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VOLKER NEUHAUS

GIPFELGESPRÄCHE
MIT MARTIN
LUTHER

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE,
THOMAS MANN, GÜNTER GRASS

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Ich danke meiner Frau und Kollegin Dorothee Römhild für unsere nie enden wollenden, anregenden Gespräche, ihre guten Ratschläge und vor allem ihre unerschöpfliche Geduld mit mir in der Schreibphase – und abermals meinem Urfreund seit 60 Jahren, Dr. Ulrich Krafft, für seine so gründliche wie ertragreiche seit 40 Jahren sporadisch ausgeübte Tätigkeit als mein geduldiger Lektor. Ich widme das Buch dem Andenken meines theologischen Lehrers Ernst Bizer, der mir vor über 50 Jahren den Zugang zu Martin Luther eröffnete und dadurch zugleich mein Pate nach 1. Kor 13, 11 wurde.

Sonntag Reminiscere 2017

INHALT

Vorwort

Luthers Fremdheit

Gipfelgespräche

I.
»Nostra theologia est certa« – Martin Luther

Die Zeit

Die Person Martin Luther

Der Humanist Luther

Wittenbergs Kreis theologischer Humanisten und humanistischer Theologen

Ordens- und Hochschulkarriere

Luthers reformatorische Wende

Luthers humanistische Wende

Die Exegese des Bibelprofessors Luther

Luthers Antijudaismus und sein Antisemitismus

Die Aufwertung des frühen Luthers und ihre Folgen

Der Thesenanschlag vom 31. Oktober 1517

Die reformatorische Wende im ›Turmerlebnis‹

»Ideo nostra theologie est certa«

Luthers Sakramentenlehre

Luthers Erneuerung der altkirchlichen Dogmatik

Luthers öffentliche Resonanz nach 1517

Die Bibelübersetzung als Sicherung des Worts als Gnadenmittel

Luther und die neuhochdeutsche Schriftsprache

Weitere grundlegende Ausführungen zu Aspekten von Luthers Person, Wirken und Lehre werden in den folgenden Kapiteln im Zusammenhang mit der jeweiligen Rezeption durch Goethe, Mann und Grass behandelt. Diese Abschnitte werden durch fett gedruckte Titel hervorgehoben.

II.
» … immer ganz Luther und ein ganzer Kerl. Ganz Mönch, ganz Ritter und ganz Lehrer « – Goethes Lutherbilder

Goethes Vertrautheit mit Luther

Der junge Goethe als Sänger der lutherischen Lehre

Luthers postanselmische Christologie als Neufassung der Erlösungslehre

Goethes dichterische Gestaltung von Luthers Predigt

Goethes Erstling als Zeugnis der Verwurzelung der Familie im Luthertum

Luther, Höll’ und Teufel – zu Luthers Aberglauben

»Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis «

Die Scheidung zwischen der humanistischen und der theologischen Wende Luthers bei Goethe

Die lutherischen Wurzeln der Goethe’schen Polemik gegen katholisierende Tendenzen der frühen Romantik

Die Reformationssäkularfeier von 1817.

Goethes Rezeption von Luthers humanistischer Wende: Goethe als Luther einer anti-Newton’schen Optik

Die Umdeutung von Luthers theologischer Wende in Goethes Liebestheologie

Luther als Übersetzer

Luthers und Goethes ›Größe‹

III.
Thomas Mann – »der übrigens Luther nicht recht leiden kann« (Mann an R. Schneider, 18.12.1953)

y= f(x) – Manns Lutherbild als Funktion seines Deutschenbilds

Manns kirchliche Bindung

Das ›Deutsche‹ und ›Luther der Deutsche‹ in den Betrachtungen eines Unpolitischen von 1918

Quellen der Mann’schen Lutherkenntnis

Thomas Mann und Lord Vansittarts Black Record

»Das Cholerisch-Grobianische, das Schimpfen, Speien und Wüten« – der Polemiker Luther

»Aus der Renaissance, mit deren Humanismus er keine Fühlung hatte«, zurück »ins Mittelalter«: der »rückschlägige« Luther

Luther als »Erzieher der Deutschen zur Musik«

Luther und die Musik

»desto gemütstiefer versenkt in deutsche Mystik«: Luther und die Mystik

Einleitung zum Gipfelgespräch: Luthers Hochzeit Dramatische Studie von T.M.

Einstein unter Ausschluss der Physik – Thomas Mann und der Theologe Martin Luther

Luthers Hochzeit Dramatische Studie von T.M. (Tb 5.3.1955)

»eine Kirche gegründet, der es bestimmt war, […] eine Matthäuspassion hervorzubringen«

IV.
»Bücher […], die, leise wie laut gelesen, Bestand haben« – Luther als dichterischer und geistlicher Anreger für Günter Grass

Grass’ von Luther inspirierte Kunstprosa

Messe, Oratorium und Melodram

Grass’ religiöse Entwicklung

Luther und Grass im Gipfelgespräch: Meißner Tedeum

Die Entstehung des Meißner Tedeum

Text und Gegentext als Gipfelgespräch

Das Tedeum eines Agnostikers

»Wer hat dem lieben Gott/einst das Konzept versaut?!« – Grass und die Theodizee

Luthers und Grass’ Lehre von der Taufe

»Ich springe nicht gerne: wer springt, fällt in Gnade«

»Vernunft, in deiner Ecke,/die Eckensteherin Vernunft«

»Sieger im Hängen am Kreuz« – das Kreuz im literarischen und künstlerischen Werk von Günter Grass

Grass’ künstlerischer Kreuzweg in sieben Stationen

»mühte sich durch den Labesweg wie durch einen Kreuzweg« – die anthropologia crucis bei Luther und Grass

»Was meinte Luther mit dem Apfelbaum?« Apokalyptik bei Luther und Grass

Kleines Fazit der Gipfelgespräche im Quartett der Großen

Namensregister

Verzeichnis der im Buch zitierten oder erwähnten Werke

Bildnachweis

VORWORT

Luthers Fremdheit

Gegen Ende seines lebenslangen Dialogs mit Luther versucht Goethe am 11. März 1828 gegenüber Eckermann ein Resümee: »Luther war ein Genie sehr bedeutender Art; er wirkt nun schon manchen guten Tag, und die Zahl der Tage, wo er in fernen Jahrhunderten aufhören wird produktiv zu sein, ist nicht abzusehen.«

Was Goethe hier für die Vergangenheit konstatiert und für die Zukunft verheißt, hat seinen Niederschlag in zahllosen und sich oft widersprechenden Lutherbildern gefunden – 500 Jahre des Gedenkens an den legendären Thesenanschlag vom 31. Oktober 1517 mit fünf Säkularfeiern legen hierfür ein beredtes Zeugnis ab. Der Historiker Heinz Schilling beginnt seine 2012 im Vorfeld des Jubiläumsjahrs 2017 erschienene grundlegende Luther-Biographie mit einem kurzen Rückblick auf die Lutherbilder und die Luther-Wirkung früherer »Jahrhundertfeiern«, bei denen sich »jede Generation ihren eigenen Luther« geschaffen habe – 1617, am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges, den Kämpfer für die Wahrheit »gegen die Konterrevolution der ›Römlinge‹«, 1717 den »zahmen, weltoffenen« Vordenker der aufziehenden Aufklärung und »1817 und 1917 den nationalen Luther als Heros religiöser Tiefe der Deutschen und Schutzschild gegen westliche Überfremdung […]. Mit der historischen Gestalt hatte all das nur noch wenig zu tun«.

