Deutschland und die Vereinigten Staaten im 20. und 21. Jahrhundert
2. überarbeitete und ergänzte Auflage
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eISBN 978-3-86933-190-4
Print ISBN 978-3-86933-137-9
Die nachfolgende Untersuchung analysiert die zwei Hegemonialkriege des 20. Jahrhunderts. Sie bietet nicht die Entdeckung und Auswertung neuen Materials. Vielmehr geht es um die Analyse bekannten Materials von einem neuen Gesichtspunkt, einer neuen theoretischen Perspektive aus, nämlich daß die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts in einem fundamentalen, bislang nicht hinreichend verstandenen Sinne vom Konflikt zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten bestimmt war – ein Konflikt, der in zwei deutsch-amerikanischen Kriegen seinen sichtbaren Ausdruck fand. Indes wird die militärische Seite dieser Kriege hier nahezu vollständig beiseite gelassen. Es geht vor allem um die wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen der beiden Kriege, um ihre wirtschaftlichen und politischen Dimensionen sowie um ihre wirtschaftlichen und politischen Folgen. All das kann sich nicht darin erschöpfen, Geschehnisse in ihren jeweiligen historischen Zusammenhang einzuordnen. Wichtiger ist es, Strukturen zu analysieren und Regelmäßigkeiten zu finden – seien es materielle wie beispielsweise wirtschaftliche Strukturen oder immaterielle wie beispielsweise politische Traditionen und Ideologien.
Politische, also Machtkonflikte, haben stets auch eine ideelle, eine ideologische Dimension. Materielle Auseinandersetzungen sind von ideellen Kämpfen begleitet, denn Menschen werden durch Ideen, Weltbilder und Ideologien mobilisiert und zur Tat motiviert. Ideologien sind stets Waffen des politischen Kampfs; sie organisieren Gefolgschaften. Eine politikwissenschaftliche Analyse muß daher auch politische Ideologien zum Gegenstand der Untersuchung machen.
Ich habe mich leiten lassen vom „unbedingten Willen, sich nichts vorzumachen“ (Friedrich Nietzsche). Eine affirmative Sozialwissenschaft ist keine. Ich halte es in dieser Hinsicht mit dem Politikwissenschaftler Alexis de Tocqueville, der im Vowort zu Der alte Staat und die Revolution schrieb: „Ich glaube, dieses Buch ohne Vorurteil, behaupte aber nicht, es ohne Leidenschaft geschrieben zu haben.“
Der an dieser Stelle üblicherweise abzustattende Dank entfällt mangels Veranlassung – mit einer Ausnahme: Ich danke Herrn Karl-Heinz Pröhuber, meinem Verleger, für seine Entscheidung, das Buch zu veröffentlichen sowie seine Großzügigkeit, mich auch in Gestaltungsfragen mitentscheiden zu lassen.
Ich widme dieses Buch in dankbarer Erinnerung allen meinen amerikanischen Freunden, die mir – in den Jahren 1972 in New Haven (Conn.) und 1973 in Washington (D.C.) – eine neue Welt eröffneten.
Berlin, im März 2015
Gernot Volger
Einleitung: Gegner im Kampf um die Weltherrschaft oder Partners in Leadership?
Anmerkungen Einleitung
Kapitel I: Zwei führende Wirtschaftsmächte
Wirtschaftliche Grundlagen
Was bedeutet Industrialisierung?
England: Pionierland der Industrialisierung
Die Industrieproduktion der Welt 1870 bis 1913
Die amerikanische Volkswirtschaft
Die deutsche Volkswirtschaft
Modernität Deutschlands und der Vereinigten Staaten im Vergleich
Politische Grundlagen
England als Weltvormacht und die Außenpolitik Englands
Expansion als Grundmotiv preußisch-deutscher Außenpolitik
Deutsche Weltmachtpolitik nach 1890
Kaiser Wilhelm II.
Deutscher Schlachtflottenbau
Englands Revision der außenpolitischen Isolierung
Deutsch-englischer Antagonismus
Ideelle und soziale Grundlagen der deutschen Politik
Politisches Selbstverständnis Deutschlands
Gesellschaftliche Grundlagen deutschen politischen Selbstverständnisses
Die Außenpolitik der Vereinigten Staaten
Expansion als Grundmotiv amerikanischer Außenpolitik
Präsident Theodore Roosevelt
Der spanisch-amerikanische Krieg 1898
Panama-Sezession und Roosevelt-Corollarium
Grundlagen der Außenpolitik der Vereinigten Staaten
Die Gesellschaft der Vereinigten Staaten
Ideelle Grundlagen der amerikanischen Politik
Außenpolitisches Selbstverständnis der Vereinigten Staaten
Zwei Prinzipien der Außenpolitik der Vereinigten Staaten
Außenpolitischer Isolationismus?
Die Beziehungen zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten bis 1914
Anmerkungen Kapitel I
Kapitel II: In den ersten deutsch-amerikanischen Krieg
Der europäische Krieg
Das Wettrüsten der europäischen Großmächte
Kriegsentfesselung
Deutschland im Krieg bis Ende 1916
Die Vereinigten Staaten und der europäische Krieg
Präsident Woodrow Wilson
Neutralitätspolitik und Friedensinitiativen der Vereinigten Staaten
Der Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg
Die deutsche Entscheidung zum U-Bootkrieg
Der amerikanische Entscheidungsprozeß
Wilsons Gründe und Motivation
Kriegskosten und Kriegsfinanzierung
Weltwirtschaftliche und weltpolitische Auswirkungen des Kriegs
Weltherrschaft Amerikas?
