Revolutionäre Linke
Revolutionärer Weg
Milliyetçi Hareket Partisi, Partei der Nationalistischen Bewegung; politischer Arm der rechtsextremen Grauen Wölfe
Angebliche, der Gülen-Bewegung zugerechnete »Fethullahistische Terrororganisation«
Menschen, die fliehen müssen, setzen sich unbekannten Gefahren aus. Sie gewinnen darüber hinaus Einblicke und Erkenntnisse, über die wir Sesshafte nicht verfügen. Ihnen zuzuhören, erweitert unseren Horizont. So ist es mir mit diesem Buch gegangen. Denn hier spricht ein Geflüchteter, ja ein mitunter Gejagter zu uns. Auf seiner Odyssee zwischen Gefängnissen und Freiheit hat er zu sich selbst und zu wachsender Klarheit über diese so bedrohlichen Zeiten gefunden.
Die türkischen Gefängnisse, in denen Doğan Akhanlı 1975, 1986 bis 1989 und 2010 festgehalten wurde, unterscheiden sich nicht nur im Ausmaß der Brutalität, die er erfahren musste. Sie unterscheiden sich auch in der Art, wie dieser Mikrokosmos – soweit das möglich ist – durch die Gefangenen selbst gestaltet wird: Gelingt es ihnen, Solidarität zu organisieren? Wie können sie einander stützen, wenn einige von ihnen gebrochen und sogar zu Folterern ihrer ehemaligen Kameraden wurden?
Doğan Akhanlı berichtet über seine Haftzeiten als der Literat, der er ist: detailliert, differenziert und im Bemühen, selbst diejenigen, die ihn unter wechselnden Vorwänden einsperren und drangsalieren, ja sogar der Folter unterziehen, verstehen zu wollen. Er berichtet schonungslos offen und verschweigt nicht, dass sich politische Gefangene in der Türkei in den 1990er-Jahren auch gegenseitig umbrachten. Eine unter den türkischen Linken bis heute verschwiegene Etappe ihrer Geschichte.
Gefängnisse sind in der Türkei eine zentrale Instanz, und Erdoğan baut sie massiv aus. 2016 wurden 38 neue Gefängnisse in Betrieb genommen, 50 weitere sind im Bau. Die Neubauten verschlingen mit 1,25 Mrd. Euro ein Drittel des Justizetats. 52000 »gewöhnliche« Kriminelle wurden nur dafür freigelassen, um an ihrer Stelle noch mehr »Politische« einkerkern zu können. 55000 sind es nach türkischen Angaben, Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen sprechen von über 80000. Unter ihnen sind 170 Journalisten – damit befindet sich die Türkei laut »Reporter ohne Grenzen« weltweit noch vor China an erster Stelle.
Doğan Akhanlı lebt seit über 25 Jahren in Deutschland, in Freiheit. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb kreist sein literarisches Schaffen um staatliche Gewalt und um staatliche Gewaltverbrechen. Er nimmt uns in seinem Buch mit nach Deir ez-Zor, aber auch nach Alfacar und Víznar, Orte, an denen sich mörderisches staatliches Handeln manifestiert hat: gegen die Armenier, Roma und Sinti und gegen die demokratische Opposition. Massenhaft erlebte Staatsgewalt prägt Generationen. Nur eine kritische Erinnerungskultur könne die Menschen aus den Verwicklungen kollektiver Traumata lösen, ist eine schmerzlich gewonnene Grundüberzeugung von Doğan Akhanlı. Werden staatliche Verbrechen geleugnet oder verschwiegen, bindet das diese Staaten im Innern und im Verhältnis zueinander in einem stetigen gewalttätigen Wiederholungszwang. Akhanlı formuliert das bezogen auf die Türkei so:
»Solange die Begriffe Vaterland, Nation, Verräter und Märtyrer nicht aus dem alltäglichen türkischen Sprachgebrauch getilgt sind und solange die Türkei sich nicht der eigenen Vergangenheit stellt, werden zwar die Opfergruppen wechseln, aber das Morden wird kein Ende nehmen.«
Wegen solcher Klarstellungen wird er, wie so viele andere, vom türkischen Staat als Vaterlandsverräter verfolgt. Dennoch lässt sich die deutsche Regierung von diesem Regime immer wieder erpressen und zum diplomatischen Stillhalten verleiten. Sie steht ihm finanziell und militärisch zur Seite – von einzelnen kritischen Untertönen abgesehen, die im letzten Bundestagswahlkampf wenigstens ein wenig fordernder und deutlicher wurden. Mit dem sogenannten Flüchtlingsdeal hat die deutsche Regierung Erdoğan mit vielen Milliarden Euro zum Türwächter gegen Flüchtlinge gemacht. Nach der Türkei hat sie den gleichen Handel mit Libyen, Mali und anderen diktatorisch regierten Ländern abgeschlossen. Immer weiter werden wir hineingezogen in ein globalisiertes staatliches Komplott.