Und doch schieben sich die Bilder von 1817 und 1917 noch heute, beim Reformationsjubiläum 2017, zwischen uns und den Luther, der 1517 zur europaweiten Sichtbarkeit aufstieg. Waren diese früheren groben Verzeichnungen positiv bis zum Heroenkult gemeint, so hat die bewegte deutsche Geschichte in den hundert Jahren seit 1917 eine ganze Galerie von Negativbildern des Reformators angesammelt, die den inzwischen ohnehin diskreditierten nationalen Heros noch weiter kompromittieren – Luther der Fürstenknecht und Bauernschlächter mit dem mangelnden Demokratieverständnis, wie es Bundespräsident Heinemann rügte, seine angebliche, aus jedem historischen Kontext gerissene Diskriminierung der Frauen und ›Türken‹ (als habe er damit unsere heutigen Mitbürger gemeint) und, alles andere überragend, Luthers Antisemitismus. Positive Stellungnahmen zu Luther, an denen es ebenfalls nicht mangelt, betonen demgegenüber zumeist den im weitesten Sinne aufklärerischen Aspekt seines Wirkens.

Zu sagen, Luther polarisiere, wäre eine starke Untertreibung. Nimmt man den Ausdruck als optische Metapher, träfe wohl eher zu, dass bei dem bald geschliffen, bald ungeschliffen wirkenden Facettenreichtum von Luthers alle gewohnte Dimensionen sprengenden Werk, Wirken und Wirkung nahezu jedes Licht, das darauf fällt, jeder Blick, den man auf ihn richtet, unendlich viele Brechungen und Spiegelungen hervorruft, die bestenfalls Einzelaspekte bald düster, bald hell reflektieren und Luther im Ganzen schillernd erscheinen lassen.

Was überhaupt meint man, wenn man »Luther« sagt? Heinz Schilling betont zu Recht, »wie kaum bei einem anderen, selbst bei Goethe nicht, ist es in erster Linie das Werk, das authentisch Auskunft über Luthers Handeln und Denken gibt« – und das sind in der Weimarer Ausgabe über 70 lexikonstarke Bände mit lateinischen oder frühneuhochdeutschen Schriften, deutsch-lateinischen Stenogrammen von Vorlesungen, Predigten und Tischreden oder die Stufen und Schichten seiner sich über 25 Jahre hinziehenden Bibelübersetzung. Wer kann sagen, das alles einigermaßen durchgearbeitet zu haben und wirklich zu kennen? An die Stelle solider Kenntnisse treten heute zumeist pikante Blütenlesen aus den Tischreden, bei denen Luther beim Bier vor begierig lauschendem Publikum, nach eigenem Bekunden bisweilen »bezecht«, seinem Affen Zucker gab.

Liegt die erste Schwierigkeit im Gegenstand ›Luther‹ selbst, so die zweite im heutigen Betrachter – der unüberbrückbare Abstand, der uns gemäß den Erkenntnissen des Historismus von jeder Vergangenheit trennt. 500 Jahre reichbewegter Welt-, Sozial- und Geistesgeschichte liegen zwischen Martin Luthers Thesenanschlag und seinen heutigen Lesern. Im Falle Luthers sind uns in den letzten 200 Jahren, wie anderen Leuten ein Stock oder Hut, gerade die beiden zentralen Pfeiler der menschlichen Existenz abhanden gekommen, die Luthers gesamtes Leben, Denken, Reden, Schreiben, Tun und Lassen bestimmt haben: die Existenz Gottes und die Sündhaftigkeit des Menschen. Gott war für Luther und die ganz überwältigende Mehrheit seiner Zeitgenossen eine nie, nirgends und von niemandem in Frage zu stellende oder gar gestellte Gegebenheit, die zwar nicht bewiesen werden konnte, aber auch nicht bewiesen zu werden brauchte, weil sie schlicht gegeben war. In Luthers Auseinandersetzung mit Erasmus taucht ein einziges Mal am Horizont der für Luther fast undenkbare Gedanke auf, der Kontrahent könne »prorsus Atheos«, ›nachgerade ein Gottesleugner‹, sein oder scheinen.

Ebenso gegeben war für ihn die Sündhaftigkeit des Menschen, die sich nicht nur in einem durch nichts zu beschwichtigenden Sündenbewusstsein zeigt, sondern überdies beweisbar war. Der große christliche Intellektuelle des vorigen Jahrhunderts, Gilbert Keith Chesterton, erklärte die reale Existenz des Bösen und die menschliche Sündenverfallenheit als das einzig Beweisbare am Christentum. Wenn Mrs Chesterton nach der aufsehenerregenden Konversion des Ehepaars vom liberalen Protestantismus zum Katholizismus von Damen ihrer Kreise gefragt wurde: »But what made you believe in God, madam?« antwortete sie stets »The devil«. Schon der Begriff der ›Sünde‹ ist für Luther, mathematisch gesprochen, eine Funktion der Existenz Gottes. Luther – und mit ihm seine gesamte Zeit – lebte in einer um eine Dimension reicheren Welt als der unseren: Neben unserem irdischen Sein in der Welt, das ich die horizontale Dimension nennen möchte, gab es die Vertikale Gottes, dessen Existenz keiner seiner Zeitgenossen ernsthaft in Frage stellte. Für Luther war ›Sünde‹ primär das Missverhältnis von Horizontaler und Vertikaler: Die Ur-Sünde und damit der Ursprung aller anderen sogenannten Sünden war der Verstoß gegen das erste Gebot, Gott über alle Dinge zu fürchten, zu lieben und zu vertrauen – und genau das kann kein Mensch aus eigener Kraft erfüllen.

