre gehen.
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Was ich hier »Retrotopia« nenne, geht aus der erwähnten Negation der utopischen Negation hervor und hat mit Thomas Morus' Vermächtnis die Fixiertheit auf die territoriale Souveränität eines topos gemein: auf einen festen Boden, der ein Mindestmaß an Stabilität und infolgedessen Selbstvergewisserung liefern und idealerweise garantieren soll. Allerdings unterscheidet es sich von diesem Vermächtnis darin, dass es die Beiträge/Berichtigungen seines unmittelbaren Vorläufers billigt, absorbiert und übernimmt, und zwar, indem es die Vorstellung einer »endgültigen Vollkommenheit« durch die Annahme der prinzipiellen Nicht-Abschließbarkeit und endemischen Dynamik der von ihm beförderten Ordnung ersetzt, die damit eine unendliche Abfolge weiterer Veränderungen ermöglicht (und wünschenswert erscheinen lässt), die die erstere Vorstellung a priori delegitimiert und ausschließt. Getreu dem utopischen Geist bezieht die Retrotopie ihren Reiz aus der Hoffnung auf eine endgültige Versöhnung von Freiheit und Sicherheit: ein unmögliches Kunststück, das sowohl die Originalversion wie auch deren erste Negation nicht zu versuchen wagten — oder an dem sie scheiterten.
An dieser kurzen Skizze der wichtigsten Umschwünge in der fünfhundertjährigen Historie moderner Utopien seit Morus werde ich mich im Folgenden orientieren, um die zentralen »Zurück zu«-Tendenzen der gegenwärtigen Phase dieser Geschichte zu untersuchen — darunter insbe18sondere die Rehabilitation des tribalen Gemeinschaftsmodells, den Rückgriff auf das Bild einer ursprünglichen/unverdorbenen »nationalen Identität«, deren Schicksal durch nichtkulturelle Faktoren und solche, die Kultur gegenüber immun sind, vorherbestimmt sei, und ganz allgemein die derzeit in den Gesellschaftswissenschaften wie in der öffentlichen Meinung populäre Ansicht, es gebe wesensmäßige, nicht verhandelbare sine qua non-Voraussetzungen »zivilisatorischer Ordnung«.
Selbstverständlich bedeuten diese drei Rückschritte noch keine geradlinige Rückkehr zu einer früher praktizierten Lebensweise — zumal diese, wie Ernest Gellner überzeugend dargelegt hat, ein Ding der Unmöglichkeit wäre. Vielmehr handelt es sich (mit Jacques Derrida gesprochen) um bewusste Versuche einer Iteration — anstatt einer Reiteration — des Status quo ante, der vor der zweiten Negation (und sei es illusionär) bestand — schließlich wurde das Bild von diesem Status quo ante im Prozess einer selektiven Gedächtnisbildung, die auch selektives Vergessen umfasst, signifikant modifiziert. Auf dieselbe Weise dienen auch genuine oder putative Aspekte der Vergangenheit, die angeblich erprobt sind und nur irrtümlich aufgegeben oder unbedacht dem Verfall überlassen wurden, als Hauptorientierung/Bezugspunkte für die Roadmap nach Retrotopia.
Um den retrotopischen Flirt mit der Vergangenheit im richtigen Licht zu sehen, ist ein weiterer Vorbehalt nötig. Boym zufolge treten Nostalgie-Epidemien »häufig nach Revolutionen auf«. Im Fall der Französischen Revolution von 1789 »brachte nicht nur das Ancien Régime die Revolution hervor, sondern in mancher Hinsicht auch die Re19volution das Ancien Régime, indem sie ihm eine Form, einen Abschluss und eine güldene Aura verlieh«, wie auch die letzten sowjetischen Dekaden seit dem Ende des Kommunismus »einer Mehrheit in Russland bis heute […] als goldenes Zeitalter der Stabilität, Stärke und ›Normalität‹« erscheinen.10 Mit anderen Worten: Wenn wir in nostalgischen Träumen schwelgen, kehren wir in aller Regel nicht »zurück« in die Vergangenheit »als solche« — in jenes »wie es eigentlich gewesen«, das Leopold von Ranke den Historikern als Maßstab ihrer Darstellungen anempfahl (ein Rat, den nicht wenige von ihnen zu befolgen versuchten, obgleich mit geringem Erfolg). E. H. Carr hingegen versichert in seinem einflussreichen Buch Was ist Geschichte?, der Historiker müsse notwendig selektiv vorgehen:
Der Glaube an einen festen Kern historischer Fakten, die objektiv und unabhängig von der Interpretation des Historikers bestehen, ist ein lächerlicher, aber nur schwer zu beseitigender Trugschluß. […] Die Tatsachen sprechen für sich selbst, pflegte man zu sagen. Aber das stimmt natürlich nicht. Die Tatsachen sprechen nur, wenn der Historiker sich an sie wendet: er nämlich entscheidet, welchen Fakten Raum gegeben werden soll und in welcher Abfolge oder in welchem Zusammenhang.11
