Rebecca Solnit, Jahrgang 1961, ist eine der bedeutendsten Essayistinnen der USA. Sie schreibt u.a. für Harper’s und das politische Onlinemagazin TomDispatch. Solnits Themen reichen von Politik, Geschichte und Feminismus bis hin zu Kunst und Literaturwissenschaft. Für ihr Werk wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Solnit hat bislang siebzehn Bücher veröffentlicht, auf Deutsch erschien zuletzt bei Hoffmann und Campe Aus der nahen Ferne. Rebecca Solnit lebt in San Francisco.
Kathrin Razum, geboren 1964, hat Anglistik und Geschichte studiert und arbeitet als freiberufliche Übersetzerin in Heidelberg. Zu den von ihr übersetzten Autorinnen und Autoren gehören Susan Sontag, V. S. Naipaul, T. C. Boyle und Edna O’Brien.
Bettina Münch, geboren 1962, arbeitete als Kinder- und Jugendbuchlektorin. Heute lebt sie als freiberufliche Übersetzerin in Bad Vilbel. Zu den von ihr übersetzten Autorinnen und Autoren gehören V. S. Naipaul und Joseph Boyden.
Falsche Vergewaltigungsvorwürfe kommen vor, wenn auch relativ selten. Die Geschichten unschuldig Verurteilter sind allerdings schrecklich. 2013 veröffentlichte die britische Strafverfolgungsbehörde eine Studie, der zu entnehmen ist, dass im evaluierten Zeitraum 5651 Mal Anklage wegen Vergewaltigung, im Vergleich dazu aber nur 35 Mal Anklage wegen fälschlicher Beschuldigung erhoben wurde. (Anders gesagt: Auf 160 Vergewaltigungen kam eine einzige fälschliche Beschuldigung, weit weniger als 1 Prozent). Und ein Bericht des US - Justizministeriums rechnete für die USA hoch: pro Jahr geschätzte 322230 Vergewaltigungen, die 55424 polizeiliche Anzeigen, 26271 Verhaftungen und 7007 Verurteilungen zur Folge haben – was wiederum bedeutet, dass etwas mehr als 2 Prozent der geschätzten Vergewaltigungen und 12 Prozent der zur Anzeige gebrachten Vergewaltigungen in einer Verurteilung zu Gefängnisstrafe münden.
Für die Großmütter, die Gleichmacherinnen, die Träumenden, die Männer, die begreifen, die jungen Frauen, die dranbleiben, die älteren Frauen, die den Weg bereitet haben, für die Gespräche, die nicht enden, und eine Welt, in der es Ella Nachimovitz (geboren im Januar 2014) möglich sein wird, sich ganz und gar zu entfalten.
2008
Ich weiß immer noch nicht, warum Sallie und ich überhaupt zu dieser Party am Waldhang oberhalb von Aspen gegangen sind. Die Leute dort waren alle älter als wir und auf eine distinguierte Weise dröge, alt genug, um uns zwei Frauen um die vierzig als die jungen Damen des Abends durchgehen zu lassen. Das Haus war toll – wenn man Chalets im Ralph-Lauren-Stil mag –, eine rustikale Luxushütte auf fast dreitausend Meter Höhe mitsamt Elchgeweihen, diversen Kelims und einem Holzofen. Wir wollten gerade aufbrechen, da sagte unser Gastgeber: »Nein, bleiben Sie doch noch ein bisschen, ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten.« Er war ein imposanter Mann, der einen Haufen Geld verdient hatte.
Er ließ uns warten, während die anderen Gäste nach und nach in die Sommernacht verschwanden, dann bat er uns, an seinem authentisch gemaserten Holztisch Platz zu nehmen, und sagte zu mir: »So, also. Ich habe gehört, Sie haben ein paar Bücher geschrieben?«
Ich erwiderte: »Eine ganze Reihe sogar.«
Daraufhin fragte er in einem Ton, in dem man die siebenjährige Tochter von Freunden ermuntern würde, über ihre Flötenstunde zu berichten: »Und wovon handeln sie?«
Sie handelten von ziemlich unterschiedlichen Dingen, die sechs oder sieben Bücher, die ich bis dahin veröffentlicht hatte, aber ich erzählte zunächst nur von dem Buch, das an jenem Sommertag 2003 mein neustes war, River of Shadows: Eadweard Muybridge and the Technological Wild West, eine Abhandlung über die Vernichtung von Zeit und Raum und die Industrialisierung des Alltags.