Diese vertikale Dimension der Sünde ist uns heutzutage weitestgehend verlorengegangen. Wenn wir nicht überhaupt bei ›Sünde‹ in erster Linie an Diätfehler, vielleicht noch an jede Art von Verkehrssünden denken, kennen wir eine von Gott zu vergebende »Schuld«, wie sie im Vaterunser neben dem »täglichen Brot« die zentrale Bitte bildet, kaum noch. Wir kennen lediglich horizontale Delikte, etwa gegen die Umwelt, gegen diskriminierte gesellschaftliche Gruppen, gegen Einzelne. Ebenso kennen wir noch ein horizontales »Vergeben unsern Schuldigern« und seiner bedürfen wir auch wechselseitig, wir gewähren Verzeihung und bitten um Entschuldigung – irgendeiner Vergebung durch eine vertikale Instanz »Gott« bedürfen wir nicht mehr. Sogar der seinerzeit äußerst populäre Lutherforscher Walther von Loewenich wirft dem Reformator in der Einleitung zu seiner Biographie zu Luthers 500. Geburtstag 1983 vor, er bekenne »sich zu dem persönlichen Gott der Bibel, nicht zu dem philosophischen Gott der Metaphysik«, nicht zu »einer Idee«, zu – je nachdem – einem ›höchsten Sein‹ oder in umgekehrter Richtung zu Paul Tillichs ›Tiefe des Seins‹ oder auch nur zu einem »letzten Geheimnis«, was es uns schwermache »Luther ganz zu folgen«. Und in der Tat ist es um Luthers zentrale Anliegen, die Verlorenheit des Menschen und Gottes Gnade, um die es ihm lebenslang einzig und allein ging, heute schlecht bestellt.

Hatten nach Schillings Urteil schon die Reformationsjubiläen von 1617 bis 1917 die historische Gestalt Luthers weitestgehend verfehlt, so scheint weitere hundert Jahre später ein ungebrochenes Verständnis von und für Luther oder gar eine bis zur partiellen Identifikation reichende Verwandtschaft mit dem Reformator über den »garstigen Graben« der Historie hinweg unmöglich. Wer sich auf Luthers Leben, Schreiben und Wirken heute ernsthaft einlassen will, sieht sich mit Schillings Worten in der Welt Luthers und seiner Zeitgenossen zunächst einmal mit einer für uns ›verlorenen Welt‹, »mit dem Fremden und ganz Anderen konfrontiert«. Erst im Durchgang durch diese Fremdheit können Luther und seine Zeit uns wiederum helfen, unser Eigenes zu erkennen – und sei es, dass uns die Konfrontation mit der radikal auf ein Jenseits ausgerichteten Welt Luthers zu der Einsicht verhilft, dass unseren Nachkommen in 500 Jahren unsere ganz selbstverständlich einzig auf Wirtschaftswachstum starrende Welt so fremd wirken wird wie uns heute eine Ausrichtung jeglichen Tuns auf ein – für uns längst nicht mehr selbstverständliches – Jenseits.

Gipfelgespräche

Meine nun über 50 Jahre währende Beschäftigung mit Martin Luther, Johann Wolfgang von Goethe, Thomas Mann und Günter Grass legt den Plan nahe, diese vier weltweit wohl bekanntesten deutschen Autoren untereinander in Gipfelgespräche treten zu lassen. Allen vieren ist ja nicht nur gemeinsam, dass sie früh mit einem sensationell erfolgreichen Werk zu Weltautoren wurden, die danach weltweiter Beachtung sicher waren – Luther mit 33 Jahren durch seine 95 Thesen, Goethe mit 24 durch seinen Werther, Mann mit 25 durch die Buddenbrooks und Grass mit 31 Jahren durch Die Blechtrommel. Darüber hinaus haben sich die drei Nachgeborenen nicht nur jeweils auf ihre spezifische Weise intensiv mit Martin Luther als dem wohl weltweit bekanntesten deutschen Denker und Autor überhaupt, seit Karl Marx auf das Normalmaß eines interessanten Wirtschaftstheoretikers des vorvorigen Jahrhunderts zurückgestutzt wurde, auseinandergesetzt – alle drei haben wortwörtlich das Gespräch mit ihm gesucht und geführt: Der ganz junge Goethe hat eine wichtige Lutherpredigt über die Höllenfahrt Christi nach Luthers eigenen Anregungen und Anweisungen zu seinem allerersten gedruckten Werk gestaltet. Thomas Mann ist über einem Komödienplan gestorben, in dem Luther die Hauptfigur bilden sollte, und Günter Grass hat auf der Grundlage seiner frühlutherisch-franziskanischen theologischen Prägung Luthers hochorthodoxes deutsches Tedeum durch hinzugesetzte eigene Fragen zum spannungsreichen Dialog zwischen Glauben und Agnostizismus erweitert.

In den folgenden Gipfelgesprächen dieser drei deutschen Autoren von Weltrang mit Luther repräsentieren Goethe und Thomas Mann dabei zugleich zwei der eingangs skizzierten Säkularfeiern. Goethes lebenslange kenntnis- und zudem überraschend facettenreiche Auseinandersetzung mit Martin Luther kulminiert in seinen Überlegungen und Vorarbeiten zur dichterischen Gestaltung des Reformationsjubiläums 1817, während Manns Lutherbild, das in den Betrachtungen eines Unpolitischen von 1918 erstmals greifbar wird und mit dem er sich dann ebenfalls lebenslang auseinandersetzen sollte, in den Reformationsfeiern von 1917 seinen Ursprung hat. Damals trat Luther als zentrale Gestalt der deutschen Geschichte in Manns Gesichtskreis, um ihn dann nie wieder loszulassen: Sein ganzes restliches Leben wird Thomas Mann sich an dem extrem verzeichneten Bild eines deutschen Heros und Kolosses stoßen, reiben und abarbeiten und ihn doch insgeheim als so großartig ›deutsch‹ bewundern.