Doğan Akhanlı ist mit seinem Kampf gegen staatliche Gewaltverbrechen zum Feind und Hassobjekt bei Erdoğans Islamfanatikern sowie türkischen Nationalisten geworden. Er nimmt aber auch auf Empfindlichkeiten seiner Freunde keine falsche Rücksicht. Als ihn die Republik Armenien wegen seines Buches »Die Richter des Jüngsten Gerichts« als ersten türkischen Schriftsteller einlud, an den Gedenkfeierlichkeiten zum Genozid an den Armeniern teilzunehmen, kritisierte er bei dieser Gelegenheit gleichwohl auch die staatliche Unterdrückung dortiger Oppositioneller.
In Deutschland will er die stete Erinnerung an den Holocaust auch auf andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit in anderen Staaten ausweiten, in Vergangenheit und Gegenwart. Das ist keine Relativierung des Holocaust, vielmehr eine Vertiefung der Erinnerung, die dann endlich auch die Migranten in unserem Land einschließt und sie mit ihren Erinnerungslasten nicht allein lässt.
Um staatliche Gewalt kreist dieses Buch, historische wie auch persönlich erlittene, um Verdrängung, Aufarbeitung und Erinnerung. »Verhaftet in Granada« ist im besten Sinne ein grenzüberschreitendes Buch. Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass nun der Mann dafür gesorgt hat, dass es geschrieben wurde, dem zwar nicht das von ihm ständig propagierte Kopftuch, sondern ein dichter Schleier national-religiös-fanatischen Denkens einen klaren Blick auf sein eigenes Land verhängt: Recep Tayyip Erdoğan.
Er will ein Hochhaus in den Gezi-Park setzen, anstatt den armenischen Friedhof, der sich einst dort befand, zu ehren oder zumindest das Mahnmal, das dort aufgestellt war, wieder zu errichten. Er lässt seinen Gegnern ganz offen mit Folter und Mord drohen und ihnen durch seinen Wirtschaftsminister Nihat Zeybekci – wie aus dem Wörterbuch des Unmenschen – verkünden: »Wir werden sie in Löcher stecken, und sie werden nie wieder Allahs Sonne sehen, solange sie atmen. Sie werden nie wieder eine menschliche Stimme hören. Sie werden uns anflehen, sie zu töten, um sie aus ihrem Elend zu erlösen.« Während des Putschversuchs – laut Erdoğan ein »Geschenk Gottes« – getötete Gülen-Anhänger lässt er als »Verräter« neben einem Hundefriedhof verscharren.
So sorgt nun also paradoxerweise ausgerechnet dieser Despot dafür, dass einem Schriftsteller, der es jahrelang schwer hatte, seine literarische Arbeit auch in Deutschland bekannt zu machen, endlich die Bedeutung erfährt, die ihm gebührt.
Günter Wallraff, im Dezember 2017
Granada, 19. August 1936
Als wir in Granada ankamen, hatte ich längst vergessen, dass Lorca hier geboren wurde, und es lag viele Jahre zurück, dass ich seine Gedichte gelesen hatte.
Dass ich selbst Schriftsteller bin, spielte bei meinem Aufenthalt hier in Granada nicht die geringste Rolle. Mit meiner Lebensgefährtin, bei deren Anblick kaum jemand sogleich ausmachen kann, aus welchem mediterranen Land sie wohl stammt, machte ich eine Woche Urlaub. Eine kurze Auszeit fern aller Sorgen dieser Welt. Wohlverdient, wie wir fanden.
Das Wort Granada deckte sich mit unseren Gefühlen. Dazu musste man nicht Spanisch können. Es war poetisch genug. Ich assoziierte damit Gebirgszüge und Granatapfelkerne.
Deshalb staunte ich nicht im Geringsten, als Peri sagte, die Stadt habe ihren Namen tatsächlich vom Granatapfel. Wegen der wie Granatapfelkerne aneinandergereihten Häuser. »Lorca«, fügte sie hinzu, »der Lyriker Federico García Lorca stammt von hier.«
Da allerdings hob ich konsterniert den Blick und sah sie an. »Wie bitte?«, sagte ich, um Zeit zu gewinnen und die aufkeimende Beschämung zu überspielen, dass ich Lorca vergessen hatte.
»Lorca stammte aus Granada«, wiederholte sie. »Und ein Lorca-Museum gibt’s hier auch.« Sie zeigte es mir auf dem Stadtplan.
Am nächsten Tag standen wir frühmorgens vor dem Haus, in dem Lorca gelebt hatte. Ein Haus mitten in dem großen Park, der den Namen des Lyrikers trägt. Wir schlossen uns einer zweisprachigen Führung an, Englisch und Spanisch. Wir waren zu sechst, zwei Männer, vier Frauen. Zwei der Frauen schienen aus Südamerika zu sein, Peruanerinnen vielleicht. Gefragt haben wir sie nicht.