Anmerkungen Kapitel II
Kapitel III: In den zweiten deutsch-amerikanischen Krieg
Die Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa
Deutschland ab 1919
Ziele und Planungen der Reichswehr
Reichskanzler Adolf Hitler
Hitlers außenpolitisches Programm
Die deutsche Aufrüstung
Deutschland und England
Hitlers englandpolitische Vorstellungen und seine Englandpolitik
Englands appeasement-Politik
Deutsche Expansionspolitik 1936 bis 1939
Kriegsentfesselung und der europäische Krieg 1939 bis 1940
Premierminister Winston Churchill
Der Krieg zwischen Deutschland und England 1940 bis 1941
Deutschlands Expansionspolitik 1940 bis Frühjahr 1941
Die Vereinigten Staaten und Deutschland 1933 bis 1941
Präsident Franklin Roosevelt
Die Deutschlandpolitik der Vereinigten Staaten 1936 bis 1939
Neutralitätspolitik der Vereinigten Staaten 1939 bis Sommer 1941
Hitlers Kriegserwägungen gegenüber den Vereinigten Staaten 1940 bis Sommer 1941
Deutschlands Krieg gegen die Sowjetunion
Die Sowjetunion
Der Krieg zwischen Deutschland und der Sowjetunion Juni 1940 bis November 1941
Deutschland und die Vereinigten Staaten im 2. Halbjahr 1941
Neutralitätspolitik der Vereinigten Staaten
Hitlers Kriegserwägungen gegenüber den Vereinigten Staaten
Die Vereinigten Staaten und Japan: Die Hintertür in den europäischen Krieg
Zwei ungleiche Gegner
Hitlers Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten
Roosevelts Gründe und Motivation
Kriegskosten und Kriegsfinanzierung
Weltwirtschaftliche und weltpolitische Auswirkungen des Kriegs
Die Hegemonie der Vereinigten Staaten
Die Strategie der Ordnung der Welt
Die institutionelle Gestaltung der internationalen Nachkriegsordnung
Anmerkungen Kapitel III
Kapitel IV: Deutschlands Wiederaufstieg zur Weltmacht unter amerikanischer Dominanz
Die Bundesrepublik Deutschland
Wirtschaftliche und politische Kriegsfolgen in Deutschland
Wirtschaftlicher und politischer Neubeginn in den Westzonen
Politische Veränderungen in Westdeutschland
Die Bundesrepublik in der NATO
Wirtschaftlicher Wiederaufstieg der Bundesrepublik und Außenpolitik der Bundesrepublik
Die deutsch-amerikanischen Beziehungen 1960 bis 1990
Die amerikanische Zahlungsbilanzpolitik
Der Untergang der DDR und deren Beitritt zur Bundesrepublik
Anmerkungen Kapitel IV
Kapitel V: Die Außen- und Militärpolitik der Vereinigten Staaten seit 1990, Europa und Deutschland
Die Neuordnung der Welt
Die Transformation der NATO
Afghanistan- und Irakkrieg
Zur Ideologie der amerikanischen Außenpolitik
Neokonservatismus
Der Krieg gegen den Terror
Anmerkungen Kapitel V
Kapitel VI: Résumé und Ausblick
Die deutsche Hegemonialpolitik in Perspektive
Die Hypermacht Vereinigte Staaten
Die amerikanische Volkswirtschaft
Die amerikanische Militärpolitik
Zwei weltpolitische Rivalen
Rußland
China
Gegenmachtbildung?
Weltwirtschaft und Weltpolitik zu Beginn des 21. Jahrhunderts
Währungspolitische Transformation
Die europäische Außen- und Militärpolitik
Hegemonialpolitik: Wirtschaftlich und rechtliche Aspekte
Die amerikanische Hegemonialpolitik in Perspektive
Anmerkungen Kapitel VI
Literaturverzeichnis
Personenregister
1917 und 1989: die beiden Epochenjahre des 20. Jahrhunderts. Wenn sie etwas lehren, dann dies, daß Geschichte kein letztes Ergebnis hat, daß historische Tatsachen nicht unumstößlich sind. Da Geschichte zur Zukunft hin immer offen ist, gibt es stets auch die Möglichkeit der Rücknahme, der Revision.1 In beiden Epochenjahren sind es die gleichen Akteure, die das weltpolitische Geschehen bestimmen: die Vereinigten Staaten von Amerika, Deutschland und Rußland. Doch weder 1917 noch 1989 war Rußland der Angelpunkt des weltpolitischen Geschehens. Noch sind wir zu sehr geprägt von dem, was wir bis vor kurzem durchlebt haben, vom „welthistorischen” Gegensatz zwischen dem sowjetischen Kommunismus und den tendenziell offenen Gesellschaften des Westens. Hat dieser Antagonismus in der Kubakrise nicht hart an den Rand des Atomkriegs geführt? Hat nicht bereits Alexis de Tocqueville diesen Antagonismus vorausgesehen, als er vor mehr als 150 Jahren über Rußland und die Vereinigten Staaten von Amerika schrieb, jedes von ihnen erscheine „nach einem geheimen Plan der Vorsehung berufen, eines Tages die Geschicke der halben Welt in seiner Hand zu halten”2, daß also die anderen Staaten zu zweitrangigen, abhängigen Mächten absinken würden? Es scheint aber, daß wir den Kalten Krieg, gerade weil wir so sehr in ihn verwoben waren, in seiner Bedeutung deutlich überschätzen.
Die Verbindung der beiden Epochenjahre 1917 und 1989 läßt sich auch ganz anders lesen – daß nämlich das 20. Jahrhundert vor allem geprägt ist vom Konflikt zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten. 1917 standen sich die Vereinigten Staaten und Deutschland erstmals als Kriegsgegner gegenüber; 1989 erklärte die amerikanische Regierung die Bundesrepublik zum partner in leadership, und als im selben Jahr der ökonomische Niedergang der Sowjetunion und der Untergang der DDR den Weg zur deutschen Vereinigung freimachten, war es die Regierung der Vereinigten Staaten, die ihre Interessen gegenüber der Sowjetunion weitgehend durchsetzte.
