Klaus Behling
Leben in der DDR
Vergessenes aus der Geschichte in 111 Fragen
edition berolina
eISBN 978-3-95841-551-5
1. Auflage
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Ein Wort voraus
Wie aus Mosaiksteinchen Bilder werden
Zeitungen von gestern sind das Papier, in das früher gern Fische eingewickelt wurden, manche Akten bekommen ihr Gewicht erst durch dicke Staubschichten, und Zeitzeugen müssen oft ertragen, als Besserwisser verspottet zu werden. An die Stelle von Informationen treten häufig Legenden.
Bilder, die sie illustrieren, werden zu Symbolen. Ist heute von der DDR die Rede, fehlen weder wogende Fahnenmeere über enthusiastischen Demonstranten, gereckte Fäuste und klirrende Militärparaden noch der Steinewerfer gegen einen sowjetischen Panzer 1953, der Mauer-Maurer aus dem August 1961 oder die verrotteten Straßenzüge in den kleinen und großen Städten. Alles endet mit den Bildern der Menschenmassen gegen Polizeiketten in Leipzig im Herbst 1989 und hämmernden »Mauerspechten« in Berlin.
Vierzig Jahre Geschichte im Zeitraffer – und ein jahrzehntelanges Nachspiel um deren Deutungshoheit. Argumente der einen wie der anderen Seite zählen da wenig. Wie schon oft in der Geschichte haben jene mehr Gewicht, die laut und grell oder auch leise und subtil ihre Standpunkte verbreiten können. Man könnte sie Sieger nennen. Mit Blick auf die DDR wäre es sogar legitim, denn sie hat den »Wettlauf der Systeme« ausgerufen und ihre Politik daran orientiert. Dennoch ist das Überwinden der Teilung eines durch Heißen und Kalten Krieg geteilten Landes kein »Sieg« des einen über den anderen. Trotzdem gibt es dieses Gefühl. Es lebt von einem offenbar neuentstandenen »Wir« und »Ihr« und findet gern im etwas trotzigen »Es war nicht alles schlecht« seinen Ausdruck. Fast dreißig Jahre Entwicklung genügen nicht, dem das sicher klügere »Es war nicht alles gut« entgegenzusetzen. Die Sichtweisen bleiben parteilich, und sie sind schwer zu verdauen, denn die eine wie die andere enthält Fakten und Argumente, die zum Geschehen gehören.
Vielleicht helfen da die Bilder doch ein wenig. Fotos und Filme lügen nicht. Aber sie können trügen. Sie fassen zusammen, was mit wenigen Worten kaum zu umreißen ist, öffnen den Blick hinter das Gezeigte und lassen der Phantasie freien Raum. Ihn auszufüllen, ist ein sehr persönlicher Vorgang. Waren für die einen die DDR-Jahre die schönste Zeit ihres Lebens, litten andere unter der Bedrückung zwischen Stasi und Schrankwand.
Allein schon deshalb scheint es recht kühn, einen Titel wie Leben in der DDR aufs Papier zu bringen. Es sollen doch nur ein paar Dinge festgehalten werden, die fast vergessen sind, sich erst nach dem Ableben des Staates herausstellten oder vielleicht sogar unwichtig waren. Müsste es nicht exakter heißen: »Einige Aspekte aus der Geschichte der Deutschen Demokratischen Republik unter Berücksichtigung ihrer damaligen Entwicklung im Nachkriegsdeutschland auf der Grundlage der von der sowjetischen Besatzungsmacht importierten Ideologie in ihrer Stalinschen Ausprägung des Marxismus-Leninismus«. – Unsinn.