Dies war Lorcas Sommerhaus. Hier wohnte er, wenn er, inzwischen ein Lyriker von Weltrang, seiner Heimatstadt einen seiner immer noch häufigen Besuche abstattete. Zuletzt war er im August 1936 da gewesen, um die Familie zu sehen. Die Falangisten waren hinter ihm her. In der Nacht des 16. August (welch Zufall, am 16. August 2017 in Granada angekommen zu sein!) wurde Lorca von einer Gruppe von Franco-Anhängern aus dem Haus, in dem er Unterschlupf gefunden hatte, abgeholt und an einen Ort zwischen den Kleinstädten Víznar und Alfacar verschleppt. Vor 81 Jahren. Wer Lorcas Aufenthaltsort, das Haus der Familie Rosales, die auch Franco-Anhänger zu ihren Verwandten zählte, verraten hatte, ist bis heute nicht aufgeklärt. Es heißt, Lorca habe bei seiner Verhaftung einen Schlafanzug sowie eine bohemehaft gebundene Krawatte getragen. Jahre später, als seine Nichte Laura Lorca über jene Nacht sprach, fasste sie das Geschehene folgendermaßen zusammen: »Es war ein politisch motivierter Mord. In der spanischen Provinz, in einer kleinen Stadt, wurde ein großer Mensch ermordet.«
Nachdem wir viel über die Dreißigerjahre und den Bürgerkrieg, eine immer noch nicht verheilte Wunde der spanischen Geschichte, erfahren hatten, kehrten wir nicht sogleich ins Hotel zurück.
Mochte Mercedes, meine einzige spanische Freundin, ruhig meine Schwäche für Flamenco als klischeehaft abtun, ich genoss das großartige Straßenkonzert in den kühlen Abendstunden. Wir verweilten bis zum Ende und kehrten weit nach Mitternacht ins Hotel zurück.
Peri schlief irgendwann ein. Ich aber blieb noch lange wach und beschäftigte mich mit Federico García Lorca, bis der Tag anbrach.
Als der Horizont sich rosig zu färben begann, war ich guter Dinge, denn ich hatte die Liste der 27 ins Türkische übersetzten Lorca-Werke auf meinem PC gespeichert. Na, immerhin, dachte ich, die Türkei hatte Lorca also noch nicht vergessen! Dieses Land, das Lorca nicht vergessen hatte, bewegte sich nun allerdings sicheren Schrittes auf eine faschistoide Diktatur zu. Ich sollte einen Essay darüber schreiben, dass eine längst überwunden geglaubte Despotie in der Türkei zu einer aktuellen Gefahr geworden war, ging mir durch den Kopf. Wehmütig, aber auch in Vorfreude darauf, meine Idee umzusetzen, gelang es mir doch noch, die Nachttischlampe auszuknipsen.
Granada, 19. August 2017
Gegen acht Uhr morgens wurde ich durch Klopfen an der Tür wach. Wie ich eine Woche später erfuhr, hatte die Polizei zuvor das Hotelpersonal wach geklingelt, sich nach uns erkundigt und in Vorbereitung meiner Verhaftung das Hotel räumen lassen. Als ich in Boxershorts öffnete, sah ich auf dem schmalen Korridor einen Trupp Polizisten in kugelsicheren Westen. Von dem abscheulichen, vom IS für sich reklamierten Terroranschlag in Barcelona hatte ich gehört und vermutete zunächst nichts allzu Schlimmes angesichts der Tatsache, Polizisten gegenüberzustehen. Sie werden alle Ausländer vermeintlich muslimischen Glaubens im Land kontrollieren, vermutete ich. Als der Einsatzleiter mich auf Englisch nach meinem Personalausweis fragte, war ich irritiert. Meine Lebensgefährtin machte trotz all des Lärms keinerlei Anstalten aufzuwachen. Die Beamten waren höflich. Sie hielten es nicht für nötig, das Zimmer zu betreten.
»Peri«, rief ich, »wach auf, die Polizei macht eine Ausweiskontrolle.«
Peri richtete sich im Bett auf, griff nach ihrer Tasche und reichte mir ihren Ausweis, und ich gab beide Pässe dem Einsatzleiter. Als er Peris Ausweis unbesehen zurückgab, schwante mir nichts Gutes. Also doch keine Routinekontrolle. »Machen Sie sich bereit. Sie kommen mit uns«, hieß es zunächst. Und wir zogen uns an. Doch dann schienen sie zu zögern, sprachen Spanisch untereinander. Die Augen des Einsatzleiters wanderten ungläubig zwischen mir, meinem Ausweis und dem offiziellen Schreiben in seiner Hand hin und her. Eine Zeit lang wurde herumtelefoniert. »Vielleicht müssen Sie gar nicht mit«, hieß es dann. Wir beruhigten uns ein wenig. Doch währte unsere Erleichterung nicht lange. Mir wurde mitgeteilt, ich sei verhaftet. Mein Handy wurde beschlagnahmt. Peri wurde daran gehindert mitzukommen.