Er fiel mir ins Wort, kaum dass ich Muybridge erwähnt hatte. »Wissen Sie, dass dieses Jahr ein ausgesprochen wichtiges Buch zu Muybridge erschienen ist?«
Ich ging so in der mir zugewiesenen Rolle der Naiven auf, dass ich ohne weiteres die Möglichkeit in Betracht zog, zeitgleich mit meinem könnte noch ein anderes Buch zum selben Thema erschienen sein, das mir vollkommen entgangen war. Er war schon dabei, mir von dem wichtigen Buch zu berichten – mit dieser selbstgefälligen Miene, die ich von schwadronierenden Männern so gut kenne, den Blick auf den fernen, unscharfen Horizont der eigenen Autorität gerichtet.
Um das kurz anzumerken: In meinem Leben gibt es jede Menge prima Männer, darunter eine lange Reihe von Verlegern, die mir schon in jungen Jahren zugehört, mich ermuntert und publiziert haben, mein unglaublich großzügiger jüngerer Bruder, tolle Freunde, für die das Gleiche gilt wie für den Gelehrten aus den Canterbury Tales, an den ich mich aus Mr Pelens Chaucer-Seminar noch erinnere: »Er lernte gern, und gerne mocht’ er lehren.« Aber es gibt eben auch diese anderen Männer. Mr Wichtig erging sich also selbstgefällig über dieses Buch, das ich hätte kennen müssen, als Sallie ihn unterbrach und sagte: »Das ist ihr Buch.« Oder zumindest versuchte sie, ihn zu unterbrechen.
Doch er redete unbeirrt weiter. Sie musste drei- oder viermal sagen: »Das ist ihr Buch«, bis es schließlich zu ihm durchdrang. Und dann wurde er, wie in einem Roman aus dem neunzehnten Jahrhundert, aschfahl. Dass tatsächlich ich die Autorin dieses wichtigen Buchs war, das er, wie sich herausstellte, gar nicht gelesen hatte, sondern nur aus der Besprechung in der New York Times Book Review ein paar Monate zuvor kannte, brachte die klaren Kategorien, in die er die Welt unterteilt hatte, derart durcheinander, dass es ihm die Sprache verschlug – einen Moment lang zumindest, dann schwadronierte er weiter. Als Frauen warteten wir höflich, bis wir außer Hörweite waren, ehe wir anfingen zu lachen, und wir lachen heute noch.
Ich mag solche Begebenheiten, bei denen Kräfte, die normalerweise tückisch im Verborgenen wirken, sich gleichsam aus dem Gras hervorschlängeln und plötzlich so unübersehbar sind wie eine Anakonda, die eine Kuh verschlungen hat, oder ein Haufen Elefantenscheiße auf dem Teppich.
Sicher, Menschen beiderlei Geschlechts tun sich bei gesellschaftlichen Anlässen hervor, indem sie über Belanglosigkeiten und Verschwörungstheorien schwadronieren, aber das durch und durch provokative Selbstvertrauen der vollkommen Unwissenden ist meiner Erfahrung nach geschlechtsspezifisch. Männer erklären mir die Welt, mir und anderen Frauen, ob sie nun wissen, wovon sie reden, oder nicht. Manche Männer jedenfalls.
Jede Frau weiß, wovon ich spreche. Es ist jener Dünkel, der jeder Frau auf jedem Gebiet ab und an das Leben schwer macht; der verhindert, dass Frauen ihre Meinung äußern oder, falls sie es doch wagen, dass sie gehört werden; der junge Frauen brutal zum Schweigen bringt, indem er ihnen, ähnlich wie Belästigungen auf der Straße, vermittelt, dass diese Welt nicht ihre ist. Er schult uns in Selbstzweifel und Selbstbeschränkung, während er zugleich das durch nichts gestützte überzogene Selbstvertrauen der Männer stärkt.