Am 15. April 2017 starb Emma Morano mit 117 Jahren in ihrer Wohnung in Verbania am Lago Maggiore. Sie war die letzte bekannte Erdenbürgerin aus dem 19. Jahrhundert. Demnach könnte der letzte DDR-Geborene durchaus bis zum Jahr 2108 leben. Kleiner Tipp am Rande: Vor ihrem letzten Geburtstag verriet Emma einem Journalisten ihr Geheimnis: »Ich esse jeden Tag zwei Eier, und das ist es.« Und das ist dann schon wieder so eine Geschichte der Art, wie sie hier erzählt werden soll.
Also ein Vorschlag zur Güte: Alle, die vor dem 3. Oktober 1990 geboren wurden, sind Zeitzeugen, und jeder von ihnen hat ein Recht darauf, sich an genau das zu erinnern, was sich im Laufe der Zeit für ihn vergoldet oder ihn besonders bedrückt hat. Gleichzeitig kann und darf er jenes vergessen, was ihm schon damals nicht gefiel. Um die daraus zwangsläufig entstehenden Lücken zu füllen, gibt es ja die nicht als Einwickelpapier geendeten Zeitungen und die vergilbten Akten.
All diese Informationen zusammen sind Mosaiksteinchen, aber noch lange kein allumfassendes Bild. Wie es aus solchen Teilchen entsteht und wo seine Grenzen liegen, hat Walter Womacka demonstriert, als er Anfang der 1960er Jahre das Haus des Lehrers am Ostberliner Alexanderplatz mit einem 7 Meter hohen und 125 Meter langen Fries verzierte.
Bei einem Besuch in seinem Atelier am 4. Oktober 2004, fast genau vierzig Jahre nach Vollendung der »Bauchbinde«, erinnerte er sich: »Ja, das war damals der Traum, den ich träumte. Aber meine Vision entstand nicht im luftleeren Raum. Sie hatte ihre Wurzeln in fast 20 Jahren DDR-Geschichte. Der Auftrag hieß ›Unser Leben‹. Ich glaubte damals daran, meine Vorstellung davon noch zu erleben. Natürlich konnte ich auch auf den riesigen 875 Quadratmetern nur einen Ausschnitt darstellen, ein Bild des Bildes sozusagen.«
In Zeiten von Giga- bis Terabyte weiß jeder, dass Bilder umso deutlicher werden, je mehr Daten zur Verfügung stehen. Womacka fügte rund 800.000 Mosaiksteinchen zusammen. Eine ganze Menge, wie es scheint – aber ein Foto von 12 mal 15 Zentimetern hat heute mindestens zwei Millionen Pixel.
Ende 1989 lebten 7.873.300 männliche und 8.560.496 weibliche Personen in der DDR. Viele von ihnen hatten deren 14.970 Tage vom ersten bis zum letzten erlebt, manche nur einen Teil davon. Aber an jedem dieser Tage lebten sie und erlebten ihn immer wieder anders. Allein diese Zeit mit den Menschen multipliziert, ergäbe also schnell eine Unzahl von Informationen. Jede von ihnen wäre interpretierbar, denn was den einen erfreute, ärgerte den anderen, was gestern noch ein großer Traum war, schien bald nicht mehr genug. Es gab die einen, für die alles gut war, und die anderen, für die alles schlecht war. Ein pauschales »Wie war’s denn so in der DDR?« gibt es nicht.
Soll trotzdem eine Vorstellung der Vergangenheit entstehen, sind Kompromisse gefragt. »Wer«, »warum«, »wieso«, »weshalb« bilden dabei das Koordinatensystem. Um es auszufüllen, sind mitunter mehr Zahlen nötig, als sich gut lesen lassen, an anderer Stelle erfordert der kurze Sinn einer langen Rede schon einmal ein paar Punkte im Zitat.
Das alles endet im ebenso sprichwörtlichen wie praktisch unmöglichen »Sitzen zwischen den Stühlen«. Trotzdem bleibt es die Suche nach den Grautönen im allzu vielen Schwarz oder Weiß. Im Blick auf die Geschichte hat nicht der eine recht und der andere unrecht, sondern jeder sein eigenes Bild.