Sie ereiferte sich nicht zu knapp. »Das geht doch nicht, der Mann kann doch kein Englisch, so eine Unverschämtheit, in aller Herrgottsfrühe so eine lächerliche Festnahme.« Es nutzte aber nichts. Sie wetterte wie eine waschechte Hamburgerin. Sieh an, dachte ich, wer in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, lässt sich also nicht so einfach von der Polizei einschüchtern. Man schrieb ihr die Adresse auf, zu der ich geführt würde. Sie könne ja mit dem Taxi nachkommen. Für eine Umarmung blieb keine Zeit.
Im Gehen fiel mir gerade noch ein: »Sei so gut und ruf Ilias an.« Peri hätte aber auch von sich aus meinen Freund Ilias Uyar angerufen, der seit 2010 mein Anwalt ist. Und meinen Kölner Freund Albrecht Kieser sowieso.
Beim Verlassen des Hotels sah ich, dass sich draußen ein weiterer Trupp Polizisten aufhielt. Ich wurde auf den Rücksitz eines Fahrzeugs gesetzt. Ich muss einen harmlosen Eindruck gemacht haben; man legte mir keine Handschellen an.
Wir machten uns auf den Weg. Warum wir auf die Autobahn fuhren, obwohl Granada eine kleine Stadt ist, begriff ich nicht. Nach einer Weile sah ich ein Schild Madrid 420 km und wurde unruhig. Irgendwie war die Aussicht, nach Madrid gebracht zu werden, besorgniserregend. Dann sah ich wieder ein Granada-Schild und beruhigte mich etwas. Kurz darauf fuhren wir in die Tiefgarage eines Gebäudes, das mich an das Antiterrordezernat in der Istanbuler Vatan Caddesi erinnerte. Einige Eisentüren wurden auf- und zugeschlossen, und ich wurde auf einem Korridor gebeten, auf einem der Stühle Platz zu nehmen. Übrigens hatte man mir, warum auch immer, beim Aussteigen doch noch Handschellen angelegt. Immer noch kein Wort darüber, warum ich festgenommen worden war.
Die Spanier sind, wie die Türken, ein Volk, das sich äußerst erfolgreich gegen Fremdspracherwerb sträubt. Aus dem Film No Country for Old Men hatte ich das spanische Wort für Wasser behalten. Ich sprach es aus: Agua! Ob ich es mit dem gleichen Ausdruck sagte wie der sterbende Mexikaner im Film, kann ich nicht beurteilen. Aber man brachte mir Wasser. Und sie waren so freundlich, mir zum Trinken die Handschellen zu lösen, obwohl es wirklich nicht nötig gewesen wäre.
Dann begann das Registrierungs-Prozedere. Zum wievielten Mal im Leben wurde ich registiert! Müßig zu zählen, wie oft mir in der Türkei Fingerabdrücke genommen wurden. Ebenso bei meinem Asylantrag in Deutschland. Hanswerner Odendahl, mein Anwalt im Asylverfahren, im Übrigen der Anwalt nahezu aller türkeistämmigen Asylbewerber in Köln (und außerdem als Boni auch Held nicht weniger Erinnerungsromane türkeistämmiger Exilanten), hatte mir damals gesagt, dass diese Einträge nach acht Jahren gelöscht werden. Demnach gehörte ich in Deutschland nicht mehr zu den offiziellen Registrierten.
In der Türkei variiert die Prozedur je nachdem, welcher Beamte für dich zuständig ist. Wenn du Glück hast, gerätst du an einen humanen Typen, wenn du Pech hast, wird die einfachste Prozedur zur Höllenqual, wovon viele Bürger, insbesondere armenische, jüdische, kurdische und alevitische, ein Lied singen können. Beispielsweise hatte man mir bei meiner Verhaftung im August 2010 am Flughafen Istanbul-Sabiha Gökçen mein Handy nicht abgenommen, bis ich in den Knast gesteckt wurde. Von der Polizeistation des Flughafens aus hatte ich nach Deutschland telefonieren und sagen können, dass mich die Herren Polizisten festgenommen hatten, und auch meinem Freund, der mich am Flughafen abholen wollte, Minute für Minute den Stand der Dinge berichten können.
Die Spanier machen ihre Sache aber gründlich, dachte ich während der Abnahme der Fingerabdrücke. Wäre ich nicht in Begleitung meiner Lebensgefährtin gewesen – sie war, so schnell es ging, mit dem Taxi nachgekommen –, hätte man mich vorläufig zu den Vermissten zählen können. Kein erfreulicher Gedanke. Ich wusste, dass es in der Franco-Zeit über 30000 Vermisste gegeben hatte. Der Mann war lange tot, aber er hörte einfach nicht auf, in meinem Gedächtnis herumzugeistern.