Grass in dieses Quartett der Großen einzureihen wird manchen befremden: Vom Welterfolg her, nun ja, – aber als Leser und Dialogpartner Luthers? Heinrich Vormweg hat die frühe Rezeption des späteren Nobelpreisträgers einmal unter die Stichworte »Pornographie, Blasphemie, Nihilismus« gestellt. Bestenfalls gab es die von Grass selbst in Katz und Maus karikierten Untersuchungen, »inwieweit Lästerung das Gebet ersetzen könne«, um die bei Böll wie Grass diagnostizierte »Blasphemie und Obszönität« e contrario doch noch für die Kirche zu retten, aber dann für die katholische – wie könnte Luther hier ins Spiel kommen? Aber gerade Grass hat sich an prominenter Stelle zu Luther als seinem lebenslangen Vorbild bekannt: In seiner Dankesrede zum Literaturnobelpreis 1999 nennt er Luthers deutsche Bibel neben den Romanen Melvilles und Döblins als die exemplarischen »Bücher […], die, leise wie laut gelesen, Bestand haben«, sie hätten ihn »als ich jung und belehrbar war, angestoßen, vor mich hin sprechend zu schreiben.«

Hier grüßt ein großer deutscher Prosaiker über 450 Jahre hinweg den Schöpfer der deutschen Bibel, der als Humanist den »Cursus«, die im Lateinischen gängige Praxis kunstvoller Rhythmisierung auch der Prosa, in seine deutsche Bibelübersetzung eingebracht hat. So schuf er den spezifischen Klang, der die liturgischen Lesungen aus der Lutherbibel von Altar, Lesepult und Kanzel so einzigartig macht und so großartig wie unvergesslich jedem lutherisch Aufgewachsenen im Ohr bleibt – ich erinnere nur an die Weihnachtsgeschichte nach dem Evangelisten Lukas. Grass wird von früh auf Luthers Bibelprosa durch den protestantischen Vater und dessen einen Steinwurf entfernt in Danzig-Langfuhr wohnende Familie kennengelernt haben, deren Kirche, die in Grass’ Werken häufig erwähnte Christuskirche, ebenfalls in der Nachbarschaft des Labeswegs lag. Vermutlich stand im sonst der Mutter zugeordneten schlanken Bücherschrank der Familie auch die Konfirmandenbibel des Vaters. Grass hat immer wieder erzählt, wie er schon als Kind alles las, was ihm im bücherarmen Elternhaus gedruckt und gebunden in die Hände fiel. Seine Schriften und Reden jedenfalls bezeugen eine lebenslange Vertrautheit mit der Bibel in Martin Luthers Übersetzung, die er auch ausschließlich zitiert. Werner Frizen weist in seinem Kommentarband zu Grass’ Lyrik darauf hin, dass »der bevorzugte Hypotext des jungen Grass […] die Bibel« ist, und zwar der allgemein verbindliche protestantische Wortlaut im 20. Jahrhundert, die revidierte Fassungvon 1912.

Das allein würde freilich für seine persönliche Einladung zu einem Gipfelgespräch mit Martin Luther über 450 Jahre hinweg kaum genügen, wäre Grass mir nicht zuvorgekommen und hätte schon 1968 selbst ein eigenständiges Gipfelgespräch mit dem Reformator geführt, als er in einem Wechselgesang mit Luthers Tedeum seine ihrerseits theologisch-anthropologisch fundierten kritischen Fragen an Luthers Orthodoxie stellte.

Grass bietet im Gesamt seines Werkes eine lebendige und ihn auch persönlich tragende Adaptation von Luthers Theologie und zwar, gemäß der eingangs getroffenen Beschreibung, von deren Horizontale: Günter Grass wurde in seinen Düsseldorfer Jahren entscheidend von Luthers früher Demuts- und Kreuzestheologie geprägt und übernimmt vom frühen Luther dessen radikale Erbsündenlehre, die Auffassung des Kreuzes als Essenz menschlicher Existenz und die apokalyptische Vorstellung vom bevorstehendem Ende unserer Welt als eines Äons des Bösen. Diese Aspekte lässt er zugleich in seinen epischen Werken von der Blechtrommel bis zur Rättin immer wieder Gestalt annehmen.

In diesen Begegnungen mit Luther lassen die drei Autoren aus drei Epochen zugleich überraschende Facetten an ihrem Gesprächspartner aufleuchten. Sie verleihen dem in einem ersten Kapitel zu skizzierenden Lutherbild mehr Plastizität und geben uns zugleich im Dialog mit Luther oft überraschende Einsichten in ihr eigenes Denken.

Das vorangestellte Porträt des Reformators teilt mit Schillings Darstellung den Akzent auf der Fremdheit Luthers nach 500 Jahren, betont aber über dessen profanhistorischen Ansatz hinaus die theologischen Aspekte Luthers. Zugleich bereitet es bereits Luthers Gipfelgespräche mit Goethe, Mann und Grass vor, indem vorzugsweise auf solche Aspekte des Reformators eingegangen wird, die von seinen späteren Dialogpartnern eigens aufgegriffen werden. Themen, die für den jeweiligen Antwortenden zentral sind, werden zudem erst in dem jeweiligen Abschnitt behandelt, so Luthers spezifische Christologie oder sein noch spezifischerer Teufelsglaube im Zusammenhang mit Goethe, Renaissance und Reformation bei Thomas Mann, Spezifika von Luthers Bibelübersetzung, seine Erbsündenlehre und sein eschatologisches Denken in der Rezeption durch Grass’ anthropologia crucis.

Während der Niederschrift dieser Gipfelgespräche erschien das Buch Der Prophet der Deutschen. Martin Luther im Spiegel der Literatur meines Kölner Kollegen Norbert Mecklenburg mit ausführlichen Kapiteln zu Goethe und Thomas Mann – so ziemlich der GAU für jedes Buchprojekt, wie man sich leicht denken kann.

Dass ich dennoch an meinem Plan festgehalten und mein schon weit fortgeschrittenes Buch auch abgeschlossen habe, liegt daran, dass ich von vornherein Gipfel gespräche im Sinn hatte. Anders als bei einem rein rezeptionsgeschichtlichen Ansatz soll Luther dabei selbst ausführlich zu Wort kommen und jeweils als Gesprächspartner in einem von allen drei Autoren gesuchten Dialog greifbar und plastisch werden. Wie aber soll man Luther darstellen, wenn nicht als Theologen? Wo Mecklenburg im Vorwort betont, »kein wie auch immer geartetes religiöses Dogma« zu billigen und sich »nur an das freie poetische Wort gebunden« zu fühlen, beziehe ich ausdrücklich Luthers Theologie in meine Gipfelgespräche mit ein, da beispielsweise Goethe und Grass vor allem über dieses Thema mit Luther in Berührung kommen und Thomas Mann Luther gerade deshalb so tragisch wie peinlich verfehlt, weil er in 40 Jahren des Nachdenkens und Schreibens über Luther dessen Theologie nie zur Kenntnis genommen hat oder auch nur nehmen wollte. Über Luther schreiben und dabei den Theologen ausklammern hieße aber im Grunde über Einstein unter Ausschluss der Physik schreiben.

I.

