Das Buch

Momo, ein kleines struppiges Mädchen, lebt am Rande einer Großstadt in den Ruinen eines Amphitheaters. Sie besitzt eine außergewöhnliche Gabe: Momo hört den Menschen zu und schenkt ihnen Zeit. Doch eines Tages rückt das gespenstische Heer der grauen Herren in die Stadt ein. Sie haben es auf die kostbare Lebenszeit der Menschen abgesehen und Momo ist die Einzige, die der dunklen Macht der Zeitdiebe noch Einhalt gebieten kann.

Michael Endes Märchen-Roman über den Zauber der Zeit

Weltweiter Bestseller – übersetzt in 46 Sprachen, über 10 Millionen verkaufte Bücher

Der Autor

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© Caio Garrubba

Michael Ende (1929–1995) zählt zu den bekanntesten deutschen Schriftstellern. Neben Kinder- und Jugendbüchern schrieb er poetische Bilderbuchtexte und Bücher für Erwachsene, Theaterstücke und Gedichte. Viele seiner Bücher wurden verfilmt oder für Funk und Fernsehen bearbeitet. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche deutsche und internationale Preise. Seine Bücher wurden in mehr als 40 Sprachen übersetzt und haben eine Gesamtauflage von über 35 Millionen Exemplaren.

Mehr über Michael Ende: www.michaelende.de

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Viel Spaß beim Lesen!

Titelseite

Im Dunkel scheint dein Licht.

Woher, ich weiß es nicht.

Es scheint so nah und doch so fern.

Ich weiß nicht, wie du heißt.

Was du auch immer seist:

Schimmere, schimmere, kleiner Stern!

(Nach einem alten irischen Kinderlied)

ERSTER TEIL:
Momo und ihre Freunde

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ERSTES KAPITEL

Eine große Stadt und ein kleines Mädchen

In alten, alten Zeiten, als die Menschen noch in ganz anderen Sprachen redeten, gab es in den warmen Ländern schon große und prächtige Städte. Da erhoben sich die Paläste der Könige und Kaiser, da gab es breite Straßen, enge Gassen und winkelige Gässchen, da standen herrliche Tempel mit goldenen und marmornen Götterstatuen, da gab es bunte Märkte, wo Waren aus aller Herren Länder feilgeboten wurden, und weite schöne Plätze, wo die Leute sich versammelten, um Neuigkeiten zu besprechen und Reden zu halten oder anzuhören. Und vor allem gab es dort große Theater.

Sie sahen ähnlich aus, wie ein Zirkus noch heute aussieht, nur dass sie ganz und gar aus Steinblöcken gefügt waren. Die Sitzreihen für die Zuschauer lagen stufenförmig übereinander wie in einem gewaltigen Trichter. Von oben gesehen waren manche dieser Bauwerke kreisrund, andere mehr oval und wieder andere bildeten einen weiten Halbkreis. Man nannte sie Amphitheater.

Es gab welche, die groß waren wie ein Fußballstadion, und kleinere, in die nur ein paar hundert Zuschauer passten. Es gab prächtige, mit Säulen und Figuren verzierte und solche, die schlicht und schmucklos waren. Dächer hatten diese Amphitheater nicht, alles fand unter freiem Himmel statt. In den prachtvollen Theatern waren deshalb golddurchwirkte Teppiche über die Sitzreihen gespannt, um das Publikum vor der Glut der Sonne oder vor plötzlichen Regenschauern zu schützen. In den einfachen Theatern dienten Matten aus Binsen und Stroh dem gleichen Zweck. Mit einem Wort: Die Theater waren so, wie die Leute es sich leisten konnten. Aber haben wollten sie alle eins, denn sie waren leidenschaftliche Zuhörer und Zuschauer.

Und wenn sie den ergreifenden oder auch den komischen Begebenheiten lauschten, die auf der Bühne dargestellt wurden, dann war es ihnen, als ob jenes nur gespielte Leben auf geheimnisvolle Weise wirklicher wäre als ihr eigenes, alltägliches. Und sie liebten es, auf diese andere Wirklichkeit hinzuhorchen.

Jahrtausende sind seither vergangen. Die großen Städte von damals sind zerfallen, die Tempel und Paläste sind eingestürzt. Wind und Regen, Kälte und Hitze haben die Steine abgeschliffen und ausgehöhlt, und auch von den großen Theatern stehen nur noch Ruinen. Im geborstenen Gemäuer singen nun die Zikaden ihr eintöniges Lied, das sich anhört, als ob die Erde im Schlaf atmet.

Aber einige dieser alten, großen Städte sind große Städte geblieben bis auf den heutigen Tag. Natürlich ist das Leben in ihnen anders geworden. Die Menschen fahren mit Autos und Straßenbahnen, haben Telefon und elektrisches Licht. Aber da und dort zwischen den neuen Gebäuden stehen noch ein paar Säulen, ein Tor, ein Stück Mauer oder auch ein Amphitheater aus jenen alten Tagen. Und in einer solchen Stadt hat sich die Geschichte von Momo begeben.

Draußen am südlichen Rand dieser großen Stadt, dort, wo schon die ersten Felder beginnen und die Hütten und Häuser immer armseliger werden, liegt, in einem Pinienwäldchen versteckt, die Ruine eines kleinen Amphitheaters. Es war auch in jenen alten Zeiten keines von den prächtigen, es war schon damals sozusagen ein Theater für ärmere Leute. In unseren Tagen, das heißt um jene Zeit, da die Geschichte von Momo ihren Anfang nahm, war die Ruine fast ganz vergessen. Nur ein paar Professoren der Altertumswissenschaft wussten von ihr, aber sie kümmerten sich nicht weiter um sie, weil es dort nichts mehr zu erforschen gab. Sie war auch keine Sehenswürdigkeit, die sich mit anderen, die es in der großen Stadt gab, messen konnte. So verirrten sich nur ab und zu ein paar Touristen dorthin, kletterten auf den grasbewachsenen Sitzreihen umher, machten Lärm, knipsten ein Erinnerungsfoto und gingen wieder fort. Dann kehrte die Stille in das steinerne Rund zurück und die Zikaden stimmten die nächste Strophe ihres endlosen Liedes an, die sich übrigens in nichts von der vorigen unterschied.