Nach der Abnahme der Fingerabdrücke begriff ich, dass es richtig ernst wurde. Ein Beamter wollte mich mit Plastikhandschuhen abtasten. Immerhin musste ich mich nicht völlig entkleiden. Ich mag es nicht, von Erinnerungen eingeholt zu werden. Dann hörte ich ein vertrautes Geräusch. Eine metallene Zellentür wurde geöffnet. Es war so weit. Ich war dabei, an einem mir unbekannten Ort über die Schwelle in eine mir allzu bekannte vielschichtige Vergangenheit zu treten.
In der Stadt, in der Lorca vor 81 Jahren, bei Morgendämmerung wie jetzt, erschossen wurde, in eine Zelle gesteckt zu werden, hatte wahrlich nichts Poetisches.
Köln vor sieben Jahren, 9. August 2010
»Wann bist du, im schlimmsten Fall, wieder da?«, fragte meine Tochter beim Abschied.
An ihrer Frage hafteten sämtliche Formen der Angst. Ja, wirklich, sollte das Schlimmste eintreffen, wann würde ich zurückkehren können? Ich zögerte, sah in den grünen Silberblick meiner Tochter und in das Gesicht meines Sohnes, der versuchte zu lächeln. Ich hatte eingecheckt. In einigen Minuten würde ich mich verabschiedet haben und weg sein. Mir war bewusst, dass ich eine riskante Reise antrat. Anders als meine Reise nach Granada, Jahre später. Auf die offizielle Anfrage meines Anwalts, ob ich in der Türkei gesucht werde, war mitgeteilt worden, dass laut Dekret mit der Nummer soundso des Innenministeriums keine Auskunft über die betreffende Person gegeben werden könne, was bedeutete, dass gegen mich ermittelt wurde.
»Ich rate Ihnen dringend von der Einreise ab«, hatte der Anwalt am Telefon gesagt. »Das ist hier die Türkei. Hier kann alles passieren.«
Wäre der Film Interstellar früher gedreht worden und hätte ich ihn rechtzeitig gesehen, hätte ich mir womöglich ein Beispiel an der Abschiedsszene zwischen Vater Cooper und seiner Tochter Murph nehmen und am Kölner Flughafen zu meiner Tochter Los, gehen wir nach Hause sagen und auf meine Reise verzichten können. Im Nachhinein sollte mir im Kinosaal klar werden, dass die Geschichte zu Teilen die meine war. Der Unterschied zwischen dem Filmvater und mir bestand darin, dass er eine Reise zwischen den Sternen, ich jedoch eine zwischen Ländern antrat. Beide hatten wir einen Sohn und eine Tochter, und beide Töchter hatten eine Heidenangst davor, dass wir die Reise antraten. Der Filmvater ruft, als er in seinem Raumschiff die Erde verlässt: Ich werde zurückkehren, auf jeden Fall, versprochen, Murph!, so als könne die Tochter ihn hören, während in der nächsten Einstellung eine alte Frau sagt: Papa ist nicht zurückgekehrt. Zweifellos war sein Entschluss, wenn auch um hehrer Ziele willen, egoistisch. Doch würde er dies erst in einer finsteren Ecke des Universums begreifen und weinen: Verzeih mir, Murph!
Ich verhielt mich genauso egoistisch wie der Filmvater und trat nicht von meiner Reise zurück. »Anfang des nächsten Jahres«, sagte ich, bloß um ihre Frage nicht unbeantwortet zu lassen. »Spätestens im Januar bin ich wieder da.«
»Versprochen?«, fragte meine Tochter.
»Versprochen«, antwortete ich kleinlaut.
Wir verabschiedeten uns. »Papa«, sagte mein Sohn, »ich habe so ein ungutes Gefühl, die werden dich verhaften.«
Im Grunde ging es mir nicht anders. Aber ich wusste, dass ich trotzdem reisen musste. Entgegen dem Rat meines Anwalts, denn ich hatte triftige Gründe. Dass meines Wissens nichts gegen mich vorlag, war ein triftiger Grund. Mein Wunsch, meinen Vater zu sehen, war ein triftiger Grund. Mein Wunsch, in die Heimat zu reisen, um das Übel Heimweh zu bezwingen, war ein verdammt triftiger Grund. Abgesehen von dem, was ich geschrieben hatte, gab es keine ersichtlichen Bedenken.
Ich hatte auch den Eindruck gewonnen, dass die Türkei Schritte in eine positive Richtung unternommen hatte. Dieser Eindruck war nicht aus der Luft gegriffen: In dem Katalog, den die türkische Seite 2008 anlässlich der Frankfurter Buchmesse zur Vorstellung der Literatur des Gastlandes Türkei vorlegte, wurde unter 60 türkischsprachigen Romanciers auch ich mit Der letzte Traum der Madonna aufgeführt. Der Vorstellungstext beschrieb mich sogar als einen äußerst kritischen Autor, der mit dem Buch Die Richter des Jüngsten Gerichts bekannt geworden sei, das den Genozid an den Armeniern thematisiere; der Holocaust sowie die Erinnerungskultur seien meine Hauptmotive.