»NOSTRA THEOLOGIA EST CERTA« – MARTIN LUTHER

Die Zeit

Wie bei der anderen überragenden Gestalt der deutschen Geistesgeschichte, Johann Wolfgang von Goethe, kommen bei Martin Luther zwei entscheidende Faktoren für ihre historische Wirkungsmacht und Strahlkraft zusammen: Eine überragend begabte Persönlichkeit mit den denkbar besten individuellen Voraussetzungen tritt in einer nicht bewegender und nicht bewegter denkbaren Umbruchszeit auf, die in beiden Fällen mit einen ungeheuren Modernisierungsschub einhergeht: Für Goethes Leben sei verkürzend auf die Chiffre der Französischen Revolution und ihres Vor- und Umfeldes verwiesen, für Luther auf den Neuaufbruch der westlichen Menschheit in der ›Renaissance‹. Unsere deutschen Epochenbezeichnungen beruhen zur Gänze auf dieser Auffassung: Das ›Altertum‹ wird abgelöst von der Periode mit dem Notnamen ›Mittelalter‹, das von einer ›Wiedergeburt‹ –ital. rinascimento, frz. renaissance – des Altertums abgelöst wird, mit der die ›Neuzeit‹ beginnt, die zugleich eine radikale Abkehr von nahezu allem Mittelalterlichen bedeutet. In marxistischer Begrifflichkeit waren beide Perioden fest verklammert: Luther stand – allerdings neben Müntzer – für die »frühbürgerliche« und Goethe für die »bürgerliche« Revolution.

Für diese Umbruchsphase hin zur Neuzeit seien nur einige Ereignisse illustrierend genannt und im übrigen auf Schillings 1517 – Weltgeschichte eines Jahres verwiesen: Die Kugelgestalt der Erde wird in den frühen 1490er-Jahren in Martin Behaims ›Erdapfel‹ abgebildet, gedanklich ermöglicht sie Kolumbus seine als Seeweg nach Indien gedachte Entdeckung Amerikas, die die Zeitgenossen unter all den vielen Entdeckungen dieser Zeit anfangs kaum zu würdigen wissen; sozusagen täglich werden neue Länder, Inseln, Seewege und -straßen entdeckt. Bewiesen wird die Kugelgestalt der Erde endgültig durch die Erdumseglung Magellans und seiner Mannschaft 1519–1522, die zeitlich fast exakt mit der Hochzeit von Luthers Wirken zusammenfällt. Kopernikus arbeitet parallel zu Luthers Auftreten sein heliozentrisches Weltbild aus, das dem späten Luther, als er davon hört, allerdings nicht einleuchten will.

Ähnlich radikal wie das Bild von unserer physischen Welt ändert sich das von der geistigen: Ihre Wurzeln hat die Vorstellung von der Renaissance, der ›Wiedergeburt‹, in der Geistesgeschichte; für ihre literarische und wissenschaftliche Ausprägung hat sich der Name ›Humanismus‹ eingebürgert: Im 15. Jahrhundert kommt es, von Italien ausgehend, zu einer Wiedergeburt antiken Denkens und Dichtens, das der mittelalterlichen Überlieferung diametral entgegengesetzt ist: Schätzte man in dieser kirchlich und christlich geprägten Phase vor allem die Autoren und Motive, die im Wege einer natürlichen Offenbarung christliche Wahrheiten zu verkünden schienen, so wird jetzt gerade das Vorchristliche betont, das als etwas spezifisch Menschliches, eben ›Humanistisches‹ angesehen wurde. Zunächst geschieht dies in der lateinisch-römischen, ab 1453 nach der Eroberung Konstantinopels durch die Türken und dem damit verbundenen Exodus griechischer Gelehrter in den Westen auch in der griechischen Form.

Lateinische, dann griechische, später hebräische Studien drangen ins Universitätsstudium ein. Merkmal des humanistischen Gelehrten war geradezu die Abwendung vom mittelalterlichen Latein als der Fachsprache der Theologen und die Hinwendung zum heidnischen Latein nach dem Vorbild Ciceros. ›Barbar‹ war auch ursprünglich ein Sprachbegriff – so nannten die Griechen alle nichtgriechischen Sprecher, die in ihren Ohren nur Blabla von sich gaben – und wird es jetzt wieder: Barbar ist, wer das ciceronische Latein nicht beherrscht. Luther beklagt sich 1523 in der Gegenschrift zu einem päpstlichen Schreiben des römischen Legaten Chieregati, wie leid es ihm tue, dessen »Küchenlatein« in gutes Deutsch übersetzt zu haben.

Dichterisch wird die lateinische Reimdichtung des Mittelalters durch eine Wiederaufnahme der metrisch organisierten Lyrik nach dem Muster des Horaz abgelöst. Bis zur Wiederentdeckung ab 1770 in Vorromantik und Romantik gerät die gesamte mittelalterliche Literatur in Vergessenheit und wird nicht zur Traditionsbildung herangezogen. Zusammenfassen lässt sich all dies in der humanistischen Losung »Ad fontes!«, ›Zurück zu den Quellen‹ und weg von den verderbten und kontaminierten Wassern der jüngeren Vergangenheit.

Unterstützt und ermöglicht wird das alles durch die Erfindung des Buchdrucks um 1450 – die neuen Ideen und die alten Autoren werden nicht länger, wie im Mittelalter, durch vereinzelte Abschriften konserviert, sondern durch das neue Medium massenhaft verbreitet – eine mediale Revolution, ähnlich umstürzend wie die Erfindung der Schrift tausende von Jahren zuvor oder die Digitalisierung unserer Welt heute.

Für die Italiener bedeutete der Rückgriff auf die römische Antike zugleich einen Rückgriff auf die Glanzzeiten der eigenen Geschichte, eine Wiedergeburt des römischen republikanischen und imperialen Glanzes. Deutsche Humanisten beriefen sich hingegen auf Tacitus’ soeben wiederentdeckte Germania, die römischer Entartung Germaniens urwüchsige Sitte entgegensetzte. Der populärste deutsche Humanist, Ulrich von Hutten, ein Generationsgenosse Luthers war es, der den nur unter seinem römischen Namen Arminius bekannten Führer des Germanenaufstands gegen Rom kurz nach der Zeitenwende zum deutschnationalen Heros und Mythos machte. Die – frei erfundene – deutsche Namenform ›Hermann‹ wird erstmals im Kreis um Luther bezeugt. Für Hutten wie Luther war er der Ur-Held einer frühen Los-von-Rom-Bewegung.