Eigentlich waren es nur die Leute aus der näheren Umgebung, die das seltsame runde Bauwerk kannten. Sie ließen dort ihre Ziegen weiden, die Kinder benutzten den runden Platz in der Mitte zum Ballspielen und manchmal trafen sich dort am Abend die Liebespaare.

Aber eines Tages sprach es sich bei den Leuten herum, dass neuerdings jemand in der Ruine wohne. Es sei ein Kind, ein kleines Mädchen vermutlich. So genau könne man das allerdings nicht sagen, weil es ein bisschen merkwürdig angezogen sei. Es hieße Momo oder so ähnlich.

Momos äußere Erscheinung war in der Tat ein wenig seltsam und konnte auf Menschen, die großen Wert auf Sauberkeit und Ordnung legen, möglicherweise etwas erschreckend wirken.

Sie war klein und ziemlich mager, sodass man beim besten Willen nicht erkennen konnte, ob sie erst acht oder schon zwölf Jahre alt war. Sie hatte einen wilden, pechschwarzen Lockenkopf, der so aussah, als ob er noch nie mit einem Kamm oder einer Schere in Berührung gekommen wäre. Sie hatte sehr große, wunderschöne und ebenfalls pechschwarze Augen und Füße von der gleichen Farbe, denn sie lief fast immer barfuß. Nur im Winter trug sie manchmal Schuhe, aber es waren zwei verschiedene, die nicht zusammenpassten und ihr außerdem viel zu groß waren. Das kam daher, dass Momo eben nichts besaß, als was sie irgendwo fand oder geschenkt bekam. Ihr Rock war aus allerlei bunten Flicken zusammengenäht und reichte ihr bis auf die Fußknöchel. Darüber trug sie eine alte, viel zu weite Männerjacke, deren Ärmel an den Handgelenken umgekrempelt waren. Abschneiden wollte Momo sie nicht, weil sie vorsorglich daran dachte, dass sie ja noch wachsen würde. Und wer konnte wissen, ob sie jemals wieder eine so schöne und praktische Jacke mit so vielen Taschen finden würde.

Unter der grasbewachsenen Bühne der Theaterruine gab es ein paar halb eingestürzte Kammern, die man durch ein Loch in der Außenmauer betreten konnte. Hier hatte Momo sich häuslich eingerichtet.

Eines Mittags kamen einige Männer und Frauen aus der näheren Umgebung zu ihr und versuchten sie auszufragen. Momo stand ihnen gegenüber und guckte sie ängstlich an, weil sie fürchtete, die Leute würden sie wegjagen. Aber sie merkte bald, dass es freundliche Leute waren. Sie waren selber arm und kannten das Leben.

»So«, sagte einer der Männer, »hier gefällt es dir also?«

»Ja«, antwortete Momo.

»Und du willst hierbleiben?«

»Ja, gern.«

»Aber wirst du denn nirgendwo erwartet?«

»Nein.«

»Ich meine, musst du denn nicht wieder nach Hause?«

»Ich bin hier zu Hause«, versicherte Momo schnell.

»Wo kommst du denn her, Kind?«

Momo machte mit der Hand eine unbestimmte Bewegung, die irgendwohin in die Ferne deutete.

»Wer sind denn deine Eltern?«, forschte der Mann weiter.

Das Kind schaute ihn und die anderen Leute ratlos an und hob ein wenig die Schultern. Die Leute tauschten Blicke und seufzten.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, fuhr der Mann fort, »wir wollen dich nicht vertreiben. Wir wollen dir helfen.«

Momo nickte stumm, aber noch nicht ganz überzeugt.

»Du sagst, dass du Momo heißt, nicht wahr?«

»Ja.«

»Das ist ein hübscher Name, aber ich hab ihn noch nie gehört. Wer hat dir denn den Namen gegeben?«

»Ich«, sagte Momo.

»Du hast dich selbst so genannt?«

»Ja.«

»Wann bist du denn geboren?«

Momo überlegte und sagte schließlich: »Soweit ich mich erinnern kann, war ich immer schon da.«

»Hast du denn keine Tante, keinen Onkel, keine Groß-mutter, überhaupt keine Familie, wo du hinkannst?«

Momo schaute den Mann nur an und schwieg eine Weile. Dann murmelte sie: »Ich bin hier zu Hause.«

»Na ja«, meinte der Mann, »aber du bist doch ein Kind – wie alt bist du eigentlich?«

»Hundert«, sagte Momo zögernd.

Die Leute lachten, weil sie es für einen Spaß hielten.

»Also, ernsthaft, wie alt bist du?«

»Hundertzwei«, antwortete Momo, noch ein wenig unsicherer.

Es dauerte eine Weile, bis die Leute merkten, dass das Kind nur ein paar Zahlwörter kannte, die es aufgeschnappt hatte, sich aber nichts Bestimmtes darunter vorstellen konnte, weil niemand es zählen gelehrt hatte.

»Hör mal«, sagte der Mann, nachdem er sich mit den anderen beraten hatte, »wäre es dir recht, wenn wir der Polizei sagen, dass du hier bist? Dann würdest du in ein Heim kommen, wo du zu essen kriegst und ein Bett hast und wo du rechnen und lesen und schreiben und noch viel mehr lernen kannst. Was hältst du davon, eh?«

Momo sah ihn erschrocken an.

»Nein«, murmelte sie, »da will ich nicht hin. Da war ich schon mal. Andere Kinder waren auch da. Da waren Gitter an den Fenstern. Jeden Tag gab’s Prügel – aber ganz ungerecht. Da bin ich nachts über die Mauer und weggelaufen. Da will ich nicht wieder hin.«

»Das kann ich verstehen«, sagte ein alter Mann und nickte. Und die anderen Leute konnten es auch verstehen und nickten.

»Also gut«, sagte eine Frau, »aber du bist doch noch klein. Irgendwer muss doch für dich sorgen.«

»Ich«, antwortete Momo erleichtert.