Orhan Pamuk hatte die Eröffnungsrede gehalten. Staatspräsident Gül begleitete ihn. Ich hatte Gelegenheit gehabt, mit fast allen Gästen aus der Türkei zu sprechen. Sprachvirtuose Murat Uyurkulak hatte eine unvergessliche Lesung abgehalten. Zu einem Fernsehgespräch, an dem auch der Staatssekretär des türkischen Ministeriums für Kultur teilnahm, war auch ich eingeladen worden, und gemeinsam hatten wir die erfreulichen Entwicklungen der türkischsprachigen Literatur gewürdigt. Dass in der Türkei zur selben Zeit die Staatsanwaltschaft der Großen Strafkammer mit besonderer Befugnis einen internationalen Haftbefehl gegen mich erließ und dass ich weltweit gesucht werden würde, konnte ich naturgemäß nicht wissen. Der Staatssekretär wohl genauso wenig.
Wie den namenlosen Ich-Erzähler in Der letzte Traum der Madonna, der auf den Spuren von Maria Puder zu einer Zeitreise aufgebrochen war, hatte auch mich in jenen Jahren das Heimweh befallen. Die Krankheit hatte solche Ausmaße angenommen, befand sich in einem derart fortgeschrittenen Stadium, dass ich selbst an der Existenz meines am äußersten Ende der Schwarzmeerküste liegenden Geburtsdorfes zu zweifeln begann, hinter den sommers wie winters schneebedeckten Bergen. Seit 35 Jahren war ich fern von meinem Geburtsort. Und seit 35 Jahren träumte ich immerzu von dem Haus, in dem ich geboren wurde. Immerzu stand ich davor und kam einfach nicht hinein. Entweder war das Haus eine einzige Ruine, oder es begann lichterloh zu brennen, sobald ich den ersten Schritt über die Schwelle tat. Oder meine am 3. Januar 1993, ein Jahr nach meiner Ankunft in Deutschland, verstorbene Mutter rief aus den Maisfeldern am Hang entlang des Dorfes nach mir, und ich wachte schweißgebadet auf. Längst konnte ich heimatliche Klänge nicht mehr hören, ohne dass mein Herz zu rasen begann. Um mein Leiden zu lindern, rief ich oft meinen noch immer im Dorf lebenden Vater an und führte lange Gespräche mit ihm. Je länger wir sprachen, desto mehr wuchs in mir wieder die Gewissheit, dass mein Geburtsdorf doch keine Illusion war.
Im Sommer 2010 stand ich im Traum wieder einmal in einer verschneiten Winternacht vor meinem Geburtshaus. Es war von drei Seiten von Schnee umschlossen, der bis zum Holzbalkon reichte. Anders als in meinen früheren Träumen kam ich hinein und schlich über den Balkon in den oberen Stock mit den Schlafzimmern. Mein Vater lag nicht in seinem Bett. An der Treppe bemerkte ich ein schwaches Licht aus dem unteren Stock. Ich rief nach meinem Vater. Bin hier unten, antwortete er. Was machst du da, fragte ich. Ich spiele das Butterwurf-Spiel, sagte er. Als ich hinunterwollte, war die Treppe nicht da. Ich ließ mich in die Leere fallen und sah meinen Vater aus einem Stapel Deutsche Markenbutter in der Ecke ein Päckchen nach dem anderen nehmen und gegen die Wand werfen. Ich spielte mit.
Als ich zufrieden und erfüllt aufwachte, war mir klar geworden, dass die Heimreise nicht länger aufzuschieben war. Ich stand auf, fuhr den Computer hoch und besorgte mir ein Ticket für den 9. August 2010 nach Istanbul.
Das Flugzeug landete genau um 02.50 Uhr in der Nacht zum 10. August in Istanbul. Ich hatte in der ersten Reihe gesessen. Sitz 1A. Nur die beiden Sitze neben mir waren leer, was ich beunruhigend fand. Die Sitze D, E und F in derselben Reihe waren besetzt. D von einer Frau meines Alters, die allein reiste. Auf E und F unterhielten sich Mutter und Sohn, er etwa 16 Jahre alt. Sie kam mir von irgendwoher bekannt vor, und ich erinnerte mich sogar an ihren Vornamen.
Auf dem Weg zur Passkontrolle fragte mich die mit ihrem Sohn reisende Frau, ob ich sie nicht erkannt hätte.
»Doch, doch«, antwortete ich. »Sie heißen genauso wie meine erste Jugendliebe« zu sagen wäre unangemessen gewesen, womöglich hätte sie mir auch nicht geglaubt.