Es würde mich nicht überraschen, wenn die Ausrichtung der amerikanischen Politik seit 2001 unter anderem durch die Unfähigkeit bestimmt worden wäre, auf jemanden wie Coleen Rowley zu hören, die FBI-Frau, die schon früh vor Al-Qaida gewarnt hat, ganz gewiss wurde die politische Ausrichtung jedoch durch die Bush-Regierung bestimmt, die sich nichts sagen ließ, auch nicht, dass der Irak weder Verbindungen zu Al-Qaida hatte noch über Massenvernichtungswaffen verfügte und dass der Krieg keineswegs ein cakewalk, ein Kinderspiel, werden würde. (Das Bollwerk der Selbstgefälligkeit, das diese Regierung umgab, vermochten nicht einmal männliche Experten zu durchbrechen.)
Was den Krieg betrifft, war sicher Arroganz im Spiel, aber das Syndrom, von dem ich spreche, ist ein Krieg, dem sich fast jede Frau Tag für Tag ausgesetzt sieht, ein Krieg, der auch in ihrem Innern stattfindet, die Überzeugung, überflüssig zu sein, die Verlockung zu schweigen, und selbst eine durchaus beachtliche Karriere als Schriftstellerin (die ausgiebig recherchiert und korrekte Fakten liefert) hat mich von alldem nicht gänzlich befreien können. Nicht umsonst gab es diesen Moment, in dem ich bereit gewesen war, mich von Mr Wichtig und seinem maßlosen Selbstvertrauen in meiner deutlich wackeligeren Gewissheit erschüttern zu lassen.
Dabei darf man nicht vergessen, dass ich in meinem Recht, zu denken und mich zu äußern, deutlich mehr bestärkt worden bin als die meisten Frauen, und ich habe gelernt, dass ein gewisses Maß an Selbstzweifel hilfreich ist, um sich zu korrigieren, zu verstehen, zuzuhören und sich weiterzuentwickeln – zu viel Selbstzweifel jedoch wirkt lähmend, und uneingeschränktes Selbstvertrauen bringt arrogante Idioten hervor. Es gibt einen goldenen Mittelweg zwischen diesen beiden Polen, an die die beiden Geschlechter gedrängt worden sind, eine warme Äquatorregion des Gebens und Nehmens, in der wir uns alle treffen sollten.
Extremere Formen nimmt unsere Lage etwa in jenen Ländern des Nahen Ostens an, in denen die Aussage einer Frau kein rechtliches Gewicht hat, eine Frau also gegen einen Mann, der sie vergewaltigt hat, nur gerichtlich vorgehen kann, wenn sie einen männlichen Zeugen hat, der dem Vergewaltiger entgegentritt. Was natürlich selten vorkommt.
Glaubwürdigkeit ist eine wesentliche Voraussetzung, um zu überleben. Als ich noch sehr jung war und gerade erst zu begreifen begann, worum es im Feminismus geht und warum er notwendig ist, hatte ich einen Freund, dessen Onkel Atomphysiker war. An Weihnachten erzählte dieser Onkel einmal – als wäre es eine heitere, amüsante Anekdote –, wie die Frau eines Nachbarn in seiner Bombenbauervorstadt mal mitten in der Nacht nackt aus dem Haus gerannt war und geschrien hatte, ihr Mann wolle sie umbringen. »Wie konnten Sie denn wissen«, fragte ich damals, »dass das nicht stimmte?« Er erklärte mir geduldig, dass es sich hier um ehrbare Bürger gehandelt habe. Weshalb »Mein Mann will mich umbringen« schlicht keine glaubwürdige Erklärung dafür war, dass sie aus dem Haus geflohen war und geschrien hatte, ihr Mann versuche, sie umzubringen. Dass sie verrückt war, hingegen …
Selbst die Erwirkung eines Kontaktverbots – ein relativ neues Rechtsmittel – setzt voraus, dass man die nötige Glaubwürdigkeit besitzt, um das Gericht davon zu überzeugen, dass jemand eine Bedrohung darstellt, und um die Polizei zur Umsetzung des Verbots zu bewegen. Aber Kontaktverbote funktionieren sowieso oft nicht. Gewalt ist eine Methode, Leute zum Schweigen zu bringen, ihre Stimme und Glaubwürdigkeit zu negieren, das Recht, Macht über sie auszuüben, über ihr Daseinsrecht zu stellen. In den Vereinigten Staaten werden jeden Tag etwa drei Frauen von ihrem Ehemann oder Ex-Ehemann umgebracht. Es ist eine der häufigsten Todesursachen von Schwangeren in diesem Land. Im Zentrum des feministischen Kampfes dafür, dass Vergewaltigungen, auch in Beziehungen und in der Ehe, sowie häusliche Gewalt und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz als Straftaten behandelt werden, steht die Notwendigkeit, Frauen sowohl Glaubwürdigkeit als auch Gehör zu verschaffen.