»Kannst du das denn?«, fragte die Frau.

Momo schwieg eine Weile und sagte dann leise: »Ich brauch nicht viel.«

Wieder wechselten die Leute Blicke, seufzten und nickten. »Weißt du, Momo«, ergriff nun wieder der Mann das Wort, der zuerst gesprochen hatte, »wir meinen, du könntest vielleicht bei einem von uns unterkriechen. Wir haben zwar selber alle nur wenig Platz und die meisten haben schon einen Haufen Kinder, die gefüttert sein wollen, aber wir meinen, auf einen mehr kommt es dann auch schon nicht mehr an. Was hältst du davon, eh?«

»Danke«, sagte Momo und lächelte zum ersten Mal, »vielen Dank! Aber könntet ihr mich nicht einfach hier wohnen lassen?«

Die Leute berieten lange hin und her und zuletzt waren sie einverstanden. Denn hier, so meinten sie, könne das Kind schließlich genauso gut wohnen wie bei einem von ihnen, und sorgen wollten sie alle gemeinsam für Momo, weil es für alle zusammen sowieso einfacher wäre als für einen allein.

Sie fingen gleich an, indem sie zunächst einmal die halb eingestürzte steinerne Kammer, in der Momo hauste, aufräumten und instand setzten, so gut es ging. Einer von ihnen, der Maurer war, baute sogar einen kleinen steinernen Herd. Ein rostiges Ofenrohr wurde auch aufgetrieben. Ein alter Schreiner nagelte aus ein paar Kistenbrettern ein Tischchen und zwei Stühle zusammen. Und schließlich brachten die Frauen noch ein ausgedientes, mit Schnörkeln verziertes Eisenbett, eine Matratze, die nur wenig zerrissen war, und zwei Decken. Aus dem steinernen Loch unter der Bühne der Ruine war ein behagliches kleines Zimmerchen geworden. Der Maurer, der künstlerische Fähigkeiten besaß, malte zuletzt noch ein hübsches Blumenbild an die Wand. Sogar den Rahmen und den Nagel, an dem das Bild hing, malte er dazu. Und dann kamen die Kinder der Leute und brachten, was man an Essen erübrigen konnte, das eine ein Stückchen Käse, das andere einen kleinen Brotwecken, das dritte etwas Obst und so fort. Und da es sehr viele Kinder waren, kam an diesem Abend eine solche Menge zusammen, dass sie alle miteinander im Amphitheater ein richtiges kleines Fest zu Ehren von Momos Einzug feiern konnten. Es war ein so vergnügtes Fest, wie nur arme Leute es zu feiern verstehen.

So begann die Freundschaft zwischen der kleinen Momo und den Leuten der näheren Umgebung.

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ZWEITES KAPITEL

Eine ungewöhnliche Eigenschaft und ein ganz gewöhnlicher Streit

Von nun an ging es der kleinen Momo gut, jedenfalls nach ihrer eigenen Meinung. Irgendetwas zu essen hatte sie jetzt immer, mal mehr, mal weniger, wie es sich eben fügte und wie die Leute es entbehren konnten. Sie hatte ein Dach über dem Kopf, sie hatte ein Bett und sie konnte sich, wenn es kalt war, ein Feuer machen. Und was das Wichtigste war: Sie hatte viele gute Freunde.

Man könnte nun denken, dass Momo ganz einfach großes Glück gehabt hatte, an so freundliche Leute geraten zu sein, und Momo selbst war durchaus dieser Ansicht. Aber auch für die Leute stellte sich schon bald heraus, dass sie nicht weniger Glück gehabt hatten. Sie brauchten Momo und sie wunderten sich, wie sie früher ohne sie ausgekommen waren. Und je länger das kleine Mädchen bei ihnen war, desto unentbehrlicher wurde es ihnen, so unentbehrlich, dass sie nur noch fürchteten, es könnte eines Tages wieder auf und davon gehen.

So kam es, dass Momo sehr viel Besuch hatte. Man sah fast immer jemand bei ihr sitzen, der angelegentlich mit ihr redete. Und wer sie brauchte und nicht kommen konnte, schickte nach ihr, um sie zu holen. Und wer noch nicht gemerkt hatte, dass er sie brauchte, zu dem sagten die andern: »Geh doch zu Momo!«

Dieser Satz wurde nach und nach zu einer feststehenden Redensart bei den Leuten der näheren Umgebung. So wie man sagt: »Alles Gute!« oder »Gesegnete Mahlzeit!« oder »Weiß der liebe Himmel!«, genauso sagte man also bei allen möglichen Gelegenheiten: »Geh doch zu Momo!«

Aber warum? War Momo vielleicht so unglaublich klug, dass sie jedem Menschen einen guten Rat geben konnte? Fand sie immer die richtigen Worte, wenn jemand Trost brauchte? Konnte sie weise und gerechte Urteile fällen?

Nein, das alles konnte Momo ebenso wenig wie jedes andere Kind.

Konnte Momo dann vielleicht irgendetwas, das die Leute in gute Laune versetzte? Konnte sie zum Beispiel besonders schön singen? Oder konnte sie irgendein Instrument spielen? Oder konnte sie – weil sie doch in einer Art Zirkus wohnte – am Ende gar tanzen oder akrobatische Kunststücke vorführen?

Nein, das war es auch nicht.

Konnte sie vielleicht zaubern? Wusste sie irgendeinen geheimnisvollen Spruch, mit dem man alle Sorgen und Nöte vertreiben konnte? Konnte sie aus der Hand lesen oder sonst wie die Zukunft voraussagen?

Nichts von alledem.

Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war: zuhören. Das ist nichts Besonderes, wird nun vielleicht mancher Leser sagen, zuhören kann doch jeder.

Aber das ist ein Irrtum. Wirklich zuhören können nur ganz wenige Menschen. Und so wie Momo sich aufs Zuhören verstand, war es ganz und gar einmalig.

Momo konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötzlich sehr gescheite Gedanken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brachte, nein, sie saß nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerksamkeit und Anteilnahme. Dabei schaute sie den anderen mit ihren großen, dunklen Augen an und der Betreffende fühlte, wie in ihm auf einmal Gedanken auftauchten, von denen er nie geahnt hatte, dass sie in ihm steckten.