»Sie sind Schriftsteller, ich war auf einer Ihrer Lesungen«, erklärte sie sicherheitshalber. Ich lächelte. Bei meiner ersten Heimreise nach so langer Zeit einer Bekannten begegnet zu sein gab mir das Gefühl von Sicherheit.
An der Passkontrolle standen lediglich drei Passagiere vor mir. Die Namensvetterin meiner Jugendliebe ließ mich vor. »Sie zuerst«, sagte sie. »Nach all den Jahren gebührt Ihnen der Vortritt.«
Ich reichte meinen Pass hinüber. Einen deutschen Pass. Es war zwölf Jahre her, dass ich die Staatsbürgerschaft der Türkischen Republik verloren hatte. Drei Jahre war ich heimatlos, ohne dass es mir wichtig war. Seit Beginn des neuen Jahrhunderts hatte ich eine neue Heimat und ein neues Vaterland, ohne dass es mir wichtig war. Begriffe wie Heimat oder Vaterland waren mir immer suspekt, weil sie abgegriffen sind und missbraucht werden. Ich mag sie noch immer nicht. Gustav Heinemanns Antwort auf die Frage, ob er Deutschland liebe, hat es mir angetan: Ach was, ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau!
Der Schalterbeamte ist immer noch mit meinem Pass beschäftigt. Voller Ungeduld erwarte ich, dass er Bitte sehr, herzlich willkommen oder etwas in der Art sagt. Wie im Märchen.
»Efendim«, sagt der Beamte, mit völlig unmärchenhaftem Ernst, »haben Sie Ihren türkischen Ausweis dabei?«
»Nein. Ich bin deutscher Staatsbürger. Aus der türkischen Staatsbürgerschaft hat man mich entlassen. Rausgeworfen.«
»Nein, efendim. Man hat Sie gewiss nicht rausgeworfen. So etwas gibt es nicht. Man wird nicht aus der Staatsbürgerschaft rausgeworfen.«
»Ich schon. Offiziell. Mit dem Urteil des Ministerrats. Vor zwölf Jahren.«
»Unmöglich. Das nennt man nicht Rauswurf, sondern Verlust. Verlust der Staatsbürgerschaft. Wie Geld. Wirft man Geld raus? Man verliert es. Genau so. Werfen Sie Ihr Geld weg? Nein, Sie verlieren es. Genau so. Sie werden Ihre Staatsbürgerschaft verloren haben. Ist das Ihr Geburtsdatum?«
»Ja.«
»Und das Ihr Geburtsort?«
»Ja.«
Das Schweigen des Schalterbeamten dauert. Kein gutes Zeichen.
Während die Kölner Bekannte, ihr Sohn und ich besorgte Blicke wechseln, steht der Beamte auf und sagt: »Kommen Sie mit. Es liegt ein Haftbefehl gegen Sie vor.«
Ein letzter Blick zu der Namensvetterin meiner allerersten Jugendliebe. Sie tippt eilig auf ihrem Handy herum, während ich mit meinem Rucksack dem Beamten folge. Sie wird wohl die Kölner über meine Verhaftung informieren, denke ich. In der Tat hat sie, wie ich später erfuhr, genau dies getan. »Hilfe«, hat sie geschrieben, »die haben Doğan verhaftet.« In der Kölner Exilanten-Community gibt es keinen zweiten Doğan. Sie wussten sofort, dass es um mich ging.
Während ich in Begleitung des Beamten einen ellenlangen Korridor entlanglaufe, klingelt mein Handy. Selami. Mein Freund Selami, mit dem ich am Flughafen verabredet war. Der, aus Wut auf Europa, Deutschland den Rücken kehrte und wieder in die Türkei zog. Doppelter Staatsbürger. Entschlossen, ein Leben wie ein doppelt gerösteter Lokum zu führen. Wenn ihn das Chaos in der Türkei erschöpft, ab nach Deutschland. Erzürnt ihn der Rassismus in Europa, geradewegs in die Türkei. Er lebt auf einer der Prinzeninseln. Einen autobiografischen Roman kann er auch vorweisen. Soluk-suz lautet der Titel. Atem-los auf Deutsch. Doppeldeutig.
Als ich, auf den Spuren von Sabahattin Ali und seiner Heldin Maria Puder, Der letzte Traum der Madonna schrieb, brauchte der namenlose Romanheld einen Weggefährten. Da fiel mir Selamis Name ein, und kaum hatte ich den Namen niedergeschrieben, war der Selami der Geschichte zu einem Abbild des echten geworden, dessen, der mich nun anrief. Ein gut aussehender Mann eben, der Raki und lange Gespräche liebt, ein Hitzkopf, auch wenn er sich schnell wieder beruhigt, dessen Hoffnungen unentwegt in der Luft Flügel schlagen.