Zweimal, seit Anfang 1917 und seit Ende 1941, standen sich im 20. Jahrhundert Deutschland und die Vereinigten Staaten als Gegner in Kriegen gegenüber, die erst durch das Eingreifen der Vereinigten Staaten den Charakter von Weltkriegen annahmen. Weltkriege werden um die Weltherrschaft geführt. Das war ein Novum in der Geschichte, allerdings bereits in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts von dem Zeitdiagnostiker Friedrich Nietzsche vorausgeahnt: „Schon das nächste Jahrhundert bringt den Kampf um die Erd-Herrschaft.”3 Während der ersten 45 Jahre des 20. Jahrhunderts waren Deutschland und die Vereinigten Staaten die wichtigsten Antagonisten im Kampf um die Weltherrschaft, wenngleich der Konflikt nicht immer manifest war. Die zweite Hälfte des Jahrhunderts war geprägt von der amerikanischen Hegemonialmacht, die ihrem nunmehr vielfältig eingebundenen und kontrollierten ehemaligen Gegner im Schatten des wirtschaftlichen, militärischen und ideologischen Konflikts mit der Sowjetunion Schritt für Schritt ein Wiedererstarken ermöglichte – bis hin zur zeitweiligen rhetorischen Akzeptanz als wichtigstem Verbündeten. Lassen sich also die deutsch-amerikanischen Beziehungen im 20. Jahrhundert und darüber hinaus in die Formel fassen: Von Gegnern im Kampf um die Weltherrschaft zu partners in leadership?
Die nachfolgende Untersuchung dieser Frage ist an drei Ausgangsüberlegungen orientiert:
1. Alle staatliche Organisation war ursprünglich militärische Organisation. Die alte Erkenntnis pecunia nervus belli läßt sich zeitgemäß umformulieren: Das wirtschaftliche Potential eines Lands in Zusammenhang mit seiner Fähigkeit, wirtschaftliche Transaktionen eines anderen Lands negativ zu beeinflussen, entscheidet über die Bedeutung dieses Lands in den internationalen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen.4
2. Mit dem Übergang zur Industriegesellschaft verändert der Krieg seinen Charakter auf fundamentale Art und Weise. Seit der Industriellen Revolution werden längerwährende Kriege zwischen Industrieländern durch die Mobilisierung industrieller Ressourcen und durch den Einsatz von Technik und industriell gefertigtem Material entschieden, wie bereits der Krimkrieg 1853–565, der amerikanische Sezessions-/Bürgerkrieg 1861–18656 und später die beiden Großkriege des 20. Jahrhunderts deutlich machten. Kriege zwischen Großmächten sind seit Beginn des 20. Jahrhunderts industrialisierte Kriege. Dabei revolutionierte die Industrialisierung die Entwicklung der Kriegstechnik – von der Dampfmaschine über die Eisenbahn bis zur Kernspaltung – in bislang ungeahntem Maße. Unter den Bedingungen der Industriegesellschaft hat eine nachhaltig überlegene militärische Schlagkraft stets ein überlegenes Wirtschaftspotential zur Voraussetzung. Ein solches Wirtschaftspotential schließt die Verfügbarkeit von Rohstoffen, industrielle Fertigkeiten, ein fortgeschrittenes Technologieniveau sowie eine hochentwickelte Infrastruktur und Logistik ein. Zu den Charakteristika industrialisierter Kriege gehören auch die Möglichkeiten zur Finanzierung solcher Kriege, denn die Kosten industrieller Kriege zwischen Großmächten sind enorm. In summa: Nicht mehr strategische und operative Führungskunst oder soldatische Tapferkeit entscheiden über den Ausgang großer Kriege (eine Entscheidungsschlacht gab es weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg), sondern es sind vor allem die Wirtschaftsleistung der beteiligten Länder sowie die Fähigkeit zur optimalen Mobilisierung aller wirtschaftlichen Ressourcen. Die Wirtschaft wird zur kriegsentscheidenden Waffe.
Das galt jedenfalls bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Seither hat die Entwicklung von Nuklearwaffen sowie der zugehörigen Trägersysteme den Krieg abermals revolutioniert mit der Folge, daß Nuklearwaffen, über die mit Ausnahme Deutschlands und Japans alle großen Industrieländer verfügen, Kriege zwischen Industrieländern bei Strafe des Untergangs verhindern. Gleichwohl wurde auch der Kalte Krieg in den Produktionsstätten und Werkhallen entschieden. Seitdem hat sich die Bedeutung des Industriepotentials für das Führen von Kriegen abermals verschoben: Heute führt die größte und technologisch am weitesten entwickelte Volkswirtschaft High-Tech-Kriege mittels fortgeschrittenster Militärtechnologie auf der Basis avancierter Wissenschaft und Technik.
3. Die Vereinigten Staaten waren bereits vor dem Sezessions-/Bürgerkrieg wirtschaftlich eine Großmacht7; um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert übertraf ihre Wirtschaftsleistung die aller anderen Großmächte deutlich. Auf dem europäischen Kontinent war das Deutsche Reich ungefähr seit der Jahrhundertwende auf dem Weg, ein wirtschaftliches Übergewicht gegenüber der bisherigen Weltvormacht England zu erlangen. Sowohl im Fall der Vereinigten Staaten als auch im Fall Deutschlands bildeten das ökonomische Potential der beiden Länder sowie deren wirtschaftliche Dynamik die Grundlage für die angestrebte politische Führungsposition.
Dabei stehen folgende Fragen im Zentrum der Untersuchung:
1. Welches waren die Gründe für die Entfesselung der europäischen Kriege 1914 und 1939, und gab es strukturelle Parallelen im Hinblick auf die Gründe?
2. Wie reagierten die Vereinigten Staaten auf die europäischen Kriege von 1914 und 1939, und gab es strukturelle Parallelen im Hinblick auf ihr Handeln?