Sie konnte so zuhören, dass ratlose oder unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten. Oder dass Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder dass Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden. Und wenn jemand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankommt und der ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf – und er ging hin und erzählte alles das der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, dass er sich gründlich irrte, dass es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war.

So konnte Momo zuhören!

Eines Tages kamen zwei Männer zu ihr ins Amphitheater, die sich auf den Tod zerstritten hatten und nicht mehr miteinander reden wollten, obwohl sie Nachbarn waren. Die anderen Leute hatten ihnen geraten, doch zu Momo zu gehen, denn es ginge nicht an, dass Nachbarn in Feindschaft lebten. Die beiden Männer hatten sich anfangs geweigert und schließlich widerwillig nachgegeben.

Nun saßen sie also im Amphitheater, stumm und feindselig, jeder auf einer anderen Seite der steinernen Sitzreihen, und schauten finster vor sich hin.

Der eine war der Maurer, von dem der Ofen und das schöne Blumenbild in Momos »Wohnzimmer« stammten. Er hieß Nicola und war ein starker Kerl mit einem schwarzen, aufgezwirbelten Schnurrbart. Der andere hieß Nino. Er war mager und sah immer ein wenig müde aus. Nino war Pächter eines kleinen Lokals am Stadtrand, in dem meistens nur ein paar alte Männer saßen, die den ganzen Abend an einem einzigen Glas Wein tranken und von ihren Erinnerungen redeten. Auch Nino und dessen dicke Frau gehörten zu Momos Freunden und hatten ihr schon oft etwas Gutes zu essen gebracht.

Da Momo nun merkte, dass die beiden böse aufeinander waren, wusste sie zunächst nicht, zu welchem sie zuerst hingehen sollte. Um keinen zu kränken, setzte sie sich schließlich in gleichem Abstand von beiden auf den Rand der steinernen Bühne und schaute die zwei abwechselnd an. Sie wartete einfach ab, was geschehen würde. Manche Dinge brauchen ihre Zeit – und Zeit war ja das Einzige, woran Momo reich war.

Nachdem die Männer lang so gesessen hatten, stand Nicola plötzlich auf und sagte: »Ich geh. Ich hab meinen guten Willen gezeigt, indem ich überhaupt gekommen bin. Aber du siehst, Momo, er ist verstockt. Wozu soll ich noch länger warten?«

Und er wandte sich tatsächlich zum Gehen.

»Ja, mach, dass du wegkommst!«, rief Nino ihm nach. »Du hättest erst gar nicht zu kommen brauchen. Ich versöhne mich doch nicht mit einem Verbrecher!«

Nicola fuhr herum. Sein Gesicht war puterrot vor Zorn.

»Wer ist hier ein Verbrecher?«, fragte er drohend und kam wieder zurück.

»Sag das noch mal!«

»Sooft du nur willst!«, schrie Nino. »Du glaubst wohl, weil du stark und brutal bist, wagt niemand dir die Wahrheit ins Gesicht zu sagen? Aber ich, ich sage sie dir und allen, die sie hören wollen! Ja, nur zu, komm doch her und bring mich um, wie du es schon mal tun wolltest!«

»Hätt ich’s nur getan!«, brüllte Nicola und ballte die Fäuste. »Aber da siehst du, Momo, wie er lügt und verleumdet! Ich hab ihn nur beim Kragen genommen und in die Spülwasserpfütze hinter seiner Spelunke geschmissen. Da drin kann nicht mal eine Ratte ersaufen.« Und wieder zu Nino gewandt, schrie er: »Leider lebst du ja auch noch, wie man sieht!«

Eine Zeit lang gingen die wildesten Beschimpfungen hin und her und Momo konnte nicht schlau daraus werden, worum es überhaupt ging und weshalb die beiden so erbittert aufeinander waren. Aber nach und nach kam heraus, dass Nicola diese Schandtat nur begangen hatte, weil Nino ihm zuvor in Gegenwart einiger Gäste eine Ohrfeige gegeben hatte. Dem war allerdings wieder vorausgegangen, dass Nicola versucht hatte, Ninos ganzes Geschirr zu zertrümmern.

»Ist ja überhaupt nicht wahr!«, verteidigte sich Nicola erbittert. »Einen einzigen Krug hab ich an die Wand ge­schmissen und der hatte sowieso schon einen Sprung!«

»Aber es war mein Krug, verstehst du?«, erwiderte Nino. »Und überhaupt hast du kein Recht zu so was!«

Nicola war durchaus der Ansicht, in gutem Recht gehandelt zu haben, denn Nino hatte ihn in seiner Ehre als Maurer gekränkt.

»Weißt du, was er über mich gesagt hat?«, rief er Momo zu. »Er hat gesagt, ich könne keine gerade Mauer bauen, weil ich Tag und Nacht betrunken sei. Und sogar mein Urgroßvater wäre schon so gewesen und er hätte am Schiefen Turm von Pisa mitgebaut!«

»Aber Nicola«, antwortete Nino, »das war doch nur Spaß!«

»Ein schöner Spaß!«, grollte Nicola. »Über so was kann ich nicht lachen.«

Es stellte sich jedoch heraus, dass Nino damit nur einen anderen Spaß Nicolas zurückgezahlt hatte. Eines Morgens hatte nämlich in knallroten Buchstaben auf Ninos Tür gestanden: »Wer nichts wird, wird Wirt«. Und das fand wiederum Nino gar nicht komisch.

Nun stritten sie eine Weile todernst, welcher von den beiden Späßen der bessere gewesen sei, und redeten sich wieder in Zorn. Aber plötzlich brachen sie ab.

Momo schaute sie groß an und keiner der beiden konnte sich ihren Blick so recht deuten. Machte sie sich im Inneren lustig über sie? Oder war sie traurig? Ihr Gesicht verriet es nicht. Aber den Männern war plötzlich, als sähen sie sich selbst in einem Spiegel, und sie fingen an sich zu schämen.