»Hallo Selami.« Ich bin zwar auf türkischem Boden, aber Merhaba kommt mir nicht gleich wieder in den Sinn. »Selami, ich bin unterwegs mit dem Herrn Schalterbeamten. Irgendwohin.«
Der Herr Beamte fällt mir ins Wort: »Ihr Freund soll in der Halle warten. Die Formalitäten hier dauern mindestens eine Stunde.«
»Okay.«
Auf der Polizeistation herrscht ein Tohuwabohu. Wieder einmal hat eine betrügerische Firma anreisende Pilger, die nach Mekka wollten, nach allen Regeln der Kunst betrogen und im Stich gelassen. Jede Menge Pässe fehlen.
Die Beamten sind verdrossen. Einer von ihnen liest den Pilgern die Leviten: »Menschenskinder, hat diese Firma euch nicht schon letztes Jahr im Stich gelassen? Und vorletztes Jahr doch auch, oder? Warum fallt ihr immer wieder darauf rein? Teyzeciğim, so ’ne Firma gibt’s gar nicht. Amcacığım, Onkelchen, euch bleibt nichts anderes übrig, als heimzufahren. Dedeciğim, wir können nichts tun.«
Früher war es genauso. Die Pilger blieben immer auf der Strecke.
Der Beamte, der mich hergebracht hat, hat mir zwar mitgeteilt, dass ein Haftbefehl gegen mich vorliegt, doch niemand fühlt sich zuständig. Wenn ich mich mit den angehenden Pilgern davonmachte, würde es niemand bemerken.
Eine halbe Stunde später falle ich schließlich jemandem auf. »Und wieso bist du hier?«
»Weil ich festgenommen wurde.«
»Und wieso?«
»Keine Ahnung. Hat mir niemand gesagt.«
»Gibt’s doch nicht, Kardeşim. Wirst festgenommen und weißt nicht, warum. So gebildet, wie du aussiehst. Was bist du denn von Beruf?«
»Schriftsteller.«
»Wenn du einer mit Auszeichnung bist, wie Pamuk, dann gute Nacht!«
Wegen welchen Gesetzesartikels ich gesucht werde, sagt man mir, aber nicht dessen Inhalt. Ich werde in Polizeigewahrsam genommen und eingesperrt, um am nächsten Morgen der Abteilung für Terrorbekämpfung übergeben zu werden. Wenn man einmal von der nach Blut und Eiter stinkenden Decke absieht, ist die Zelle sauber, der Boden mit Laminat ausgelegt, die Wände gestrichen.
Granada, 19. August 2017
Noch bevor ich meinen Fuß auf den Betonboden der Zelle gesetzt hatte, begann die Übelkeit. Eine aus alter, alter Zeit vertraute Übelkeit. Ein beständiger Brechreiz, der sehr, sehr lange zurückreicht. In meine Jugend. 42 Jahre ist es her, dass ich zum ersten Mal in eine Zelle gesteckt wurde. Am 18. Mai 1975.
In meinem Roman Fasıl habe ich versucht, diese Erfahrung wiederzugeben. Diesen aus zwei Monologen bestehenden Roman zu schreiben war weit mehr als eine literarische Herausforderung.
2010, als ich beschlossen hatte, in die Türkei zu reisen, hatte mich der Journalist Albrecht Kieser in einem Interview gefragt, welche Wirkung meine deutsch-türkischen Führungen in der früheren Gestapo-Dienststelle, dem heutigen NS-Dokumentationszentrum, in Köln auf mich ausübten. Ich erinnere mich sehr genau an meine Antwort. »Für mich hat dieser Ort nichts Schlimmes mehr«, hatte ich gesagt, »im Gegenteil, es ist ein wunderschöner Ort.« Die Verwandlung des früheren Gewaltortes in eine Gedenkstätte, an der man sich der Geschichte stellen kann, empfand ich als sehr hoffnungsverheißend.
Als ich später im Radio seine nächste Frage und meine Antwort darauf hörte, befremdete mich die eigene Stimme.
»Hast du jemals darüber nachgedacht, die Tage der Folter aufzuschreiben?«, hatte er gefragt.
»Nein«, hatte ich geantwortet, »ich glaube nicht, dass ich das kann.« In meiner Stimme lag die panische Angst vor dem Thema.
So ein Quatsch, hatte ich vor mich hin gemurmelt, als ich jenen Mann auf WDR3 hörte, der mit meiner Stimme und in meinem Namen sprach. Jemand, der behauptet, ein Schriftsteller zu sein, kann doch nicht so daherreden.
Dann ließ ich mich von dem Verlangen vorantreiben, dieses Erlebnis, das zu erzählen ich rundheraus abgelehnt hatte, nun doch niederzuschreiben. Ich wollte sicherlich meine eigenen schriftstellerischen Fähigkeiten auf die Probe stellen. Viel wichtiger war aber meine Hoffnung, besser damit umgehen zu können, sollte ich in der Türkei erneut mit Verhaftung und Androhung von Folter konfrontiert werden. Wenn ich in die Türkei wollte, musste ich mich dem Trauma meiner Vergangenheit stellen.
NATO