3. Was waren die Gründe, die die Vereinigten Staaten zum Eingreifen in die europäischen Kriege veranlaßten, und gab es strukturelle Parallelen in der amerikanischen Politik zwischen dem Beginn der europäischen Kriege und dem amerikanischen Eintritt in diese Kriege? Extrem einfach formuliert: Warum traten die Vereinigten Staaten im 20. Jahrhundert zweimal in europäische Großkriege ein?
1 „Die Weltgeschichte als das Weltgericht…, das keinen seiner Urteilssprüche ohne Revisionsmöglichkeit fällt.“ Helmuth Plessner, „Macht und menschliche Natur – Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht“, in: Gesammelte Schriften, Bd. V, Frankfurt 1981, S. 135–234, hier S. 232 (Hervorhebung im Original). Plessner bezieht sich auf Friedrich Schillers Gedicht „Resignation“ und auf Hegel, der in seiner „Philosophie des Rechts“ diese Formulierung aufnahm. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. Sämtliche Werke, hrsg. Hermann Glockner, Band 7, Stuttgart 1956, S. 446.
2 Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika (1835), Band I, Zürich 1987, S. 614. Allerdings findet sich bei Tocqueville nicht die Folgerung, daß sich die beiden Mächte feindlich gegenüberstehen müßten; Tocqueville war nicht der Prophet des Kalten Kriegs, als der er allzu häufig fehlinterpretiert wurde. Ähnliche Formulierungen über die Weltvorherrschaft der Vereinigten Staaten und Rußlands finden sich bei Friedrich Melchior Baron von Grimm (ab 1748 Literaturkritiker und später, ab 1776, Gesandter des Herzogs von Gotha in Paris), bei Friedrich List (Ökonom und – in heutiger Begrifflichkeit – Politikwissenschaftler, Universitätsprofessor in Tübingen und amerikanischer Konsul in Deutschland, Unternehmer und Journalist in den USA sowie Vorkämpfer des deutschen Eisenbahnbaus und der politischen Einigung Deutschlands) sowie bei Bruno Bauer (einem Intellektuellen, Philosophen, Religionshistoriker und – in heutiger Begrifflichkeit – Politikwissenschaftler um die Mitte des 19. Jahrhunderts). Der Ökonom List hat später seine Einschätzung hinsichtlich Rußlands revidiert.
3 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Werke, hrsg. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Band VI,2, Berlin 1968, S. 144. Dieser Kampf würde sich unter den europäischen Großmächten abspielen, an die Vereinigten Staaten dachte Nietzsche gewiß nicht.
4 Das ist, es versteht sich von selbst, eine extreme Reduktion von Komplexität. Es ließen sich auch weit elaboriertere und komplexere Macht-Indizees bilden. Für die Phase der wirtschaftlichen Entwicklung, die in der nachfolgenden Untersuchung von Bedeutung ist, verschlägt das nichts. Für die Welt des 21. Jahrhunderts müßte ein Machtindex das Produkt aus den zu gewichtenden Faktoren Bruttosozialprodukt, Technologieniveau, Militärausgaben und evtl. Bevölkerungszahl sein.
5 Im Krimkrieg wurden erstmals Schnellfeuergewehre, Telegraphie, Photographie und Massenkommunikation (zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung) eingesetzt.
6 Der Sezessions-/Bürgerkrieg zwischen den Nord- und den Südstaaten wurde primär unter Einsatz wirtschaftlicher Instrumente, mit wirtschaftlicher Zielsetzung (Abnutzungskrieg, Nachschubunterbrechung des Gegners) und mittels der nunmehr industriell gefertigten Flotte geführt: das erste gepanzerte, schraubengetriebene Dampfschiff, erste Explosivgeschosse, erste Tretminen wurden eingesetzt. Neue technologische Entwicklungen wie das Unterseeboot, Panzerschiffe und Torpedos sowie der Telegraph wurden damals erstmals eingesetzt; die Existenz der Eisenbahn ermöglichte Truppen- und Materialtransporte in bis dahin unbekannten Größenordnungen.
7 Großmacht sei hier verstanden als ein Staat, der über die Fähigkeit verfügt, das internationale politische System nicht unerheblich zu beeinflussen und der damit seine Interessen international stärker durchzusetzen vermag als andere Mächte. Das internationale politische System wird in hohem Maße von den Großmächten geprägt. In militärischer Hinsicht vermag eine Großmacht andere Mächte zu bedrohen, und sie kann sich gegen andere Mächte militärisch behaupten.
Seit Jahrtausenden wirtschafteten die Menschen, um ihren Bedarf oder den ihres Haushalts zu decken. Noch die Frühmoderne ist als eine Welt des Mangels zu charakterisieren. Wirtschaftsunternehmen waren agrarisch, ländlich und klein, allenfalls kommerziell orientiert. Bereits vor der Industriellen Revolution hatten sich als unabdingbare Voraussetzungen für deren Entstehen eine rationale Buchführung als Kapitalrechnung und ein rationales Recht herausgebildet. Modernes Wirtschaften bedeutet, für andere, in der Regel für „den Markt“, zu produzieren. Der wirtschaftende Mensch entdeckte die Kapitalbildung durch Sparen, also die Schaffung von Anlagekapital, in der Erwartung zukünftig höherer Erträge. Dieses Anlagekapital findet in Form von Maschinen Verwendung in arbeitsteilig organisierten Unternehmen, wobei es fortschreitend menschliche Arbeitskraft ersetzt. Im industriellen Kapitalismus ist das hervorstechende Charakteristikum die Mechanisierung der Produktion in Fabriken, in Großfabriken zumal, in einer städtischen Umgebung mittels einer der militärischen Disziplin ähnlichen Arbeitsdisziplin. Unabdingbar notwendig waren auch drei Ausgangsmaterialien: Eisen (transformiert in Stahl), fossile Brennstoffe (also gespeicherte Energie) und Gummi.