»Gut«, sagte Nicola, »ich hätte das vielleicht nicht auf deine Tür schreiben sollen, Nino. Ich hätte es auch nicht getan, wenn du dich nicht geweigert hättest, mir nur ein einziges Glas Wein auszuschenken. Das war gegen das Gesetz, verstehst du? Denn ich habe immer bezahlt und du hattest keinen Grund, mich so zu behandeln.«

»Und ob ich den hatte!«, gab Nino zurück. »Erinnerst du dich nicht mehr an die Sache mit dem heiligen Antonius? Ah, jetzt wirst du blass! Da hast du mich nämlich nach Strich und Faden übers Ohr gehauen und so was muss ich mir nicht bieten lassen.«

»Ich dich?«, rief Nicola und schlug sich wild vor den Kopf. »Umgekehrt wird ein Schuh draus! Du wolltest mich hereinlegen, nur ist es dir nicht gelungen!«

Die Sache war die: In Ninos kleinem Lokal hatte ein Bild an der Wand gehangen, das den heiligen Antonius darstellte. Es war ein Farbdruck, den Nino irgendwann einmal aus einer Illustrierten ausgeschnitten und gerahmt hatte.

Eines Tages wollte Nicola Nino dieses Bild abhandeln – angeblich, weil er es so schön fand. Und Nino hatte Nicola durch geschicktes Feilschen schließlich dazu gebracht, dass dieser seinen Radioapparat zum Tausch bot. Nino lachte sich ins Fäustchen, denn natürlich schnitt Nicola dabei ziemlich schlecht ab. Das Geschäft wurde gemacht.

Nun stellte sich aber heraus, dass zwischen dem Bild und der Rückwand aus Pappdeckel ein Geldschein steckte, von dem Nino nichts gewusst hatte. Jetzt war er plötzlich der Übervorteilte und das ärgerte ihn. Kurz und bündig verlangte er von Nicola das Geld zurück, weil es nicht zu dem Tausch gehört habe. Nicola weigerte sich und daraufhin wollte Nino ihm nichts mehr ausschenken. So hatte der Streit angefangen.

Als die beiden die Sache nun bis zum Anfang zurückverfolgt hatten, schwiegen sie eine Weile.

Dann fragte Nino: »Sag mir jetzt einmal ganz ehrlich, Nicola – hast du schon vor dem Tausch von dem Geld gewusst oder nicht?«

»Klar, sonst hätte ich doch den Tausch nicht gemacht.«

»Dann musst du doch zugeben, dass du mich betrogen hast!«

»Wieso? Hast du denn von dem Geld wirklich nichts gewusst?«

»Nein, mein Ehrenwort!«

»Na, also. Dann wolltest du mich doch hereinlegen. Wie konntest du mir sonst für das wertlose Stück Zeitungspapier mein Radio abnehmen, he?«

»Und wieso hast du von dem Geld gewusst?«

»Ich hab gesehen, wie es zwei Abende vorher ein Gast als Opfergabe für den heiligen Antonius dort hineingesteckt hat.«

Nino biss sich auf die Lippen. »War es viel?«

»Nicht mehr und nicht weniger, als mein Radio wert war«, antwortete Nicola.

»Dann geht unser ganzer Streit«, meinte Nino nachdenklich, »eigentlich bloß um den heiligen Antonius, den ich aus der Zeitung ausgeschnitten habe.«

Nicola kratzte sich am Kopf.

»Eigentlich ja«, brummte er, »du kannst ihn gern wiederhaben, Nino.«

»Aber nicht doch!«, antwortete Nino würdevoll. »Getauscht ist getauscht! Ein Handschlag gilt unter Ehrenmännern!«

Und plötzlich fingen beide gleichzeitig an zu lachen. Sie kletterten die steinernen Stufen hinunter, trafen sich in der Mitte des grasbewachsenen runden Platzes, umarmten einander und klopften sich gegenseitig auf den Rücken. Dann nahmen sie beide Momo in den Arm und sagten: »Vielen Dank!«

Als sie nach einer Weile abzogen, winkte Momo ihnen noch lange nach. Sie war sehr zufrieden, dass ihre beiden Freunde nun wieder gut miteinander waren.

Ein anderes Mal brachte ihr ein kleiner Junge seinen Kanarienvogel, der nicht singen wollte. Das war eine viel schwerere Aufgabe für Momo. Sie musste ihm eine ganze Woche lang zuhören, bis er endlich wieder zu trillern und zu jubilieren begann.

Momo hörte allen zu, den Hunden und Katzen, den Grillen und Kröten, ja, sogar dem Regen und dem Wind in den Bäumen. Und alles sprach zu ihr auf seine Weise.

An manchen Abenden, wenn alle ihre Freunde nach Hause gegangen waren, saß sie noch lange allein in dem großen steinernen Rund des alten Theaters, über dem sich der sternenfunkelnde Himmel wölbte, und lauschte einfach auf die große Stille.

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Dann kam es ihr so vor, als säße sie mitten in einer großen Ohrmuschel, die in die Sternenwelt hinaushorchte. Und es war ihr, als höre sie eine leise und doch gewaltige Musik, die ihr ganz seltsam zu Herzen ging.

In solchen Nächten hatte sie immer besonders schöne Träume.

Und wer nun noch immer meint, zuhören sei nichts Besonderes, der mag nur einmal versuchen, ob er es auch so gut kann.

DRITTES KAPITEL

Ein gespielter Sturm und ein wirkliches Gewitter

Es versteht sich wohl von selbst, dass Momo beim Zuhören keinerlei Unterschied zwischen Erwachsenen und Kindern machte.

Aber die Kinder kamen noch aus einem anderen Grund so gern in das alte Amphitheater. Seit Momo da war, konnten sie so gut spielen wie nie zuvor. Es gab einfach keine langweiligen Augenblicke mehr. Das war nicht etwa deshalb so, weil Momo so gute Vorschläge machte. Nein, Momo war nur einfach da und spielte mit. Und eben dadurch – man weiß nicht wie – kamen den Kindern selbst die besten Ideen. Täglich erfanden sie neue Spiele, eines schöner als das andere.