Carrs Argument richtet sich an seine Kollegen, professionelle Historiker, denen er die ernsthafte Absicht unterstellt, die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit aufzuspüren und zu vermitteln. Als die ersten Exemplare seines Buches im Jahr 1961 in die Regale wanderten, war »Erinnerungspolitik« — ein Codename für die Praxis der willkürlichen Auswahl und/oder Unterschlagung von Tatsachen zu (gerade auch: partei-) politischen Zwecken — noch nicht der bekannte Begriff be20ziehungsweise das offene Geheimnis, das sie heute, nicht zuletzt dank George Orwells schauerlicher Darstellung des regelmäßigen »Updatings« historischer Quellen gemäß der neuesten Ausrichtung der Staatspolitik durch ein »Wahrheitsministerium«, ist. Welchen Weg die professionellen Sucher nach historischer Wahrheit auch immer einschlagen, und wie sehr sie auch versuchen, der Wahrheit treu zu bleiben — ihre Feststellungen sind nicht die einzigen Aussagen, die die Öffentlichkeit erreichen. Sie sind nicht einmal unbedingt die hörbarsten oder reichweitenstärksten — während gerade ihre ressourcenreichsten Konkurrenten und deren skrupellose Manager dazu neigen, bei der Unterscheidung zwischen richtigen und falschen Narrationen pragmatische Nützlichkeitserwägungen als oberstes Kriterium über die Wahrheit in der Sache zu stellen.
Manches spricht für die Annahme, dass die Entstehung des Internets das Ende der Wahrheitsministerien bedeutet (gleichwohl aber keineswegs das der »Erinnerungspolitik«; im Zweifel erweitert das World Wide Web deren Möglichkeiten eher noch, indem es ihre Instrumente leichter zugänglich macht denn je und ihre Wirkung potentiell intensiviert — allerdings ohne sie zu verstetigen). Dennoch macht die Abschaffung der Wahrheitsministerien (und des unangefochtenen Monopols der Herrschenden auf die Wahrheit) es den Botschaften der professionellen Sucher und Artikulatoren der »nachweisbaren Wahrheit« keineswegs leichter, ans öffentliche Bewusstsein zu dringen. Ihr Weg ist womöglich noch hindernisreicher, gewundener, gefährlicher und abschüssiger als zuvor.
21*
Nachdem die Kluft zwischen Macht und Politik — zwischen der Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen und der, sie umzusetzen, die einst gemeinsam beim souveränen Territorialstaat lagen — immer größer wurde, erschien die Idee, das Glück der Menschen durch Entwurf und Aufbau einer besser an ihre Bedürfnisse, Wünsche und Sehnsüchte angepassten Gesellschaftsordnung zu befördern, zunehmend als nebulös, da man weit und breit keine Instanz ausmachen zu können glaubte, deren Handlungsfähigkeit der Grandiosität und Komplexität der Aufgabe gewachsen sei. Der Wirtschaftswissenschaftler Peter Drucker konstatierte (womöglich inspiriert von Margaret Thatchers berühmter TINA-Maxime: »There is no alternative«) unverblümt, eine Gesellschaft, die die individuelle mit der sozialen Vervollkommnung auf Dauer verknüpfe, sei schlicht nicht denkbar. Von der »Gesellschaftsordnung« sei daher keine »Rettung« zu erwarten.12 Und daraus folgte, wie Ulrich Beck bald danach feststellte, dass es von nun an dem Einzelnen überlassen war, »seine persönlichen« Lösungen für die von der Gesellschaft hervorgebrachten Probleme zu finden oder zu konstruieren — auf der Grundlage seines Verstands und seiner individuellen Ressourcen und Fähigkeiten. Ziel war nun nicht mehr eine Verbesserung der Gesellschaft (die in jeder praktischen Hinsicht ausgeschlossen erschien), sondern die Verbesserung der eigenen Stellung innerhalb dieser wesensmäßig und endgültig unverbesserlichen Gesellschaft. Anstelle gemeinsamer Erträge aus kollektiven Bemühungen um soziale Reformen gab es 22nur noch den individuell angeeigneten Wettbewerbsgewinn.
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In den folgenden Kapiteln werde ich den Versuch unternehmen, ein vorläufiges Inventar der besonders spektakulären und grundlegenden Umschwünge und Kehrtwenden zu erstellen, die mit dem Aufkommen retrotopischer Regungen und Praktiken einhergehen.