Der industrielle Kapitalismus ist ein evolutionäres System beständiger wirtschaftlicher Neuerung; mit seinem Entstehen seit dem späten 18. Jahrhundert revolutioniert sich die Wirtschaft unaufhörlich aus sich selbst heraus. Dabei geht es um die Entwicklung neuer Konsumgüter (zudem auch neuer intermediärer Güter), doch gleichermaßen um neue Produktions- und Transportmethoden, die Gewinnung und den Einsatz neuer Rohstoffe, um neue Formen der industriellen Organisation, die Erschließung neuer Handelswege und neuer Märkte.1 Als ein System beständiger Neuerung hat die Industrielle Revolution ausschlaggebend dazu beigetragen, die geistige Haltung der modernen Wissenschaft herauszubilden: Wissenschaftliche Forschung liefert die Grundlagen für die Entwicklung neuer Rohstoffe, Verfahren und Produkte. Wissenschaft und Technik bilden den Motor der industriellen Produktion; technischer Fortschritt treibt die wirtschaftliche Entwicklung vorwärts. Produktivitätsgewinne ermöglichen die massenhafte Produktion von Gütern zu sinkenden Preisen. Der industrielle Kapitalismus zielt au fond auf Massenkonsum: Konsumtion ist das „eigentliche“ Ziel allen industriell-kapitalistischen Wirtschaftens, nahezu alle Menschen wollen fast ständig und immer mehr konsumieren (Konsumwünsche werden auch von den Anbietern stimuliert, um Nachfrage für neue Produkte zu schaffen.) Wirtschaftliche Entwicklung verläuft nicht linear, sondern in Wellen. Krisen, in denen nicht mehr ertragreiches Kapital oder Überkapazitäten aus dem Produktionsprozeß ausgeschieden werden, gehören daher zum industriellen Kapitalismus. Sie werden überwunden durch die erfolgreiche Entwicklung und Umsetzung neuer Ideen, Erfindungen, Verfahren, und Produkte.
Zuerst in England gegen Ende des 18. Jahrhunderts und im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts in einigen Ländern Westeuropas und in den Vereinigten Staaten setzte sich die industrielle Produktionsweise durch. Es waren die industriellen Aktivitäten, die die agrarisch orientierte Handelswirtschaft in eine moderne Industriewirtschaft transformierten. Fortan bestimmten die durch eine größere Effizienz der Produktion erzielten Produktivitätsfortschritte – erlangt in der Regel über technischen Fortschritt – das Wachstum der Wirtschaft. Der industrielle Sektor erzielt in modernen Industriewirtschaften die größten Wachstumsraten. Innerhalb des Industriesektors2 kommt dem produzierenden Gewerbe die größte Bedeutung zu. Die immer stärkere Ausweitung des industriellen Sektors und der Anstieg der Produktivität führten zu einer deutlichen Vergrößerung des Pro-Kopf-Einkommens. Die Industrialisierung vergrößerte in enormer Weise die Möglichkeiten für den Handel der Länder untereinander, aber auch für den internationalen Kapitalverkehr und die internationale Migration. Die wirtschaftliche Verflechtung der Staaten untereinander nahm rapide zu.
Im Verlaufe dieser Entwicklung veränderte sich von der Mitte des 19. Jahrhunderts an die Struktur der Wirtschaftsunternehmen in den Industrieländern auf fundamentale Weise. Mit der Ausrichtung auf industrielle Unternehmen und mit der damit einhergehenden Bildung von größeren und Großunternehmen, die Skalenvorteile erzielten (d. h. bei der Herstellung eines Guts sinken die Stückkosten, je größer die Gesamtproduktion ist), bedurften diese neuen Unternehmen erstens eines größeren Kapitalstocks, zweitens der Entwicklung und Umsetzung von Marketing- und Absatzstrategien, sowie drittens einer stärkeren Arbeitsteilung im Bereich der kaufmännischen Verwaltung. Die letzte Entwicklung führte zur Anstellung von Kapitalverwaltern oder managers, da der Unternehmer nicht mehr imstande war, alle Sparten eines Großunternehmens – Einkauf, Produktion, Verpackung, Transport, Absatz, Marketing, Finanzierung – zu leiten. Im managerial capitalism werden die Entscheidungen über Produktion, Unternehmenswachstum und Investitionen von Managern getroffen. In den die Vereinigten Staaten, aber auch im Deutsche Reich und zum geringen Teil in England, den Vorreitern der Industriellen Revolution, war diese Entwicklung am deutlichsten sichtbar.
Der industrielle Kapitalismus verändert mit seiner immer stärker werdenden Dynamik nicht nur das gesamte Wirtschaftsleben, einschließlich der Landwirtschaft, grundlegend, vielmehr reichen die Wirkungen dieses Prozesses weit in Gesellschaft, Politik, Krieg und das Alltagsleben hinein. Seit der Seßhaftwerdung des Menschen und der Erfindung des Ackerbaus zwecks Nahrungsbeschaffung durch bewußt betriebene Produktion vor rund 11 000 Jahren im Nahen Osten – ein sich über mehrere Jahrtausende hinziehender Prozeß – hat nichts das Leben des Menschen so nachhaltig verändert wie die Industrielle Revolution.