Einmal, an einem schwülen, drückenden Tag, saßen etwa zehn, elf Kinder auf den steinernen Stufen und warteten auf Momo, die ein wenig ausgegangen war, um in der Gegend umherzustreifen, wie sie es manchmal tat. Am Himmel hingen dicke schwarze Wolken. Wahrscheinlich würde es bald ein Gewitter geben.

»Ich geh lieber heim«, sagte ein Mädchen, das ein kleines Geschwisterchen bei sich hatte, »ich hab Angst vor Blitz und Donner.«

»Und zu Hause?«, fragte ein Junge, der eine Brille trug. »Hast du zu Hause vielleicht keine Angst davor?«

»Doch«, antwortete das Mädchen.

»Dann kannst du genauso gut hier bleiben«, meinte der Junge.

Das Mädchen zuckte die Schultern und nickte. Nach einer Weile sagte sie: »Aber Momo kommt vielleicht gar nicht.«

»Na und?«, mischte sich nun ein Junge ins Gespräch, der etwas verwahrlost aussah. »Deswegen können wir doch trotzdem irgendwas spielen – auch ohne Momo.«

»Gut, aber was?«

»Ich weiß auch nicht. Irgendwas eben.«

»Irgendwas ist nichts. Wer hat einen Vorschlag?«

»Ich weiß was«, sagte ein dicker Junge mit einer hohen Mädchenstimme, »wir könnten spielen, dass die ganze Ruine ein großes Schiff ist und wir fahren in unbekannte Meere und erleben Abenteuer. Ich bin der Kapitän, du bist der Erste Steuermann und du bist ein Naturforscher, ein Professor, weil es nämlich eine Forschungsreise ist, versteht ihr? Und die anderen sind Matrosen.«

»Und wir Mädchen, was sind wir?«

»Matrosinnen. Es ist ein Zukunftsschiff.«

Das war ein guter Plan! Sie versuchten zu spielen, aber sie konnten sich nicht recht einig werden, und das Spiel kam nicht in Fluss. Nach kurzer Zeit saßen alle wieder auf den steinernen Stufen und warteten.

Und dann kam Momo.

Hoch rauschte die Bugwelle auf. Das Forschungsschiff »Argo« schwankte leise in der Dünung auf und nieder, während es in ruhiger Fahrt mit voller Kraft voraus in das südliche Korallenmeer vordrang.

Seit Menschengedenken hatte kein Schiff es mehr gewagt, diese gefährlichen Gewässer zu befahren, denn es wimmelte hier von Untiefen, von Korallenriffen und von unbekannten Seeungeheuern. Und vor allem gab es hier den sogenannten »Ewigen Taifun«, einen Wirbelsturm, der niemals zur Ruhe kam. Immerwährend wanderte er auf diesem Meer umher und suchte nach Beute wie ein lebendiges, ja sogar listiges Wesen. Sein Weg war unberechenbar. Und alles, was dieser Orkan einmal in seinen riesenhaften Klauen hatte, das ließ er nicht eher wieder los, als bis er es in streichholzdünne Splitter zertrümmert hatte.

Freilich, das Forschungsschiff »Argo« war in besonderer Weise für eine Begegnung mit diesem »Wandernden Wirbelsturm« ausgerüstet. Es bestand ganz und gar aus blauem Alamont-Stahl, der biegsam und unzerbrechlich war wie eine Degenklinge. Und es war durch ein besonderes Herstellungsverfahren aus einem einzigen Stück gegossen, ohne Naht- und Schweißstelle.

Dennoch hätte wohl schwerlich ein anderer Kapitän und eine andere Mannschaft den Mut gehabt, sich diesen unerhörten Gefahren auszusetzen. Kapitän Gordon jedoch hatte ihn. Stolz blickte er von der Kommandobrücke auf seine Matrosen und Matrosinnen hinunter, die alle erprobte Fachleute auf ihren jeweiligen Spezialgebieten waren.

Neben dem Kapitän stand sein Erster Steuermann, Don Melú, ein Seebär von altem Schrot und Korn, der schon hundertsiebenundzwanzig Orkane überstanden hatte.

Weiter hinten auf dem Sonnendeck sah man Professor Eisenstein, den wissenschaftlichen Leiter der Expedition, mit seinen Assistentinnen Maurin und Sara, die ihm beide mit ihrem enormen Gedächtnis ganze Bibliotheken ersetzten. Alle drei standen über ihre Präzisionsinstrumente gebeugt und beratschlagten leise miteinander in ihrer komplizierten Wissenschaftlersprache.

Ein wenig abseits von ihnen saß die schöne Eingeborene Momosan mit untergeschlagenen Beinen. Ab und zu befragte der Forscher sie wegen besonderer Einzelheiten dieses ­Meeres und sie antwortete ihm in ihrem wohlklingenden Hula-Dialekt, den nur der Professor verstand.

Ziel der Expedition war es, die Ursache für den »Wandernden Taifun« zu finden und wenn möglich zu beseitigen, damit dieses Meer auch für andere Schiffe wieder befahrbar werden würde. Aber noch war alles ruhig und von dem Sturm war nichts zu spüren.

Plötzlich riss ein Schrei des Mannes im Ausguck den Kapitän aus seinen Gedanken.

»Käpt’n«, rief er durch die hohle Hand herunter, »entweder bin ich verrückt oder ich sehe tatsächlich eine gläserne Insel da vorn!«

Der Kapitän und Don Melú blickten sofort durch ihre Fernrohre. Auch Professor Eisenstein und seine Assistentinnen kamen interessiert herbei. Nur die schöne Eingeborene blieb gelassen sitzen. Die rätselhaften Sitten ihres Volkes verboten es ihr, Neugier zu zeigen.

Die gläserne Insel war bald erreicht. Der Professor stieg über die Strickleiter an der Außenwand des Schiffes hinunter und betrat den durchsichtigen Boden. Dieser war außerordentlich glitschig und Professor Eisenstein hatte alle Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Die ganze Insel war kreisrund und hatte schätzungsweise zwanzig Meter Durchmesser. Nach der Mitte zu stieg sie an wie ein Kuppeldach. Als der Professor die höchste Stelle erreicht hatte, konnte er deutlich einen pulsierenden Lichtschein tief im Innern dieser Insel wahrnehmen.