Während so die italienischen Humanisten das alte Römische Reich ebenso wie dessen Sprache wiederherstellen und von der Fremdherrschaft und den Einflüssen der Barbaren befreien wollten, gehen ihre deutschen Nachfolger und Mitstreiter davon aus, dass der Purpur der römischen Imperatoren längst auf die Schultern der deutschen Kaiser gewandert sei und das reinere Deutschland die Nachfolge des entarteten Italiens angetreten habe.

Das hat im Denken der Humanisten einen uns im antikisierenden Kontext eigentümlich anmutenden nationalen Zug zur Folge, der durchaus der zeitgenössischen Wirklichkeit entspricht: Die übernationalen Einheiten ›Römisches Reich deutscher Nation‹ wie ›Katholische‹ – d. h. allumfassende – Kirche geraten in Auflösung; in Spanien, Portugal, England und Frankreich beginnen sich moderne Nationalstaaten zu bilden, die sogar Formen nationaler Kirchen anstreben: In England setzt sich Heinrichs VIII. Anglikanismus durch, während in Frankreich vergleichbare gallikanische Bestrebungen scheitern. In Deutschland ergibt dieser Prozess einen Wettlauf zwischen dem Reich und seinen Territorien, vor allem den Kurfürstentümern, um die moderne Staatlichkeit, den die Länder gewinnen und das Reich verliert und in dem die Konfession der jeweiligen Territorien eine wichtige Rolle spielt – in der Lutherzeit wird die Grundlage zur deutschen Zersplitterung gelegt, die formal erst 1871 überwunden wird, aber noch heute nachwirkt.

Ähnliche Umwälzungen vollziehen sich in den Volkswirtschaften – das moderne Bankenwesen entsteht ebenso wie Fern- und Überseehandel, durchaus frühe Formen der Globalisierung, für die zur Illustration der Name von Luthers Zeitgenossen, der Fugger, stehen möge. Die sind auch im durch neue Techniken aufblühenden Bergbau finanziell engagiert, der in Luthers Leben eine Rolle spielen wird. Auch für die Ökonomie entwickelt sich als Humanismus der Praxis eine neue Software: Adam Rieses – richtiger wohl: Ries’ – Rechenbücher, die das Rechnen mit arabischen Zahlen popularisieren und dessen Beherrschung für die neu entstehenden Berufe in Handel und Technik allgemein machen, erscheinen fast exakt parallel und in ähnlich hohen Auflagen wie Luthers reformatorische Schriften.

Das Lebensgefühl der Generation, die bewusst diese Zeitenwende um die Jahrtausendmitte miterlebt und mitgestaltet, lässt sich nicht besser zusammenfassen als im berühmten Ausruf Ulrich von Huttens in seinem Brief an Willibald Pirkheimer, einen anderen führenden Humanisten, vom 25. Oktober 1518: »O saeculum, o litterae! Iuvat vivere […] Vigent studia, florent ingenia. Heus tu, accipe laqueum, barbaries, exilium prospice!«, ›O Jahrhundert, o Wissenschaften, es ist eine Lust zu leben […] Die Studien stehen in höchstem Ansehen, die Geister blühen auf! Umgürte dich mit einem Strick, Barbarei, und mache Dich aufs Exil gefaßt!«

Die Person Martin Luther

In diese ungeheure Aufbruchsstimmung lässt sich Luthers Leben und Wirken bruchlos einordnen; das mit seinem Namen am stärksten verbundene Stichwort »Reformation« ist geradezu das zentrale Schlagwort für alle aus den Bemühungen um »Wiedergeburt« oder auch »Neugeburt« zu ziehenden praktischen Konsequenzen in Wissenschaft, Kirche und Staat, die im Aufstand der Reichsritter unter Franz von Sickingen und in den verschiedenen Bauernaufständen vor und nach 1500 ihren handgreiflichen Ausdruck finden.

Martin Luther wird am 10. November 1483 als Sohn eines im aufblühenden Bergbau tätigen Knappen und späteren Unternehmers in Eisleben in Thüringen geboren und am Tag darauf auf den Namen des Tagesheiligen getauft. Die Familie zieht schon ein Jahr später nach Mansfeld um, wo Hans Luder bereits als Hüttenmeister genannt wird. Insgesamt sprechen die Zeugnisse bei allem Auf und Ab, das für einen selfmade-Unternehmer bis heute kennzeichnend ist, dafür, dass der vom Hoferbe ausgeschlossene Bauernsohn es im Leben durch harte Arbeit und geschickte Investitionen zu Wohlstand gebracht hat. Vielleicht war ihm dabei, wie Luthers Biograph Heinz Schilling vermutet, ein Startkapital vom Familienhof behilflich. Sein Aufstieg ermöglichte ihm auch die Einheirat in eine ratsfähige Bürgerfamilie in Eisenach, die das junge Paar ebenfalls fördern kann – ein Schwager Hans Luders ist als Bergrat in führender Stellung im Mansfelder Bergbau tätig.

Luther hat selbst, etwa in seinen Tischreden, die Herkunft seiner Familie von einem alteingesessenen Bauernhof nie verleugnet. Wieso kann man aber wegen eines Vollbauern als Großvater den Reformator mit Nietzsche ständig »Luther, der Bauer« nennen, wie es im 19. und frühen 20. Jahrhundert gang und gäbe war, mit Stefan Zweig vom »Bergmannssohn und Bauernnachfahr« sprechen, »von diesem stämmigen, grobfleischigen, hartknochigen Erdenkloß Luther« oder ihn gar, wie sein nachgeborener Kollege Karl Barth es getan hat, als »ein gescheiter Bauer, möchte man sagen« titulieren? Welcher Bürger, Gelehrte oder Geistliche, der nicht dem städtischen Patriziat entstammte, hatte im späten Mittelalter nicht irgendwelche bäuerlichen Vorfahren? Das Bild vom ›Bauern Luther‹ erinnert doch stark an Bismarcks Einschätzung Goethes: Als er bei einem Tischgespräch in seinem Mitarbeiterkreis gefragt wurde, ob Goethes Großvater denn wirklich Schneider gewesen sei, antwortete er, dass er das nicht wisse. »Aber jedenfalls hat der Kerl eine Schneiderseele gehabt. Wie sonst hätte er dichten können ›Selig, wer sich vor der Welt ohne Hass verschließt …‹? Hass und Liebe sind doch die Triebfedern jeglichen Handelns.«

Vater Luders wichtigste Investition tätigt er jedenfalls mit der bestmöglichen Ausbildung seines ältesten Sohnes. Die Einkünfte des Vaters erlauben es der Familie, Martin in Mansfeld auf die Lateinschule zu schicken, die unerlässlichste Voraussetzung für einen damaligen Berufserfolg als Intellektueller: Martin Luther lernt so nach dem Dialekt des Elternhauses als erste Sprache Latein. Zeitlebens wird es ihm in anspruchsvolleren, beispielsweise theologischen Kontexten leichter fallen, sich lateinisch auszudrücken als deutsch; es ist nicht seine geringste Leistung, im lebenslangen Bemühen die deutsche Sprache auch für komplexere geistige Themen geschmeidig gemacht zu haben. Die von Luther herausgegebene Schrift eines anonymen Mystikers aus dem 14. Jahrhundert, Eyn deutsch Theologia, hat ihren Notnamen ja nicht daher, dass Luther in ihr eine spezifisch ›deutsche‹ Theologie begründet sah, wie man sie vergleichbar in der NS-Zeit mit der berüchtigten ›Deutschen Physik‹ konstruieren wollte, sondern von der außergewöhnlichen Tatsache her, dass sie auf Deutsch abgefasst war.