Ungefähr um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert gelang England als erstem Land der Übergang von einer agrarisch bestimmten Handelswirtschaft zu einer Industriewirtschaft. Im 19. Jahrhundert war England die größte und dynamischste, die am weitesten entwickelte und die am stärksten industrialisierte Volkswirtschaft der Welt. Um die Mitte es 19. Jahrhunderts entfielen rund 21 Prozent der Weltindustrieproduktion auf England, gefolgt von Frankreich mit 17 Prozent und Deutschland mit 16 Prozent.3 Kurz nach der Jahrhundertmitte entfiel die Hälfte der weltweiten Eisen- und Textilproduktion auf England. Um 1870 war England die größte Produktionsstätte (workshop of the world) mit 32 Prozent der Weltindustrieproduktion, gefolgt von den Vereinigten Staaten mit 23 Prozent und Deutschland mit 13 Prozent. Seine Überlegenheit als industrielle Pioniermacht trug in hohem Maße dazu bei, ein Weltreich (empire) zu erobern und zu beherrschen, das in seiner Hochzeit rund ein Viertel der Welt umfaßte. Als führende Industriemacht verfügte es über die Flottentechnologie, um dieses weltumspannende Reich aufrechtzuerhalten. Durch seine industrielle Überlegenheit beherrschte England den Weltmarkt: es war die größte Handelsmacht, auf die rund ein Viertel des Welthandels entfiel.
Um das Jahr 1880 waren in England dann nur noch 15 Prozent der Arbeitskräfte im Agrarsektor beschäftigt4, in Deutschland immerhin noch 42 Prozent (oder, nach neueren, präziseren Zahlen 48 Prozent), in den Vereinigten Staaten 52 Prozent.5 Diese Entwicklung – verminderte volkswirtschaftliche Bedeutung des Agrarsektors und vermehrte Bedeutung des industriellen Sektors – wurde ausschlaggebend gefördert durch einen starken Rückgang der Transportkosten. Dieser ermöglichte es, Getreide seit Mitte der 1870er Jahre billiger zu importieren als in England anzubauen; seit Mitte der achtziger Jahre wurden 65 Prozent des englischen Getreidebedarfs eingeführt. Zudem gab es, anders als in allen anderen europäischen Ländern, keine Zölle, die die Einfuhr von Agrargütern hätten behindern können. Die englische Volkswirtschaft war bereits damals in weit höherem Maße als ihre Konkurrenten am Grundgedanken industrieller Wertschöpfung orientiert, wozu gehört, daß Nahrungsmittel nicht mehr heimisch erzeugt, sondern importiert werden. Im Kriegsfalle bedeutete eine solche Abhängigkeit von Getreideimporten allerdings potentiell eine deutlich höhere Verwundbarkeit, wie der politischen Klasse Englands stets bewußt war.
Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hatte sich das Bild in mancherlei Hinsicht geändert. In den damals technologisch am weitesten fortgeschrittenen Industrien, nämlich Elektrotechnik, chemische Industrie und der Anwendung des Verbrennungsmotors, war England deutlich weniger modern als Deutschland oder die Vereinigten Staaten. In kaum einem Industriezweig mit fortgeschrittener Technologie – sei es Werkzeugmaschinen, Kugellager oder Chemieanlagen – gelang es, den heimischen Bedarf decken, geschweige denn nennenswerte Exporterfolge erzielen. Dagegen bestanden 70 Prozent der Exporte aus Textilien, Kohle und Eisen/Stahl, also den „alten“ Gütern, die die Frühphase der Industrialisierung bestimmt hatten. Als Folge der technologischen Überalterung der englischen Industrie nahm die internationale Wettbewerbsfähigkeit Englands immer mehr ab: wertmäßig wurden mehr Güter importiert als exportiert. Das so entstehende Handelsbilanzdefizit wurde ausgeglichen durch die Zinszahlungen des Auslands auf die riesigen englischen Finanzanlagen in Übersee.
Für die geringere Dynamik des englischen Industriesektors in den Jahren zwischen 1870 und 1914 im Vergleich mit den Vereinigten Staaten und Deutschland waren vier wesentliche Gründe maßgebend: (1) Marktgröße: Der industrielle Sektor Englands war überwiegend auf die Produktion von Konsumgütern ausgerichtet, doch war der heimische Markt für Konsumgüter nicht so groß, daß er jene Skalenvorteile ermöglicht hätte, die für das Entstehen von Großunternehmen nötig sind. (2) Unternehmensstruktur: Englische Unternehmen waren immer noch weit stärker als in den Vereinigten Staaten oder in Deutschland an der Figur des Unternehmer-Eigentümers ausgerichtet, managerial capitalism bildete sich nur in geringem Umfang heraus. Die Folge war, daß kleinere und mittlere Unternehmen die Wirtschaft prägten. (3) Exportstruktur: Industrielle Fertigprodukte lieferte England in beträchtlichem Maße (in vielen Sparten zwischen 67 und 55 Prozent) in seine Kolonien, die unterindustrialisiert gehalten wurden. Die Folge war, daß die englische Produktionsstruktur in erster Linie auf traditionelle Güter ausgerichtet war, die sich in den wirtschaftlich von England kontrollierten Kolonien keinem Wettbewerb stellen mußten. Das führte zu wenig Innovation und zu einer geringen wirtschaftlichen Dynamik (4) Bildungsvoraussetzungen: Das englische Bildungsideal war „humanistisch“ orientiert, also an der Ausbildung in alten Sprachen, nicht an Naturwissenschaft und Technik. Daher fehlten in dieser Phase der wirtschaftlichen Entwicklung der englischen Volkswirtschaft die notwendigen wissenschaftlichen Grundlagen und deren technische Anwendungen. Das Ingenieurwesen war im Vergleich zu Deutschland und den Vereinigten Staaten wenig entwickelt. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert war die englische Industrie mit ihrer technologischen Überalterung „in vielerlei Hinsicht ein in Betrieb befindliches Museum industrieller Archäologie“6. Das wurde aber weder von den englischen Unternehmern noch von der politischen Klasse des Lands so gesehen – im Gegenteil, man sah das Land immer noch als industrielle Führungsmacht.