Ich neige zu der Ansicht, dass Frauen den Status von Menschen erlangten, als man solche Taten ernst zu nehmen und gegen die großen Dinge, die uns im Weg stehen oder gar umbringen, juristisch vorzugehen begann, was ab Mitte der siebziger Jahre geschah, also lange nach meiner Geburt. Und wer nun einwenden will, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz sei keine Frage von Leben und Tod, der sei daran erinnert, dass die zwanzigjährige Maria Lauterbach, Gefreite bei den Marines, offenbar in einer Winternacht von einem höherrangigen Kollegen ermordet wurde, während sie noch auf den Gerichtstermin wartete, um wegen Vergewaltigung gegen ihn auszusagen. Man fand die verkohlten Überreste ihres schwangeren Leichnams in der Feuerstelle in seinem Garten.
Die kategorische Behauptung, er wisse, wovon er rede, und sie nicht – in einem noch so geringfügigen Teil eines beliebigen Gesprächs –, perpetuiert die Hässlichkeit dieser Welt und hält ihr Licht zurück. Nachdem im Jahr 2002 mein Buch Wanderlust erschienen war, stellte ich fest, dass ich mich nun besser gegen Versuche wehren konnte, mir meine Wahrnehmungen und Interpretationen auszureden. Es gab zwei Situationen zu jener Zeit, in denen ich gegen das Verhalten eines Mannes protestierte, nur um mitgeteilt zu bekommen, dass sich keineswegs zugetragen habe, was ich behauptete, vielmehr sei ich subjektiv, paranoid, überreizt, unaufrichtig – kurz: weiblich.
Früher hätte ich daraufhin an mir selbst gezweifelt und eingelenkt. Dass ich ein gewisses Ansehen als Schriftstellerin und Kulturhistorikerin erworben hatte, half mir, standhaft zu bleiben, aber so eine Bestärkung erfahren nur wenige Frauen, und es muss auf diesem Planeten mit seinen sieben Milliarden Bewohnern Milliarden von Frauen geben, denen immer wieder erzählt wird, dass sie keine verlässlichen Zeuginnen ihres eigenen Lebens seien, dass ihnen die Wahrheit nicht gehöre, weder jetzt noch jemals sonst. Das geht natürlich weit über das Phänomen von Männern, die uns die Welt erklären, hinaus, aber es ist Teil desselben Archipels der Arroganz.
Auch heute noch erklären mir Männer die Welt. Und kein Mann hat sich je bei mir entschuldigt, weil er etwas erklärt hat – falsch erklärt hat –, was ich weiß und er nicht. Bisher jedenfalls nicht, wobei ich den versicherungsstatistischen Tabellen zufolge womöglich noch vierzig Jahre und ein paar Zerquetschte vor mir habe, es könnte also durchaus noch geschehen. Nicht dass ich mit angehaltenem Atem darauf warten würde.
