Dorit David
Susanne will auf der Insel eigentlich nur ihre demenzkranke Tante besuchen. Doch die ist gar nicht so vergesslich wie gedacht. Kurzerhand besteht sie auf einem Strandausflug mit Ihrer Nichte und der Pflegerin Marianne. Susanne ist zunehmend fasziniert von Marianne. Die beiden kommen sich näher, doch dann ist die Tante auf einmal verschwunden …
Ihr langes Haar war glatt und fein wie das einer Asiatin. Nur die Farbe war aschblond und an einigen Stellen war es von helleren Strähnen durchzogen. Wenn sie sprach, dann leise. Man wurde an das Murmeln eines kleinen Baches erinnert oder an das Rauschen eines mäßigen Windes hinter geschlossenen Fenstern. Wenn sie an den Menschen vorbeiging, wich sie aus wie eine Strömung. Unauffällig und gleitend. Wie ihr Name. Marianne. So huschte sie auch an mir das erste Mal vorüber. Das war vor sechs Wochen. Ich besuchte gerade meine alte Tante in der Seniorenresidenz Echolot. Ein modernes Gebäude mit ringförmig angeordneten Gängen unweit des Strandes einer winzigen Insel. Der Name des Heimes erschien mir spröde. Und außerdem reimte er sich auf Tod. Marianne glitt an diesem Nachmittag mit einem Tablett an mir vorbei wie viele der Altenpflegerinnen, die hier in Schichtarbeit ihren Dienst ableisteten. Zahllose Tag- und Nachschwestern. Kommend und gehend wie Ebbe und Flut. In Wellen. So klein und kraftvoll wie sie begannen, so versiegten sie zum Ende ihrer Schicht und reihten sich ein in den immerwährenden Tag- und Nachtrhythmus dieses Heimes. Alle unauffällig, alle freundlich, alle stetig.
Bei jedem meiner Besuche in der Seniorenresidenz Echolot wunderte ich mich über die auffällige Stille, die nur durch einzelne, verzagte Rufe aus dem einen oder anderen Zimmer unterbrochen wurde. Vielleicht wirkte das Meer beruhigend auf Bewohner und Schwestern, dachte ich. Aber irgendwann fiel es mir auf: Alle Pflegerinnen trugen extrem weiches Schuhwerk. Niemand klapperte mit harten Absätzen. Möglicherweise war das eine der Vorschriften. Ich fröstelte und malte mir aus, was eine derartige Stille in mir anrichten würde, wenn ich allein den ganzen Tag in einem Zimmer, das nicht mehr meines war, herumsitzen müsste. Diese unendliche Stille würde bewirken, dass alles in mir zu schreien anfinge. Mein ganzes ungelebtes Leben begänne in meiner Seele zu toben.
Ich bin eine fröhliche Vielbeschäftigte und schon ein leerer Terminkalender versetzte mich in leichte Panik. Jetzt huschte Marianne ein zweites Mal an mir vorbei. Von der anderen Seite des Ganges.
„Entschuldigen Sie bitte. Ich suche mal wieder das Zimmer von Frau Martha Mosbach“, rief ich ihr hinterher. Trotz ihrer Eile und meiner verhaltenen Stimme, drehte sie sich augenblicklich um. Das schmale Schild auf dem straffen Kittel verriet mir ihren Namen. Offenbar hatte diese Marianne gute Ohren für leise Töne. Ohne ihren Gang zu unterbrechen rief sie gedämpft zurück: „Zimmer sechs, ganz hinten rechts.“
Dann huschte sie weiter, als hätte diese kleine Drehung nie stattgefunden. Als tanze sie eine einstudierte und lange geübte Schrittfolge. Ich konnte mich des Bildes nicht erwehren, dass Stürme und Unwetter über diese Schwester hinwegfegen könnten, ohne dass es sie aus der Bahn warf. Nachdenklich schaute ich ihr nach. Dann irrte ich eine Weile den runden Gang entlang und studierte die Zimmernummern. Dass weitere Pflegerinnen in stillen Kreisen an mir vorbeizogen, hatte fast schon etwas Meditatives. In einer angenehm beruhigten Verfassung betrat ich schließlich Zimmer sechs und blieb eine gute Stunde zu Besuch. Als ich mich von meiner Tante verabschiedete, traf ich Marianne nicht mehr und fühlte fast schon ein leises Bedauern.