Er teilte seine Beobachtung den anderen mit, die gespannt wartend an der Reling standen.

»Demnach«, meinte die Assistentin Maurin, »muss es sich wohl um ein Oggelmumpf bistrozinalis handeln.«

»Möglich«, erwiderte die Assistentin Sara, »aber es kann auch ebenso gut eine Schluckula tapetozifera sein.«

Professor Eisenstein richtete sich auf, rückte seine Brille zurecht und rief hinauf: »Nach meiner Ansicht haben wir es hier mit einer Abart des gewöhnlichen Strumpfus quietschinensus zu tun. Aber das können wir erst entscheiden, wenn wir die Sache von unten erforscht haben.«

Daraufhin sprangen drei Matrosinnen, die außerdem weltberühmte Sporttaucherinnen waren und sich in der Zwischenzeit bereits Taucheranzüge angezogen hatten, ins Wasser und verschwanden in der blauen Tiefe.

Eine Weile lang erschienen nur Luftblasen an der Meeresoberfläche, aber dann tauchte plötzlich eines der Mädchen, Sandra mit Namen, auf und rief keuchend: »Es handelt sich um eine Riesenqualle! Die beiden anderen hängen in ihren Fangarmen fest und können sich nicht mehr befreien. Wir müssen ihnen zu Hilfe kommen, ehe es zu spät ist!«

Damit verschwand sie wieder.

Sofort stürzten sich hundert Froschmänner unter der Führung ihres erfahrenen Hauptmannes Franco, genannt der »Delfin«, in die Fluten. Ein ungeheurer Kampf entbrannte unter Wasser, dessen Oberfläche sich mit Schaum bedeckte. Aber es gelang selbst diesen Männern nicht, die beiden Mädchen aus der schrecklichen Umklammerung zu befreien. Zu gewaltig war die Kraft dieses riesenhaften Quallentieres!

»Irgendetwas«, sagte der Professor mit gerunzelter Stirn zu seinen Assistentinnen, »irgendetwas scheint in diesem Meer eine Art Riesenwachstum zu verursachen. Das ist hoch­in­te­­ressant!«

Inzwischen hatten Kapitän Gordon und sein Erster Steuermann Don Melú sich beraten und waren zu einer Entscheidung gekommen.

»Zurück!«, rief Don Melú. »Alle Mann wieder an Bord! Wir werden das Untier in zwei Stücke schneiden, anders können wir die beiden Mädchen nicht befreien.«

Der »Delfin« und seine Froschmänner kletterten an Bord zurück. Die »Argo« fuhr nun zunächst ein wenig rückwärts und dann mit voller Kraft voraus, auf die Riesenqualle zu. Der Bug des stählernen Schiffes war scharf wie ein Rasiermesser. Lautlos und beinahe ohne fühlbare Erschütterung teilte er die Riesenqualle in zwei Hälften.

Das war zwar nicht ganz ungefährlich für die beiden in den Fangarmen festgehaltenen Mädchen, aber der Erste Steuermann Don Melú hatte deren Lage haargenau berechnet und fuhr mitten zwischen ihnen hindurch. Sofort hingen die Fangarme beider Quallenhälften schlaff und kraftlos herunter und die Gefangenen konnten sich herauswinden.

Freudig wurden sie auf dem Schiff empfangen. Professor Eisenstein trat auf die beiden Mädchen zu und sprach: »Es war meine Schuld. Ich hätte euch nicht hinunterschicken dürfen. Verzeiht mir, dass ich euch in Gefahr gebracht habe!«

»Nichts zu verzeihen, Professor«, antwortete das eine Mädchen und lachte fröhlich, »dazu sind wir schließlich mitgefahren.«

Und das andere Mädchen setzte hinzu: »Die Gefahr ist unser Beruf.«

Zu einem längeren Wortwechsel blieb jedoch keine Zeit mehr. Über den Rettungsarbeiten hatten Kapitän und Besatzung gänzlich vergessen, das Meer zu beobachten. Und so wurden sie erst jetzt, in letzter Minute, gewahr, dass inzwischen der »Wandernde Wirbelsturm« am Horizont aufgetaucht war und sich mit rasender Geschwindigkeit auf die »Argo« zubewegte.

Eine erste gewaltige Sturzwelle packte das stählerne Schiff, riss es in die Höhe, warf es auf die Seite und stürzte es in ein Wellental von gut fünfzig Metern Tiefe hinab. Schon bei diesem ersten Anprall wären weniger erfahrene und tapfere Seeleute als die der »Argo« zweifellos zur einen Hälfte über Bord gespült worden und zur anderen in Ohnmacht gefallen. Kapitän Gordon jedoch stand breitbeinig auf der Kommandobrücke, als sei nichts geschehen, und seine Mannschaft hatte ebenso ungerührt standgehalten. Nur die schöne Eingeborene Momosan, an solche wilden Seefahrten nicht gewöhnt, war in ein Rettungsboot geklettert. In wenigen Sekunden war der ganze Himmel pechschwarz. Heulend und brüllend warf sich der Wirbelsturm auf das Schiff, schleuderte es turmhoch hinauf und abgrundtief hinunter. Und es war, als steigere sich seine Wut von Minute zu Minute, weil er der stählernen »Argo« nichts anhaben konnte.

Mit ruhiger Stimme gab der Kapitän seine Anweisungen, die dann vom Ersten Steuermann laut ausgerufen wurden. Jedermann stand an seinem Platz.

Sogar Professor Eisenstein und seine Assistentinnen hatten ihre Instrumente nicht im Stich gelassen. Sie berechneten, wo der innerste Kern des Wirbelsturmes sein musste, denn dorthin sollte die Fahrt ja gehen. Kapitän Gordon bewunderte im Stillen die Kaltblütigkeit dieser Wissenschaftler, die ja nicht wie er und seine Leute mit dem Meer auf Du und Du standen.