Ganz anders verlief dagegen die Entwicklung des Finanzsektors. Als erstes Land entwickelte England in dieser Zeit einen modernen internationalen Dienstleistungssektor in den Bereichen Bankwesen, Seetransport und Versicherung; in diesen Branchen nimmt England auch heute noch eine Spitzenstellung in der Welt ein. Von herausragender Bedeutung war die Funktion, die England in dem sich damals herausbildenden internationalen Währungssystem wahrnahm. The City of London war der Finanzplatz, wo Kreditgeschäfte aller Art zwischen Kaufleuten aller Länder getätigt wurden: ein multilaterales, weltweit ausgerichtetes Abrechnungssystem, ein kompetent gesteuerter internationaler Kreditmechanismus, der auf informelle Art so etwas wie eine Weltzentralbank bildete. Der größte Anteil des Welthandels wurde in London finanziert und abgerechnet. Der größte Anteil internationaler Anleihen wurde am Londoner Kapitalmarkt aufgelegt: im Jahre 1913 entfielen 44 Prozent aller Direktinvestitionen im Ausland auf England, die restlichen 56 Prozent auf Frankreich, Deutschland, Belgien und die Niederlande.7 Viele damalige Entwicklungsländer, vor allem südamerikanische Länder, legten Anleihen am englischen Kapitalmarkt auf, in erster Linie, um die Schaffung ihrer Infrastruktur (Eisenbahnen und öffentliche Versorgungsunternehmen) zu finanzieren. Das lag, nebenbei, im höchsten Maße im Interesse der englischen Ex- und Importwirtschaft, die zuerst die Materialien für den Eisenbahnbau, bis hin zu vollständigen stählernen Bahnhöfen, lieferte und später die Rohstoff- und Nahrungsmittelexporte dieser Länder aufnahm. Abgesehen vom Gold wurde der größte Anteil internationaler Währungsreserven in Pfund Sterling gehalten. Das englische Pfund war die einzige wirklich internationale Währung. „London war der Mittelpunkt eines Finanzimperiums, das internationaler und in seiner Mannigfaltigkeit ausgedehnter war als das politische Imperium, dessen Hauptstadt es war.“8
Nach dem Pionierland England entwickelte sich, mit etwas Verzögerung, in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts auch in Frankreich und deutlich später in Deutschland allmählich die industrielle Produktionsweise. Bis ungefähr 1860/65 lag der Industrialisierungsgrad in Frankreich höher als in den deutschen Ländern. Doch ungefähr seit der Jahrhundertmitte beschleunigte sich die industrielle Entwicklung Deutschlands beträchtlich. Von 1850 bis 1913 verfünffachte sich das deutsche Inlandsprodukt, und die Produktionsleistung pro Kopf wuchs in dieser Zeit um 250 Prozent. Damit nahm auch Deutschlands Anteil an der Weltindustriegüterproduktion stetig zu; kurz nach der Jahrhundertwende übertraf der deutsche Anteil den englischen. Die Vereinigten Staaten vergrößerten seit dem letzten Viertel des 19. Jahrhunderts mittels ihrer höheren Produktivität, transformiert in höhere Raten des Wirtschaftswachstums, ihren Anteil beständig, so daß am Vorabend des Ersten Weltkriegs 36 Prozent der Weltindustrieproduktion auf die Vereinigten Staaten entfielen. Das entsprach der Industrieproduktion der drei nächstwichtigen Industrieländer England (14 Prozent), Deutschland (16 Prozent) und Frankreich (6 Prozent) zusammengenommen. Setzt man die industrielle Produktion der Industrieländer am Vorabend des Ersten Weltkriegs in Beziehung zueinander mit der Industrieproduktion Englands als Referenzgröße (100 Prozent), so erreichte Deutschland damals 122 Prozent der englischen Industrieproduktion, während auf die Vereinigten Staaten aufgrund ihrer größeren Bevölkerungszahl bei ungefähr gleichem wirtschaftlichem Entwicklungsniveau 241 Prozent entfielen.9 Andererseits: Konstruiert man einen Index der industriellen Produktion pro Kopf für das Jahr 1913, so erscheint die deutsche industrielle Leistung nicht mehr ganz so beeindruckend. Setzt man die Vereinigten Staaten mit 100 Prozent, so erreichte England 90 Prozent dieser Leistung und Deutschland (an vierter Stelle nach der kleinen Volkswirtschaft Belgien und gleichauf mit der kleinen Volkswirtschaft Schweiz) 64 Prozent.10 Das Pro-Kopf-Einkommen Deutschlands lag im Jahre 1913 (abgesehen von den kleineren Volkswirtschaften Belgien, Dänemark und der Schweiz) an dritter Stelle in der Welt, wobei zu berücksichtigen ist, daß England sein Sozialprodukt mit einer deutlich geringeren Bevölkerungszahl als Deutschland erstellte (45 zu 65 Millionen Einwohner) und das Finanzzentrum der Welt bildete.
Tabelle 1
Verteilung der Weltindustrieproduktion 1870–1913
(in Prozent)
Quelle: W. W. Rostow, The World Economy – History & Prospect, Austin (Texas) 1978, S. 52–53.