Ein paar Jahre nach dem Idioten in Aspen war ich in Berlin, um einen Vortrag zu halten, und wurde dort von dem Autor und Marxisten Tariq Ali zu einem Abendessen eingeladen, an dem außerdem noch ein Schriftsteller und Übersetzer sowie drei Frauen teilnahmen, die etwas jünger waren als ich und mehr oder weniger das gesamte Abendessen über ehrerbietig schwiegen. Tariq war klasse. Vielleicht fuchste es den Übersetzer, dass ich darauf bestand, in dem Gespräch eine bescheidene Rolle zu spielen – als ich erwähnte, dass Women Strike for Peace, jene außergewöhnliche, wenig bekannte Frauenorgansiation, die 1961 gegründet wurde und sich gegen Atomwaffen und für den Frieden einsetzte, daran beteiligt war, das Kommunisten hetzende Komitee für unamerikanische Umtriebe zu Fall zu bringen, bedachte er mich jedenfalls mit einem verächtlichen Grinsen. Das Komitee für unamerikanische Umtriebe, versicherte mir Mr Wichtig II, habe Anfang der Sechziger nicht mehr existiert, und ganz gewiss habe keine Frauengruppe dazu beigetragen, es zu Fall zu bringen. Sein Hohn war so vernichtend, sein Selbstvertrauen so aggressiv, dass eine Diskussion mit ihm, so schien mir, nur eine beängstigende Übung in Vergeblichkeit und eine Einladung zu weiteren Beleidigungen werden konnte.
Ich hatte damals, glaube ich, neun Bücher veröffentlicht, darunter eines, das auf Originaldokumenten zu Women Strike for Peace und Interviews mit einer der Schlüsselfiguren der Organisation beruhte. Aber die Welt erklärende Männer gehen immer noch davon aus, dass ich, um eine widerliche Schwängerungsmetapher zu verwenden, ein leeres Gefäß bin, das mit ihrer Weisheit und ihrem Wissen gefüllt werden will. Ein Freudianer würde behaupten zu wissen, was diese Männer haben und ich nicht, aber Intelligenz sitzt nicht zwischen den Beinen – nicht einmal, wenn man in der Lage ist, Virginia Woolfs lange, klangvolle, musikalische Sätze über die subtile Unterjochung der Frau mit seinem Pimmel in den Schnee zu schreiben. Wieder in meinem Hotelzimmer, recherchierte ich ein bisschen im Netz und fand heraus, dass laut Eric Bentleys maßgeblichem Werk über das Komitee für unamerikanische Umtriebe (House Committee on Unamerican Activities, HUAC) Women Strike for Peace »die entscheidende Kraft beim Sturm auf die Bastille des HUAC war«. Und zwar Anfang der sechziger Jahre.
Also ließ ich einen Essay für Nation (über Jane Jacobs, Betty Friedan und Rachel Carson) mit diesem Austausch beginnen, nicht zuletzt als Ausruf an einen der besonders unangenehmen Männer, die mir die Welt erklärt haben: Hey Mann, falls du das hier liest: Du bist ein Karbunkel im Gesicht der Menschheit und ein Zivilisationshindernis. Schäm dich in Grund und Boden.
Der Kampf mit den Männern, die uns die Welt erklären, hat viele Frauen niedergedrückt – Frauen meiner Generation und der nächsten Generation, die wir so dringend brauchen, hier und in Pakistan und Bolivien und Java, ganz zu schweigen von den zahllosen Frauen vor mir, die weder Labore noch Bibliotheken betreten, nicht am Gespräch oder an der Revolution teilnehmen durften, ja die nicht einmal der Kategorie Mensch zugeordnet wurden.
Nicht umsonst wurde Women Strike for Peace von Frauen gegründet, die es leid waren, in der Anti-Atomwaffen-Bewegung der fünfziger Jahre Kaffee zu kochen und Schreibarbeiten zu erledigen, aber kein Mitspracherecht, geschweige denn irgendeine Entscheidungsbefugnis zu haben. Die meisten Frauen kämpfen an zwei Fronten – einmal für oder gegen eine spezifische Sache und einmal schlichtweg für das Recht, ihre Meinung zu äußern, Ideen zu haben, als jemand anerkannt zu werden, die über Faktenwissen und Erkenntnisse verfügt, einen Wert hat, ein Mensch ist. Die Lage hat sich durchaus verbessert, aber das Ende dieses Kampfes werde ich sicher nicht mehr erleben. Ich führe ihn immer noch, natürlich für mich selbst, aber auch für all die jüngeren Frauen, die etwas zu sagen haben – damit sie es auch wirklich sagen können.