Weiterführende Schulen besucht Luther in Magdeburg und Eisenach, und 1501 beginnt er mit dem damaligen Grundstudium der Septem artes liberales, der sieben Freien Künste, an der Universität Erfurt, wo auch Vertreter des Humanismus lehren: Im sogenannten Trivium erwirbt der Student in Grammatik, Rhetorik und Dialektik (d. h. Philosophie) sprachliche und logische Fähigkeiten, im sogenannten Quadrivium lernt er die auf der Mathematik basierenden ›Künste‹ der Arithmetik, der Geometrie, der Astronomie und der Musik, die damalige Grundlage für jedes weitere Fachstudium. Zeit seines Lebens wird die Musik, verstanden als ars oder techne, d. h. als Verbindung von Theorie und manueller Fertigkeit, bei Luther das Lautenspiel, für ihn von großer Bedeutung sein. Luther wird 1502 Baccalaureus und Anfang 1505 Magister artium; anschließend beginnt er, dem Wunsch des Vaters entsprechend, in Erfurt ein Jurastudium, die prestigeträchtigste Wahl für eine zukünftige erfolgreiche Berufstätigkeit in einer Stadt, bei Hofe oder im Reich.

In diesen Grundzügen verlaufen Luthers und Goethes Werdegang parallel, nur erstreckt er sich bei Goethe über drei Generationen – hier ist es der Großvater, der als Schneidermeister und durch eine reiche Heirat mit einer Hotelierswitwe ein Vermögen erwirbt und seinen Sohn, Goethes Vater Johann Caspar, Jura studieren lässt. Der zieht es jedoch vor, als Dr. iur. und mit dem Ehrentitel eines Kaiserlichen Rats hinreichend distinguiert, um in Frankfurts höchste Bürgerkreise einzuheiraten, als Privatmann zu leben. Statt ein Amt anzustreben verwaltet er sein ererbtes Vermögen, lebt seine wissenschaftlichen und sammlerischen Neigungen und steckt sehr viel Zeit und Kraft in die Erziehung seiner beiden überlebenden Kinder Wolfgang und Cornelia. Natürlich lenkt er auch seinen Sohn mit sanftem Druck zum Jurastudium hin – für beide Söhne, Martin Luther wie Hans Goethe, der einzig verlässliche Weg, als Bürgerliche in einer Standesgesellschaft, der beide um 1500 wie um 1750 angehören, zu hohen und höchsten Stellen zu gelangen. Goethe gelingt das ja auch in der Tat – zwar ist er als Dichter dem zukünftigen Herzog von Sachsen-Weimar-Eisenach aufgefallen, aber dessen äußerst erfolgreicher Minister wird er als promovierter Jurist mit dem Fachgebiet Staatsrecht.

Bei Martin Luther sollte der Weg zu höchstem Ruhm ganz anders verlaufen. Unter unmittelbar erfahrener Todesnähe in einem schweren Gewitter, bei dem sein Gefährte neben ihm vom Blitz erschlagen wird, gelobt der 22-Jährige, Mönch zu werden – sicherlich sind dem schon Krisen und existentielle Nöte um den rechten Weg zur ewigen Seligkeit vorausgegangen. Diese alle Pläne umstürzende Berufung in den geistlichen Stand ist ein schwerer Schlag für die Aufstiegshoffnungen, die der Vater, selbst Analphabet, für seinen Sohn hegte und in die er so viel investiert hatte. Nur schwer ist ihm die erforderliche Zustimmung abzuringen.

Hier wird zum ersten Male der Zug deutlich, der Luther letztlich in seine welthistorische Bedeutung hineinwachsen lassen wird: sein Glaubensernst, die existentielle Radikalität, mit der er sich den Fragen nach Sünde und Gnade, Hölle und Himmel, Verdammnis und Erlösung stellt. Die Vorstellung, plötzlich und unvorbereitet vor Gottes Richterstuhl treten und ein Urteil über sein ewiges Schicksal entgegennehmen zu müssen, hatte für ihn zeitlebens etwas zutiefst Erschreckendes. Um der Gnade Gottes für sein Schicksal in Ewigkeit möglichst sicher zu sein, wählte er den schwierigsten und sichersten Weg, der damals bekannt war, ein ganz und gar geistliches Leben in Armut, Keuschheit und Gehorsam in einem als besonders streng geltenden Bettelorden, einem Orden also, der, anders als etwa die Benediktiner, selbst besitzlos ist. Und Luther nimmt dieses Leben sehr, geradezu skrupulös ernst. Im Rückblick sagte er, wenn jemals jemand durch »Möncherei« in den Himmel gekommen wäre, dann am ehesten noch er – ein so guter Mönch sei er gewesen.

Alle uns zugänglichen Zeugnisse bestätigen das; für die katholische Polemik vom »von seiner Geilheit umgetriebenen Luther«, wie sie bis hinein ins 20. Jahrhundert gang und gäbe war, und die Nietzsche dann aufgriff und an Thomas Mann weiterreichte, bei dem es dann hieß, Luther sei zwar »Mönch, aber ein unmöglicher Mönch« gewesen, den sein Sexualtrieb zur Reformation verleitet habe, gibt es nicht den geringsten Beleg. Luthers vorbildliche Mönchszeit wie seine radikale Reformation entspringen derselben Wurzel – Luthers im Wortsinne tödlichem Glaubensernst, der angesichts der Ewigkeit keine Kompromisse kannte. Für zu Ausgleich und laissez-faire geneigte Naturen von Erasmus über Goethe bis zu den liberalen Theologen um 1900 erschien dies als abstoßender Fanatismus. Goethe hat in einem Distichon das »Luthertum« geradezu mit der ihm verhassten Französischen Revolution verglichen – wie sie habe es die »ruhige Bildung zurück« gedrängt. Als positives Gegenbild wird meist Luthers berühmtester Kollege und Zeitgenosse, Erasmus von Rotterdam, genannt, ein Ireniker, ein Mann des religiösen Ausgleichs, des Geltenlassens, der Balance, der Luthers Weg ein Stück weit guthieß, aber seinen Bruch mit der Kirche nie billigen konnte, oder man führt gar, wie Nietzsche und mit ihm Thomas Mann, den deren Meinung nach so viel fortschrittlicheren und kunstfreundlicheren Kulturkatholizismus der italienischen Renaissancepäpste gegen Luther ins Feld.