Ein erster Blitzstrahl zuckte hernieder und traf das stählerne Schiff, welches daraufhin natürlich ganz und gar elektrisch geladen war. Wo man hinfasste, sprangen einem die Funken entgegen. Aber darauf war jeder an Bord der »Argo« in monatelangen harten Übungen trainiert worden. Es machte keinem mehr etwas aus.

Nur dass die dünneren Teile des Schiffes, Stahltrossen und Eisenstangen zu glühen begannen wie der Draht in einer elektrischen Birne, das erschwerte der Besatzung doch etwas die Arbeit, obgleich alle Asbesthandschuhe anzogen. Aber zum Glück wurde diese Glut schnell wieder gelöscht, denn nun stürzte der Regen hernieder, wie ihn noch keiner der Teilnehmer – Don Melú ausgenommen – je erlebt hatte, ein Regen, der so dicht war, dass er bald die ganze Luft zum Atmen verdrängte. Die Besatzung musste Tauchermasken und Atemgeräte anlegen.

Blitz auf Blitz und Donnerschlag auf Donnerschlag! Heulender Sturm! Haushohe Wogen und weißer Schaum!

Meter für Meter kämpfte sich die »Argo«, alle Maschinen auf Volldampf, gegen die Urgewalt dieses Taifuns vorwärts. Die Maschinisten und Heizer in der Tiefe der Kesselräume leisteten Übermenschliches. Sie hatten sich mit dicken Tauen festgebunden, um nicht von dem grausamen Schlingern und Stampfen des Schiffes in den offenen Feuerrachen der Dampfkessel geschleudert zu werden.

Und dann endlich war der innerste Kern des Wirbelsturms erreicht. Aber welch ein Anblick bot sich ihnen da!

Auf der Meeresoberfläche, die hier spiegelglatt war, weil alle Wellen einfach von der Gewalt des Sturmes flach gefegt wurden, tanzte ein riesenhaftes Wesen. Es stand auf einem Bein, wurde nach oben immer dicker und sah tatsächlich so aus wie ein Brummkreisel von der Größe eines Berges. Es drehte sich mit solcher Schnelligkeit um sich selbst, dass Einzelheiten nicht auszumachen waren.

»Ein Schum-Schum gummilastikum!«, rief der Professor begeistert und hielt seine Brille fest, die ihm der stürzende Regen immer wieder von der Nase spülte.

»Können Sie uns das vielleicht näher erklären?«, brummte Don Melú. »Wir sind einfache Seeleute und …«

»Lassen Sie den Professor jetzt ungestört forschen«, fiel ihm die Assistentin Sara ins Wort. »Es ist eine einmalige Gelegenheit. Dieses Kreiselwesen stammt wahrscheinlich noch aus den allerersten Zeiten der Erdentwicklung. Es muss über eine Milliarde Jahre alt sein. Heute gibt es davon nur noch eine mikroskopisch kleine Abart, die man manchmal in Tomatensoße, noch seltener in grüner Tinte findet. Ein Exemplar dieser Größe ist vermutlich das einzige seiner Art, das es noch gibt.«

»Aber wir sind hier«, rief der Kapitän durch das Heulen des Sturms, »um die Ursache des ›Ewigen Taifuns‹ zu beseitigen. Der Professor soll uns also sagen, wie man dieses Ding da zum Stillstehen bringt!«

»Das«, sagte der Professor, »weiß ich allerdings auch nicht. Die Wissenschaft hat ja noch keine Gelegenheit gehabt, es zu erforschen.«

»Gut«, meinte der Kapitän, »wir werden es erst einmal beschießen, dann werden wir ja sehen, was passiert.«

»Es ist ein Jammer!«, klagte der Professor. »Das einzige Exemplar eines Schum-Schum gummilastikum beschießen!«

Aber die Kontrafiktionskanone war bereits auf den Riesenkreisel eingestellt.

»Feuer!«, befahl der Kapitän.

Eine blaue Stichflamme von einem Kilometer Länge schoss aus dem Zwillingsrohr. Zu hören war natürlich nichts, denn eine Kontrafiktionskanone schießt ja bekanntlich mit Proteinen. Das leuchtende Geschoss flog auf das Schum-Schum zu, wurde aber von dem riesigen Wirbel erfasst und abgelenkt, umkreiste das Gebilde einige Male immer schneller und wurde schließlich in die Höhe gerissen, wo es im Schwarz der Wolken verschwand.

»Es ist zwecklos!«, rief Kapitän Gordon. »Wir müssen unbedingt näher an das Ding heran!«

»Näher kommen wir nicht mehr!«, schrie Don Melú zurück. »Die Maschinen laufen schon auf Volldampf. Aber das genügt gerade, um vom Sturm nicht zurückgeblasen zu werden.«

»Haben Sie einen Vorschlag, Professor?«, wollte der Kapitän wissen.

Aber Professor Eisenstein zuckte nur die Schultern und auch seine Assistentinnen wussten keinen Rat. Es sah so aus, als müsse man diese Expedition erfolglos abbrechen.

In diesem Augenblick zupfte jemand den Professor am Ärmel. Es war die schöne Eingeborene.

»Malumba!«, sagte sie mit anmutigen Gebärden. »Malumba oisitu sono! Erweini samba insaltu lolobindra. Kramuna heu beni beni sadogau.«

»Babalu?«, fragte der Professor erstaunt. »Didi maha feinosi intu ge doinen malumba?«

Die schöne Eingeborene nickte eifrig und erwiderte: »Dodo um aufu schulamat wawada.«

»Oi-oi«, antwortete der Professor und strich sich gedankenvoll das Kinn.

»Was will sie denn?«, erkundigte sich der Erste Steuermann.

»Sie sagt«, erklärte der Professor, »es gebe in ihrem Volk ein uraltes Lied, das den ›Wandernden Taifun‹ zum Einschlafen bringen könne, falls jemand den Mut hätte, es ihm vorzusingen.«

»Dass ich nicht lache!«, brummte Don Melú. »Ein Schlafliedchen für einen Orkan!«

»Was halten Sie davon, Professor?«, wollte die Assistentin Sara wissen. »Wäre so etwas möglich?«