Bei einem Abendessen im März 2008 witzelte ich – nicht zum ersten Mal – über meine Idee, einen Essay mit dem Titel Wenn Männer mir die Welt erklären zu schreiben. Wer schreibt, hat meist einen ganzen Stall voll Ideen, die es nie auf die Rennbahn schaffen, und dieses Pony hatte ich schon das eine oder andere Mal zum Vergnügen ausgeritten. Damals war die brillante Theoretikerin und Aktivistin Marina Sitrin bei mir zu Besuch, und sie drängte mich, den Essay zu Papier zu bringen, damit Leute wie ihre jüngere Schwester Sam ihn lesen könnten. Junge Frauen, sagte sie, müssen erfahren, dass sie nicht wegen ihrer eigenen heimlichen Schwächen kleingemacht werden, sondern dass es sich hier um den langweiligen alten Geschlechterkampf handelt und wir alle, die wir weiblichen Geschlechts sind, so etwas früher oder später erleben.
Ich habe den Text am nächsten Tag frühmorgens in einem Rutsch geschrieben. Wenn etwas so schnell konkrete Form annimmt, dann hat es sich ganz offensichtlich schon über längere Zeit im Unterbewusstsein herausgebildet. Dieser Essay wollte geschrieben werden, das Pferd wollte auf die Rennbahn und ist losgaloppiert, kaum dass ich mich an den Computer gesetzt hatte. Da Marina damals länger schlief als ich, habe ich ihr den Essay zum Frühstück serviert und ihn dann später am selben Tag an Tom Engelhardt von TomDispatch geschickt, der ihn bald darauf im Netz veröffentlichte. Er verbreitete sich schnell, wie alle Texte, die auf Toms Website erscheinen, und er wird bis heute weitergeleitet, neu gepostet, geteilt und kommentiert. Kein anderer Text, den ich je geschrieben habe, hat solche Verbreitung gefunden.
Er hatte eine Saite angeschlagen. Einen Nerv getroffen.
Es gab Männer, die erklärten, dass es keineswegs ein geschlechtsspezifisches Phänomen sei, wenn Männer Frauen die Welt erklären. Üblicherweise wurden sie dann von Frauen darauf hingewiesen, dass sie durch ebendieses Beharren auf ihrem Recht, die Erfahrungen abzutun, von denen Frauen berichten, meine These bestätigten. (Um das klarzustellen: Ich bin natürlich der Ansicht, dass auch Frauen anderen manchmal auf herablassende Weise Dinge erklären, nicht zuletzt Männern. Aber das sagt nichts über das Machtgefälle, das noch unheilvollere Formen annehmen kann, oder über das Muster, nach dem das Geschlechterverhältnis in unserer Gesellschaft im Allgemeinen funktioniert.)
Andere Männer begriffen und reagierten souverän. Immerhin entstand der Text zu einer Zeit, als männliche Vertreter des Feminismus eine nennenswerte Rolle zu spielen begannen und es im Feminismus komischer zuging denn je. Wobei nicht alle bemerkten, wie komisch sie waren. Auf TomDispatch bekam ich 2008 eine Mail von einem älteren Mann aus Indianapolis, der mir schrieb, er habe »weder privat noch beruflich jemals eine Frau benachteiligt«, und dann schimpfte, ich solle mich »mit normaleren Männern umgeben oder zumindest erst mal etwas Hausarbeit machen«. Dann gab er mir ein paar Ratschläge, wie ich mein Leben führen sollte, und kommentierte meine »Minderwertigkeitsgefühle«. Er glaubte, herablassend behandelt zu werden sei eine Erfahrung, die man als Frau freiwillig macht oder eben auch nicht – ich war also selbst schuld.
Eine Website namens Academic Men Explain Things to Me / Wenn Akademiker mir die Welt erklären entstand, auf der Hunderte Akademikerinnen sich über Situationen austauschten, in denen sie herablassend behandelt oder kleingemacht worden waren, man schlecht über sie geredet hatte und anderes. Kurz nachdem mein Essay erschienen war, wurde der Begriff mansplaining2012mansplaining2010New York Times