Natürlich ist es stark standpunktabhängig, ob man religiöse Indifferenz um 1500 als fortschrittlich ansehen kann, aber abgesehen davon verläuft die Frontlinie in der Zeit nicht zwischen dem rückschrittlichen Fanatiker Luther und dem progressiven Liberalen Erasmus oder den die Kunst liebenden und die Verfeinerung ihres Lebensstil kultivierenden Renaissancekardinälen. Sie verläuft zwischen Luthers bohrendem Fragen einerseits und der – wortwörtlich zu nehmenden – Höllenangst von Millionen Gläubigen andererseits, die ihr Heil der damaligen christlichen Lehre gemäß der Institution ›Kirche‹ anvertrauten und bereit waren, hierfür ihr Bestes und Kostbarstes zu geben. Um das ewige Heil sicherzustellen, flossen alles in allem gewaltige Summen, auch von den Ärmsten der Armen, an die Kirche, oder man setzte sogar, wie Luther und zahllose andere Frauen und Männer das taten, als Nonnen und Mönche das irdisches Leben ganz an das Erringen des himmlischen. Nicht zufällig war es die stark finanzielle Frage des Ablasses, mit dem man zeitliche Sündenstrafen abgelten, in der Meinung der Gläubigen aber durch pekuniäre Opfer Höllenstrafen vermeiden konnte, die zum äußeren Anlass der Reformation wurde: Die Summen, die dadurch nach Rom flossen und dort die Basis des von Stefan Zweig und Thomas Mann so bewunderten Kunstsinns römischer Renaissancekardinäle und ihrer Antiken- und Kunstsammlungen bildeten, bedeuteten oftmals große persönliche Opfer für den einzelnen Gläubigen und in ihrer Gesamtheit einen volkswirtschaftlich bedenklichen Kapitalabfluss ins Ausland.

War Luther mit dem Problem des rechten Wandels vor Gott 1505 in seiner privaten Existenz betroffen, so schon bald in seiner Doppelfunktion als Seelsorger und Lehrer der Heiligen Schrift, der die Verantwortung für das ewige Geschick unzähliger Seelen trug. Was aber Ewigkeit bis weit ins 18. Jahrhundert bedeutete, dafür ist uns sogar das Gefühl verloren gegangen. Damals lehrte man es so: An einem Berg aus Diamant, größer als jeder Berg auf Erden, wetzt alle tausend Jahre ein Vögelchen seinen Schnabel – und wenn der Berg auf diese Weise abgewetzt sein wird, ist noch keine Sekunde der Ewigkeit vergangen. Ob man diese Unendlichkeit unter unvorstellbaren Qualen oder in unermesslicher Seligkeit verbringen wollte, war wahrlich keine belanglose Frage. Deshalb sieht Luther in Erasmus’ ›toleranter‹ Indifferenz in der Frage des Freien Willens gegenüber Gott einen ganz von ferne heraufziehenden Atheismus und nennt den Gegner »prorsus Atheos« – ›nachgerade einen Gottesleugner‹, um 1525 noch eine ungeheuerliche Vorstellung.

Am 17. Juli 1505 tritt Luther in das Kloster der Augustiner-Eremiten in Erfurt ein, des »humanistischen Bettelordens par excellence«, wie Kaspar Elm ihn in seiner Untersuchung zu den »humanistischen Studien in den Bettelorden« genannt hat, und macht nun innerhalb von Kloster und Kirche unglaublich rasch die Karriere, die Hans Luder sich für seinen Sohn in der Welt erhofft hatte. Martin wird 1507 zum Priester geweiht und feiert am 2. Mai seine Primiz, studiert danach in Erfurt und später daneben auch an der soeben neu gegründeten Universität Wittenberg weiterhin Theologie, doziert selbst und wird 1509 Baccalaureus.

Der Humanist Luther

Erfurt ist auch eine Pflegestätte des Humanismus, in dessen Geist Luther schon die Sieben freien Künste studiert hatte. Ins Kloster nimmt er die Werke von Plautus und Vergil mit und hört weiterhin neben den theologischen Studien Vorlesungen zur antiken Literatur. Noch in seiner letzten Notiz, die man nach seinem Tode findet, wird er das Studium der Bibel vor den weiten Horizont der Studien zur antiken Literatur stellen, mit denen er von Jugend an vertraut war. In seiner durch und durch lateinischen Ausbildung hatte er nicht nur die antike Rhetorik – Luther folgte eher Quintilian als Cicero – und deren Schwester, die Poetik, studiert, sondern auch die Fähigkeit erworben, lateinisch zu dichten, und zwar so, dass seine lateinischen Verse besser und eleganter sind, als seine weitaus bekannteren deutschen Verse meist zu sein pflegen. Für die lateinische Lyrik der Humanisten gab es, seit Horaz nach seiner Selbsteinschätzung »als erster aus bescheidenen Anfängen die griechische Ode ›ad Italos modos‹ herangeführt hatte«, eine in Theorie und Praxis ausgefeilte und geschliffene Ars poetica, wie sie erst Martin Opitz 1624, hundert Jahre nach Luthers dichterischen Anfängen, in seinem Buch von der deutschen Poeterey für das Deutsche vorlegen würde, in der er den bis heute geltenden Wohlklang des geregelt alternierenden Verses erst etablierte. Wo Luther eine seinen deutschen Versen unterlegte Melodie beim Dichten rhythmisch nicht half, kam es notgedrungen zum nicht zufällig so genannten ›Knittelvers‹ mit seiner »Senkungsfreiheit« – d. h., die Verse holperten, da man beliebig viele Senkungen zwischen die Hebungen packen durfte. Goethe sollte ihn durch seinen Faust. Erster Teil, etwa in Fausts Eingangsmonolog, als Sprachkostüm der Lutherzeit unsterblich machen – für unsere Ohren wohlklingend ist er nicht.

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