Die Ursache der relativen Verschiebungen in der Weltindustrieproduktion bilden die unterschiedlichen Wachstumsraten der Volkswirtschaften: diese betrugen preisbereinigt im Zeitraum zwischen 1870–1913 in England 1 Prozent, in Deutschland 1,6 Prozent und in den Vereinigten Staaten 1,8 Prozent pro Kopf jährlich.11 Noch deutlicher wird die Diskrepanz der Wachstumsraten der drei Volkswirtschaften, wenn man lediglich den Zeitraum von 1890 bis 1913 betrachtet: England 1,7 Prozent, Deutschland 2,9 Prozent, Vereinigte Staaten 3,9 Prozent pro Jahr.12 Dieses Wirtschaftswachstum wurde vor allem von der Dynamik des Industriesektors getragen, nämlich von dessen Produktivität, wobei die Produktivität einen Indikator des technischen Fortschritts bildet. Allerdings war die deutsche Produktivität geringer als die englische oder die amerikanische: Deutschland erreichte im Jahre 1870 lediglich 70 Prozent der Produktivität der Vereinigten Staaten, während England damals die amerikanische Produktivität um 15 Prozent übertraf. Im Jahre 1913 hatte sich die Relation zwischen der deutschen und der amerikanischen Produktivität nicht verändert, wohingegen die englische Produktivität auf 86 Prozent der amerikanischen zurückgegangen war.13 Dabei handelt es sich um ein durchaus nicht ungewöhnliches Phänomen, denn in der Regel weisen jene Länder, die beginnen, einen industriellen Sektor herauszubilden, größere Raten des Wirtschaftswachstums auf als weiter entwickelte Volkswirtschaften. Der Grund für die geringeren Wachstumsraten der englischen Volkswirtschaft lag nicht darin, daß das Land wirtschaftlich stagnierte, sondern daß die deutsche und die amerikanische Industrie dynamischer und moderner waren und daher höhere Raten des Wirtschaftswachstums aufwiesen. Dynamischer waren die amerikanische und die deutsche Volkswirtschaften, weil sie flexibler auf wirtschaftliche und technologische Veränderungen reagierten und solche Veränderungen in größerem Maße selbst generierten. England hatte bereits Anfang der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts seine industrielle Spitzenstellung an die Vereinigten Staaten verloren und war in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts industriell auf den dritten Rang unter den Volkswirtschaften zurückgefallen.14 Zudem trug gerade die Möglichkeit, auf die Ressourcen des Kolonialreichs zurückgreifen zu können, in hohem Maße dazu bei, eine Umorientierung der englischen Volkswirtschaft, hin zu den höherwertigen, oftmals durch Forschungs- und Entwicklungsleistungen gewonnenen Produkten zu verhindern. So war das englische Empire unter langfristigen Gesichtspunkten bereits damals nur noch in direkter finanzieller Hinsicht – die Erträge der City of London in ihrer Funktion als virtuelle Weltzentralbank – ein wirtschaftliches Aktivum, in industrieller Hinsicht verhinderte die Existenz des Empire einen rechtzeitigen Strukturwandel.
Insgesamt war der Zeitraum 1870 bis 1913, und vor allem der Zeitraum ab1890, durch ein starkes Wachstum der industriellen Produktion in den wirtschaftlich wichtigsten Ländern gekennzeichnet („stark“ bezogen auf die niedrigen vorindustriellen Raten des Wirtschaftswachstums). Vielleicht bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts, spätestens jedoch 1870, waren die Vereinigten Staaten zur größten Volkswirtschaft der Welt geworden, um 1880 wurden sie dann auch, die bisherige weltwirtschaftliche Vormacht England überholend, zum größten Produzenten von Industriegütern. Dies vor allem deshalb, weil die Vereinigten Staaten gegen Ende des Jahrhunderts sowohl technologisch wie auch, damit zusammenhängend, in der Produktivität die erste Stelle in der Welt einnahmen.
Das Weltwirtschaftssystem des späten 19. Jahrhunderts ist durch ein starkes Wachstum des Welthandels charakterisiert, das rund 20 Prozent höher lag als das Wachstum der Weltproduktion. Der umfangreichste und wichtigste Teil des Austauschs fand zwischen den Industrieländern statt. Doch auch der Kapitalexport nahm beträchtlich zu. Zwischen 1870 und 1914 investierte England (mit großen Fluktuationen) durchschnittlich mehr als 5 Prozent seines Bruttosozialprodukts im Ausland; Frankreich und Deutschland, die beiden anderen großen Kapitalexportländer, investierten, mit deutlich niedrigeren Beträgen, 4 Prozent beziehungsweise 3 Prozent.15 Als Folge des Kapitalexports war im Jahre 1914 mehr als ein Viertel des gesamten englischen Volksvermögens von rund 14,3 Milliarden Pfund – 4 Milliarden Pfund – im Ausland angelegt, die Hälfte davon im Empire.16 Die Erträge aus diesen Auslandsinvestitionen waren beträchtlich: sie betrugen rund 4 Prozent des Volkseinkommens in den 1880er Jahren, 7 Prozent im Jahre 1903 und knapp 10 Prozent am Vorabend des Weltkriegs.17 Dieses Weltwirtschaftssystem funktionierte, weil alle Regierungen, jenseits der überkommenen merkantilistischen Vorstellungen, kaum wirtschaftspolitische Vorstellungen entwickelten und daher an einer politischen Steuerung des Weltwirtschaftssystems wenig Interesse zeigten.
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich die Volkswirtschaft der Vereinigten Staaten dynamischer entwickelt als die Englands. Zwar warf der Sezessions-/Bürgerkrieg die Vereinigten Staaten in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung zurück, doch in der Periode des Wiederaufbaus und danach machte die amerikanische Industrie stürmische Fortschritte; ab 1866 nahm das amerikanische Wirtschaftswachstum stark zu. Das wirtschaftliche Handeln unterlag keinerlei staatlicher Kontrolle oder Einschränkung. Eine ungeheure technische und wirtschaftliche Dynamik brach sich Bahn, angetrieben von einer skrupellosen Erwerbsgesinnung. Tycoons („Industriekapitäne“ oder „Industriemagnaten“) bauten ohne Rücksicht auf die menschlichen „Kosten“ riesige Unternehmensimperien auf, wohingegen ein unternehmerischer Mittelstand sich weder damals noch später in nennenswertem Ausmaß herausbildete. Bereits in den frühen achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts stiegen die Vereinigten Staaten zur ersten Industriemacht der Welt auf mit einem Anteil von 29 Prozent der Weltindustrieproduktion und ließen dabei England mit einem Anteil von 27 Prozent hinter sich zurück. Allerdings produzierten die Vereinigten Staaten in erster Linie für den großen heimischen Markt; auf sie entfielen daher um diese Zeit nur 11 Prozent des Welthandels.